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Greisengemurmel

Ein Rechenschaftsbericht

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

„Ich bitte um Verständnis. Dies ist ein Rechenschaftsbericht. Ein höchst persönliches Dokument. Dem Leser steht es frei, darin auch ein Stück Literatur in der Fortentwicklung der Konfessionen des Kollegen Jean-Jacques Rousseau zu sehen."

„Greisengemurmel“ nennt Gregor von Rezzori seine Erinnerung aus fast acht Jahrzehnten: die Kindheit in einer Provinz Rumäniens, damals noch der k.u.k. Monarchie zugehörig, die schriftstellerischen Anfänge in Berlin, die ersten literarischen und journalistischen Erfolge. Gregor von Rezzori erdichtet Landschaften eines Lebens.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gregor von Rezzori

Greisengemurmel

Ein Rechenschaftsbericht

© Nachlass Gregor von Rezzori

E-Book-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 1994 beiC. Bertelsmann Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: getty images

ISBN 978-3-942822-25-1

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Von Gregor von Rezzori zuletzt bei hey! erschienen:

Mir auf der Spur

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Und Ilfrid der Fischer begann: »Wisse, o Dämon: in frühen Tagen, die weit in entschwundene Zeitalter ragen, herrschte ein König namens Junân über die Stadt Fürs im Lande Rumân.«

AUS DER ERSTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Seit ich zurück bin aus dem Krankenhaus merke ich wie meine Augen nachgelassen haben. Achtzehn zwanzig Stunden schreiben und lesen am Tag und durch die halbe Nacht (trotz aller Schlafmittel die kaum noch wirken) haben sie arg mitgenommen. Ich will mich nicht daran gewöhnen auch für die Weitsicht Brillen zu tragen. (Auch Kollege Goethe hat sie nicht gemocht.) Fürs Nahe sind sie seit Jahren unentbehrlich. (Waren's übrigens auch für ihn.) Die Gegenstände sind vernebelt als lägen sie hinter einer beschlagenen Scheibe. Weiter voraus habe ich bislang noch ziemlich klar gesehen. Klar genug jedenfalls um immer noch ein wenig schneller Auto zu fahren als die meisten anderen. Jetzt meldet sich Bedenken an. Nicht nur bei mir selber. Es fehlt nicht an Hinweisen auf die Dichte des Straßenverkehrs. (Als ob ich die schon wie ein Blinder mit dem Stock ertasten müsste.)

Ich habe ein Spiel begonnen das mich bei entsprechend grimmiger Laune hält. Eine Art Auskultierung meines Daseins in dieser Lebenswelt. Fasse ich etwas Bestimmtes in den Blick – den Großinsektenschädel eines Motorradfahrers der jählings einschwenkt den grünen Abweichpfeil im Rotlicht einer Ampel das Weiße im Auge eines todesmutigen Fußgängers im blechdröhnenden Hexenkessel der Stadt – so sehe ich's präzise aber herausgenommen aus dem was es umgibt. Es löst sich aus den Zusammenhängen; vereinzelt sich umso entschiedener je enger ich die Lider zusammenkneife um seine Konturen zu festigen. Es repräsentiert sich in einer bedeutungslosen Wichtigkeit wie ein Rekrut der einen Schritt aus der Reihe tritt seinen Namen herausbellt und wieder zurückspringt in seinen Kader. Er meldet seine grundsätzliche Anonymität. Was zählt sind nur noch die Kategorien.

Zu Hause treibe ich dieses Spiel als gymnastische Übung meiner Augen. Es sind mir noch andere empfohlen. Zum Beispiel zur Förderung des Blutkreislaufes das Strampeln auf einem feststehenden Fahrrad. Das steht zum Glück bei allerlei anderem Ertüchtigungsgerät im großen Haus. Wir wohnen im Turm. Vorübergehend heißt es. Aber es scheint ein Dauerzustand zu werden. Meiner Augengymnastik kommt das entgegen. Aus allen Fenstern bietet sich weite Aussicht. Die Tage sind prachtvoll: blauhimmelig nach grauen Wochen in denen ein winterliches Frühjahr das Land mit kargem Grün betupft hat. Man erwartet anderes von Italien. Aber auch an Klimawechsel gewöhnt sich der Mensch. Man hat den Eindruck das Wetter sei eine Angelegenheit der EG. Neapel hat das gleiche wie Schottland; hier ist's wie dort. Wiewohl vor Kurzem noch die Nächte Reif ansetzten sprießt es jetzt allenthalben. Eine blanke Sonne bisweilen verdeckt von leicht hinziehenden Wölkchen – es wird sogleich empfindlich kalt –lässt frisches Gras aufgleißen wenn sie wieder zum Vorschein kommt. Ein biologisches Höflichkeitslächeln der Natur: wie um uns zu versichern dass es noch eine Weile währen mag bis das Ozonloch lotrecht über unseren Häuptern klafft. Mit einem Mal sind Blüten da; Glyzinien an den Mauern; über dem Goldgelb des Rapsfeldes das Geschäume der Kirschbäume im Gemüsegarten – Prost Blume! Nur das Sommerlied der Insekten fehlt. Die Bienen sind tot. Eine Pest hat sie vernichtet sagen die Padres von Vallombrosa die Dutzende von Völkern verloren haben. (Kollege Miltons shady vales of Vallombrosa. Paradise lost. Kein Wunder: der Mann war blind.) Immerhin: der Nussbaum den ein Strich sauren Regens getroffen hat setzt an den unversehrten Ästen wieder Laub an.

Ich richte meine Augengymnastik südwärts mit dem weitesten Blick wo nur Wald zu sehen ist. Vielmehr was hier bosco heißt: ein Wucherwuchs von krüppeligen Eichen Buchen Eschen Kastanien Akazien. Nicht was ich einen Hochwald nennen würde. Kein Einhorn tritt dort aus dem Morgennebel ins Caspar-David-Friedrich-Licht. (Wunderwald der Kindheit: »'t was brillig, and the slithy toves did gyre andgimble in the wabe …«) Überschauen lässt sich's allerdings als waldige Masse: dicht verfilzt mit einem Unterholz von Lorbeer Holunder Ilex. Hier und dort gesprengt von den gelben Explosionen des Ginsters und jugendstilistisch ornamental überklettert von den Würgern des wilden Efeus und der Buschwindröschen und Brombeeren. Ich überschaue das in Sprüngen: stelle die Pupillen vom Näheren aufs Ferne ein und zurück und voraus und hin und her auf Einzelheiten wie man an einem Fernglas die Linsen schärfer zieht. Das Gelände ist bergig-hügelig längs durchklüftet von tiefen Schluchten: Erdeinbrüche auf deren Grund spärliche Wasserläufe sich einschneiden. Die roten Lehmwände stürzen ab wie die Kliffe einer Steilküste. Ihnen verdanken wir's dass meilenweit im Umkreis das Land verschont bleibt von der Baulust der frisch gebackenen italienischen Industriegesellschaft.

Wir wohnen im Turm weil das große Haus im Schwang beständiger Verbesserung und Verschönerung endgültig zum schutthaldigen Bauplatz für die Herstellung seiner Idealgestalt geworden ist. Ich gebe zu dass es dazu einlädt. Wie viele seinesgleichen – sogenannte case coloniche: Pachtbauernhäuser aus den Besiedlungszeiten der ruralen Toskana im vierzehnten sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert – war es ursprünglich angelegt für zwei Familien die mitsamt ihrem Vieh einträchtig unter einem Dach lebten. Es war halb eingestürzt als wir es vor fünfundzwanzig Jahren bezogen haben: eingebettet in kniehohes Wiesengras und überschneit von Akazienblüten. Schwalben die das Dach mit ihren Nestern bekrustet hatten umschwärmten es wie dereinst die Bienen ihren Stamm. Als wir es wiederhergestellt hatten waren die Nester zerstört und die Schwalben weg; wir aber standen vor einem Geschachtel von Ställen Zimmern Stuben Kammern mit deren Bestimmung und Einrichtung wir nie recht fertig geworden sind. Kaum ist hier Perfektion erreicht wird dort etwas reparaturbedürftig; und wo ohnehin Eingriffe nötig sind entfesselt sich der innendekoratorische Gestaltungstrieb von B. Ich wandere mit meinen Siebensachen von einem Winkel zum anderen: das Paradoxon eines häuslichen Nomaden. Die Schwalben sind nicht wiedergekommen.

Der Turm steht hundert Schritte abseits: der Stummel eines mittelalterlichen Signalturms dem wir eins der abgetragenen Stockwerke wieder aufgesetzt haben. Wir haben ihn für Gäste hergerichtet und er erweist sich unvergleichlich viel wohnlicher und unseren Bedürfnissen besser angepasst als das große Haus. Bruce Chatwin hat hier einige Kapitel seines Romans »Auf dem Schwarzen Berg« geschrieben; er liebte den Turm. So do I. Beschwerlich ist mir nur die Wanderung nach allem was ich nicht gleich mitgenommen habe: von Kleidungsstücken bis zu Nachschlagewerken. Dabei ist auch insgeheim Absicht im Spiel. Ich vermeide es tunlich mich ein für alle Mal systematisch auszustatten. Nicht nur weil mir Bewegung verordnet ist und die Wanderungen vom Turm zum Haus und vom Haus zum Turm mir (zugegeben: mehr symbolisch als effektiv) die strikt gebotenen Spaziergänge ersetzen; sondern auch weil ich mir Freiheit erhalten möchte. Greisenhafter Starrsinn, ich weiß. Wahrscheinlich versteckt sich darin auch etwas abergläubisch Beschwörerisches. Ich lehne mich auf gegen allzu rational eingerichtete Ordnung. Ich weiche jeder Planung aus weil ich ihr misstraue. Ich habe mein Leben lang in den Tag hinein gelebt. Nicht immer in süßer Muße. (Wer überhaupt kennt noch das Wort? Muße … Ach sie sind fern die Zeiten da die Tage aufkamen wie aus Licht gemachte Gefäße die nach Lust und Laune zu füllen waren!… Gibt es das heute noch für die Jungen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts von den Jungen von heute: Ich kenne nur jung Gebliebene und alt Geborene.) Wie auch immer: Durch ein Dreivierteljahrhundert hab' ich in den Tag hinein gelebt. Nicht immer untätig. Nicht immer in Muße (in des Wortes schöner Bedeutung: im Spielraum der freien Zeit). Allerdings in einer beständig wachen Gewärtigkeit mich dem Wechsel derUmstände anzupassen. Es ist notwendig. Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts war – verglichen mit der ersten – zumindest an den Großbrandherden verdächtig ruhig. (Kräftesammeln für neuerliche Endlösungsversuche?J Jetzt beginnt's wieder unruhig zu werden. Man muss auf der Hut sein vor Überraschungen. Die Stunden können gänzlich unvorhergesehen Gestalt und Inhalt wechseln. Das stellt hohe Forderungen an existenzielle Wendigkeit. »Das Dasein ist eine Wildwasserfahrt« pflegte mein Vater zu sagen. Die Zeit reißt einen heimtückisch über Schnellen Untiefen Strudel. Ich bilde mir ein dass ich ein geschickter Kanute war. Das aufzugeben bin ich noch nicht alt genug.

Abergläubische Wirklichkeitsbeschwörung, wie gesagt. Haushaltsmagie. Auf Italienisch heißt das scaramanzia: Man malt das Schlimme an die Wand um das Gute herbeizuwünschen. Ich wünsche mich jung zu halten indem ich mich als ein bockiger Greis gebärde. (In Wahrheit eher umgekehrt: ich gebe mich rigoros jugendlich um als Greis sentimentalen Kredit einzuheimsen.) Die rührende Fürsorge der Weiber im Haus (Anna, Fedora, neuerdings auch Aisha und Leila aus Marrakesch) nehme ich mit paschahaftem Gleichmut hin; lasse allerdings durchblicken dass ich Launen habe. Gegen allzu eigenmächtigen Eingriff ins Verfügungsrecht über meine Physis wehre ich mich entschieden. Man hat sich abgewöhnt mir Wundermittel und -Methoden sowie verspätete Vorbeugungsmaßnahmen vorzuschlagen. (Deutsche Familienblätter sind beängstigend damit befasst. Die »Kraft und Schönheit«-Welle meiner jungen Jahre ist verebbt in einem Marasmus von hausbackenen Ratschlägen wie hautkrebsförderliche Sonnenbrände Herzinfarkte Schweißhände und stressbedingte Magengeschwüre zu vermeiden sind. Kollege de La Rochefoucauld sagt es gebe keine lästigere Krankheit als beständig um seine Gesundheit besorgt zu sein.) Hybride Blüte der Naturheilkunde. (Korrelat zur Zerstörung der Natur.) An mich vergeudet. Um mir zu Bewusstsein zu bringen dass mein Körper zunehmend Abnützungserscheinungen zeitigt brauche ich mich nicht an Heubadheiler und Thalassotherapeuten zu wenden. Dazu genügt mir die wissenschaftlich ausgeübte Medizin. Sie hat mich überzeugt dass mein Überleben an einem Faden hängt. Der wird angeblich verlängert indem man mich von Operationssaal zu Operationssaal karrt. Die Eingriffe zeitigen sogenannte side effects. Die müssen beseitigt werden mit nachfolgenden Interventionen (die ihrerseits side effects zeitigen). Mechanikerprobleme. Kräutertees und Körnernahrung Akupunktur und Yoga Augen-, Haar- und Fußsohlendiagnose kommen bei mir zu spät. Auch die Umstellung meines Bettes das möglicherweise auf einer Wasserader steht habe ich abgelehnt. Ebenso mit Hilfe von Einspritzungen in meine mannigfachen Narben die behinderte Zirkulation magnetischer Lebensströme im Körper wieder flüssig zu machen. (Wo käme ich damit hin? Eine jugendliche Entgleisung ins Korpsstudententum hat mir an Schmissen einiges eingetragen; freilich längst nicht so großzügig wie letzthin die Chirurgie. Aber wie's auf schlecht wienerisch heißt: es leppert sich zusammen.)

