Zusammenfassung
Dieser Titel erschien als E-Book zuerst 2017 bei hey! publishing unter dem Titel „Tango infernal“.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Buenos Aires, Recoleta
Sieben Jahre später
In diesem Teil von Recoleta gibt es noch einige Straßen mit Kopfsteinpflaster, gesäumt von Bäumen, deren üppiges Grün den Menschen in den Straßencafés Schatten spendet. Nun, am Ende des Sommers, werden die Tage angenehmer und Temperaturen von über 40 Grad sind eher selten. Es kommen vermehrt Touristen – Tangotouristen aus Europa, die dem Winter in ihrer Heimat entfliehen. Hier erkunden sie die unzähligen Milongas der Stadt und kaufen Tanzschuhe.
Die Klimaanlage in Sarahs Almacen aleman, wie ihre kleine Schreibwarenhandlung heißt, läuft glücklicherweise seit einer guten Woche wieder. Vorher ist es kaum auszuhalten gewesen und Sarah hat ihren Laden mittags für einige Stunden schließen müssen. Hier im Viertel heißt sie nur „la Alemana“, die Deutsche, obwohl sie inzwischen recht gut Spanisch spricht. Neben Heften, Tagebüchern, Stiften und Briefpapier verkauft sie auch Zeitschriften, Postkarten, Zigaretten und Süßigkeiten, ein buntes Sammelsurium, wobei sie erstaunt, wie gut die altmodischen Schreibwaren laufen. Die Bewohner dieses Viertels ticken einfach ein wenig anders. Viele kommen nur zum Plaudern vorbei. Heute ist allerdings nicht viel los, sie hat bisher nur ein paar Packungen Zigaretten verkauft.
Sarah trinkt einen Schluck Mate, setzt die Lesebrille auf und versucht sich auf ihre Buchführung zu konzentrieren. Seit ihrem 40. Geburtstag sieht sie die Zahlen ohne Brille nur verschwommen. Die Türglocke, eine altmodische Schelle, bimmelt und sie schaut auf. Ein dunkelhaariger Wuschelkopf winkt zwei anderen Jungen zum Abschied zu und stürmt hinein.
„Pedrito!“, ruft sie überrascht. „Wie kommt es, dass du schon da bist?“
„Schule war heute früher aus“, gibt ihr Sohn zurück. Er besucht die erste Klasse der Internationalen Schule, die gleich um die Ecke liegt, jedoch oft spontan Konferenzen ansetzt und die Schüler nach Hause schickt. Sie umarmt ihn einen Moment lang fest und atmet seinen süßen Duft ein, bevor der Junge sich losmacht und unter ihrem Tisch verschwindet – nicht ohne sich zuvor einen Schokoriegel geschnappt zu haben.
„Iss nicht so viel Schokolade“, ermahnt sie ihn lächelnd. „Bald ist Mittagspause und dann gibt es Essen. Was magst du heute?“ Dass sie direkt über dem Geschäft wohnen, ist ein Geschenk des Himmels. Pedro antwortet nicht, er ist in die Comic-Geschichte eines Superhelden eingetaucht, wo ihn keine mütterliche Stimme erreicht.
Sarah widmet sich wieder ihren Zahlen, den Einnahmen und Ausgaben, als die Türglocke ein weiteres Mal ertönt. Ein Paar betritt den Laden, das Sarah hier noch nie gesehen hat, dennoch kommt die Frau ihr vage bekannt vor. Doch wie Touristen sehen die beiden nicht aus. Der Mann, ein Endfünfziger in hellem Anzug mit passendem Hemd und Einstecktuch, wischt sich den Schweiß von der Stirn und atmet in der Kühle des Ladens merklich auf. An seinem Arm stolziert eine üppige Latina herein, die ein knallenges pinkes Kostüm zu hochhackigen Pumps trägt. Ihre Waden sind wohlgeformt und von einem Milchkaffeeton, ihre üppige Oberweite wird durch ein geschnürtes Mieder noch betont. Auf dem Kopf trägt sie einen wagenradgroßen Hut, der ihr Gesicht halb verdeckt. Sarah sieht einige Paradiesvögel in Recoleta, so dass der Aufzug der Frau sie nicht übermäßig überrascht.
Als sie droht, einen Postkartenständer umzureißen, nimmt die Frau den Hut ab und Sarahs Vermutung verdichtet sich augenblicklich zur Erkenntnis: „Juana?!“
Kapitel 1
Donnerstag, 27. Januar
Hamburg-Poppenbüttel
Den ganzen Tag lang hingen graue Wolken über Hamburg. Die meisten Menschen verabscheuten diese Jahreszeit, eine Art Dauerherbst, der sich auf das Gemüt legte. Doch Sarah hatte nichts gegen das Wetter. Von ihrem Arbeitsplatz in der Bankfiliale blickte sie auf die Geschäftsstraße und das hell beleuchtete Einkaufszentrum gegenüber, das Menschen einsog und mit Tüten beladen wieder ausspuckte.
Sarah mied diesen Ort. Wenn sie etwas benötigte, kaufte sie es im Internet, immer bei demselben Onlineversand, wo sie die Kleidung, Hosenanzüge, schlichte, knielange Kleider und klassische Pullover und Blazer zu Hause anprobieren konnte. Ihr Leben spielte sich werktags von 8.30 bis 17.30 Uhr in der Bank ab, in der sie tagein, tagaus auch dasselbe hätte tragen können, Hauptsache, es war seriös und unauffällig. Zu Hause, wo sie den Rest ihrer Zeit verbrachte, sah sie sowieso niemand. Die Natur hatte sie in jeder Hinsicht mittelmäßig ausgestattet: mittlere Größe und Statur, mittelbraune, glatte Haare, die sie mittellang trug.
Sarah mochte ihren Job. Er war so sicher, wie das im Bankwesen heutzutage möglich war, gut bezahlt, und man ließ sie in Ruhe. Sie arbeitete hier seit ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau vor über 20 Jahren. In der Zeit waren viele ambitionierte Kollegen gekommen und gegangen. Zwar hatte sie später den Bankfachwirt gemacht, aber nicht, um sich beruflich zu verändern, sondern um sich mehr Fachwissen anzueignen. Regelmäßig nahm sie an EDV-Schulungen teil. Ihre wechselnden Vorgesetzten hielten große Stücke auf sie und schätzten ihre Kompetenz in Sachen Kapitalanlagen.
Nach allem, was vorgefallen war, brauchte sie die Sicherheit ihrer gut bezahlten Arbeit, die ihr eine schöne 3-Zimmer-Eigentumswohnung ermöglichte. Das Darlehen ihres Arbeitgebers hierfür war fast abbezahlt. Zweimal im Jahr fuhr sie in den Urlaub, im Sommer nach Usedom, im Winter in den Harz oder ins Weserbergland, meist mit ihrer Mutter.
Lieber wäre sie allein gefahren, aber ihre Mutter bestand auf ihre Begleitung, sie hatte sonst niemanden mehr. „Das bist du mir schuldig, Sarah!“, betonte sie mit der gleichen Vehemenz, mit der sie auf die sonntäglichen Besuche der Tochter pochte. Bis dahin waren es zum Glück noch drei Tage.
Heute war Donnerstag. Donnerstags ging Sarah immer zur Jazzdance-Gruppe, seit über zehn Jahren waren sie ein fester Stamm von Frauen. Diese Frauen als Freundinnen zu bezeichnen, wäre zu viel gewesen, aber immerhin hatte sich irgendwann eine gewisse Verbundenheit eingestellt. Man ging zur Weihnachtszeit zusammen essen und gelegentlich nach dem Training noch etwas trinken, meist ohne Sarah, die lieber nach Hause wollte.
Sie liebte sie es, allein zu sein. Wenn sie die Vorhänge zuzog, die Welt aussperrte und es sich auf dem Sofa bequem machen konnte, atmete sie auf. Am liebsten schaute sie Schwarz-Weiß-Filme, ihr absoluter Lieblingsfilm war Casablanca, sie hatte ihn so oft gesehen, dass sie die Dialoge mitsprechen konnte.
Anders ihre Mutter. Ständig lag die ihr in den Ohren, wann sie sie denn besuchen käme, warum sie nicht häufiger zusammen ins Theater oder in die Oper gingen, dass Sarah sie zu Arztterminen oder Friseurbesuchen kutschieren sollte. Kaum hatte sie an ihre Mutter gedacht, klingelte das Telefon. Das Display zeigte die vertraute Nummer.
„Hallo, Mutter.“
„Sarah, guten Tag, woher weißt du, dass ich es bin?“
„Deine Rufnummer wird angezeigt. Was gibt es?“
„Ich wollte nur mal hören, ob es bei Sonntag bleibt.“
Seitdem Sarah vor 16 Jahren von zu Hause ausgezogen war, hatte es kaum einen Sonntag gegeben, an dem sie nicht ihre Mutter besucht hatte.
„Selbstverständlich. Wo möchtest du denn zu Mittag essen?“
Ihre Mutter liebte es, neue Restaurants auszuprobieren, das Einführungsangebot samt einem Sekt aufs Haus zu bestellen und dann nach dem sprichwörtlichen Haar in der Suppe zu suchen.
„Bei mir um die Ecke hat ein Italiener aufgemacht. Früher war dort ein Portugiese, weißt du noch? Dort gibt es einen Mittagstisch, auch am Sonntag. Lass uns das mal ausprobieren!“
„Okay.“ Sie starrte auf den Bildschirm, klapperte vernehmlich auf der Tastatur.
„Was bist du so kurz angebunden? Hast du Kundschaft?“
Ihre Mutter kapierte nie, dass sie nur selten Kundenkontakt hatte. Die Geldanlagen wurden von Anlageberatern verkauft, sie war meist mit dem Computer und den Zahlen allein.
