
Die leuchtende Stadt
von
Fridolin Schley
Seiten: (ca.) 31
Erscheinungsform: Originalausgabe
Erscheinungsdatum: 18.12.2013
ISBN: eBook 9783956070105
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Bei diesen sechs Erzählungen stehen mir leicht in die Schräge gedrehte Welten vor Augen, in denen die Figuren um Selbstbehauptung ringen, um Haltung oder auch nur um festen Halt: Da ist eine Familie, die für die Mutter zum Geburtstag den Hamlet aufführt – bis plötzlich die Grenzen zwischen Spiel und Ernst verwehen und lang verdeckte Gräben aufreißen; da ist ein Mann, der vom Leben Abschied nimmt – und die groteske Vision einer Zukunft entwirft, in der die moderne Medizin eine Welt seliger Kranker erschafft; oder die junge Polin, die in tödliche Gefangenschaft gerät – und dort unversehens zur Schönheitskönigin avanciert.
Mit unterschiedlichen Stimmen und historischen Bezügen kreisen die Geschichten aus »Die Leuchtende Stadt« um das Verlorengehen und seine oft untergründige Verwandtschaft zur Erlösung. Menschen und Dinge geraten hier außer Kontrolle, eskalieren schleichend, verlieren ihren Zusammenhang und stabilen Grund. Doch auch Fallen fühlt sich an wie Fliegen, zumindest für einen kurzen Augenblick.
Details
- Titel
- Die leuchtende Stadt
- Untertitel
- Erzählungen. Mit einem Vorwort von Thomas von Steinaecker
- Autor
- Fridolin Schley
- Seiten
- 31
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Preis (eBook)
- 4,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956070105
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Die leuchtende Stadt
Leere Räume erinnern sich an uns
Nach etwa einem halben Jahr, in dem du, wann immer du Zeit gefunden hast, ziellos durch die Straßen der Stadt gelaufen warst, oft stundenlang, bis weit in die Nacht hinein, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben und so schnellen Schrittes, als wartete irgendwo jemand auf dich, begann eine zunächst unbestimmte, schließlich aber rasch zunehmende Beklemmung sich deines flüchtigen und gedankenlosen Staunens zu bemächtigen. Was dich zuvor wieder und wieder berauscht hatte, das Gefühl ungeahnter Lebendigkeit beim Eingehen und Aufgehen im sinnesbetäubenden Grundrauschen der Stadt, im immerwährenden Pulsieren der Hoffnungen und Erwartungen, auf die sie gebaut ist, wich mehr und mehr der Vorstellung, einem morbiden Betrug aufzusitzen und dich des gewaltigen Molochs erwehren zu müssen, der dich und diese Millionen von Menschen gefangen hielt und, ohne dass es jemand wahrhaben zu wollen schien, langsam aufzehrte. Hattest du dich nachts, wenn du auf dem Vorsprung der Feuerleiter vor dem Fenster deines kleinen Apartments gesessen hast, lange nicht sattschauen können an den wie viele gute Träume funkelnden Lichtern, so sahst du sie nun schon bedroht durch das Dunkel, das sie umgab, wie in einem letzten kurzen Aufflackern vor dem Verlöschen. Trost hast du dann nur in der seltsam beruhigenden Vorstellung gefunden, dass, wenn einmal alles verendet wäre, man von dort, wo du saßest, endlich nichts anderes mehr hören würde als das Heulen des Windes in den verwaisten Straßenschluchten und das Rauschen des East River.
Je näher es auf Weihnachten zuging, desto mehr hast du jetzt schon am Nachmittag das baldige Einsetzen der Dämmerung gefürchtet und dich jedes Mal heftig erschrocken, wenn draußen eine Sirene ging. Vielleicht lag es schlicht daran, dass du einsam warst. Die Stadt, in deren Schoß du dir noch vor nicht langer Zeit ganz selbst genügt hattest, stieß dich nun ab in ihrer Gleichgültigkeit. Wo immer alles möglich war, war es auch nicht weit zum Nichts. Es gab Zeiten, da waren die immer gleichen und genau auf die wenigen Schritte zwischen Fahrstuhl und Eingangstür getakteten Wortwechsel mit den Doormen und die Bestellung eines Kaffees oder Sandwiches in der Mittagspause die einzigen Laute, die dir in einer ganzen Woche über die Lippen kamen, so dass du dich manchmal fragtest, ob man es je ganz vergessen könnte, das Sprechen. Immer länger bist du im Büro geblieben, nur um den Nachhauseweg noch ein wenig hinauszuzögern, denn auf diesem kurzen ungeschützten Weg, das hast du gespürt, würdest du dich eines Tages verlieren und einfach verschwinden. Dafür würde nicht mehr nötig sein als eine Fußgängerampel, die nicht auf Walk sprang, oder eine offen stehende Bustür oder dass dich einer grüßte, weil er dich für einen anderen hielt.
Aber auch im Büro ging es schon los. Der Aufzug öffnete sich und verschlang Leute. Aus den Hörern kamen Stimmen. Mobiltelefone vibrierten wie unter plötzlichen Krämpfen.
Wenn es so weit war, musstest du schnell jemanden finden, der dich kannte oder zumindest etwas, eine Winzigkeit von dir. Dann bist du mit weichen Beinen, und ohne dir eine Jacke überzuziehen, aus dem Büro und zu dem silbernen Bagels-Stand an der Ecke gelaufen, hast zitternd vor Kälte einen Kaffee bestellt, nur um die Verkäuferin dich erkennen zu sehen, der du, wenn sie dir zunickte und ungefragt noch die richtige Menge Zucker beimischte, am liebsten um den Hals gefallen wärst. Sogar dem Drehkreuz in der Subway-Station, das dich, nachdem du dein Ticket eingeführt hattest, wie einen Freund passieren ließ, oder den bunten Zeitungsspendern, die jeden Morgen treu eine Zeitung für dich bereithielten, hast du dich fast zärtlich verbunden gefühlt.

Fridolin Schley
Fridolin Schley, 1976 geboren, studierte unter anderem Literaturwissenschaft in München und Berlin und promovierte mit einer Arbeit über W. G. Sebald. Er veröffentlichte den Roman »Verloren, mein Vater« sowie die Erzählbände »Schwimmbadsommer« und »Wildes Schönes Tier«, für den er mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet wurde. Er lebt in München und arbeitet neben seiner Autorenschaft als Lektor für Literatur.© Autorenfoto: Juliane Brückner
www.fridolinschley.de