Indes ich bin bereit zu Konzessionen. Heilung durch Autosuggestion. (Zu meiner Zeit nannte man das »Methode Coué«.) Ich rede mir ein ich sei noch genügend rüstig um den nächsten operativen Eingriff zu überstehen. Gehe ich vom Turm zum Haus – zum Beispiel um von dort einen Stapel Bücher zu holen die bereitliegen um meine Augen anzustrengen – so drücke ich die Schultern zurück und die Brust heraus und atme mehrmals durch: Grundstellung aller Leibesübung. Genügt vollauf. Die Psyche bedingt den heilsamen Effekt. Zwar maule ich (unter Berufung auf ähnliche Plagen in Kindheitstagen) wenn meine Kleidung mir nach den Wettermeldungen im Fernsehen (damals nach den Rheumaschmerzen unseres Kutschers) ausgelegt wird. (B. entwickelt dabei eine energische Entschiedenheit um die eine Schweizer Jugendpflegerin sie beneiden könnte.) Ich füge mich unwillig, am Ende aber dankbar. Ich hasse Unterhemden Wollschals warme Kopfbedeckungen gebe aber zu dass sie wärmen. (Senile Widersprüchlichkeiten: Ich hasse auch Nachthemden habe mich aber in Krankenhausbetten daran gewöhnt.) Ich mucke nicht auf wenn ich zu hören bekomme dass alle Fürsorge zu meinem Besten unternommen werde und ich denn doch auf meine fortgeschrittenen Jahre und angegriffene Gesundheit Rücksicht nehmen müsse; und ich sehe ein dassRegelmäßigkeit der Pilleneinnahme eine Gewissensfrage ist. Auch die strenge Rationierung meines Alkoholkonsums nehme ich hin obwohl ich mir vorbehalte gelegentlich mit einem Gläschen über die Stränge zu schlagen. Aber der Rummel um meine verfallende Physis geht mir unsäglich auf die Nerven. Ich bin nicht nur ein immer weniger leistungsfähiger Leib. In mir spielt sich auch Mythologisches ab. Zum Beispiel die Befeuerung des Geistes durchs Dionysische. Also gelegentlich doch ein Gläschen über den Durst. B. nimmt das persönlich: ein ihr angetaner Tort.

Alles das irritiert mich doppelt weil ich ohnehin über Gebühr mit mir selber beschäftigt bin. Vielleicht ist Egozentrik eine Alterserscheinung. Vielleicht ist Nabelbeschau die Essenz der schriftstellerischen Existenz. (Ich als Fluchtpunkt aller Nah- und Fernsicht.) Wie auch immer: es steht jetzt über meinem Dasein in diesen kühlen Frühlingstagen ein unmissverständliches Symbol des Greisentums. Sinnbild für dessen Gebrechlichkeit und Anspruch auf Schonung: die Bettente. Sie ist mein eigener Beitrag zur Lebensabendgestaltung. Ich habe sie aus dem Krankenhaus mitgebracht. (Auf Italienisch heißt sie papagallo.) Auch daran hängt viel Erinnerung an Kindheitstage. Zwar ist es nicht mehr der liebe alte pot de chambre (Potschampa) aus gewichtigem Porzellan der in meiner Kinderstube die erbittertsten Machtkämpfe mit meiner Schwester hervorgerufen hat und den heute Innenraumgestalter beim Antiquitätenhändler kaufen um ihn als Blumenvase ins Raumbild einzusetzen. (Altväterhausrat.) In meiner Jugend war der Nachttopf ein unumstößlicher Gebrauchsgegenstand auch in Provinzhotelnachtkästen wo er die Vorstellung erotischer Abenteuer von Handlungsreisenden heraufbeschwor. (Üppige Schöne in viktorianischen Dessous hockte darüber mit entblößtem Hinterteil, der beglückte Voyeur schaut zu.) Jetzt ist das assoziationsträchtige Nachtgeschirr zu einem federleichten Gegenstand aus Plastik geworden. (Die dereinst sporadisch mit meiner Erziehung befassten pseudo-englischen Gouvernanten würden ihn flimsy genannt haben; aber nicht nur das Material sondern auch das Design ist zeitgemäß: olivenförmig mit angesetztem kurzen Tubenhals; in der Tat ähnlicher einer von Brancusi abstrahierten Ente als einem Papagei.) Gleichviel: Bezeichnend ist dass ich's immer noch mit schlechtem Gewissen benütze; um so verlegener dank dem scheuen Zeremoniell mit dem jeweils Anna Fedora Aisha oder Leila mir's abends unters Bett schieben und morgens warm gefüllt davontragen nachdem sie mir das Frühstückstablett auf den Bauch gestellt haben. Ein schönes Zeugnis der Ehrfurcht und des Einfühlungsvermögens von Müttern in die Unzulänglichkeiten ihrer Pfleglinge. Spezialität der naiv gebliebenen Bewohnerinnen des Mittelmeerraums. Archaisches Zivilisationsniveau. Folklore mit Antiquitätenwert. Manchmal möchte ich sie dafür ohrfeigen.

Mit einem Wort: Ich passe mich meinen beinah achtzig Lebensjahren an. Da sind allerdings die Augen. Die brennen wenn ich sie öffne. Im Gegensatz zu meinen jungen Jahren lese ich jetzt viel zu viel. (Kraut und Rüben durcheinander: Norman Mailer und die Bibel. Panovsky und Handke; immer wieder die »Wahlverwandtschaften« und den »Mann ohne Eigenschaften«.) Ich bin nicht sicher ob das nur Flucht ist oder schon Süchtigkeit. (Wäre ich gründlich so müsste ich nachlesen was die Kollegen Pascal Kierkegaard und Heidegger über die Langeweile sagen.) In jedem Fall führt's zu einer Art Wirklichkeitsverlust. (Mit Wirklichkeitsgewinn in einer anderen Dimension.) Die Lesebrille verengt mir die konkrete Welt im gleichen Maße wie sie mir den Einblick in die abstrakte der Druckbuchstaben eröffnet. Dass ich nun auch für die Weitsicht Brillen brauche lässt mich fürchten ich könnte mich gänzlich traumwandlerisch im Niemandsland der abstrahierten Wirklichkeiten verlieren. Literatenexistenz. Mein Leben lang sind mir Buchstabenhörige verdächtig vorgekommen. (Typen die mit dreizehn ihren Proust gelesen haben und den Rest des Lebens wie Kollege Borges mit dem Sammeln von literarischen Raritäten hinbringen.) Mandelstams Kulturrentner. Aber was anderes bleibt einem übrig?

Gereist bin ich weit genug. Geliebt habe ich verworren genug. Es gibt nicht viel gescheiten Zeitvertreib.

Natürlich stehe ich nicht allein unter bedenklichem Papierbefall. Der Regenwald Brasiliens wird nicht nur für mich abgeholzt. Printed matter ist ein reißender Konsumartikel. Ohne das wäre unsere Welt nicht was sie ist. (Bravo!) Sprechen wir nicht von Literatur und deren hybridem Wuchern. Schon der profane Alltagsverbrauch ist gewaltig. Bei meinen Aufenthalten in New York erschreckt mich die Sonntagsausgabe meiner dortigen Zeitung: Hunderte von riesigen Blattseiten. Ein schwerer Armvoll von druckerschwärzebesudeltem Papier. Der schiere Hohn auf die Klage ums Waldsterben in Maine das dieses provinziellste aller Großstadtblätter regelmäßig meldet. (Zu den Weltnachrichten: Der Untergang der UdSSR in zwanzig Zeilen auf dem Seitenkopf; darunter ein halber Meter Kaufhausanzeigen. Aller Text nur auf den schmalen Seitenköpfen. Ein Sadist in Virginia bringt siebzehn junge Farbige um. Kaum jemals ein Wort über Europa. Siebzehn Todesurteile in China. Jede Menge Hingemeuchelte in Peru in Chile in Nicaragua. Die zoologische Gattung Mensch kommt ihrem Schöpfungsauftrag emsig im Kleinen wie im Großen nach. Zwölf volle Seiten Film-Annoncen. Korruptionsaffären im Senat. Die Nachricht dass rote Rüben cholesterolabsetzend wirken.) Und es sind nicht die Presse-Exkremente allein die eine höchst anzweifelbare Wirklichkeit vorzaubern. Allmorgendlich birst der Postkasten von Streifbandsendungen: Prospekte Werbungen Pamphlete Mitteilungen deren Flut den Zweifel an der Wirklichkeit dieser »Wirklichkeit« verschwemmt. (Kollege Nabokov sagt man dürfe dieses Wort nur zwischen Anführungszeichen verwenden.) Auch ich kann mich der Hypnose durchs Gedruckte nicht entziehen. Die Magie der Runen ist mächtig. Ich richte meine Auflehnung gegen ihren vermassenden Träger: das Papier. Bisweilen versetzt mich dessen wahnwitzige Vergeudung in Wut. Ich stopfe in den Kamin was mir unter die Hände kommt. (Niemals Bücher: sie brennen schlecht.) Hinfälliges Bemühen auch mit dem was aufloht.

Meine Autodafés läutern mich nicht. Ich bin den Druckbuchstaben verfallen. Selbst hier in der kulturverschönten Wildnis der Toskana beziehen wir drei Tageszeitungen vier Wochenblätter sechs Monatszeitschriften. Oft ist der Tag um bevor ich seinen Niederschlag in Druckerschwärze aufgesogen habe. Dazu sorge auch ich für die Herstellung von Makulatur. Auch ich gehöre zu den berufsmäßigen Papierbesudlern. Auch ich versuche mit Runen »Wirklichkeit« hervorzuzaubern. Allerdings bewusst fiktive. (Ob das entschuldigt steht dahin.) Jedenfalls gehöre auch ich zu den Magiern die mit Hilfe von Rotationsmaschinen Fetische produzieren. Dass ich mich als ein solcher ernst zu nehmen habe ist Pflicht. Ich schulde das B. Sie liebt mich. (Den Schriftsteller.) Die angestrebte Vernunft der gesundheitserhaltenden Lebensführung soll vor allem dazu dienen dass ich möglichst viel und gut (und erfolgreich) schreibe. Ich füge mich gern. Mein Schreiben ist mein Leben. Das Herstellen einer fiktiven Wirklichkeit liegt mir im Wesen. Träumer von Gemüt. Taschenspieler von Geblüt. (Oder umgekehrt.) Also stelle ich mir meine abstrakte Welt her. Papier ist geduldig. Darauf habe ich mir die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« erschrieben. Ich erfülle sie gewissenhaft. Ich schreibe regelmäßig (wenn ich nicht lese).

Es gibt allerdings auch Augenblicke – vielmehr: Stunden Tage – in denen ich dazu nicht fähig bin. (Als ich um die Hand meiner ersten Gattin Priska Klara anhielt – Ansatz zur Fehlgeburt einer bürgerlichen Existenz – und meinem präsumtiven Schwiegervater gestehen musste ich sei Schriftsteller blickte er bekümmert an seiner Nase entlang und sagte. »Und was machen Sie wenn Ihnen nichts einfällt?«) Das braucht mich heute nicht zu ängstigen. Ein halbes Jahrhundert des irrenwärterlichen Umgangs mit mir selbst in Arbeitspsychosen (so lange schreibe ich schon: ein halbes Jahrhundert!) hat mich Geduld gelehrt. B. ist alles andere als geduldig; umso bewunderungswürdiger ist ihre Nachsicht. Ich beschwichtige sie mit Gleichnissen (die sie durchschaut). Eine fragwürdig bildhafte Analogie hat mir meine Pupillengymnastik nahegelegt. Die Stunden und Tage der Arbeitsunlust Einfallslosigkeit und Gedankenleere (sage ich) könnten meiner Schaffenskraft so zuträglich sein wie dem Gelände hier die Schluchten die es vor der Bedrohung durch Zement und Mörtel bewahren. (Appell ans Romantische: B. hält's mit den Grünen.) In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Ich fülle die sterilen Zeitstrecken mit Lesestoff. Ohne Schonung meiner Augen stopfe ich sechzehn achtzehn Stunden des Tages voll mit den fiktiven Welten anderer produktiver Nabelbeschauer. Ohne Rücksicht auf das was ich fürchten sollte: die literarische Ansteckung. Die Wirklichkeitsherstellung aus behaupteten Wirklichkeiten. Fiktives aus Fiktivem gezeugt. Literatur aus Literatur. (Wenn möglich aus der Zeitung aufgelesener.) Inzestuöser Intellektueller. (Kollege Gombrowicz hat gesagt er trete lieber als ein falscher Graf auf denn als Intellektueller.) Ich weiß dass ich zu den Wirklichkeitsschwindlern gehöre. Auch ich ein Schamane der Runenkunst. Aber an der landläufigen Augenauswischerei möchte ich mich nicht ohne ein Zwinkern beteiligen.