„Nein, aber ich muss noch schnell etwas am PC fertigmachen.“
„Ach, heute gehst du zum Sport! Gut, dass du dich fit hältst. So eine alte Schachtel wie ich versauert ja allein zu Hause.“
„Jazzdance“, verbesserte Sarah ihre Mutter und fügte hinzu: „Du hast doch auch deine Seniorengymnastik.“
Bei dem Wort „Senioren“ stieß Sarahs Mutter ein abfälliges Schnauben aus, da sie sich jugendlich-fit fühlte und gern damit kokettierte, jünger auszusehen. Sie wohnte in einem exklusiven Seniorenstift, dank ihres zweiten Ehemannes, ein vermögender Steuerberater, der nach nur vier Jahren Ehe gestorben war. Dorthin kamen jeden Tag Physiotherapeuten, Yogalehrer, Sprachtrainer und andere Unterhalter, die den gelangweilten, aber betuchten Senioren die Zeit vertrieben.
„Ja, Altengymnastik, ganz toll!“ Die Unzufriedenheit ihrer Mutter tropfte fast aus dem Hörer.
„Mutter, es tut mir leid, aber ich muss Schluss machen. Wir sehen uns am Sonntag, soll ich dir noch irgendetwas mitbringen?“
„Nein, die besorgen mir hier alles. Etwas mehr Zeit könntest du für deine alte Mutter erübrigen. Und komm bloß pünktlich, hörst du?“
„Selbstverständlich. Punkt zwölf bin ich da.“
Sie legte den Hörer auf und fuhr den PC hinunter. Als sie ging und sich wie immer höflich verabschiedete, nahm sie kaum ein Kollege wahr. Es war, als wäre sie unsichtbar. Eine gute Basis dafür, dass bisher alles gut gelaufen war. Sie schlug den Mantelkragen höher und eilte zu ihrem Wagen.
An der Gymnastikhalle erwartete sie eine Überraschung. Die Tür war verschlossen, es hing ein Schild dran: „Liebe Jazzdance-Gruppe, leider muss der Unterricht vorerst ausfallen. Gern hätte ich mich noch persönlich von euch verabschiedet – bin ein halbes Jahr in Argentinien. Jutta“
Sarah stand ratlos davor. Argentinien? Davon hatte ihre Trainerin überhaupt nichts erzählt. Oder hatte sie etwas nicht mitbekommen? Und wo waren die anderen? Sie wartete ein paar Minuten in der Kälte, bevor sie sich zum Gehen wandte. Auf halben Weg zum Parkplatz kam ihr Beate entgegen.
„Ach Sarah, tut mir leid, wir hatten deine Handynummer nicht. Jutta hatte angerufen, ihr Flug ging nun doch früher“, rief sie, noch ehe sie Sarah erreicht hatte.
„Ich höre das alles zum ersten Mal. Wieso ist sie Jutta in Südamerika?“
„Das hatte sie erzählt, als wir vor zwei Wochen noch was trinken waren.“ Beate grinste. „Sie hat da wohl jemanden kennen gelernt. Einen ganz heißen Kerl. Tangotänzer oder so. Jedenfalls hat sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt und ist mit ihm nach Buenos Aires. Ihre Wohnung hat sie vorerst untervermietet.“
„Ach. Und was macht sie da?“ Sarah konnte sich nicht vorstellen, was jemanden veranlassen konnte, Hals über Kopf alle Brücken abzubrechen.
Beate verdrehte die Augen. „Na, was wohl? Tanzen, lieben, leben? Die Chance auf das große Glück ergreifen? Sarah, nicht alle Menschen leben ein Einsiedlerleben.“
„Das ist mir schon klar. Es kommt nur so überraschend. Und was wird aus der Gruppe?“
Beate zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Der Verein wird wohl irgendwann eine neue Trainerin schicken. Gib mir doch deine Handynummer, dann sage ich dir Bescheid.“
Sarah überlegte einen Moment. „Danke, aber ich frage einfach gelegentlich im Büro des Vereins nach.“
„Auch okay. Dann mach’s gut.“
*
Hamburg-Blankenese
An der Tür zum Lehrerzimmer stieß Reinhold beinah mit Teresa zusammen. Sie lächelte, schlug die Augen nieder und drängte sich an ihm vorbei, bevor ihm etwas einfiel, das er hätte sagen können. Er blickte ihrer schmalen Statur nach. Besonders ihre schlanken Fesseln, die auch jetzt unter den Hosen hervor blitzten, entzückten ihn. Sie wechselte in der Schule immer die Schuhe und trug sogar im Winter Ballerinas. Das und die mädchenhafte Art, sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen, hatten ihn verzaubert. Nachdem sie ein paar Mal in seinem Unterricht hospitiert hatte, fasste er sich ein Herz und lud sie auf einen Kaffee ein. Sie bestellte grünen Tee und errötete, während er über seine Liebe zu den alten Dichtern und Philosophen dozierte und aus dem Gedächtnis Gedichtspassagen deklamierte.
„Latein, wer interessiert sich heute noch dafür!“, rief er dramatisch aus. „Ovid, Catull, ach, die unerreichten, fernen Meister. Wie die Verse sich ineinander fügen – auch nach Jahrzehnten läuft mir immer eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich ihre Gedichte lese.“
„Die meisten Schüler nehmen heutzutage nur noch Latein, weil die Eltern wollen, dass sie Medizin studieren. Oder Jura“, warf Teresa ein. „Oder um Lehrer zu werden in einem Fach, das nicht so überlaufen ist.“
Der Nachmittag hatte in einem verschwiegenen kleinen Hotel geendet, wo Reinhold quasi als Vorspiel Gedichte zitierte, bevor er sie in Künste einzuführen versuchte, die sie augenscheinlich schon zur Genüge kannte. Routiniert und leidenschaftslos vollzog sie den Akt. Er war verblüfft und ernüchtert. Zu einem weiteren Treffen war es nicht gekommen, aber Teresa hatte ihn sowieso schon am Ende ihres Tete-a-Tetes gelangweilt. Ihre mädchenhaft-naive Anmutung hielt der Realität nicht stand.
Er ging zu seinem Platz und kramte Bücher hervor. Morgen stand eine schriftliche Vorprüfung seines Oberstufenkurses an. Auch wenn er über alle Erfahrung verfügte und sich eigentlich nicht mehr hätte vorbereiten müssen, stand es für ihn außer Frage, jedes Mal etwas Besonderes zu kreieren. Das war er den wenigen Schülern, die Latein bis zum Abitur nahmen, schuldig. Außerdem hatte er den Ehrgeiz, seinen Lateinkurs zu exzellenten Abiturnoten zu führen. Wenn die sprachunbegabten Stotterer der Mittelstufe endlich abgesprungen waren, nachdem er sie mit den Schlachtenbeschreibungen Cäsars bis zum Erbrechen gequält hatte, blieben einige wenige übrig. Manche davon hatten sogar eine gewisse Begabung und interessierten sich wirklich für die Sprache, nicht nur, um das große Latinum zu erwerben. Das war es, was ihn an Teresa wirklich gestört hatte – ihre Abgeklärtheit. Dass sie, die junge Referendarin, sein Latein nicht zu würdigen wusste. Wahrscheinlich hatte sie selbst zu den Schülern gehört, deren Eltern einen medizinischen Beruf für sie wollten und ihr Abiturnotendurchschnitt hatte nur zu einem Lehramtsstudium gereicht. Zwei Stunden später war er fertig, kopierte die Klausuren und packte sie in seine Aktentasche.
Der Blick auf seine Armbanduhr bestätigte das Knurren seines Magens: 13 Uhr, Zeit für das Mittagessen. Hoffentlich hatte Elena etwas Leckeres vorbereitet. Er schlüpfte in seinen alten Trenchcoat, setzte die Mütze auf und klemmte sich die abgegriffene Tasche unter den Arm. Ihr Henkel war schon lange abgerissen. Kollegen, die ihn bloß oberflächlich kannten, hielten ihn für einen armen Schlucker, der sein Gehalt in Erstausgaben investierte oder einen Haufen unterhaltspflichtiger Kinder hatte. Um diesen nicht unerwünschten Eindruck zu unterstützen, kam er meistens mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Schule. Doch heute war er etwas spät dran gewesen und hatte daher den Jaguar genommen.
Der Wagen sprang erst beim dritten Versuch an, dann schnurrte der Motor jedoch gewohnt zuverlässig los. Reinhold mochte seine gediegene Innenausstattung und das Fahrgefühl. Was er nicht mochte, waren die Blicke, die der dunkelgrüne Wagen regelmäßig auf sich zog – ob an der Ampel oder von der Nebenspur, überall Neid und Häme. Er schaltete das Radio an und wählte den Klassiksender. Ein Klavierkonzert von Chopin begleitete ihn nach Hause. Als er in die Einfahrt einbog, stand Sabines Mercedes Cabrio schon vor der Tür. Mittags aßen sie so oft gemeinsam, wie sein Stundenplan und ihre Termine in der Kanzlei es zuließen. Wenn er ehrlich war, waren eher ihre Mandantengespräche der wesentliche Faktor für das gemeinsame Essen, denn er hatte nur eine halbe Stelle. Mehr wollte und konnte er nicht unterrichten. Vor Sabine rechtfertigte er das mit einem ominösen Buch, das er angeblich seit Jahren schreiben wollte. Über die umfangreiche Recherche war er bislang noch nicht hinausgekommen.
Die Schüler schienen ihm im Laufe der Jahre immer anstrengender, lauter und kritischer. Der Lärmpegel an der Schule war kaum auszuhalten, das Geschrei in den Pausen zerrte an seinen Nerven. Außerdem hatte er so genügend Zeit für andere Interessen. Aus finanziellen Gründen hatte er es sowieso nicht nötig zu arbeiten, aber das musste niemand wissen, schon gar nicht seine Kollegen.
Er schloss den Wagen ab und ging die Freitreppe zum Eingangsportal hinauf. Die Villa an der Elbchaussee, die er mit Sabine seit 18 Jahren bewohnte, verdiente die Bezeichnung hochherrschaftlich. Sie hatte sie von ihrem Vater geerbt, als der mit knapp siebzig an einem Herzinfarkt gestorben war. Ihr Vater war ebenfalls ein sehr erfolgreicher Anwalt und Notar gewesen. Außerdem hatte er ihr neben der Kanzlei und einem vermögenden Kundenstamm drei Altbauten mit Mietwohnungen in Berlin und zwei in Hamburg hinterlassen, sowie einen Batzen Geld auf Schweizer Nummernkonten.