Das lässt mich an Ugo Muías denken. Seine Sucht die Fotografie vom Fotografischen zu läutern. Vom Schwindel des Fiktiven den sie im Nimbus der Objektivität noch täuschender vollführt als die anderen Künste. (Die Unwirklichkeit der Wirklichkeit.) Er zog nicht nur das aufgenommene Motiv ab sondern gleich auch das Bild des Films auf dem es festgehalten war. Am liebsten hätte er die Kamera mit aufgenommen und dahinter sich selbst: als Denunziant des Auges das dem Objektiv verwehrt objektiv zu sein. Ich erinnere mich an ein solches Selbstporträt. (Ich besitze es nicht: ich bin kein Sammler von Souvenirs.) Sein Etruskerkopf: das beinah slawische Knabengesicht mit dem volllippigen Mund der kurzen aufgeworfenen Nase den hohen Backenknochen und weit auseinandergesetzten sacht geschlitzten Augen (»die breite Stirn bekränzt von hyazinthnert Locken« heißt's doch wohl). Ein junger Waldmensch: Faun. Im Museum in Volterra ist ein solcher Kopf zu sehen. Er krönt eine schmale Klinge aus grün patinierter Bronze. Ein gut entwickeltes Geschlechtsteil auf der Vorderseite und auf der Rückseite die schwungvoll angedeutete Linie einer Wirbelsäule sowie an derBasis ein naturalistisches Paar nackter Füße machen's augenfällig dass es die Gestalt eines Jünglings ist. Abstrahiert und lang gezogen wie eine Skulptur von Giacometti. Sie heißt Ombra della sera: Abendschatten; und etwas Abendschattiges lag über Ugos scharfäugiger Milde: eine sanfte Trauer die von seiner Lebendigkeit aufgeheitert aber nie verbannt war. Wie liebenswürdig er war hat sich in New York herausgestellt. Er war dorthin gekommen um die Protagonisten der amerikanischen Kunst-Epiphanie zu fotografieren: Rothko und Barnie Newman Stella Jim Dine Oldenburg und Rauschenberg Lichtenstein und Jasper Jones (Pollock war schon tot) – kurz: the New York art scene der sechziger Jahre. Er sprach keine Silbe Englisch und kroch als ein lächelnder Taubstummer knipsend in ihren Ateliers herum und sie liebten ihn alle und beschenkten ihn mit ihren Werken obwohl schon damals deren Preise Nullen ansetzten wie Karpfen Laich. Mir hat er einmal die Geschichte seines Vaters erzählt: Ein carabiniere den's aus Sardinien in die Lombardei verschlagen hatte und dessen Traum es war ein Stück Land zu besitzen und darauf seine Familie gedeihen zu sehen. Der Traum erfüllte sich; aber in die Quere kam ihm der andere: aus seinen Kindern studierte Leute zu machen. Das war kostspielig; längst bevor sie ausgebildet waren kam der kleine Besitz unter den Hammer. Ugo erzählte das lächelnd: unstillbar milde Trauer in den Augen. Es war noch in den Tagen bevor er erkrankte. Einmal hat er uns hier besucht. Das Haus war weit entfernt von der unperfekten Perfektion vor Kurzem (vor dem devastierenden Ansatz zur endgültigen Perfektionierung). Es war noch überschattet von zwei riesigen Ulmen die dann beim allgemeinen Ulmensterben in den späten Siebzigern eingegangen sind. Der Turm war ein Stummel. Ugo ging mit seinen scharfsichtigen träumerischen Augen herum und vergaß beinah zu fotografieren. Es gab damals noch einige verlassene case coloniche in der Gegend (Landflucht der sieben fetten Jahre industrieller Prosperität). Er spielte mit dem Gedanken eins für seine Töchter zu kaufen. Ein Hindernis war nur dass sie zu weit von ihren Schulen sein würden. Bald danach erkrankte er.

Die frühen Gefährten hier: Ugo und Bruce. Die Frühverstorbenen. Die Frühvollendeten. Jünglingsopfer auf dem Altar des Großfetisches Kunst. Trotzdem. (Was ich wohl damit meine?)

Der König erstaunte gewaltig und sprach: »Dies ist etwas, über das man nicht Schweigen bewahren kann, und mit diesem Fisch hat es irgendeine besondere Bewandtnis.«

AUS DER ZWEITEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Unter meinen Freunden ist keiner der mich nicht um diesen Ort beneidet. Ich führe jeden ins höchste Turmzimmer. Die Aussicht dort ist stupend. Ringsum ist nur unbebautes Land zu sehen, schütter eingestreut eine Handvoll Häuser in der Richtung zum Arnotal, das nächste einen Fußmarsch von einer halben Stunde entfernt. Südlich sind es in der Luftlinie von einem Dutzend und mehr Meilen nur zwei Gebäude: der skurrile Maurenpalast von Sammezzano ziegelrot ins Nadelholzdunkel seines Parks gesteckt wie der Kamm ins Haar einer Andalusierin; und einen weiteren Sprung dahinter der Torre del Castellano einfältig wie die Kinderzeichnung einer Ritterburg: winzige rauchblaue Silhouette im luftigen Taubenblau das der Pratomagno an den Saum des Himmels malt. Beides, Maurenpalast und Ritterburg sind historische Fälschungen. Das Maurische von Sammezzano ist das Produkt der Orientmode um 1850 welcher ein damaliger Besitzer (der sich für einen Nachkommen der Aragon ausgab) allzu eifrig folgte. Die Ruine des Torre del Castellano wurde nach 1945 von einem lokalen Liebhaber aufgekauft und streng mittelalterlich hergerichtet. Doch das tut der Pracht des Panoramas keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es italienisiert das Etruskerland.

Ich breite es mit einladender Handgebärde vor meinem Gast aus. Bitte sich zu bedienen: Jede Menge Toskana. Mutterland architektonischer Hochkultur. Auch botanisch: Auf erhabeneEffekte angelegte Friedhofsvegetation: Lorbeer Pinien und Zypressen über den violetten Hellebarden der Wunderblumegladiolo, der Iris im Florentiner Wappen. (Bei uns wühlen die Stachelschweine die Knollen rascher aus der Erde als wir sie nachpflanzen können.) Eine Landschaft voll kunsthistorischer Anzüglichkeiten. Hier und dort ein schiefes Bauernhaus der macchiatoli. Hier und dort auf einer Hügelkuppe eine michelangeleske Villa (Weinflaschenvignette); hier und dort eine Böcklinsche Toteninsel in Heckenrosen eingesponnen. Auch die Hügelzüge sind eine Täuschung. In Wahrheit ist's ein belebt welliges Gelände das aus dem Arnotal aufsteigt und durch die krassen Abstürze gebirgig wirkt. Allerdings mit der Dramatik einer Manieristenlandschaft. Das war einmal zäh dem kargen Boden abgerungenes Bauernland. (Die wundervolle Sparsamkeit der toskanischen Baukunst kommt ja bekanntlich aus der Armut.) Die gegenwärtige Verwilderung ist ein Ergebnis industrieller Blüte. Hastige Landflucht der fünfziger und sechziger Jahre. Ich deute auf die hellen Tönungen im Tarnkleid des bosco: das silbrige Flimmern des Laubs der überwucherten Oliven die noch nicht erstickt sind im Gefilz aus Efeu und Brombeerranken. Weingärten und Ölgärten einstmals; jetzt sich selber überlassen, kein Narr gibt sich mehr mit der Bestellung ab. Tant mieux pour nous

und dann fragte ich meinen Gast ob diese ökologisch nicht ganz einwandfrei aus der dereinstigen Zähmung wuchernde Schönheit auch ihn so irritiere wie mich? Ob nicht auch er den Eindruck habe das sei inszeniert um eine Daseinsmöglichkeit vorzutäuschen die keiner Wahrheit entspricht? Der vorangegangenen noch weniger als der gegenwärtigen. Ich für mein Teil traue meiner Herrlichkeit hier nicht. Abgesehen von dem was dahinter lauert: die Supertanksteilen der Autobahn die zwar zu fern ist um sie tagsüber zu sehen nachts aber als ein glitzernder Wurm aus den indigoblauen Hügelausläufern kriecht und sich südostwärts verschlängelt. Die bald gänzlich von Blechfahrzeugen verstopften alten Städte: Figline San Giovanni Montevarchi Arezzo. Bröckelndes Mauerwerk über Konfektionsboutiquen und Elektroläden; Proletarierjugend in Lederjacken auf tosenden Krafträdern; wappenüberkrustete gotische Rathäuser eingesponnen ins wirre Netz der Leitungsdrähte; und ringsumher die Metastasen der schundigen Neubauten Fabrikhallen Garagen; die Räude der Bauplätze Müllhalden. Das wüste Werkgelände zur Schaffung einer immer perfekteren Welt – das zu bejammern, sage ich, ist hinfällig ist peinlich nachzüglerisch. Das Lamento über eine Welt die so eigenmächtig über ihren idealen Entwurf hinausgeraten ist dass dessen Sinn sich in sein Gegenteil verwandelt hat füllt ohnehin meine drei Tageszeitungen vier Wochenblätter und sechs Monatszeitschriften. (Spalte an Spalte mit glanzpapierbunten Ermunterungen irgendwas zu kaufen was die Weiterentwicklung ins Katastrophale beschleunigt – Herr vergib ihnen denn sie wissen nicht was sie tun!) Wir aber klagen an. Wen? Wie als wären wir tatsächlich bereit auf unsere Wasserspülung zu verzichten um die heile Gottesnatur wiederherzustellen – wir rastlose Passagiere donnernder Flugzeuge: wir schnöde Kinder der einen erdballumfassenden steinernen Megalopolis die sich für uns allabendlich ins Feenreich der Myriaden Glühbirnen verwandelt – ich kann nur kichern sage ich. Die Toskana! Langhornige weiße Ochsen vor schwer unter Traubenlast schwankenden zweirädrigen Karren – nicht wahr? Jauchzende Winzer bei der Lese: Ja ja der Chiantiwein! Auf Folklore kann verzichtet werden. Naturschutzgebiet ohne Abfalleimer für Plastiktüten Blechdosen und ausgeschossene Schrotpatronenhülsen (sie liegen frei herum). Heile Gottesnatur der Bauvorhaben. Ausnahmslos von Ferienhausbesitzern Pensionisten englischen Militärs im Ruhestand weltflüchtigen Kunstschaffenden besiedeltes Hedonistenreservat. Solcherlei Schlupfwinkel gehören zu unseren Lebenslügen und ich frage mich wie lange es dauern werd bis unsere Brüder und Schwestern aus dem endlich befreiten Osten sie durchschauen werden. Mit ihnen werden wir in nächster Zeit zu rechnen haben. Sie haben ihre Lüge leben müssen und sich schließlich tapfer dagegen aufgelehnt. Heldenhaft (mit besseren Konsummöglichkeiten und Ferienzielen imAuge) haben sie das Joch des nachsichtslos perfektionistischen Willens zur Gestaltung einer idealen Welt abgeworfen und suchen nun bei uns die Wahrheit. Werden sie willig von uns lernen wie man sich auf sublimere Weise belügt?

Sie rühren mich zu Tränen, die Schwestern und Brüder aus dem Osten, sage ich. Ich habe einen Blick in ihre Misere getan. Ich meine die Misere ihrer vermeintlichen Befreiung. In Rumänien, zum Beispiel. Wenige Tage nach dem Sturz (und der Ermordung) Ceauşescus. In der blutigen Morgendämmerung der Freiheit, die einen schwer bewölkten Tag versprach. Als die Helden der sogenannten Revolution zu begreifen begannen dass es nicht ihre Revolution war. Dass es gar keine Revolution war. Ein schlichter Betrug. Ein Theatercoup zur Kaschierung der bösen Wahrheit. Zehn Tage habe ich den taschenspielerhaft konfusen Bemühungen zugeschaut angeblich einige Ordnung ins absichtlich hervorgerufene Chaos zu bringen. Herausgekommen ist dabei notwendig wieder die nachsichtslose Alte: Irgendwer musste ja Ordnung machen – und außer den alten Ordnern war eben keiner dazu da. Also musste alles zwangsläufig beim alten bleiben. In den Trümmern einer ruinierten Stadt eines restlos ausgeplünderten Landes einer durch und durchkorrumpierten und nun auch ideologisch sterilisierten Gesellschaft. Auf dem Buckel eines seit eh und je zu stumpfem Erdulden geknechteten Volks in dem es gottbehüte gären könnte. (Nicht allzu bedrohlich allerdings. Die Ordner haben die Dinge in der Hand.) Unmittelbar danach hat's mich nach Köln verschlagen wo ich sechs Tage lang hinter Prinz Karneval und seinem Gefolge hergefahren bin. Dort durfte ich zuschauen wie die Deutschen sich bemühen zur Zerstreuung launiges Chaos zu organisieren. Zur Entspannung der überforderten Nerven in einer straff verwalteten Wohlstandswelt die kein Risiko scheut um die Wohlstandsmöglichkeiten der weniger wohlstehenden Schwestern und Brüder aus dem endlich befreiten deutschen Osten profitabel aufzukaufen. Sechzehn Tage sind nicht viel zu Beobachtung und Vergleich. Immerhin genügend um nach Kollegen Nietzsche rasch und möglichst tief zu tauchen. (Die Tiefe war nicht mein Verdienst: die Umstände haben mich niedergedrückt.) Danach war ich in Indien wo die Begegnung mit der MUTTER von Pondicherry mich zu noch verwirrterer Nachdenklichkeit angeregt hat; und danach wieder einmal im Krankenhaus. 1990 war ein ereignisreiches Jahr. Für mich auch ein erlebnisreiches. (Nicht alle Ereignisse gehen uns nah.) Und zunächst hatten auch mir meine Erlebnisse nichts miteinander zu tun. (Obwohl doch alles auf ein und dasselbe hinausläuft.) Ist es verständlich, frage ich dass ich auf dem Aufbrechen des Frühlings hier und in Osteuropa und überall sonst wo in dieser beschleunigt ihrem Untergang entgegenstrebenden Welt mit zwiespältigen Gefühlen zuschaue? Miterlebend gewiss; mitleidend sogar. Aber in der entfremdenden Neugier dessen der's unternimmt dieser unglaubwürdigen Wirklichkeit eine fiktive entgegenzustellen. Popliteratur. Und wäre sie auch noch so schön und künstlerisch wohlgeraten …

und während ich mich daran weide wie mein Gast sich aus der Antwort windet brenne ich vor Ungeduld ihn loszuwerden. Mich ödet mein eigenes Geschwätz an. Ein Allerweltsgeschwätz wie's in der Zeitung steht. Ich kann's kaum erwarten allein zu sein und meine Lesebrille aufzusetzen um einzugehen in die holde Irrealität der Buchstabenwelt: immer noch der lauschigste Winkel im Limbo der Beziehungslosigkeiten.

Und als er näher herankam, fand er einen Palast, gebaut aus schwarzen Steinen und belegt mit Eisenplatten, und einer der Flügel des Tores stand weit offen, während der andere geschlossen war.

AUS DER DRITTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Der fragwürdige Frühling vor meinen Fenstern ist ein Geschenk des März. (Ein Lied aus Kindertagen, das mein Vater trällerte: »Die Pappeln dort auf der Chaussee wiegt schon der Märzenwind; mein Wintertraum zerfließt wie Schnee, der von den Dächern rinnt …«) In der Tat ist noch kein Monat vergangen seit das Wetter entschieden winterlich war. Entsprechend dem was hier Winter heißt: Eisregen im Nebel; manchmal zaust böser Wind die Oliven. Es hat mich nicht angefochten; ich hab' den Fuß nicht vor die Tür gesetzt. Ich klebe am Fernsehschirm. Ich klebe daran seit dem Januar 1991. Was sich damals darauf abgespielt hat (als spielte sich's hier tatsächlich vor meinen Augen ab und nicht einige Tausend Meilen ostwärts im Fabelland Arabien) war der Golfkrieg. Ein Wintertraum der Medien der nicht mit dem Schnee zerflossen ist sondern im Nebelgrau des Flimmerschirms. Die Faszination des vorgezauberten Geschehens war betäubend. Ich sagte mir: Das ist nun endlich wirkliche Wirklichkeit. (Wenngleich nicht meine hier.) Ich stürzte mich hinein. Meine Bücher ließ ich liegen. Das Reich der sieben Säulen der Weisheit war in mein Zimmer gekommen. Lawrence of Arabia's Abenteuer fanden ihre konsequente Fortsetzung vor meinen Augen. Was ich sah war welthistorisches Geschehen: Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte Kuwait besetzt und ist (wie inzwischen jedermann sattsam weiß) nach ausgiebigem Bombardement durch Mr. Bushs »Wüstenschild« und Fünf-Sterne-General Schwarzkopfs »Wüstensturm« wieder hinausgefegt worden. Fürs Fernsehen und meine drei Tageszeitungen vier Wochenblätter und sechs Monatszeitschriften beispielhaft das was im journalistischen Fachjargon (der unsereSprache immer üppiger durchdringt) ein scoop heißt. Doch welch jämmerlich falsch gefurzter! Ich schaute mich von einer Enttäuschung in die andere. Die Bilder waren lebensmuterstickend nichtssagend. Die Kommentatoren bemühten sich den Sensationswert aufzuheizen. Geschwätz ist die gewohnte Geräuschkulisse zum bewegten Bild. Und das hätte sich verstecken müssen. Anfangs stundenlang nichts anderes als aufsteigende und landende Flugzeuge. Wie im Kino wenn man glauben soll Held oder Heldin hätten sich an einen anderen Ort begeben. Aber wenn sie dort gelandet sind geschieht gewöhnlich irgendwas. Hier nicht. Es waren Bomber, wo hatten sie ihre Bomben abgeladen? Dank CNN sah man's dann endlich: Bagdad (die Stadt des Kalifen Harun ar-Raschid) bei Nacht. Kohlpechrabenschwarze Finsternis fern gesäumt von Elmsfeuern. Na schön: das hatte unsereiner von 1940 bis 1945 an Ort und Stelle (wenn auch einige Tausend Meilen westwärts: in Berlin) unvergleichlich viel dramatischer und geräuschvoller erlebt. Wirkliche Wirklichkeit. Hier war's abstrahiert. Gelegentlich sah ich was von oben: infrarot aufgenommen ein schemenhaftes Bombenziel im Fadenkreuz der (offenbar unbehelligten) Angreifer. Mehlig grauschwarz wie auf einem unterbelichteten Negativ. Ein unbestimmtes Etwas plötzlich ausgelöscht von einem draufgepatzten Schneeball. Das – sagte mir der Kommentator – war der Bombeneinschlag. (Und was da unten lebendig gewesen war hatte a snowball's chance in hell: Ebenso wie ich um 1943 in Berlin.) Jetzt und hier blieb's ein schattenhafter Vorgang. Eine Art Graupause des Entsetzlichen. (In meinem Turmzimmer war's gemütlich: ein flottes Feuerchen brannte im Kamin und ich hielt das Glas mit meinem Abendwhisky in der Hand.) Nur einmal belebte das abstrakte Kriegsgeschehen sich putzig: ein ameisenhaft winziges Männlein das gerade noch über den letzten Zipfel einer Brücke rannte bevor auch sie unter einem draufgepatzten Schneeball verdampfte. Endlich the human touch. Das wurde denn auch fleißig wiederholt. Desgleichen ein ölverschmierter Kormoran: Zeuge der satanischen Umweltverachtung eines brutalen fremdrassigen! Zwingherrn. Sodann die ölbeschwerten Gewässer des persischen Golfs. (Sindbads See wimmelnd von juwelengleichen Fischen. Scheherezades Welt: Smaragda und Rubinien und Tale von Türkis. In Petroleum erstickt.) Dass die Macht des Unholds gebrochen und er von Gottes Erdboden gefegt werden musste war Ehrensache aller zivilisierten Nationen. Und eben das wollte ich sehen. Das war mir versprochen worden. Das wollte ich – verdammt noch mal! – augenfällig erleben. So wie seinerzeit den Bombenhagel auf Berlin. The deadly human touch. Das hier war Betrug. Das Missverhältnis zwischen angeheizter Erwartung und kümmerlich vermitteltem Geschehen war ärgerlich. Die zoologische Gattung Mensch kam ihrem Schöpfungsauftrag allzu lässig nach.

Die Medientaktiker schienen das zu spüren. Gewöhnlich tanzt die Weltstimmung auf den scoops wie ein Pingpongball auf einem Wasserstrahl; sprudelt der nicht deftig so stürzt sie ab. Mr. Bushs innenpolitische Chancen standen auf dem Spiel. Die Medien taten nicht ihr Bestes. Sie stopften die Lücken im Bild mit müßigem Geschwätz. Alle halben Stunden schalteten Kommentatoren sich ein und redeten mit ernstgefassten Mienen theoretischen Stuss. Situationsanalysen. Fachleute am abstrakten Werk. Aus ebenso fernabliegenden Orten erstatteten Reporter nichtssagende Berichte. (Man ließ sie angeblich nicht näher ran.) An runden Tischen waberte dafür der Wortbrei vollzeitlich engagierter Intellektueller: Die ethischen moralischen politischen wirtschaftlichen völkerrechtlichen völkerpsychologischen Aspekte des Ereignisses. Sie waren mir bekannt. Wo war das Ereignis? Ich sah's verschwinden in den sonnenlichtverhüllenden Wüstensandfahnen die abrasselnde Panzer hinter sich herzogen. Würden sie bald irgendwo auf Saddam Husseins mörderische Verteidigungslinien treffen? Wenn ja so blieb's mir vorenthalten. Nichts was im einschlägigen Deutsch action heißt. (Wie das gemacht wird beschreibt Ryzard Kapuscinski in seinem »Fußballkrieg«: »… Gregor Straub von NBC verlangte die Nahaufnahmen des schweißüberströmten Gesichts eines Soldaten; Rodolfo Carillo von CBS bestand auf einem Kommandierenden, der weinte, weil er seine gesamte Einheit verloren hatte;

ein französischer Kameramann wünschte sich den Angriff einer salvadorianischen Einheit in die Flanke einer honduranischen – oder umgekehrt; ein anderer wollte einen Soldaten, der seinen toten Kameraden trug … Die Radioreporter stimmten ein. Einer verlangte die Hilfeschreie eines Verwundeten, leiser und immer leiser werdend, bis zum letzten Atemzug …«) Hier vor meinen Augen (und Ohren) nichts dergleichen. Nix Äckschn. Dieser Krieg ging entweder gar nicht oder so abseits von fesselnder Berichterstattung vor sich dass ich den Einsatz von Saddam Husseins Giftgranaten und Höllenraketen geradezu herbeiwünschte.

Irgendwas stimmte nicht an der Sache. Es waren doch die Medien – allen voran das Fernsehen – gewesen die sich den scoop dieses Wüstenzaubers aufgebaut hatten. Sie hatten uns auf den Wasserstrahl ihrer weltgeschichtlichen Neuigkeit gesetzt. (Jedenfalls hatten die irakische die saudi-arabische die israelische die amerikanische Mr. Bushs der seinen Blumenkrieg brauchte und weiß der Geier noch wessen Diplomatie sich ihrer zu diesem Zweck bedient; alle Welt war vielfach interessiert am Konflikt beteiligt.) Der Wasserstrahl war losgelassen aber leider gedrosselt; wir konnten darauf nicht tanzen. Vor meinen Augen verflüchtigte die Sensation (und vermutlich damit auch der Zweck) sich unter ungeschickten oder irgendwie gebundenen Händen. Ich bin ein alter Hase im Gewerbe. In prähistorischen Zeiten – von 1946 bis 1956 – habe ich mit dem Rundfunk herumgespielt. In Hamburg an der Elbe. Vorangegangene historische Ereignisse – die Abtretung der Bukowina an Russland der Zweite Weltkrieg und so weiter – hatten mich dorthin verschlagen. Ich wurde Rundfunkjournalist. Dort zwar nicht im beinharten Konkurrenzkampf mit anderen Sendern wie heute in der kommerzialisierten Weltberichterstattung sondern in der lauschigen Höhlenzeit des deutschen Medienwesens: Als wir noch allein waren auf dem flachgebombten Feld. Immerhin vermittelte auch das einige Einsicht in handwerkliche Geheimnisse: Wer einen scoop wittert muss ihn sich aufbauen wie ein Schwergewichtsmeister seinen Gegner in der Ringecke. Dann aber in die Fresse was das Zeug hält. (Nämlich in die Schnauze des Medienkonsumenten.) All right. Aber das Gegenteil davon war hier der Fall. Ich stand freiwillig in der Ecke und wartete vergeblich auf die hits. Irgendwie war der Laden schief. Was sich ja dann herausstellte: als die Mutter aller Schlachten mit der Sturzgeburt eines Pyrrhussieges niedergekommen war. Das war so flugs und sozusagen unter der Hand vor sich gegangen dass selbst den atemlos hinter dem Geschehen herhetzenden Kommentatoren und Runde-Tisch-Schwätzern die reale Gegenwart in eine irreale Vergangenheit entglitt. Geschehen war etwas durchaus Abstraktes. Niemand begriff recht was es eigentlich gewesen war. Sinnlich war's nicht fassbar: Ein Krieg in dem's kaum einige Dutzend eigener Toter (die Mehrzahl davon durch Verkehrsunfälle und eigenes Feuer) gegeben hatte und nur gerüchteweise mehrere Hunderttausend des Gegners. Aber von diesen hätte ich gern – verdammt noch mal! – einige angehäuft gesehen. Als Zeugen der gerechten Sache. (Wenn's das wahrhaftig gewesen sein sollte.) Handelte sich's nicht um ein ethisch und moralisch einwandfreies und von den vereinten Nationen der zivilisierten Welt gutgeheißenes und in jeder Weise (auch der des Verhungernlassens der zu befreienden Unterdrückten) unterstütztes Unternehmen? Emotiv ließ sich das nicht ganz zusammenreimen. Was fehlte war das Bildhafte. Das Greifbare: Das Begreifbare. Das sogenannte »Wirkliche«. Der erfüllte Schöpfungsauftrag unserer Gattung. Ohne die einstige Lebenswirklichkeit der Hunderttausend von Feindtoten war dieser drôle de guerre abstrakt. Ohne die Evidenz ihrer aufgehäuften Kadaver existierten sie nur für die Statistik. Zwar wollte man mich später dafür entschädigen: Mit Bildern der Vernichtung von Fahrzeugen der abziehenden und flüchtenden Truppen und Okkupanten aus dem Kuwait. Grauenhaft zerstörte Wagenkolonnen aus denen hauptsächlich die Identifizierung des gegenwärtigen Menschen mit seinem Vehikel zu entnehmen war. Auch dies war nicht unbedingt ein Mittel mir das ferne Geschehen nahzubringen. Ich blieb mit bangen Fragen zurück. Warum hielt man die Wirklichkeit versteckt? War's Verlegenheit wegen eines blamablen overkill? Wo war Saddam Husseins infernalische Kriegsmaschine verblieben? Aufgespart für den nächsten scoop? Bis der morgenländische Teufel imstande war wirklich tödliche Waffen einzusetzen? Ex oriente lux– auch wenn's das Licht eines Atomblitzes war? Hatten die Medien sich ihren scoop so aufgebaut dass sie mir damit endgültig die Schnauze einschlagen konnten? Seit sie imstande waren Weltgeschichte live ins Haus zu bringen (gleichviel in welcher abstrakten Form) waren sie vermutlich auch darauf aus sie möglichst atemberaubend wirklich herzustellen. Endgültig atemberaubend. Ich und meinesgleichen würden sie gutgläubig konsumieren. Wirklichkeitsgierig. In einem Zustand entrückter Teilnahme wie in einem sachten Drogenrausch. Anteilnehmend am Geschehen in einem Niemandsland zwischen den Wirklichkeiten. Gleichzeitig beschwingt und gelähmt. In einer Sphäre der Überwirklichkeit, die mich über mich hinaushebt. Sie passt zu meiner Existenz hier in meinem Turmzimmer in der Toskana wie die Faust aufs Auge. Aber sie passt.