Zusammen hatten Sabine und Reinhold ein mehr als gutes Auskommen – eigentlich hätte keiner von ihnen arbeiten brauchen. Aber es stand für sie außer Frage, das zu tun. Sie mochten ihre Berufe und wollten der Gesellschaft sinnvoll dienen, wie Sabine es gern ausdrückte.
Reinhold schloss die Tür auf, bevor Elena, die Haushälterin, ihm öffnen konnte. Er hasste es, in sein eigenes Haus eingelassen zu werden, auch wenn es streng genommen Sabine gehörte. Er zog die Schuhe aus und ging ins Speisezimmer. Sabine saß schon dort und las die Frankfurter Allgemeine.
„Hallo Reinhold!“ Sie erhob sich halb und ließ sich von ihm einen Kuss auf die Wange hauchen. Mehr Körperkontakt pflegten sie in der Regel nicht.
„Wie war dein Tag?“, fragte Reinhold, ging auf die Stirnseite des Tisches und setzte sich ihr gegenüber. Nur der ausgeklügelten Akustik des Raumes sowie der ruhigen Lage der Villa auf dem 3000 Quadratmeter großen Grundstück war es zu verdanken, dass sie sich beim Essen nicht anschreien mussten. Manchmal dachte er daran, dass an diesem Tisch Platz für eine ganze Kinderschar wäre. In gegenseitigem Einverständnis hatten sie auf Kinder verzichtet, wobei Reinhold diese Entscheidung nun, wo es längst zu spät war – wenn nicht für ihn, dann auf jeden Fall für Sabine – manchmal bedauerte. Wer sollte all den Besitz nach ihrem Tod bekommen? Sabine hatte entschieden, es einer Stiftung zu vererben, doch ihm wäre wohler bei dem Gedanken gewesen, im Leben eine Spur zu hinterlassen.
Sabine sah ihn an und schien auf eine Antwort zu warten.
„Entschuldige, ich war gerade gedanklich abwesend“, gestand Reinhold und nippte an dem trockenen Sherry, den er sich vor dem Mittagessen immer gönnte.
„Ich hatte dir gerade von dem Gerichtsprozess erzählt, in dem ich einen Endokrinologen vertrete, der eine Privatbank gekauft und Millionen veruntreut hat.“ Es war typisch für Sabine, dass sie nie Namen nannte, um die Identität ihrer Mandanten zu schützen. Doch wer Zeitung las, wusste auch so, von wem sie sprach.
„Und, wirst du gewinnen?“
„Höchstwahrscheinlich wird es auf einen Vergleich mit der Staatsanwaltschaft hinauslaufen. Wir Anwälte sind heutzutage bessere Unterhändler. Aber er wird nicht allzu schlecht dastehen, vermute ich. Er verfügt über genug Kapital, um sich freizukaufen. Wenn er Glück hat, muss er nicht ins Gefängnis. Die Untersuchungshaft wird ihm auch angerechnet.“
Reinhold schüttelte den Kopf und tauchte den Löffel in die Hummercremesuppe. „Ich werde nie verstehen, was die Gier aus Menschen machen kann. Hatte er nicht genug?“
Sabine brach ein Stück Brot ab und kaute gründlich, bevor sie antwortete. „Solche Menschen bekommen nie genug. Er gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet, ist Professor und hat ein Standardwerk zur Endokrinologie veröffentlicht. Und nun wird er nie wieder in seinem Beruf arbeiten können. Die Approbation ist ihm zuerst aberkannt worden. Dann hat seine Frau – War es die dritte oder vierte? – die Scheidung eingereicht.“
„Vielleicht fasst er irgendwo in Brasilien oder so wieder Fuß. Pfuscht ein paar Schönheitsoperationen zusammen, neue Brüste und so. Da ist das Wetter auch besser.“
„Und die Frauen rassiger, jünger und weniger widerborstig“, vollendete Sabine seinen Gedanken. Sie lächelten einander an und prosteten sich mit dem leichten Roséwein zu, den sie gemeinsam auf dem kleinen Weingut in der Provence entdeckt hatten.
Elena trug den nächsten Gang auf und sie machten sich in stillschweigendem Einverständnis über die Meeräsche her.
*
Hamburg-Sankt Georg
Pablo erwachte voller Widerwillen. Die Sonne blendete ihn gnadenlos. Sie schien zwischen den nachlässig zugezogenen Vorhängen hindurch und richtete ihr Licht wie durch ein Brennglas gebündelt auf ihn. Er hatte sich in den Decken und Laken verheddert. Ihm war heiß und sein Kopf dröhnte. Obwohl er gestern Abend nur Rotwein getrunken hatte, schien er einen Kater zu haben. Dann fielen ihm die Tequilas ein, mit denen sie die Nacht beendet hatten.
Carlos’ Bein lag schwer auf ihm, er konnte sich kaum bewegen. Pablo drehte sich unter dessen sehnigen braungebrannten Schenkel heraus. Davon erwachte auch Carlos. Sofort erhellte ein Lächeln sein hübsches Gesicht, in dem über Nacht dunkle Bartschatten entstanden waren. Wenn Carlos sich nicht zweimal täglich rasierte, sah er aus wie ein Zigeuner. Außerdem kratzte er dann furchtbar und Pablo hasste es, mit rotgescheuerten Lippen im Studio aufzutauchen und sich spöttische Kommentare von Juana anhören zu müssen. Dabei hatte Juana bloß niemanden zum Ficken, nicht einmal zum Knutschen, und ihr Gerede entsprang purer Eifersucht. Manchmal bereute er es, dass er mit seiner besten Freundin zusammenarbeitete. Sie konnte mehr nerven als eine Ehefrau.
„Kaffee?“, fragte Carlos, beugte sich hinüber, gab ihm einen saftigen Kuss und ließ ihn kurz seine beachtliche Morgenlatte spüren. Aber davon würde er sich nicht ablenken lassen.
„Ja. Und einen Orangensaft, ich brauche Vitamine!“, jammerte Pablo und linste auf die Uhr. „Oh Gott, es ist schon halb zwei!“
„War spät gestern. Die Vögel schon singen, als nach Hause kommen.“ Carlos verzichtete der Einfachheit halber auf die meisten Personalpronomen sowie auf komplizierte Verbformen. Obwohl er ebenso wie Pablo an die fünfzehn Jahre in Hamburg lebte und Pablo ihn zwang, deutsch mit ihm zu reden, hatten seine Sprachkenntnisse sich nicht wesentlich verbessert. Doch Pablo wollte sowieso keine tief schürfenden Gespräche mit ihm führen. Carlos sprang mit dem lässigen Selbstbewusstsein eines Mannes, der sich der Attraktivität seines Körpers bewusst ist, aus dem Bett und schlenderte nackt durchs Apartment.
„Kaffee alle“, stellte er nach einem Blick in die Dose fest.
Pablo stöhnte. „Dann press mir eine Orange aus, bitte.“
„Nix Fruckt. Aus Tute?“
„Tüte“, verbesserte Pablo ihn reflexartig. „Hast du denn nicht eingekauft?“
Carlos zuckte die Schultern, drehte sich zu ihm um. Im Mundwinkel hatte er schon eine Zigarette.
„Und nun willst du auch schon rauchen! Auf nüchternen Magen!“, beschwerte sich Pablo. Er hörte selbst, dass er wie ein zeterndes Mädchen klang, schlimmer, wie eine zickige Tunte.
Carlos kam grinsend auf ihn zu, schlüpfte zu ihm ins Bett und blies ihm den Rauch ins Gesicht.
„Dann eben anderes Frustuck“, raunte er und begann Pablo zu streicheln. Sein Nikotinkonsum hatte entgegen der üblichen Warnungen auf den Zigarettenpackungen keinen Einfluss auf seine Potenz.
„Nein! Ich bin spät dran und brauche einen Kaffee und etwas zu essen!“, entgegnete Pablo und schob Carlos’ Hand weg. Der schnippte die Asche achtlos auf den Boden.
„Bist du geworden deutsches Spießer?“, fragte er. „Oder altes Mann?“
„Sehr witzig. Alter Mann, von wegen! Ich zeig dir gleich den alten Mann!“ Er warf sich über Carlos, drehte ihn auf den Bauch und biss ihn in den Nacken. Carlos wand sich stöhnend unter ihm. Pablo kniff ihn in die Hüften, wo er etwas Speck ansetzte. Carlos sah zwar um einiges jünger aus als er, das musste er zugeben, aber er pflegte sein Kapital nicht genügend, sondern verließ sich voll und ganz auf seine Gene.
„Etwas Disziplin würde dir auch guttun. Und du kaufst gefälligst noch eine Kiste Las Lenas, bevor du nachher ins Studio kommst!“, wies Pablo ihn an, bevor er aufstand.
Nach einer kurzen Dusche sammelte er seine Sachen zusammen und zog sich an. Eine neue Unterhose stibitzte er aus Carlos Schublade. Auch wenn es sein striktes Credo war, keine Kleidung bei seinen Liebhabern zu lagern, hasste er es, benutzte Wäsche zweimal zu tragen. Als er ins Wohn-Schlaf-Esszimmer kam, war Carlos schon wieder eingenickt und schnarchte leise vor sich hin. Er schüttelte den Kopf und zog die Tür leise hinter sich zu.
In seinem Lieblingscafé, dem Café Gnosa, war sein Stammplatz zum Glück noch frei. Wenig später standen ein großer Milchkaffee und ein frisch gepresster Orangensaft vor ihm. Pablo seufzte vor Behagen, als er drei Löffel Zucker in den Kaffee gab und einen großen Schluck nahm.
„Auch etwas zu essen?“, fragte die Bedienung, die anscheinend neu war. Sie war jung und hübsch, Pablo lächelte sie strahlend an.
„Ja, eine Medialuna. Und ich habe etwas für dich. Du siehst aus wie eine Naturbegabung.“ Er zog einen Flyer aus der Tasche und überreichte ihn ihr mit großer Geste.