»Nun, o König« so sprach Scheherezâd, »war der Anlass dieses Klopfens dieser: der Kalif Harun er-Raschîd war aus seinem Palast herabgekommen, Umschau zu halten und zu hören, was es Neues gäbe.«

AUS DER ELFTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Auch vor dem letzten hatte ich erwartet dass die Nähe der Möglichkeit bald nicht anders zu existieren als auf Papier mein Trachten mich darauf zu verewigen ganz ungemein beschleunige. Unerfüllte Verheißung. Diese (vorderhand) letzte Korrektur der sogenannten side effects eines Siechtums das ich einem Ur-side effect verdanke war verhältnismäßig unbedeutend. Jedenfalls sagte das mein Hausarzt im Einklang mit dem Chirurgen. Also wurde der Eingriff allgemein auf die leichte Schulter genommen. Besonders mir selber fehlte der Respekt davor. Sportlich gelaunt begab ich mich ins Krankenhaus. Die Schwestern kennen mich dort seit Jahren. Sie gaben sich nicht einmal die Mühe mir den papagallo ans Bett zu bringen. Ich konnte aufstehen und mich auf eigenen Beinen ins Badezimmer begeben. Nichts war beschaffen mir die spannungsreiche Unruhe heraufzubeschwören die ich vor früheren Operationen genossen hatte. (Als Vorgeschmack des großen Abenteuers das mir ja doch demnächst bevorsteht.) Ich war zerstreut. Ich hatte mich mit einem Stoß Bücher und Zeitschriften eingedeckt und konsumierte vorderhand das sogenannte Leichte: Die Wirklichkeit. Zum Beispiel (um endlich der konkreten Welt so nah wie möglich zu sein) den Spiegel. Sprachheimat Deutschland: Deren reißerisches Thema waren die side effects der deutschen Wiedervereinigung. Die Schwestern und Brüder aus dem Osten Gegenstand des Hohns. Was sonst ich aus Deutschland bezog war unterhaltsamer. Die Bunte berichtete von den Exzentritäten der Fürstin von Thum und Taxis und den erotischen Menüwechseln der Prinzessinnen von Monaco. (Nebenher Gesundheitsratschläge: Die Behandlung von Nierensteinen und Schleimhautpusteln. Allerlei Abmagerungskuren.) Schalten wir um in die weite Welt: In der New York Review of Books schrieb Timothy Garton Ash nicht etwa über die Wirklichkeit von Büchern sondern über die »Wirklichkeit« der letzten Ereignisse in Polen und der Tschechei und wühlte damit meine rumänischen Erlebnisse auf. Zurück zu Europa: Paris Match erinnerte an Pondicherry und den Karneval von Köln. Heimatland Italien: Panorama und Espresso führten die Clownsparade im Zirkus der italienischen Politik vor. Gente brachte Bildberichte von Lady Di und der sechsten Hochzeit von Sandra Milo. Novella 2000 meldete die bevorstehende achte von Liz Taylor. (Skandalistisches auf etwas höherem Niveau, gebracht in Vanity Fair.) Ich lechzte nach der unmittelbaren Gegenwart des Fernsehens. Diese davon abgeschuppte Welt vermochte nicht die Erlebnissteigerung des Todgeweihten in mir hervorzubringen.

Dafür sorgten die Ärzte bei der Voruntersuchung. Ich fand mich auf dem Rücken liegend (Kafkas Käfer) die Beine hoch- und angezogen wie eine Kreißende während man mir rektal ein Rohr einschob und meine Eingeweide mit Luft vollpumpte. Auf diese Weise haben die Franzosen algerische Freiheitskämpfer zu Geständnissen gebracht. Ich hatte nichts zu gestehen als meine Skepsis auch gegen wissenschaftliche Medizin. Allerdings heißt es: auf die Chirurgie sei in jedem Fall Verlass. Erst recht auf die Errungenschaften der Technik. Am Ende des Rohrs sitzt wie an der Spitze eines Seesternarms das Naupliusauge eine Linse; dazu ein kleines Lämpchen. Damit wird die Darmwand ausgeleuchtet und besichtigt. Das unerbittliche Vordringen dieses heilkundlichen Grubenlichts ins Innerste des Körpers ist nicht nur ungemein schmerzhaft; es hat auch seinen psychologischen side effect. Ich hasste die Assistenzärzte die doch bei den Morgenvisiten so sympathisch waren: Sie schienen böse Freude an der Quälerei zu haben wie Buben die einen Frosch häuten. Ich war nicht mehr der wohlgelaunte alte Herr (lo scrittore) im Zimmer der Privatpatienten mit dem sie Scherze austauschten während sie einen flüchtigen Blick auf die Fiebertabelle am Bettende warfen. (Ich hatte nie Fieber; bis auf den side effect einiger Verwicklungen im Gedärm bin ich ja kerngesund; wäre ich nicht so gesund ich müsste mich als einen sehr kranken Mann betrachten.) Hier in der Chirurgie war ich ein Untersuchungsobjekt unter hundert anderen. Fleisch fürs Skalpell. Vom Ausgang der Untersuchung hing lediglich die relative Distanz dieses oder jenes Stücks meiner Anatomie vom Abfalleimer ab. Allein meine Nacktheit zeugte gegen meinen Anspruch auf Menschenwürde. (Christliches Kolonialherrengefühl: der nackte »Wilde«! Einmal in New York als ich mit anderen Untersuchungsobjekten im Wartezimmer der Radiologie beisammensaß – Negermamis, nicaraguanische Verkäuferinnen irische Fernlastfahrer bolivianische Straßenhändler afrikanische Straßenreiniger jüdische Altemigranten allbeisammen wie Waisenkinder in grünen Kitteln die vorn geschlossen und am Rücken zugebunden waren; die Beine nackt: braune Beine weiße Beine schwarze Beine dicke Beine dünne Beine haarige Beine glatte Beine krampfadrige Beine Athletenbeine Sulzbeine – bekam ein Kittel über zwei nackten Beinen einen Raptus: man hatte den Mann darin gezwungen sich auszuziehen und zu warten; und als man ihm sagte er könne sich wieder anziehen, er sei in der falschen Abteilung, brüllte er los: »And why did I have to strip naked? You do everything to humiliate us!«)

Die Assistenzärzte – es waren zwei: ein langer Hagerer und ein kurzer Dicker wie Pat und Patachon – hatten die Augen am anderen Ende meines Darmrohrs an Guckapparaten und schraubten daran wie U-Bootführer am Periskop. Sie tauschten dazu unartikulierte dafür nur umso beredtere Bemerkungen aus wie »Tsa tsa tsa!« und »Hm hm!«; einmal entfuhr dem kurzenDicken ein »Mamma mia!« Nachdem sie sich satt geschaut und mich endlich vom Rohr befreit hatten (ich stieß dabei zischend Luft aus wie eine alte Schnellzuglokomotive Dampf] gingen sie daran eine Zeichnung von meinem Darmgeschlinge anzufertigen. Ich lag derweil auf dem Streckbett pietätvoll mit einem Laken bedeckt und schaute zu wie sie die fragwürdigen Zonen schraffierten. Wir warteten auf den Primarius.

Der Primarius ist ein Chirurg von Ruf und nüchterner Lebensauffassung. Während er die Blaupause meiner Innereien betrachtete leckte er sich vorgenießend die Lippen. Dann kam er an meine Bahre und erläuterte mir die schraffierten Stellen. Ein alles bereinigender Eingriff könne nicht mehr vorgenommen werden, sagte er. Dafür sei der dereinst angerichtete Schaden zu groß. Nicht nur die Wucherungen seien zu berücksichtigen sondern auch die Brüchigkeit des Gewebes. Side effects einer ursprünglich wohlgemeinten, aber vermutlich überdosierten Kobaltbestrahlung. Heute macht man ja so was nicht mehr, sagte der Primarius; jedenfalls nicht bei uns in Europa. Die Amerikaner denken da anders. (Sein amerikanischer Zunftbruder hatte gesagt: »The decision is risky. But with a man of your status we don't want to make a mistake.«Selig sind die Armen.) Wie auch immer: dankenswerterweise strebt ja der Körper selbstständig eine Überwindung krankhafter Zustände an, sagte der Primarius; und so habe auch bei mir sich eine Art status vivendi herausgebildet, dem man mit einer kleinen Korrektur Stabilität verleihen könne. Damit könnte ich noch einigen Lebensjahren vertrauensvoll entgegenblicken. No problem.

Das stimmte mich verdrossen. Ich war enttäuscht. Seit der ersten großen Operation mit dem (vermutlich durch einen Fehler bei der Anästhesie verursachten) side effect des Herzinfarkts und dem denkwürdigen Aufenthalt in der Intensivstation hatte ich mir jedes Mal die gleiche Dramatik versprochen. Das vorletzte Mal hatte ich die Sanitäter die gekommen waren mich zum Operationssaal zu karren beinahe eine Viertelstunde warten lassen weil ich im Begriff war ein Buch fertig zu schreiben. Diesmal war nichts fertig zu schreiben. Das Menetekel meinerTodesstunde hätte mich zu neuen Hervorbringungen anregen sollen. Es geht nichts über diese heilige Ungeduld. Ich habe sie in den Augen von Bruce gesehen. Wenige Wochen noch bevor er gestorben ist. Saphirblaue Seheraugen fanatisch leuchtend aus einem angelsächsischen Jünglingskopf der schon ein Totenschädel geworden war. (Ergreifend das dünn gewordene Knabenhaar. Fieberfeucht wie der Flaum auf dem Schädel eines frisch aus dem Ei geschlüpften Güssels.) Er war zu schwach um zu schreiben aber besessen von der Einbildung er sei im Begriff den Ursachen seiner Krankheit auf die Spur zu kommen. Irgendwo in Afrika, sagte er fiebrig. Er stehe in Verbindung mit den am weitesten vorangepreschten Forschern; es war lediglich ein Rennen mit der Zeit. Ich muss nicht sagen dass er's gewinnen wollte um zu schreiben.

(Auch Ugo Muías: Der Krebs wucherte in ihm über alles hinaus was man ihm progressiv wegschnitt; er hing an Tuben und Röhren wie eine Spinne im Netz; und er dankte den Ärzten dafür dass sie ihm die Zeit schenkten sein Buch zu schreiben: eine theoretische Arbeit über die Fotografie. Auch er hatte Fanatikeraugen. Seheraugen. Prophetenaugen. Sie waren nicht strahlend blau wie die von Bruce sondern dunkel leuchtend. Sie leuchteten mit einer Glut die sein Leiden heiligte. Sein Haar war weiß geworden. Das Haselnusskernige des Südländers war schrumpelig und grau – silbernitratgrau: ein fotografisches Negativ. Die Lippen waren breitgezogen in der Anstrengung noch einige Tage mehr an Lebenszeit aus seinem krebszerfressenen Körper herauszuschinden.)

Bruce Chatwin und Ugo Muías die Frühvollendeten. Keiner ist viel über vierzig Jahre alt geworden. Sie mussten sich beeilen.

»Erst gestern Abend bin ich in dieser Stadt eingetroffen« sagte der erste Bettelmönch, »und da stand ich nun ratlos, wohin ich mich wenden sollte, als plötzlich dieser zweite Bettelmönch dastand. Da grüßte ich und sprach zu ihm: ›Ich bin ein Fremder‹, und er erwiderte: ›Auch ich bin ein Fremder.‹ Während wir noch so sprachen, siehe, da kam dieser unser dritter Gefährte zu uns und grüßte und sagte: ›lch bin ein Fremder‹, und wir erwiderten: ›Auch wir sind Fremde.‹«

AUS DER DREIZEHNTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Der Blick vom höchsten Turmzimmer wo Bruce ein paar Kapitel seines Romans »Auf dem Schwarzen Berg« geschrieben hat (immer vom Projekt des nächsten Buches redend) geht nach Südosten. Mein einstiger Freund Ernst Schnabel: Seeheld (ehemaliger Geleitzugführer: Deutsches Kreuz in Gold) schreibwütig auch er (auch er verstorben; allerdings als zweiundsiebzigjähriger Unvollendeter) würde flugs errechnet haben um wie viele Breitengrade tiefer oder höher ich damit liege als meine legendäre Heimat. Sie besteht nicht einmal mehr dem Namen nach: Bukowina. Ehemals k. u. k. Kronland; dann zu Rumänien gehörend; heute in der Ukraine. (In der Landwirtschaft gibt es den Satz von der »Wanderung des Bodens zum besten Wirt«; in der Politik scheint das Gegenteil der Fall zu sein.) Ich habe das Sprachgewirr jenes fabulösen Landes im Ohr: rumänisch ukrainisch deutsch jiddisch polnisch russisch madjarisch türkisch armenisch zigeunerisch. Ein Babel in dem dank eines bodenständigen Amalgams von tiefempfindender Anteilnahme und zynischer Weltkenntnis jeder jeden verstand. (Was nicht bedeutete dass er ihm sein brüderliches Herz öffnete.) Bruce hat mich auf seine Weise danach ausgefragt: im Hervorlocken des Anekdotischen. Bruce der Sammler. Einmal habe ich entdeckt wozu er seine Schätze hortete: In den Tagen vor Anna Fedora Aisha und Leila sorgte für unser Wohlergehen eine gewisse Giuliana. Als sie eines Morgens zum Turm gegangen war um aufzuräumen kam sie verstört ins große Haus zurück: »Wie viele Leute wohnen im Turm?« Signor Chatwin allein. Warum? Sie hatte eine Vielzahl von Stimmen gehört: Männer Frauen Kinder. Es war Bruce der sich das Durcheinander der Stimmen einer ländlichen Versammlung in Wales zum Schreiben vorgesprochen hatte. Als ich das Buch las kam eine davon aus der Bukowina.

Viel Tinte ist aus meiner Feder geflossen seit ich mir über Wert und Unwert des Anekdotischen und Episodischen den Kopf zerbrochen habe. Ich erinnere mich an erhitzte Gespräche mit Freund Schnabel in unserer Asylantenkammer im Sendehaus weiland des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg (aus dem er mich dann hinausgeworfen hat). Man schrieb die Jahre 1946 '47 '48 und Schnabel blickte idolisierend auf zu seinem Namensbruder-Kollegen Ernest Hemingway. Wir sprachen viel darüber und kamen nicht zur gleichen Meinung. Mit Bruce habe ich nie ein Wort über unser Handwerk gewechselt. (Ein einziges Mal doch: am Tag als wir uns kennenlernten.) Wir begnügten uns mit dem gegenseitigen Zuspielen von Anekdotischem. Ich hätte ihn bei meiner letzten Reise nach Rumänien gern um mich gehabt. Seit meiner Heimkehr von dort (paradox: die Heimkehr aus der Heimat) führe ich mit ihm das quälend monologe Zwiegespräch das Überlebende mit Toten unterhalten mit denen sie zu Lebzeiten nicht fertig geworden sind. (Wie mit allen verewigten Schriftsteller-Kollegen die wert sind sich an ihnen zu messen; natürlich ist das eine Messung an sich selbst und die geht nie gut aus.) Mit Rumänien ging's mir ähnlich: Ich vermochte mich nicht in den Griff zu bekommen. Mein Verhältnis zu meinem Ursprungsland erwies sich als gestört. Ich meine: Mein Mythos stimmte nicht mehr. Ich war nicht in die Bukowina gefahren (vielmehr in den Teil von ihr der innerhalb Rumäniens übrig geblieben ist) sondern nach Bukarest. Mittelpunkt des historischen Geschehens. Schließlich war ich nicht hinter mir selber hergereist sondern hintei der angeblichen Revolution. Aber natürlich stand ich dabei auf Schritt und Tritt mir selber im Weg. Ich kam nicht los von meiner Vergangenheit dort. (Und überall anderswo.) Ich vollführte eine lächerliche Springprozession über meinen Schatten. Anstelle von Bruce war mein – jüngerer – Freund Tilman Spengler bei mir. Einer von den ganz brillanten Jungen die auf beneidenswerte Weise die Wirklichkeit (hier und dort und überall) im Griff haben. Neben ihm schritt ich wie ein Gespenst durch die Straßen von Bukarest und hatte neben mir mein eigenes Gespenst. Das redete unaufhörlich auf mich ein. Es schwätzte vom Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit und Gegenwart. Da war ich – nach einem halben Jahrhundert mit nur zwei blitzgeschwinden späten Unterbrechungen – im Land meiner mythischen Vorvergangenheit; sogar das Blau-gelb-rot seiner Staatsfahne hatte ich zum Banner meines Mythos gemacht. Ich schritt über ein Pflaster an dem ich als jugendlicher Flaneur, die Nelke im Knopfloch, mir die Sohlen abgetreten hatte: vorbei an Stätten einstiger Träume und Erfüllungen Freuden und Leiden Eroberungen und Verluste Triumphe und Niederlagen … und es war alles gleichzeitig in mir: in einer Dimension der Zeit die nicht Gegenwart und nicht Vergangenheit war. Nichts war vergangen; alles war in mir jetzt und hier – und war doch keine Gegenwart. Ich schaute auf zur blau-gelb-roten rumänischen Fahne aus der die Insignien des kommunistischen Systems herausgeschnitten waren und dachte: Das Loch in der Mitte bin ich.

Im Januar 1990 war ich nicht zum ersten Mal in Rumänien nach meinem Abgang von dort (1937)· Zweimal zuvor war ich schon dort gewesen: einmal vier Jahre vorher (1986) für einige hastige Tage; ein andermal vor zehn Jahren (1980) für eine Woche. Es waren beide Male Tage des kältesten kalten Krieges. Ceaufeşcu stand auf dem Scheitel seiner Sternbahn. Alle Welt pries ihn als einen großen Staatsmann (wegen seiner vermeintlichen Unabhängigkeit von Moskau; Madame Elena wegen ihrer Verdienste als Wissenschaftlerin: Die Königin von England empfing ihn als gleichrangigen Staatschef; renommierte Universitäten verliehen der halbanalphabetischen Wissenschaftlerin Ehrendoktorate). Schon damals gab's in meinem Heimatland wenig zu essen und noch weniger um sich zu wärmen und die Winter waren bitter wie sie's dort nur sein können. Unter Liebesleuten gab's das geflügelte Wort: »Liebe mich aber zieh mich nicht aus!« Trotzdem kam in mir kein Mitleid auf. Diese meine Brüder und Schwestern aus dem europäischen Südosten lebten ihre Lüge so verbissen demonstrativ dass ich nicht wusste wen sie davon überzeugen wollten: mich oder sich selbst. Sie kannten die staatspolizeiliche Faustregel: Verdächtig ist jeder; am verdächtigsten der Unauffällige. Folglich trugen sie die offizielle Lüge so deutlich im Gesicht wie eine Sternkreuzordensdame bei der Fronleichnamsprozession ihren katholischen Glauben. Ich wusstedass was ich sah lediglich die Oberfläche war. Ich wusste auch dass ich niemals anderes als Halbwahrheiten der einen oder anderen Couleur zu sehen bekommen würde und dass es dem Zufall überlassen war mir einen Blick dahinter zu gestatten. Nur einmal bin ich der Wahrheit begegnet und zwar im Vorübergehen auf der Straße. Es war ein Paar wie aus einer Dostojewskischen Vision: Eine alte Frau heruntergekommen bis zur Lumpigkeit; tief gebeugt gestützt von einem jungen Mann von wildromantischer Schönheit: adlernasig glutäugig wachsbleich bis auf die Knochen abgehungert auch er; gegen die grimmige Kälte jämmerlich geschützt durch die Fadenscheinigkeit eines uralten fußlangen Mantels und den dünnen Strick eines Wollschals um den Hals. Auf dem kastanienbraunen Haar das ihm prinzlich auf die Schultern niederfiel saß trotzig verwegen eine wie aus der Mülltonne geklaubte räudige Pelzmütze. Das Paar bewegte sich zeitlupenlangsam durchs wellige Strömen der schnöde daran vorüberziehenden Passanten. (In Bukarest sind die Straßen immer übervoll; auch heute.) Die Alte legte nach jedem zweiten ihrer Trippelschritte eine erschöpfte Pause ein. Der Schritt des jungen Mannes war schonungsvoll geduldig hingedehnt dem ihren angepasst; und es war eine so ungeheuerliche Verachtung in seinem Adlerprofil in seiner kerzengeraden Haltung seinem vorausgerichteten niemanden um ihn her auch nur streifenden Blick im Stolz mit welchem er die ramponierte Alte am Arm führte wie eine Schöne in den Ballsaal dass mir das Herz stehen blieb. Es war die bildgewordene Verachtung der Gattung. Der schiere Menschenhass. Der Selbsthass in seiner vollen Würde.

Wenige Tage danach fuhr ich mit meinem Freund Venier (dem Leiter der italienischen Nachrichtenagentur) im Auto nach Curtea de Argeş wo die walachischen Fürsten begraben sind. Wir fuhren durch die Tiefebene des Bârâgan wo ich zwanzigjährig als Militärdienstleistender kavalleristische Übungen (auch auf Bauerstöchtern) ausgeführt hatte. Kernige Jugenderlebnisse von denen man lebenslang zehrt. Und es regte sich keinerlei heimatliches Gefühl in mir. Ich sagte mir vor es sei doch eine Heimkehr – wenn auch nur besuchsweise. Eine vorübergehende Heimkehr ist keine wirkliche. Es war als wäre ich nie weg und doch nie da gewesen. Nichts was mir fremd gewesen wäre. Aber auch kein Gefühl zu Hause zu sein. Mein Inneres war taub. Dafür erfuhr ich die Fahrt literarisch: als eine Reise nach Anweisung des »Surrealistischen Manifests« demzufolge das Wirkliche mit dem Unwirklichen sich ineinanderschiebt zur Überwirklichkeit. Ich war in Rumänien, all right. Wir fuhren westwärts. Das Gelände war flach. Links von uns im Süden floss die Donau, rechts im Norden zogen die Karpaten sich hin. Sehen konnte man weder das eine noch das andere. Sie waren beide fern und die Horizonte lagen in winterlichem Dunst. Die Straße war gesäumt von grotesk verzerrten Weiden, deren Zweige aus den knorrigen Stämmen dünn und struppig wucherten wie Hexenbesen. Es war sehr kalt. Der perlmuttergraue Himmel färbte sich an den Rändern pfirsichfarben. Aus verschneiten Feldern stiegen Krähenschwärme auf. Das war Rumänien wie's immer gewesen war. (Wie ich's mir ersungen hatte.) Kamen wir aber durch ein Dorf so wurde es unglaubhaft überrumänisch. Anstelle der herkömmlich weiß und blau und gelb getünchten Lehmhütten von ehemals die unter ihre weichgewalmten Strohdächer hingekauert gewesen waren wie die Karnickel im warmen Stall standen da spitzgegiebelte stummeltürmige Kleinbürgervillen im hybriden balkanbyzantinischen Stil des auflodernden rumänischen Nationalismus der Jahrhundertwende. (Im Fachgesimpel »Brancovean-Stil« genannt.) Sie waren in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren entstanden: im Morgenrot des rumänischen Kommunismus der optimistischen stalinschen Prägung. Dass in diesen Bojarenknusperhäuschen Kolchosenarbeiter wohnen sollten war merkwürdig genug. (Auch der ConducătorCeaufeşcu hat das unangemessen gefunden. Zwei Jahrzehnte später ließ er die Dörfer wieder flachlegen und stellte himmelhohe Wohnblocks auf.) Immerhin hatten dereinst die Bewohner für ihre bäuerliche Abkunft Zeugnis abgelegt: Die Innenwände der Loggien am Treppenaufgang (zwei gedrungene Bogen geteilt von einer trommeldicken Säule, wulstig gewunden wie ein zum Zylinder ausgezogener Turban) waren ausgemalt: primitiv stilisierte Fichtenwälder um ein Reh. Blumensträuße. Krähende Hähne. Sonnenuntergänge im Gebirge. Hier und dort ein ungeschickter Nachruf der schönen alten Ornamentik von Stickereien dazumal auf Hemden Kissen Decken Schafpelzen (die aus dem Bild Rumäniens verschwunden sind). Umso merkwürdiger war dass dieses folkloristisch angehauchte Proletenidyll eine innige Verwandtschaft mit den poststalinistischen Prunkbauten Ceaufeşcus in Bukarest aufwies –: auf gleiche geistesphänomenologische Weise wie Park Avenue mit Disneyland.