„Tangostudio El Porteño“, las sie. „Ist das deins?“
„Ja, ich betreibe es zusammen mit einer guten Freundin. Es ist gleich um die Ecke, komm doch mal vorbei, wenn du Lust hast.“
„Ach, ich weiß nicht. Ist Tango nicht nur etwas für alte Leute? Rum-ta-ta mit einer roten Rose zwischen den Zähnen?“ Sie deutete ein paar zackige Schritte an, warf den Kopf zur Seite und kicherte.
„Was du meinst, ist der europäische Tango. Aber den tanzen wir nicht im Porteño. Porteños sind übrigens die Ureinwohner von Buenos Aires“ – er sprach es Buäno Zairess aus – „und wir beide, Juana und ich, sind echte Porteños. Bei uns du kannst lernen den echten Tango, argentinischen Tango, in enger Umarmung.“ Er zwinkerte ihr verführerisch zu. Wenn er mit potenziellen Kundinnen sprach, vertauschte er manchmal die Wortstellung im Satz, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass ein zu gutes Deutsch nicht unbedingt die beste Visitenkarte war.
„Okay.“ Das Mädchen drehte den Flyer zweifelnd hin und her. „Ich werd mal schauen, was mein Freund dazu sagt.“
„Bringst du mit deinen Freund! Wir bieten ständig neue Anfängerkurse für Paare an, kannst du gucken auf unsere Website für Termine.“ Pablo schenkte ihr sein schönstes Lächeln. Auch wenn er schwul war, wusste er um seine Wirkung auf Frauen. In den Tangokreisen hütete er sich überhaupt, seine sexuellen Neigungen offen zu legen. Die meisten Frauen im Porteño wussten nicht, dass der feurige Tanzlehrer vom anderen Ufer war. Und das war auch gut so.
Das Mädchen nickte gelangweilt und wandte sich einem anderen Gast zu, der schon mit der Karte winkte. Bei ihr hatte sein Charme offenbar nicht gewirkt. Wenig später stellte sie das Gebäckstück vor ihm ab.
Pablo trank seinen Kaffee und den Saft aus und warf das Geld auf den Tisch. Ihm war ziemlich klar, dass sie nicht kommen würde. Aber egal.
Er schlenderte die Lange Reihe entlang, warf ab und zu einen Blick in die Schaufenster. Die verschiedensten Geschäfte gab es hier. Schwule Buchhandlungen, Musikalienhandlungen, alternativ angehauchte Boutiquen, daneben überall sich breitmachende Filialen bekannter Café-Ketten, Apotheken und Restaurants für jeden Geschmack und Geldbeutel. Auch wenn die Gentrifizierung Sankt Georg längst fest im Griff hatte, konnte sich der Stadtteil eine gewisse Charakteristik bewahren. Leben und leben lassen – das galt auch für das Tangostudio „El Porteño“ und seine Nachbarn.
Unter dem im ersten Stock ansässigen Studio befand sich eine arabische Moschee. Reihen von Schuhen standen vor dem schmucklosen Eingang. Mit den Muslimen hatte es entgegen aller Erwartungen nie Probleme gegeben. Pablo und Juana hatten sich, bevor sie die Räume angemietet hatten, dort vorgestellt und das Gespräch gesucht. Erst als sie ganz sicher waren, dass der Imam ihnen keinen Ärger machen würde, hatten sie den Mietvertrag unterschrieben. Und siehe da, in den fünf Jahren, die sie dort residierten, hatte es weniger Stress gegeben als in anderen Tangostudios, die um Ruhe bedachte, klagewillige Nachbarn hatten.
Pablo nahm zwei Stufen auf einmal. Die Tür war nicht abgeschlossen.
„Juana, bist du da?“, rief er.
„Naturalmente, du argentinischer Knallkopf, wir wollten uns bereits vor einer halben Stunde treffen!“, klang Juanas Stimme aus den hinteren Räumen. „Ich habe schon feucht durchgewischt, das sollte eigentlich dein Süßer gestern Nacht gemacht haben. Aber der hatte wohl was anderes zu tun, nämlich es dir ordentlich zu besorgen …“
Pablo schnitt Grimassen, während er sich die Tanzsneakers zuschnürte. Dann schlich er sich von hinten an Juana an, die weiter palaverte, riss ihr die Arme hoch und bedeckte sie dramatisch mit Küssen.
„Ay, stop!“, kreischte Juana laut, aber entzückt auf.
„Ah, du bist doch die Beste, die tollste bailarina y mujer,[2]und gewischt hast du auch schon, du Teufelsweib“, schnurrte Pablo. Er spürte, wie sie in seinen Armen dahinschmolz, er wusste, wie er sie geschmeidig bekam. Sie war auch bloß eine Frau. Aber was für eine!
„Hach Pablo, ich hab dich auch lieb, spar dir deine Energie fürs Tanzen auf, wir haben noch ein großes Stück Arbeit vor uns!“ Juana wand sich in seiner Umarmung. Er drehte sie zu sich um und führte sie in eine Moulinette, eine klassische Drehung, gefolgt von einem hohen Boleo. Juana hatte in den vergangenen Wochen bestimmt zehn Kilo abgenommen, was seinem Rücken bei den unvermeidlichen Hebefiguren gut bekam. Ihr Gewicht schwankte stets in Relation zu ihrem emotionalen Zustand.
„Was denn, wir arbeiten doch schon!“, rief er und warf sich in eine dramatische Pose.
„Wir müssen an unserer Choreografie für die Show arbeiten, du Hornochse!“, parierte Juana und knuffte ihn in die Seite.
Lachend gingen sie in den großen Raum und drehten die Musik auf.
*
Buenos Aires
Seitdem das „Niño Bien“ in Buenos Aires wieder den Besitzer gewechselt hatte und nun „Zucca“ hieß, hatte sich das Publikum verändert. Adrian und Mariana gingen Hand in Hand die Treppe hinauf, vorbei an Scharen von Tango-Touristen. Europäer, allen voran Deutsche, aber auch Amerikaner und Japaner bereisten seit Jahren die argentinische Hauptstadt auf der Suche nach „dem wahren Tango“. Es war immer dasselbe Muster. Erst nahmen sie eine gewisse Zeit Unterricht in ihrem Heimatland und lernten komplizierte Figuren und Schrittfolgen, bevor sie mehr und mehr angefixt wurden von Rückkehrern aus Baires, wie Insider die Stadt nannten, die von der Einfachheit der Schritte, der Umarmung und den gepflegten alten Milongueros schwärmten. Nur wer in Buenos Aires getanzt hat, wisse, was der Tango wirklich wäre, belehrten die Weitgereisten die Daheimgebliebenen mit wissendem Lächeln.
Doch Adrian musste zugeben, dass der Tangoboom aus Übersee, der in seine Heimatstadt zurück geschwappt war, zu einer Renaissance des Tango geführt hatte und ihm letztlich sein Auskommen sicherte. Noch vor dreißig Jahren hatten in Buenos Aires nur ein paar unverdrossene Alte Tango getanzt, in schmuddeligen Lokalen, die von Neonlicht brutal ausgeleuchtet wurden, fernab vom Zentrum in irgendwelchen Randbezirken. Die meisten jungen und mittelalten Leute waren in Clubs gegangen und hatten zu ganz anderer Musik getanzt. Nach der Goldenen Ära des Tango in den 1930er und 1940er Jahren, als es Riesensäle mit an die tausend Tänzern pro Abend gab und die großen Orchester von D’Arienzo bis Di Sarli bis zum Morgengrauen aufspielten, gab es einen neuen Tangoboom – auch dank der „Tangoturistas“.
Aber dass diese den Eingang zu seiner Lieblingsmilonga verstopften und Mariana und ihn musterten wie exotische Tiere, deren Marktwert es abzuschätzen galt, nervte ihn gehörig. Mariana hingegen machte es nichts aus. Im Gegenteil, sie genoss den Auftritt. Sie zupfte ihr Mikrokleid unter dem Po zurecht und stöckelte hüftschwingend an einem Tanzbären wahrscheinlich deutscher Herkunft vorbei, der sie bewundernd anstarrte und dabei fast seinen Zigarillo ausgehen ließ.
Adrian presste ihre Hand, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass er ihr Spiel durchschaute und bugsierte sie zur Kasse. Dort kannte man sie, begrüßte sie mit Küsschen und winkte sie durch. Drinnen wurden sie zu ihrem Stammplatz am Veranstaltertisch geleitet, was Adrian etwas besänftigte.
Er strich sich über das gegelte Haar und zog mit eleganter Geste den Stuhl für Mariana zurück, die geziert Platz nahm und sich sofort in ein Gespräch mit ihrer Freundin Veronica vertiefte, die dort schon saß. Beide Frauen hatten im letzten Jahr Kinder bekommen und tauschten sich über Babypflege und Entwicklungsschritte des Nachwuchses aus, während sie es genossen, ohne Baby in das schillernde Nachtleben voll Freude, Tanz, Freunden, Essen und Trinken einzutauchen, das es so nur in Buenos Aires gab. Heute passte zum Glück Marianas Mutter auf Carlito auf, ein Luxus für sie beide. Adrian winkte dem Barkeeper zu und wenig später hatten sie eine Flasche Sekt im Eiskübel vor sich stehen. Die Tangotouristen mussten direkt an der Bar bestellen und wurden oftmals endlos warten gelassen – die schönen Frauen weniger, die hässlichen, aber reichen Kerle mehr. Nur die Tango-Prominenz von Buenos Aires wurde am Tisch bedient. Adrian wusste zwar, dass er noch nicht ganz dazu gehörte, aber sein Vorteil war, dass er sich eine Zeit lang im engen Dunstkreis von Chicho aufgehalten hatte, einem vierschrötigen Kerl, der zugleich einer der begabtesten Tänzer und bekanntesten Tangoexportschlager aus Buenos Aires war.