Wir bogen rechts ab: nordwärts zu den Bergen. Am Ende einer eiszapfenstarrenden Ortschaft hielt eine Streife der Securitate uns an. Mir war nicht wohl zumute. Zwar war Venier mit allen nötigen Papieren ausgestattet und wusste Ziel und Zweck unserer Reise plausibel zu machen. Aber in meinem Fremdenpass (noch war ich nicht vom Staatenlosen reumütig wieder zum Österreicher geworden) stand dass ich in der Bukowina geboren war; also ehemaliger Rumäne. Ich konnte freundlich aufgefordert werden im Land zu bleiben. Mein fremdenpolizeiliches Dokument nahm sich nichtig aus im schwarzen Lederhandschuh des Staatspolizisten. (»Flimsy« würden die pseudoenglischen Erzieherinnen meiner Kindheit auch dazu gesagt haben; zu ihm dagegen »beefy«.) Er wirkte Furcht einflößend moskowitisch in seiner Pelzmütze und dem gewaltig gegürteten Uniformmantel. »Du bist in Rumänien geboren?« fragte er mich. Damals gehörte die Bukowina noch zu Österreich, belehrte ich ihn angestrengt leutselig; rumänischer Staatsangehöriger war ich zwischen den zwei großen Kriegen. Krieg heißt auf Rumänisch râzboi. Ich weiß nicht warum mir das, als ich's aussprach, anheimelnd klang als handelte sich's um eine mich mit ihm verbindende Sache. (Apokalyptisches: Gewalt Blut Grausamkeit Verwüstung Tod.) Er schien ähnliches zu empfinden. Er gab mir den Pass zurück und sagte: »Komm ich will dir was zeigen!« Einige Schritte von uns hatte eine kleine Gruppe sich eingefunden: ein schrumpeliges Männlein von etwa Siebzig und eine Handvoll Knaben vom Knirps bis zum Halbwüchsigen. Mein Staatspolizist nahm das Männlein bei der Schulter und führte es mir vor: »Schau dir diesen hier an. Er war unser Pope. Aber wir haben ihn rasiert!« Die Knaben johlten und das Männlein zeterte: »Schäm dich! Ich hab' dich getauft. Ich hab' dir lesen und schreiben beigebracht!« Der Staatspolizist lachte von Herzen stalinistisch (die »fürchterliche Jovialität« des Oberförsters aus Kollege Jüngers »Marmorklippen«): »Und ich hab' dich dafür rasiert!« Zu mir: »Er hatte den schönsten Bart seiner Zunft. Der Patriarch musste ihn darum beneiden. Und den hab' ich ihm abrasiert.« Die Knaben johlten. Sie gehörten zur Generation die im Dezember 1989 den Kugeln der Securitate entgegenmarschiert ist. Aber nicht etwa weil sie ihren Popen wieder bärtig haben wollten.

Im Januar 1990 habe ich ihre frisch aufgeworfenen Gräber am Rand eines Stadtparks gesehen. Die ärmlichen Rohholzkreuze und die zerzausten Armenhausblumen im Matsch aus Schnee und zertrampelter Erde. Die Kerzenstummel die immer wieder vom Luftzug der vorbeisausenden Autos ausgeblasen wurden und die ungeschickt handgekritzelten Abschiedsgrüße der Mütter und Geschwister. Menschenleid live. Rührend waren die Bilder der hinfällig Gefallenen: alle ergreifend jung. Passfotos. Amateurfotos. Um sie vor Wetterunbill zu bewahren hatten die Angehörigen sie unter umgekehrte Trinkgläser gelegt. Tilman Spengler der ein Vollblutjournalist ist entdeckte das Grab eines Burschen von dem es offenbar keine Porträtaufnahme gab. Stattdessen hatten seine Hinterbliebenen einen Zeitungsausschnitt mit dem Bild seines größten Helden unter Glas getan: Sylvester Stallone als Rambo.

Das wäre Anekdotisches nach Bruce Chatwins Geschmack gewesen. Allerdings würde er sich's verkniffen haben es literarisch zu verwerten. Möglicherweise (gewissermaßen hinter sich selbst zurückgetreten) in der hochgezüchteten Unpersönlichkeit eines Zeitungsartikels. (Probater Trick.) Er zog eine scharfe Trennungslinie zwischen dem Journalisten und dem Romancier. Der Journalist kann sich allerlei erlauben was dem Romancier nicht geziemt. (Zum Beispiel die Knallfrösche der Effekte springen lassen.) Bruce hielt die gleiche strenge Linie ein zwischen den beiden – dem Romancier Chatwin und Chatwin dem Journalisten. (Und dem Salonplauderer Bruce Chatwin der er auf bestechende Weise gewesen ist.) Eine seiner auffälligen Tugenden war Disziplin. Sie war auch der Grund seiner gut verborgenen Erschöpfung.

»O Herrin« sagte der zweite Bettelmönch, »auch ich wurde nicht mit einem Auge geboren, und meine Geschichte ist seltsam, und würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für einen jeden, der sich warnen ließe.«

AUS DER VIERZEHNTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Die undankbare Aufgabe des Tradierens! Ich lese den Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Carl Jakob Burckhardt und mir wird bewusst was in meiner Lebzeit verloren gegangen ist. Die Verpöbelung der Welt wird mir bewusst bis zum physischen Erleiden. Mir ist das peinliche Geschick zugefallen mit offenen Augen am Niedergang teilzuhaben. Spätgeborener Spätzeitgenosse. Ich sehe das Verlorene das die allermeisten noch später Geborenen glücklicherweise nicht mehr sehen. Es ist nicht allein die Fülle und Gründlichkeit des Wissens; nicht allein der Scharfblick Weitblick Weltblick jener hochdisziplinierten Epochenverschlepper des neunzehnten Jahrhunderts ins frühe zwanzigste; es ist auch nicht die Weitläufigkeit. (Zum Unterschied vom heutigen kosmopolitischen Provinzialismus.) Es ist der gute Ton. Er herrscht nicht nur im persönlichen Umgang von Freund zu Freund sondern in allem worauf ihr Zwiegespräch sich bezieht. Die Lektüre wird zu einem Aufenthalt in bester Gesellschaft. (In dieser Hinsicht bekenne ich mich als schrankenloser Snob.) Im Profundesten wie im Trivialen – ob sich's um Gedanken zur Religion Geschichte Völkerpsychologie Literatur zum Theater zur Politik zur Charakterisierung von Personen zur Beschreibung von Situationen oder um ein Stadtbild einen Reisebericht handelt (wobei Burckhardt in ziemlich allem bessere Figur macht als Hofmannsthal; im Politischen von beinah unheimlicher Prophetie) oder um eine Frühstückseinladung ein Krankenbulletin einen Bilderverkauf den Austausch von Ferienplänen – immer ist das mit einer Grazie der gegenseitigen Achtung Formbewahrung Diskretion und weltmännischen Distanz – kurz: einer zivilisatorisch hochgezüchteten Objektivität vorgetragen die unsereinen bis zum Zähneknirschen beschämen müsste. Epigone sein ist peinlich genug; aber in der Gosse leben und aufschauen zu unbewohnten Schlössern lässt's noch bitterer schmecken. Tröstlich ist einzig der Gedanke dass ungemein viel Selbstbetrug dazugehört um in Schlössern zu wohnen. Was die Kollegen Burckhardt und Hofmannsthal bewunderungswürdig macht ist der feste Glaube an die Welt die sie und ihre Vorgänger sich ersangen. Todeslied der Saurier. (Vielleicht war das ebenso schön.)

Ich begehe nicht die Unvorsichtigkeit mich an den Kollegen Burckhardt und Hofmannsthal zu messen. (Literarisch kann die Messung an derlei Toten tödlich sein.) Ich begnüge mich – zähneknirschend – damit: mir zu sagen dass ich zu einer bemitleidenswerten Zwischengeneration gehöre. (Auch Greise waren einmal jung.) Hofmannsthal war nur zwei Jahre älter als meinVater (Geburtsjahr 1874 beziehungsweise 1876). Ich war fünfzehn als er starb. (1929: ich befand mich – unwillig und schlecht – in einem Internat in Mauer bei Wien: gar nicht so weit weg von seinem Schlösschen in Rodaun.) Den größten Teil meines Lebens (bis 1974: da war ich sechzig) habe ich als Zeitgenosse Burckhardts hingebracht. Zwar war der Bruch zwischen Vätern und Söhnen längst vollzogen. (Freuds »Ödipus« ist ein Zeitdokument.) Aber es gab nicht nur rebellische Söhne; es gab auch stupide folgsame. (Epochenverschlepperchen.) Es gab solche die sich die Welt auf eine stürmisch neue Weise ersingen wollten. Jugendliche die ihren Stimmwechsel dem Dienst der Menschheit widmeten indem sie deren Leitbilder und Werte auf den Kopf stellten. Und es gab andere (geborene Konservatoren) die jene für böse Buben hielten die den Goldschatz der Kultur entwenden wollten. Ihnen fiel eine Rolle zu die mich (Sohn meiner Zeit) an die amerikanische slap-stick-Komödie gemahnt: Das Dampfross schnaubt in die Zukunft; the bad guys koppeln die wagons ab in denen der kulturelle Goldschatz der Vergangenheit mitgeführt wird. The good guys lauter heldenhafte Buster Keatons – versuchen den entgleitenden Reichtum mit Händen und Füßen an der Lokomotive festzuhalten. Das Gerangel geht nicht ohne Verluste ab. Als der geringste davon erscheint derjenige der feinen Umgangsformen. Verderblicher ins Gewicht fällt dass über dem Konflikt zwischen Selbstbetrügern und Augenauswischern vergessen wird zu fragen was die Lokomotive antreibt und wohin sie schnaubt. Aber das ist der Lauf der Welt. Gottes Wege sind nicht so unerforschlich wie gemeinhin angenommen wird; man verliert sie bloß aus den Augen.

Bruce und ich haben einander (etwa um 1974) in London bei einem Western-Film kennengelernt. Clint Eastwood schoss aus der Hüfte. Bruce war ergreifend jung: The Golden Boy (der er zeitlebens geblieben ist). Ich pflege den Umgang mit jungen Menschen emsig. (Kollege Hofmannsthal zitiert den Marschall Lyautey: »Je m'entends rarement avec un général, toujours avec un lieutenant.« Klar: der Leutnant reißt die Hacken zusammen.) Der überraschend frühvollendete Bruce und ich (schon etwas abgegriffen) waren unverzüglich darüber einig dass Manieren die augenfälligsten Zeugnisse der Epochen sind: Formale Kleider zum Auftragen verstaubter Inhalte. Die alten Texte verjüngt in der Handschrift der epocheneigenen Generation. Die Väter eliminiert. Plus de pères. Rien que de fils! Damit hatten die Umgangsformen sich eben in der Weise verändert wie der Salon zum Western saloon geworden ist: Du trittst ein indem du die Flügelstummel der Schwingtür mit dem Absatz beiseite kickst und deutest mit dem eisigen Blick unter der tief in die Stirn geschobenen Krempe deines Stetson unmissverständlich an that you are quicker on the draw als irgendein anderer. Kein schöngeistiges Rankenwerk bitte. Wer unbedingt nach Gefühl verlangt kann hinter der stählernen Fassade ein leidenschaftlich glühendes Herz vermuten. Denn immer noch wird die Welt bewegt von Liebe Hass und Macht und Demut. Entscheidend ist die rücksichtslose Aufbereitung der alten Klischees. Anders frisst man sie nicht mehr. Es war denn auch das einzige Gespräch in dem Bruce und ich schnöde lachend unserem Metier als Schriftsteller nah gekommen sind. Während aller unserer Freundschaft schwebte zwischen uns das unbewegte Rache-Engel-Gesicht Clint Eastwoods; und ich konnte dahinter das Leiden der Jungen erkennen: Die Not des Zwanges sich die hässliche Welt schön und doch wahr zu ersingen. Wissend und unsentimental. Sozusagen mit zusammengebissenen Zähnen. Es wird nicht geklagt. Als wäre die Frage nach Sinn und Ende des Singens schlechter Ton. Bruce brauchte seine Disziplin. Er kannte den Münzwert gepflegter Umgangsformen.

(Ugo Muías der Sentimentale: Während er den Plan zu seinem Buch über die Fotografie ausbrütete – er wuchs in ihm gleichzeitig mit dem Krebs an dem er sterben sollte – starrte er sich in Bilder fest die ich aus meiner Vergangenheit mitverschleppt hatte. Plattenabzüge aus meinen Kindertagen: Meine Schwester und ich in vielerlei Posen und Kostümen. Mein Vater hatte sie aufgenommen. Mit urweltlichen Kameras, die um die Jahrhundertwende den höchsten Stand der Technik vorgestellt haben mochten. Ich musste sie Ugo detailgetreu schildern: Die preziösen Ungetüme aus Mahagoni Messing feinem schwarzem Leder Mattglas und dicken Linsen; heikel aufgebaut auf staksigen Stativen aus leichtem Holz in immer jüngeren ineinandergeschobenen ausziehbaren Einzelgliedern wie Malerstaffeleien. Mich Kriegskind gemahnten diese Stative an Invalidenkrücken – auch das ein Genrebild der Epoche: Maschinengewehre waren auf solchen Gestellen – allerdings eisernen – aufgebaut. Mein Vater hasste alles Militärische. Für ihn waren die Staffeleien fragile Stützen im Erdrutsch unserer Zivilisation. (Er sah die Verbindung nicht.) Wenn er sich aus dem Jäger der er mit jeder Fiber seines Wesens war gelegentlich in einen Amateurfotografen verwandelte so war's in der Ausstaffierung des Landschaftsmalers: Bonjour, Monsieur Courbet. Die Gerätschaft wurde wie Expeditionsgepäck von Trägern mitgeführt. Die Stative waren eingehüllt in auf und zu knöpfbare Leinenfutterale; die Kameras ruhten in der grünen Filzfütterung solider Kalbslederkästen mit festen Gurten Messingscharnieren Messingschlössern. Kamen sie zum Vorschein so waren sie zu flachen schweren Mahagonischachteln zusammengedrückt. Erst wenn sie auf dem Stativ festgeschraubt waren klappte mein Vater sie auseinander: die Innereien raupten sich ins Tageslicht: Schienen Scharniere Messingschräubchen Bronzerädchen schoben einen schwarzen Lederbalg in einer umgekehrten Perspektive von zackigen Treppenstufen rüsselhaft auf uns zu um uns mit einem kreisrund in geschwärztes Metall gefassten dunkel spiegelnden Kyklopenauge in Unbeweglichkeit zu bannen. Die Erwartung ließ uns zittern. Das Mündungsloch des Objektivs war zur Vollstreckung auf uns gerichtet. Der Vater – ein mächtiger Zauberkünstler der Verblüffendes vorbereitete – warf ein schwarzes Tuch so über den Apparat dass es die Mattglasscheibe und seinen Kopf bis an die Schultern verdeckte. Wir wussten– er hatte uns erlaubt durch die Scheibe zu schauen –dass er uns jetzt verkleinert und auf dem Kopf gestellt in einstellbaren Entfernungen und Schärfegraden sah. Wir rührten uns nicht. Seine Hände kamen unter dem Tuch hervor und drehten an Rädchen und Schrauben: der raupige Ziehharmonikabalg dehnte sich und zog sich zusammen, das riesige Insektenauge des Objektivs glitt lautlos auf präzisen Stahlschienen vor und zurück und wieder vor bis es endlich feststand. Der Vater trat dramatisch unter dem schwarzen Tuch hervor und bedeckte die Linse mit einem runden Lederkäppchen. Aus einem der Gerätekoffer holte er eine blecherne Kassette und schob sie hinter die Mattscheibe. Wenn er daraus eine dünne Blechlasche gezogen hatte wussten wir: die Kamera ist geladen. Der Moment der Aufnahme war da. Unsere Kleidung wurde zurechtgezupft; das Haar aus der Stirn gestrichen; die Hüte gerade gerückt. Es erging eine letzte strenge Mahnung zu absoluter Unbeweglichkeit. Der Vater trat neben die Kamera. Mit zeremonieller Langsamkeit griff er nach dem Lederkäppchen vor dem Objektiv hob es blitzschnell ab und führte es – indem er halblaut wie zur Beschwörung »Einundzwanzig zwei-und-zwanzig drei-und-zwanzig« und so weiter zählte – in einer kreisenden Bewegung davon weg und wieder darauf zu – um es ebenso blitzgeschwind wieder aufs Objektiv zu setzen. Wir wussten: im Schwung dieser Handbewegung – während wir unter dem Abrakadabra seines Sekundenzählens nicht zu atmen gar mit einem Lid zu zucken wagten – vollzog sich der magische Akt der dann in der Dunkelkammer im blutigen Ampellicht der Alchimistenküche augenfällig werden sollte: Unterm sachten Schwenken des Säurebads in einer Porzellanwanne in dem auf den milchigen Glasplatten sich ein nebeliges Magma bildete das in immer tieferen Tönen von Grau bis Schwarz in immer klarer hervortretenden Umrissen die Formen gebar: Wir – meine Schwester und ich – aus der Zeit herausgenommen. Zeugen der fragwürdigen Wahrheit einer versunkenen Welt. Die Lüge der Fotografie hat sie uns schön ersungen.

Meine Schwester ist seit mehr als einem halben Jahrhundert tot. Aber die Trauer in Ugos Augen galt nicht ihr. Sie vertiefte sich wenn ich ihm erzählte dass auch mein Vater – bestochen von der unerhörten technischen Entwicklung – bald die vorsintflutlichen Monstren seiner alten Kameras verbannte und mit den giftig-scharfen kleinen Apparaten fotografierte mit denen man die Bilder sozusagen aus der Hüfte schießen kann. Von den vielen Hundert der damit erzielten Momentaufnahmen habe ich keine aufgehoben.)

»Dann zog ich weiter, bis ich zu einer sicheren, wohlbefestigten Stadt kam, erzählte der Prinz. Gerade hatte der Winter dort sich mit seiner Kälte von dannen gemacht, und der Frühling war eingezogen mit seiner Rosenpracht. Die Blumen begannen zu sprießen, und die Bächlein dort begannen zu fließen.«

AUS DER FÜNFZEHNTEN DER TAUSENDUNDEINEN NÄCHTE

Als ich im Januar 1990 aus Rumänien zurückgekommen war – den Schädel voll düsterer Bilder; das Gemüt beschwert vom Grabstein der Vergangenheit – half mir kein Mittel der Selbstzucht das dort Erfahrene literarisch festzuhalten ohne dass es mich zur Frage nach dem Sinn und Zweck von amateurhaften Augenzeugenberichten gedrängt hätte. Als Reporter bin ich seit jeher ein Versager. Das Anekdotische ließ mich im Stich. Es gab denn auch nichts zu erzählen was nicht schon erzählt gewesen wäre. Die angebliche »Revolution« war vorüber. Der Zwingherr Ceaufeşcu und sein grauenhaftes Weib waren hingemeuchelt. Selbst ihr Beitrag zur Erfüllung des Schöpfungsauftrags war ein Fliegenschiss in der Menschheitsgeschichte. Dramatischeres gab's nicht zu berichten. Allerlei Gerüchte – okay. Aber so unzuverlässig dass daraus kein scoop zu machen war. Übrigens: Wie viele Tote hatte es »wirklich« gegeben? Zunächst hatte das Fernsehen (aus weiß der Geier welchen revolutionstechnischen Gründen) die Tatsachen so betrügerisch übertrieben dass mit der Glaubwürdigkeit auch bald das Interesse erloschen war. Was? nicht sechzigtausend Tote sondern nur einige Hundert in Timişoara und wenige Dutzend in Bukarest? Schalten wir um zur »Lindenstraße«. Ich hätte mir die Finger wund schreiben können an vorausgegangenen Gräueln: Folterkammern haarsträubendeGefängnisse Todeszellen mörderische Arbeitslager verjauchte Krankenhäuser aidstriefende Waisenhorte – kurz: das Übliche aus dem gegnerischen Lager. Aber daran griffelten schon Horden von Journalisten-Kollegen und brachten's auch mit den erschreckendsten Statistiken nicht fertig das hervorzulocken was die Fotoreporter mit wenigen Bildern erreichten: die Übelkeit erweckende Regung von Mitgefühl die kaum ausreicht zum matten Stoßseufzer: »Man müsste wirklich einmal etwas unternehmen!« Schwamm drüber. Es kam doch letzten Endes alles auf die Weisheit heraus: Der Sozialismus war ein Reinfall; ein Versuch die Menschheit zu perfektionieren der seit 1917 einigen hundert Millionen das Leben gekostet hat. Welch jämmerlich alter Hut! Wo war der scoop?

Was hatte ich in Bukarest gewollt? Dabei sein. Bei was? Um was zu tun? Hingefahren war ich in der spontanen Absicht: die Stunde nicht zu versäumen da die Fesseln fielen: da die blaugelbrote Fahne nicht nur als mythisches Banner meiner anrüchigen Herkunft aus einem balkanesischen Operettenland wehen würde sondern– endlich befreit von den verhassten Insignien der Hammer-und-Sichel-Diktaturen – stolz entfaltet über einem Heimatland das aus der Finsternis hinterm Eisernen Vorhang hervorgetreten war um einzustimmen ins Konzert der freien demokratischen Nationen als Handelspartner in der freien Marktwirtschaft. Verlässlicher Waffenbruder und begehrtes Touristenziel. Anschluss an die Wirklichkeit. Das war kein guter Einfall. Rumänien ist ein surrealistisches Land. Kein Zufall dass dort so bedeutende Kirchenväter des Surrealismus geboren sind wie Tristan Tzara und Eugène Ionesco (und dessen Guru aus der Moldau: Urmuz der auf zwölf Seiten eines der wichtigsten Prosawerke des tiefsinnigen Unsinns hinterlassen hat). Es ist ein wunderschönes Land: reich an erzadrigen Bergen winddurchrauschten Wäldern traubenschweren Rebgärten korngoldnen Feldern. Dahinter öffnen sich die Steppen aus denen durch die Jahrtausende die zottelhaarigen Nomaden und deren Vor- und Nachfahren hingeschwärmt sind: Gepiden und Rumänen Petschenegen und Avaren Hunnen und Ungarn und zuletzt dieRussen und – von der entgegengesetzten Seite – die Deutschen. Die Türken haben es jahrhundertelang in Knechtschaft gehalten; die orthodoxe Kirche in Unwissenheit. Dandyhafte Bojarensöhne, die in Paris studiert hatten brachten ihm die Aufklärung und die Syphilis; deutsche und französische Ingenieure plünderten seinen Reichtum und rüsteten es mit Waffen aus. Und alledem hatte ein Volk von Leibeigenen unter Knutenschwingern nichts anderes entgegenzusetzen als eine Zählebigkeit die es wie Antäus aus dem Boden unter seinen Füßen, aus der Erde unter seinen arbeitsamen Händen bezog. Bis der epidemische Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts auch im erwachenden Rumänien ausbrach und es mit dem Mythos von der Herkunft seines Volkes aus der Verbindung von römischen Weltherren mit stolzen Dakern und dementsprechendem Größenwahn ausstattete. Dessen Wechselbalg und Profitant dann Nicolae Ceauşescu geworden ist. (Bei allem Hass von seinem Volk dafür geliebt.)

Spreche ich von Rumänien zu Menschen denen es so fernliegt wie das Fabelland Zipangu (oder mein ersungenes Maghrebinien) so versuche ich mit diesem hingeschwätzten historischen Kurzgalopp etwas Essentielles zu erläutern: Ein Volk das gewärtig sein muss von einem Augenblick zum andern alles zu verlieren alles mühsam Aufgebaute zerstört zu sehen niemals eine dauerhafte Ordnung zu erhalten immer neuen Herren dienen zu müssen; ein Volk das immer alle seine Ansichten entkräftet seine Absichten vereitelt sein Streben entmündigt sieht – ein solches Volk, sage ich, glaubt nicht an die Eindimensionalität des Tatsächlichen. Es glaubt schlichthin an gar nichts. Außer an den Tiefsinn des Unsinns. (Auch das ist eine Weise den Sinn der Welt auszuloten.) Ein künstlerisch hochbegabtes Volk. Künstler im Existentiellen.

Ich war – wie ich schon sagte – nicht allein nach Rumänien gefahren sondern in Begleitung meines Freundes Tilman Spengler. Auch ihn verschonte ich nicht mit meinem Geschwätz über mein mythisches Herkunftsland. Rumänien, sagte ich, gehört nicht ganz zu Europa sondern immer noch zu den fabulösen Reichen der Ottomanen und der Zaren (auch der kommunistischen Couleur). Es ist Byzanz näher als den Römern auf die es sich so gern beruft. Das Volk ist auf eine asiatische Weise gewalttätig dabei slawisch schicksalsunterwürfig. Hand in Hand damit gehen bedenkenloser Opportunismus schlitzohrige Intelligenz Großherzigkeit und Leichtlebigkeit. Auch prosaischste Nüchternheit und – ja: eben der surrealistische Witz. Der Sinn fürs Absurde. Fürs Unwirkliche der Wirklichkeit. Aber das alles ist bekannt.

Auch meinem jungen Freunde dürfte das nicht neu gewesen sein. Er war öfter in Rumänien. Das letzte Mal noch wenige Wochen zuvor: in den heißen Tagen des Umsturzes. Er hatte vielerlei Beziehungen dort; junge Menschen wie er die in eine neue Welt hineingeboren waren. Bereit zum neuerlichen Selbstbetrug dass eine neue bessere herzustellen wäre. Ich kannte sie und ihre Projekte nicht. Ich kenne die Welt nur noch vom Hörensagen. Mehr als ein halbes Jahrhundert war vergangen seit ich in Rumänien gelebt hatte. Was ich davon zu erzählen wusste war Greisengemurmel. Unwirklich gewordene Wirklichkeit von vorgestern. Ebenso unnütz wie ich selbst an dieses jungen Mannes Seite: ein Überflüssiger in den Kulissen eines Stücks das seit Olims Zeiten nicht mehr aufgeführt wurde; ein gänzlich anderes Schauspiel fand dort statt. Ich trottete neben einem Gegenwärtigen her und schaute zu mit welcher Energie und Tüchtigkeit er seine Aufgaben bewältigte: die journalistischen sowohl wie die philanthropischen (er organisierte eine Hilfsaktion). Sogar mein Rumänisch war zu sehr eingerostet als dass es ihm hätte nützlich sein können. Es knirschte jämmerlich in den Gelenken. Flüssig wurde es nur wenn ich mit irgendwem in einem Winkel sitzen und von alten Zeiten schwätzen konnte. Die Freude an den lieben Märchen drehte nicht nur mir den Magen um.

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Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822251
DOI
10.3239/9783942822251
Dateigröße
2 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (April)
Schlagworte
Rumänien Europa Bukowina Schriftsteller Bruce Chatwin toskana maghrebinische geschichten denkwürdigkeiten eines antisemiten
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Titel: Greisengemurmel
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