Nun erklangen die ersten Töne einer Di Sarli-Tanda, ein romantischer Schmachtfetzen, der sich perfekt zum Eintanzen eignete. Adrian und Mariana verständigten sich mit einem schnellen Blick und er holte sie an ihrem Platz ab. Wenig später standen sie auf der Tanzfläche. Adrians Anzug saß perfekt, das enge Sakko ließ ihm gerade noch genug Bewegungsfreiheit, das weite Hosenbein lief unten etwas enger zu. Er umarmte seine Frau, die sich in ihrem Glitzerfummel an ihn schmiegte wie ein Luxus-Kätzchen. Hier in Buenos Aires tanzte niemand dumpf jeden Beat. Das wurde schon durch die Enge auf der Tanzfläche unmöglich gemacht. Es waren die kleinen Verzierungen, die rhythmischen Pausen und Verzögerungen, die Qualität der Umarmung, die die Blicke auf sich zogen. Echte Könner machten ab und zu ausladende, dramatische Schritte.
Mariana und Adrian tanzten seit fünf Jahren miteinander, genauso lange waren sie ein Paar. Zuvor waren sie schon beide Profitänzer gewesen. Mariana tanzte, seit sie 16 war, Adrian hatte mit 18 begonnen, sich auf eine Karriere als Berufstänzer vorzubereiten. Als sie sich auf einer Milonga begegnet waren, hatte es gefunkt – nicht nur zwischen ihnen, sondern auch tänzerisch hatte jeder von ihnen durch den anderen einen Quantensprung gemacht.
Sie bewegten sich miteinander in perfekter Symbiose, voller Präzision und spielerischer Erotik. Wer sie sah, wurde in ihren Bann gezogen, nicht nur, weil man intuitiv wusste, dass sie miteinander intim waren. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sie sich im Bett vorzustellen, ihre Körper zu sehen, die miteinander spielten. Marianas Outfit verhüllte weniger als es zeigte. Obwohl ihr gemeinsamer Sohn erst zehn Monate alt war, war sie fast so schlank wie vor der Schwangerschaft. Ihr tänzerischer Ausdruck hatte sogar gewonnen, so als hätte sie durch die Geburt eine neue Stufe körperlichen Wissens erlangt. Adrian fand, die Mutterschaft hatte sie noch schöner gemacht. Sie machte ihn immer noch so heiß wie keine andere. Er spürte, wie sein Schwanz in der weiten Hose halbsteif wurde, und konzentrierte sich mehr auf die Musik.
Als zweites Stück der Tanda – eine Tanda bestand aus drei, höchstens vier ähnlichen Stücken desselben Orchesters und Rhythmus’ – wurde Porteño y Bailarin gespielt, der Gassenhauer, zu dem er tausende Male getanzt hatte. Und doch war jeder Tanz immer wieder neu. Einer seiner Lehrer hatte gesagt, jeder, der die Musik und seine Partnerin nicht spüren konnte, jedes Mal so intensiv wie einen Liebesakt, sollte es lieber ganz lassen mit dem Tanzen. Ein anderer von Adrian sehr bewunderter Tänzer, Carlos Gavito, hatte gesagt: „No one can teach you the feeling.“ Gavito war leider seit über zehn Jahren tot.
Sie tanzten exakt in der Ronda, in einer Runde, deren Zustandekommen das Einverständnis aller voraussetzte, in kleinen exakten Bewegungen, mit eleganten Verzierungen und musikalischen Pausen, in einer unsichtbaren Linie, in der ein Paar dem anderen folgte. Nirgendwo war es so eng auf der Tanzfläche wie in Buenos Aires und im ehemaligen „Niño Bien“ wiederum war es an diesem Abend selbst für Buenos Aires’ Verhältnisse voll. Nur die guten Tänzer sowie die, die sich fälschlicherweise dafür hielten, tanzten außen. Manchmal war man hinter einem blonden Hünen aus Schweden gefangen, der sich für die erste Garde hielt, nur weil er seit ein paar Jahren einen Tanzkurs besuchte und das dritte Mal nach Buenos Aires gefahren war. Doch das war die Ausnahme. Für die Porteños war es Ehrensache, dass niemand einen anderen Tänzer trat oder anrempelte, dass ein gemächliches Tempo gehalten wurde, dass weder beschleunigt noch gebremst wurde, nur weil jemand ein paar besondere Figuren vorführen wollte.
Sie tanzten an einer Reihe Asiatinnen vorbei. Wie Hühner auf der Stange saßen Japanerinnen, Chinesinnen und ein paar Frauen aus Thailand oder Vietnam an nebeneinander aufgereihten Tischen, in kurzen, engen oder weit ausgeschnittenen Kleidern, die puppenhaften Gesichter aufmerksam den Tänzern zugewandt. Adrian spürte ihre Blicke. Er wusste, dass viele von ihnen ausgesprochen gut tanzten. Hungrig gaben sie alles. Gerade Japanerinnen waren versessen auf den Tango. Hatten sie einmal Feuer gefangen, übten sie wie verrückt. Und wenn sie nach Buenos Aires kamen, um dort ihren Jahresurlaub zu verbringen, absolvierten sie Kurse und nahmen Einzelstunden, wo sie nur konnten. So mancher Kollege von ihm hatte sich eine goldene Nase mit Japanerinnen verdient. Doch Adrian hatte keine Lust, sich zum Leibeigenen von Tangotouristen zu machen.
Das Lied war vorbei. Er hielt Mariana noch einen Moment im Arm, bevor er sich von ihr löste. Sie strich sich eine Locke zurück, die sich aus ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur gelöst hatte und lächelte ihn an: „Was schaust du so?“
„Nichts. Du siehst heute besonders bezaubernd aus.“
Sie lachte und lehnte sich kokett an ihn, als das nächste Stück begann. Bahía Blanca, auch aus der Goldenen Ära des Tango, als Di Sarli so etwas wie ein Rockstar in der Stadt am Río de la Plata war. Ein paar Meter vor ihnen tanzten Noelia und Pablito, gleich dahinter kamen Alejandra und Juan, auf der anderen Seite hatte er schon Yannick und Eugenia gesichtet. Alle tanzten selbstversunken, scheinbar nur für sich, die Frauen mit geschlossenen Augen und vollkommen hingegeben. Doch Adrian wusste, dass jeder Startänzer sich seiner Wirkung vollkommen bewusst war und sich keinen Patzer erlaubte.
Als das letzte Stück der Tanda verklang und die Cortina einsetzte, ein lautes Non-Tango-Stück, das die Tänzer voneinander trennen sollte, führten die Herren ihre Damen zum Tisch zurück. Die Tanzfläche leerte sich vollständig, während die Beatles aus den Lautsprechern lärmten. Adrian warf dem DJ, einem jungen Burschen mit abstehenden Ohren und viel zu weitem Sakko, einen wütenden Blick zu. Die Musik war zu laut und zu schrill. Die Leute mussten sich fast anschreien, um ihre Unterhaltung fortzusetzen. Die hungrigen Tangotouristinnen ließen nun ihre Blicke unverhohlen durch den Saal schweifen, in der Hoffnung auf Blickkontakt mit einem echten Milonguero, gefolgt von einem Nicken, das als Einladung zum Tanz galt, und mit einem zustimmenden Lächeln beantwortet wurde. Doch meistens ergatterten sie nur einen Tangotouristen aus den USA, Schweden oder Deutschland. Die richtig Guten tanzten am liebsten unter sich. Einige ältere Herren, denen man nicht ohne Weiteres ansah, ob sie echte Milongueros waren – Tänzer der alten Garde mit bis zu 50-jähriger Tanzerfahrung – oder bloß taumelige alte Männer, die gern mal ein junges, blondes Ding über das Parkett bugsieren wollten, hatten sich eine Asiatin geschnappt. Adrian hätte den Mädels sagen können, dass ein Milonguero sich nicht schon während der Cortina zum Tanz verabredete, sondern abwartete, welches Orchester als nächstes gespielt wurde, um dann nach der passenden Dame für die Tanda Ausschau zu halten. Aber die Asiatinnen lernten schnell. Hatten sie gesehen, dass ihresgleichen von einem schlechten Tänzer gequält wurde, würdigten sie ihn anschließend keines Blickes mehr. Ein zartes Mädchen gab es da, Adrian schätzte sie auf Anfang zwanzig, das von den alten Milongeros aufgefordert wurde. Sie wurde geradezu weitergereicht von Arm zu Arm. Zu Recht, musste Adrian zugeben, der sie in der nun folgenden Troilo-Tanda beobachtete. Sie tanzte technisch perfekt, dabei anschmiegsam und komplett allürenlos. Darin unterschied sie sich von vielen Argentinierinnen, die oft einen exaltierten Stil pflegten, der sich in originellen Verzierungen ausdrückte. Die kleine Chinesin – oder war sie Japanerin? – hingegen bewegte sich wie eine körperliche Ergänzung des Führenden.
„Magst du sie?“, Mariana warf ihm einen kritischen Blick zu.
Er griff nach ihrer Hand. „Mi amor, wo denkst du hin! Ich bete nur dich an, das weißt du doch!“
„Dann schau sie nicht an!“, befahl Mariana, und er beugte sich ihrem Wunsch. Es war ein Spiel zwischen ihnen, das sie manchmal im Bett fortsetzten.
„Magst du noch etwas trinken?“ Er goss ihr Sekt ein und sie prosteten sich zu. Veronica hatte auch einen guten Tänzer ergattert und lag versunken in seinen Armen.
Der Abend ging dahin und sie tanzten und tranken, bis Mariana zum Aufbruch mahnte. Ihre Mutter musste noch zurück nach Hause, weil sie zu beengt wohnten, als dass sie ihr ein Gästebett hätten anbieten können.
„Mi amor, ich habe nachgedacht“, begann Adrian, als sie die Treppen hinunterstiegen. Der Morgen dämmerte schon und die Tangoturistas zogen weiter in die nächste Milonga. Sie hatten die Straßen für sich und gingen eng umschlungen. Mariana war ein wenig unsicher auf den Beinen, anscheinend hatte sie zu viel Sekt getrunken.
„So, was willst du mir sagen? Dass du mir noch ein Kind machen willst?“ Sie schmiegte sich an ihn.
„Das würde ich gern, aber wir brauchten mehr Platz. Das Leben in dieser gottverdammten Stadt ist einfach zu teuer, wir verdienen zu wenig … ich verdiene zu wenig, ich kann dir nicht genug bieten.“
„Ich will sowieso kein weiteres Kind. Ruiniert die Figur, so eine Schwangerschaft. Mein Leben ist der Tango, so wie deins. Wenn der Kleine größer ist, können wir wieder mehr trainieren und auftreten“, antwortete Mariana.
„Ja, aber derzeit reicht es nicht. Wir können deine Mutter nicht immer einspannen. Außerdem ist die Konkurrenz stark. Es ist zu wenig Geld da. Die paar Kurse, die ich gebe, der Job im CD-Laden. Und wer weiß, wie lange es den Laden noch gibt!“
„Worauf willst du hinaus?“
Er antwortete nicht gleich. Mittlerweile waren sie bei ihrem Haus angekommen. Ihre Wohnung lag im fünften Stock. Als sie eintraten, rüttelte Adrian an der Fahrstuhltür. Sie war blockiert.
„Kaputt, mal wieder! Da siehst du, was ich meine. Diese Drecksgegend!“
„Hey, na und? Dann gehen wir eben zu Fuß. Wir sind jung und gesund!“ Mariana zog ihn lachend hinter sich her. Er stolperte, umschlang ihre Taille und küsste sie. Ihre Lippen schmeckten nach Erdbeerlipgloss. Er presste sie an die Wand im schummrig beleuchteten Treppenhaus und küsste sie ausgiebig. Dann ging das Treppenlicht aus.
„Mist!“ Adrian tastete nach dem Schalter, doch das Licht blieb aus. „Stromausfall, schon das dritte Mal in dieser Woche!“
Er fand sein Feuerzeug und leuchtete Mariana, verbrannte sich die Finger dabei.
„Geh vorsichtig!“ Mariana hatte sich die Schuhe ausgezogen und tapste leichtfüßig wie eine Katze vor ihm her.
„Was wolltest du mir sagen?“ rief sie über die Schulter.
„Ich habe überlegt, ein paar Wochen oder Monate nach Europa zu gehen, um Geld zu verdienen, für uns!“, sagte er in die Dunkelheit hinein. Das nächste, was er spürte, war eine brennende Ohrfeige.
Kapitel 2
Sonntag, 30. Januar
Hamburg-Altona
Der Sonntag war mit Altona und ihrer Mutter verknüpft, seit einer unendlichen Zahl von Wochen – seitdem Sarah keine Ausrede mehr hatte. Ihre Ausrede hatte Mathias geheißen, doch die Ehe war nach zwei Jahren in gegenseitigem Einverständnis geschieden worden. Zu dem Zeitpunkt hatten sie schon über ein Jahr nicht mehr zusammengelebt. Rückblickend wusste sie gar nicht mehr, warum sie ihn überhaupt geheiratet hatte. Er war ihr wahrscheinlich als bequeme Möglichkeit erschienen, ihrer Mutter zu entfliehen. Aber sie war vom Regen in die Traufe gekommen und musste sich nach beschämend kurzer Zeit eingestehen, dass sie für das Zusammenleben mit einem anderen Menschen einfach nicht geschaffen war. Ihre jetzige Lebensgemeinschaft mit einer Katze war ungleich angenehmer. Nicht, dass sie sich gestritten oder gar gehasst hatten. Dafür hatten sie sich wahrscheinlich nicht genug geliebt. Er war ihr einfach auf die Nerven gegangen und als er ausgezogen war, hatte sie grenzenlose Erleichterung empfunden.
Wenngleich das bedeutete, dass sie sonntags wieder ihre Mutter besuchen musste. Aber einen Tag, eigentlich nur ein paar Stunden zu opfern, war wenig im Vergleich dazu, Tag und Nacht in einer erzwungenen Symbiose zu leben.
Wie jeden Sonntag nahm sie die S-Bahn, obwohl sie bequem mit ihrem Wagen hätte fahren können. Am Sonntag war kaum etwas los im öffentlichen Nahverkehr. Wer Familie hatte, verbrachte den Tag mit seinen Lieben. Ein paar Familien waren zum Schaufensterbummel in die Innenstadt unterwegs. Sonst fuhren heute nur die Einsamen und die Aussortierten mit der Bahn. Sarah zählte sich weder zur einen, noch zur anderen Kategorie. Ihr fehlte nichts. Nun ja, manchmal hätte sie gegen ein wenig körperliche Zuwendung nichts einzuwenden gehabt, aber deswegen musste man weder heiraten noch sich einen Lebenspartner zulegen. Sie dachte über ein neues Hobby nach. Besonders nun, wo der Jazzdance-Kurs nicht mehr stattfand. Vielleicht einen Tanzkurs.
Sie zog ihr Buch aus der Tasche und blätterte zu dem Lesezeichen vor. Der Roman, den sie gerade las, handelte von einer Mittfünfzigerin, die in Mailand einen Buchladen namens „Lust & Liebe“ aufmachte, einen fast erwachsenen Sohn hatte und glücklich geschieden war. Dann tauchte eine unerfüllte Jugendliebe auf, die Protagonistin verliebte sich heillos in den verheirateten Mann, der am anderen Ende der Welt lebte und die beiden schrieben sich hinfort und über Jahre hinweg Briefe. Sarah versenkte sich in die Geschichte und gab sich dem behaglichen Ruckeln der Bahn hin.
Sie war so in das Buch vertieft, dass sie um ein Haar die Station, an der sie aussteigen wollte, verpasst hätte. Im letzten Moment sprang sie aus dem Zug und kam nach einem zügigen Spaziergang bei ihrer Mutter an. Wilma lebte im Augustinum, einem hochklassigen Altersheim mit Elbblick. Natürlich erwartete sie ihre Tochter schon. Fertig angezogen, im hanseatisch-marineblauen Kostüm mit Halstuch und blickdichten Strumpfhosen, saß sie im Sessel ihres Apartments, die Handtasche auf den Knien, den Mantel neben sich über der Lehne.
„Hallo, Mutter. Wie geht es dir?“, fragte Sarah, nachdem sie angeklopft und brav auf das „Herein!“ gewartet hatte. Dabei bekam Wilma von niemandem sonst Besuch, was sie selbst darauf zurückführte, dass alle ihre alten Bekannten schon tot waren oder auch kaserniert, wie sie es nannte. Sarah vermutete eher, dass es an ihrer herrischen Art lag.
„Naja, wie soll es mir schon gehen?“, entgegnete Wilma in wehleidigem Tonfall, obwohl sie wie das blühende Leben aussah und sich einer robusten Gesundheit erfreute.
„Hast du denn irgendwelche Beschwerden?“, fragte Sarah.
„Meine Hüfte schmerzt wie immer, meine Knie wollen auch nicht mehr. Letzte Nacht hatte ich Zahnschmerzen“, begann Wilma ihre Aufzählung und machte Anstalten, sich aus dem Sessel zu erheben. Sarah griff ihr fürsorglich unter den Ellbogen. Ihre Mutter war 73 Jahre alt, aber im Grunde fit wie ein Turnschuh. Was sie hier wollte, war ihr schleierhaft, aber ihre Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, mit 70 in einen Seniorenstift zu ziehen, und dieses Vorhaben mit gewohnter Zielstrebigkeit umgesetzt.
„Du Arme“, sagte sie. „Was sagen denn die Schwestern und Ärzte?“
„Ach, die! Die schubsen uns Alte herum, wie es ihnen passt! Und einen Arzt bekommt man nur zu sehen, wenn man kurz vorm Abnippeln ist! Dabei verlangen die ein Heidengeld für diese Pension“, schimpfte Wilma.
Sarah vermutete, dass es Wilma in Wahrheit Spaß machte, die Schwestern herumzukommandieren. Sie konnte sich ihre Mutter nicht als Opfer vorstellen. Wilma würde sogar noch vom Totenbett aus Regie führen. Sie tadelte sich für diesen Gedanken und führte ihre Mutter zum Fahrstuhl. Unten in der Empfangshalle kamen ihr andere Angehörige mit Blumensträußen entgegen. Sofort hatte Sarah ein schlechtes Gewissen, weil sie schon seit zwei Wochen keine Blumen mitgebracht hatte. Sie nahm sich vor, ihre Mutter stattdessen heute zum Essen einzuladen. Normalerweise wechselten sie sich mit dem Bezahlen ab und Wilma wäre dran gewesen.
„Du kannst froh sein, dass ich so gut vorgesorgt habe!“, sagte Wilma, während sie untergehakt die Straße entlanggingen.
„Entschuldigung, sollen wir ein Taxi nehmen?“, unterbrach Sarah ihre Mutter.
„Nein, nein, das Lokal ist nur zwei Straßen weiter. Frau Löffler hat es mir empfohlen. Wir können das Taxigeld sparen, bis du mal wieder mit deinem fahrbaren Untersatz kommst und deine alte Mutter chauffieren kannst“, entgegnete Wilma. „Ich würde auch gern mal wieder eine andere Gegend sehen als diese hier!“
„Ja, Mutter, dann komme ich nächste Woche mit dem Auto.“
„Jedenfalls hab ich gerade gelesen, dass Kinder unterhaltspflichtig für ihre Eltern sind, selbst wenn sie jahrzehntelang keinen Kontakt zu ihnen hatten“, fuhr Wilma fort.
Sie nickte.
„Glücklicherweise habe ich vorgesorgt, so dass ich dir wahrscheinlich nicht zur Last fallen werde, es sei denn, ich werde über hundert!“
Sarah konnte sich vorstellen, dass ihre Mutter sie noch überlebte. „Das wirst du sicher!“, gab sie zurück.
„Papperlapapp! Wenn man erstmal im Altenheim lebt, ist das Grab nahe!“ Wilma legte ein so zügiges Tempo vor, dass Sarah warm wurde. Sie öffnete ihren Mantel, was ihrer Mutter nicht entging.
„Du solltest mehr Leibesertüchtigung machen, wenn dich dieser kleine Spaziergang schon aus der Puste bringt“, mahnte sie.
„Ich sitze den ganzen Tag in der Bank und arbeite. Und außerdem gehe ich zum Sport“, verteidigte sich Sarah.
„Ich habe auch gearbeitet UND ein Kind versorgt, wie du weißt, und mich dennoch fit gehalten.“
„Bis ich 13 Jahre alt war, hast du nicht gearbeitet …“
„Oh doch, ich habe für deinen Vater die Buchführung gemacht. Wenngleich es dort nicht viel auszurechnen gab, bei dessen Minimalumsätzen, wie du weißt.“
Sie waren bei dem Lokal angekommen. „Da Luigi“ hieß es und machte einen gemütlichen Eindruck. Wilma wartete darauf, dass Sarah ihr die Tür öffnete. Ein Kellner schoss auf sie zu und geleitete sie zu ihrem Tisch. Sie nahmen einander gegenüber Platz. Sarah fühlte sich appetitlos, wie immer, wenn das Gespräch auf ihren Vater kam.
Wilma bestellte eine große Flasche Mineralwasser „mit viel Kohlensäure“. Sarah hasste Sprudelwasser, aber sie wurde nicht gefragt. Dazu gönnte sich die Mutter einen Schoppen Wein. Der Kellner lächelte professionell und wandte sich Sarah zu.
„Einen Tee. Pfefferminze, bitte.“
„Man könnte meinen, du bist die Achtzigjährige und nicht ich. Pfefferminztee! Den gibt es im Altenheim, da würdest du dich wohlfühlen“, kommentierte die Mutter.
„Ich habe ein bisschen Magenprobleme.“
Wilma schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, du hast die Gene deines Vaters bekommen. Der war auch anfällig und schwach.“
Sarah sah aus dem Fenster. Ein junges Paar flanierte eng umschlungen vorbei. Sie hasste es, wenn ihre Mutter über ihren Vater sprach. Auch 23 Jahre nach seinem Tod ertrug sie es nicht. Sarah hatte ihn sehr geliebt. Er hatte ein Schreibwarengeschäft besessen, eigentlich einen kleinen Gemischtwarenhandel, wie es ihn heutzutage längst nicht mehr gab. Er verkaufte Schulhefte und Bleistifte, Füllfederhalter und Tinte, aber auch Knöpfe, Nadeln, und Garn. Pfennigartikel. Für jeden hatte er ein freundliches Wort und natürlich konnte man bei ihm anschreiben lassen. Zu Sarahs schönsten Erinnerungen gehörte es, wie sie bei ihm gewesen war, in stillen Nachmittagsstunden unter seinem Kassentresen gesessen und gemalt hatte.
Wilma nahm einen Schluck Wein und vertiefte sich in die Speisekarte. „Penne mit Lachs“, bestellte sie. Sarah nahm einen Salat mit Putenbruststreifen. Während sie in ihrem Tee rührte, wünschte sie sich, die Zeit möge schneller vergehen. Ihre Mutter schien heute besonders giftig. Sie wappnete sich gegen den nächsten Angriff, der prompt kam.
„Du willst es nicht hören, das weiß ich. Aber dein Vater war ein Versager.“
„Nur weil er nicht so getickt hat, wie du gern wolltest!“, wagte Sarah zu widersprechen.
„Ach? Dann bin ich also schuld an seinem Versagen? Du müsstest heute für mich meinen Heimplatz bezahlen, für mich aufkommen, wenn es nach deinem Vater gegangen wäre.“
„Er hat es doch nicht mit Absicht getan! Er konnte es einfach nicht besser.“
„Ich will dir mal eins sagen: Wenn ich nach dem Tod deines Vaters nicht die Anstellung bei Horst gefunden hätte, wäre alles ganz anders verlaufen.“ Wilma hatte, obwohl sie fast fünfzehn Jahre nicht berufstätig gewesen war, bereits ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes einen Job bei einem Steuerberater gefunden und sich dort schnell so unentbehrlich gemacht, dass ihr Chef sie nach zwei Jahren heiratete. Noch schlimmer als Gespräche über ihren Vater waren solche über Horst, der ihr Stiefvater geworden war. Sarah verbrannte sich den Mund am Tee. „Ja, dank Horst ist alles gut geworden“, murmelte sie. Dieser Sonntag war eine Katastrophe.
Wilma beugte sich über den Tisch. „Was, bitte sehr, hattest du eigentlich gegen Horst? Er war dir ein guter Stiefvater und hat dir eine Menge Geld hinterlassen. Hast du damit nicht auch deine Eigentumswohnung angezahlt?“
Schmerzensgeld war das gewesen, Schadensersatz. Aber Sarah wollte keine Diskussion, nickte nur schwach und blickte hilfesuchend Richtung Küche. Wo blieb denn nur ihr Essen? Sarah versuchte, sich das Gesicht ihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Doch im Laufe der Zeit wurde es immer unschärfer. So viele Jahre waren vergangen. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, Horst drängte sich immer dazwischen. Horst, der Steuerberater, mit seinem schütteren Haar, dem dicken Bauch und dem noch dickeren Bankkonto. Horst, der mit Wilma, die ihn um einen halben Kopf überragte, Hand in Hand am Elbufer entlang spazierte, Wilma aufgedreht und stolz auf den vermögenden Ehemann.
Sarah fand ihn hässlich und bieder. Ihr Vater war groß, schlank und dunkel gewesen, ein gut aussehender, bescheidener Mann. Sie konnte nicht verstehen, was die Mutter an Horst fand. Außer seinem Geld. Mit dem Vater hatte sie ständig über Geld gestritten, das es nicht gab. Wilma hatte nicht aufgehört, ihn zu erniedrigen, weil er mit seinem Tante-Emma-Laden, wie sie ihn verächtlich nannte, auf keinen grünen Zweig kam.
Als sie 16 war, waren sie in die Villa von Steuerberater-Horst gezogen und Sarah hatte ein riesiges Zimmer mit eigenem Bad und Balkon bekommen. Sie hatte geweint, als sie die kleine Wohnung verlassen hatten, ihr gemütliches dunkles Kinderzimmer.
Das Essen kam. Wilma begutachtete ihre Nudeln skeptisch, nach dem ersten Bissen schien sie zufrieden. Sarah stocherte in ihrem Salat herum. Ihr war elend zumute. Eine Zeit lang widmeten sich die beiden Frauen dem Essen. Wenn es nach Sarah gegangen wäre, hätten sie weiterhin schweigen können. Aber Wilma war nicht fertig mit dem Thema.
„Dass Klaus sich so aus dem Staub gemacht hat!“, sagte sie kopfschüttelnd.
Sarah zuckte zusammen, als sie den Namen ihres Vater hörte. Sie starrte auf den fettglänzenden Mund ihrer Mutter, die über den Tod ihres Vaters plauderte, als hätte er sich mit der Portokasse auf und davon gemacht.
„Was schaust du so entsetzt? Es ist fünfundzwanzig Jahre her, da wird man doch mal reden können!“
„Ich möchte nicht, dass du so über ihn sprichst“, presste Sarah hervor.
Wilma nickte. „Auf ihn hast du noch nie etwas kommen lassen. Aber lass dir gesagt sein, das Zusammenleben mit ihm war nie einfach. Ein verschrobener verhinderter Künstler war er, der nie eine Familie hätte gründen sollen.“
Sarah würgte an einem zähen Stück Fleisch herum. Wenn die Mutter doch endlich den Mund hielte!
„Schmeckt das Essen dir nicht?“, fragte Wilma und zog die Augenbrauen hoch. „Horst hat immer gesagt, du bist mäkelig und weißt nicht zu schätzen, was man dir vorsetzt.“
Eine plötzliche Welle Übelkeit schwappte in ihr auf. Sarah sprang auf und rannte zur Toilette. Sie schaffte es gerade noch, die Kabinentür aufzustoßen. Vor der Kloschüssel sank sie auf die Knie und erbrach den Salat. Grüne Salatstückchen schwammen neben Fleischfetzen. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, im Mund hatte sie einen metallischen Geschmack. Mit zitternden Beinen stand sie auf und spülte sich den Mund aus.
Sarah ging zurück zu dem Tisch, wo ihre Mutter ihr Essen inzwischen vertilgt hatte.
„Hast du dir den Magen verdorben?“
„Ich fühle mich schon seit Tagen komisch“, log Sarah. „In der Bank sind auch viele Kollegen krank. Vielleicht hätte ich absagen sollen, aber ich wollte unsere Verabredung nicht platzen lassen.“
„Hauptsache, du hast mich nicht angesteckt“, erwiderte ihre Mutter. „In meinem Alter ist mit einer Magen-Darm-Grippe nicht zu spaßen.“
„Vielleicht solltest du dich lieber nicht länger der Ansteckungsgefahr aussetzen.“ Sarah winkte dem Kellner und bezahlte. Auf dem Rückweg vermied Wilma es tunlichst, Wilma nahe zu kommen. Vor dem Eingang verabschiedeten sie sich, ohne einander zu berühren.
„Leg dich am besten gleich ins Bett. Du siehst aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve“, riet Wilma ihr, bevor sie durch die Drehtür entschwand. Das war das Höchste an Mitgefühl, das von ihr zu erwarten war.
Sarah seufzte und ging zurück zur Bahn. Die Übelkeit war verflogen. Vielleicht wegen Wilmas abschließender Bemerkung fiel ihr Blick im Bahnhofseingang auf ein Plakat. Ein schlaksiger junger Mann in Badehose lief einen Weg entlang, in der Hand trug er ein Glas Wasser. „Das ist kein Aqua-Jogging!“, lautete der Untertitel. Es war eine Werbung für öffentliche Schwimmhallen.
Gute Idee. Sie würde künftig Schwimmen gehen, beschloss Sarah, als sie auf den Zug wartete.
*
Hamburg, Elbchaussee
Das grüne Raubtier schlich die Straße entlang. Seine Reifen flüsterten auf dem Asphalt, unter der Haube murmelte die geballte Kraft gebändigter Pferdestärken. Reinhold glitt liebevoll mit der behandschuhten Hand über das Lenkrad aus Wurzelholz. Dieser Wagen war eigentlich zu schön für ihn und Sabine. Er hatte viel mehr Stil als sie beide zusammen. Da konnten sie sich noch so teuer kleiden, noch so kostbare Körperpflegeprodukte verwenden, sich pflegen und hätscheln, massieren und frisieren lassen. Unter ihren schicken Designerfummeln verfielen sie mit zunehmendem Alter mehr und mehr. Als die Sexualhormone nachließen, bröckelte jegliche Attraktivität. Der Gestank des Todes war schon unter dem teuren Duftwässerchen zu riechen.
Auch er hatte sich heute Abend in einen teuren Anzug geworfen. Zur Schule, ebenso bei offiziellen Anlässen, die dort stattfanden, würde er ihn nie tragen. Er pflegte seinen Nimbus als ärmlicher Schöngeist. Aber wenn er mit Sabine unterwegs war, legte sie Wert darauf, dass er neben ihr nicht wie ein Clochard wirkte. Er warf einen Blick zu seiner Frau, die konzentriert in den Schminkspiegel auf der Beifahrerseite blickte und sich mit hochgezogenen Augenbrauen die Lippen nachzog.
Diesen Wagen konnte man nur entsprechend würdigen, indem man ihn besudelte. Reinhold grinste über seine krude Logik. Aber so war es. Die Lotosblume, Symbol der tiefsten Reinheit, von schier unwirklichem Weiß und verbunden mit dem höchsten Chakra, dem der Verbindung zum Universum, wurzelte im Schlamm. In diesem edlen Wagen mussten schmutzige Handlungen vollzogen werden. Doch das taten sie nie. Er bog ab.
„Ab wann ist der Tisch reserviert?“, fragte er.
„Ab um acht, wie üblich“, gab sie zurück.
„Dann haben wir noch etwas Zeit.“ Er lehnte sich entspannt zurück und schob eine CD in den Spieler. Liszt. Er liebte Liszt. Sabine bevorzugte Schubert, aber rein zufällig hatte er keine CDs von Schubert dabei.
Sabine zog ihr Smartphone aus der Tasche, setzte die Lesebrille auf und checkte ihre E-Mails. Selbst am Abend war sie ihrem Job gedanklich noch verhaftet. Beruf, verbesserte er sich. Für Sabine war ihre Anwaltstätigkeit kein Job, sondern ein Beruf, wenn nicht gar eine Berufung. Für ihn hingegen begann und endete sein Lehrerdasein an der Schulpforte. Dummerweise musste er zu Hause noch Arbeiten korrigieren und Unterrichtsstunden vorbereiten. Aber er achtete akribisch darauf, dass alles im Arbeitszimmer blieb und sich nicht wie eine Seuche im ganzen Haus ausbreitete. Sabine hingegen las ihre Schriftsätze überall. Sie schrieb, markierte, änderte, sprach Mitteilungen an ihre Sekretärin, ihre Kollegen oder sich selbst in ihr Smartphone. Sabine hatte nie Feierabend, sie versank in ihrer Arbeit, und sie tat es gern. Neben ihren Rosen liebte sie ihre Arbeit über alles. Mehr als ihn, das wusste er seit Langem, und es störte ihn ebenso lange schon nicht mehr.
Er bog ab und fuhr den Straßenstrich entlang. Sabine schien nichts zu merken, sie war in ihre Mails vertieft oder was immer sie mit diesem kleinen Computer tat, mit dem man zufälligerweise auch telefonieren konnte. Es war noch zu früh. Nur wenige Mädels hatten ihre Posten bezogen. Langsam fuhr er an ihnen vorbei. Die meisten waren jung, gar nicht häßlich, trugen Hot Pants in Pink, Weiß oder Gold, dazu Moonboots oder andere warme Stiefel und enge Daunenjacken. Einige hatten Leopardenleggings und kurze Pelzimitatjäckchen an. Sie waren stark geschminkt und kauten Kaugummi. Reinhold ließ seinen Blick über sie gleiten. Sie registrierten den großen Wagen, starrten ihn aufmunternd an. Sie hätten seine Schülerinnen sein können. Am liebsten waren ihm die Biederen, die ein wenig wie Landpomeranzen wirkten, unschuldig und leicht dümmlich. Doch sie waren naturgemäß rar gesät. Er sah Doro, die ihm mit einer Geste bedeutete, dass er anhalten sollte.
Fast unmerklich hob er entschuldigend die Schultern und nickte zu Sabine hinüber, die von all dem nichts mitbekam. Dann waren sie beim „Fischereihafen Restaurant“ angekommen. Er parkte auf dem Kundenparkplatz, ging um den Wagen herum und öffnete Sabine die Tür, die ihre Lesebrille verstaute und ihm einen zerstreuten Blick zuwarf.
„Bereit?“, fragte sie.
„Natürlich“, entgegnete er und führte sie zum Eingang des wohl besten, auf jeden Fall traditionsbewusstesten Fischrestaurants Hamburgs. Armin Koslowski, der Sohn der Gründers, der aus der einstigen dunklen Kaschemme eine kulinarische Goldgrube gemacht hatte, hastete ihnen mit schleimigen Lächeln entgegen. Reinhold mochte ihn nicht. Er wurde den Eindruck nicht los, dass der Junior, wie er ihn heimlich nannte, hinter dem Rücken seiner Gäste über sie lästerte, anders als der Senior, dessen Herzlichkeit ehrlich war.
„Willkommen, willkommen!“, rief der Junior und schüttelte ihm übertrieben lange die Hand, nachdem er die seiner Gattin andeutungsweise geküsst hatte. Reinhold fiel auf, dass der Junior ihn nicht mit Namen anredete, wahrscheinlich hatte er ihn nicht parat.
„Ist der verehrte Vater heute nicht da?“, fragte Reinhold.
„Leider nein. Kurzurlaub auf Sylt!“
„Muss auch mal sein. Richten Sie ihm Grüße aus.“
„Werde ich tun. Ihre Freunde warten schon.“ Eilfertig geleitete Koslowski sie zu ihrem Tisch. Eva und Michael hatten halbleere Sektgläser vor sich stehen. Anscheinend waren sie viel zu früh gewesen, denn es war gerade mal fünf vor acht.
„Wenn man aus der Vorstadt kommt, verkalkuliert man sich ab und zu mal bei der Fahrzeit!“, sagte Michael lachend und umarmte ihn zur Begrüßung. Eva begrüßte parallel Sabine und anschließend umarmte Reinhold sie. Eva und Michael waren ein attraktives Paar, beide schlank und sportlich, blond und blauäugig. Man hätte sie für Geschwister halten können, wenn sie sich nicht ständig berührt hätten. Obwohl sie seit fast zwanzig Jahren verheiratet waren, schienen sie immer noch verliebt zu sein. Reinhold beneidete sie um die Unbefangenheit und Natürlichkeit, mit der sie miteinander umgingen. Neben ihnen kam er sich spröde und schwerfällig vor.
Sie setzten sich an den gemütlichen Ecktisch, bestellten eine Flasche Wein und plauderten. Eva war Reisejournalistin und erzählte von ihren Reisen, die sie um die halbe Welt führten, und Michael von seinen Aufträgen. Er war Architekt und hatte sich kürzlich selbstständig gemacht, nachdem er lange Jahre angestellt gewesen war. Reinhold hielt es für einen mutigen Schritt, mit über 50 noch neue Wege zu beschreiten.
„Und, wie läuft es so?“, fragte er.
„Bestens! Ich habe meinen alten Kundenstamm so gut wie mitgenommen“, erwiderte Michael. „In der Hafencity wird gerade, architektonisch gesehen, Geschichte geschrieben. Und ich bin mit dabei. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie befreiend es ist, nur noch sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen.“
„Und den Kunden“, warf Eva ein.
„Natürlich! Und meiner lieben Frau“, ergänzte Michael und zog sie liebevoll an sich. Dann erging er sich in Einzelheiten über ein Neubauprojekt im sogenannten Holzhafen, wo es rechtliche Schwierigkeiten gab, die er mit Sabine erörterte. Reinhold schaltete ab, lächelte und nickte und trank den vorzüglichen Weißwein, der inzwischen auf dem Tisch stand. Er hatte diese Technik, die auch viele Schüler praktizierten, vervollkommnet: Nach außen hin den Eindruck erwecken, vollständig bei der Sache zu sein und im Grunde kein Wort mitbekommen. Nur Sabine durchschaute ihn und warf ihm einen scharfen Blick zu. Er lächelte sie an und prostete ihr zu.
Das Essen kam. Er hatte sich für Octopus auf Schwarzwurzelragout mit Wildreis entschieden, Sabine aß Meeräsche, Eva Garnelen und Michael Seezunge. Alles sah fantastisch aus und duftete verlockend.
„Mmmmh, großartig!“, lobte Eva nach dem ersten Bissen und verdrehte genießerisch die Augen. Eine Zeit lang widmeten sich die Freunde schweigend ihrem Essen, dann plauderten sie weiter. Reinhold sah aus dem Fenster. Vor der Terrasse zogen Schiffe vorüber. Das Restaurant, an der Elbe gelegen, bot direkten Blick auf das Geschehen der Wasserstraße. Reinhold beobachtete das Treiben, bis ein Satz ihn zurückholte.
„Tja, und da haben wir dann einen Tango-Schnupperkurs gemacht“, sagte Michael gerade.
„Das wäre doch auch mal was für euch!“, fiel Eva ein.
„Tango, ich weiß nicht“, sagte Sabine. „Ist das nicht dieses Zackige: eins, zwei, Wiegeschritt, wo die Frau ihre Hand so seltsam abgewinkelt hält und der Mann sich eine Rose zwischen die Zähne klemmt?“
„Oh Gott, nein, du hast ja alle Vorurteile verinnerlicht!“, lachte Eva. „Was du meinst, ist der europäische Tango. Aber der hat mit dem argentinischen nicht viel gemeinsam.“
„Ganz genau. Wir haben bei einem argentinischen Paar Unterricht genommen, das aus Buenos Aires stammt. Ganz authentisch! Das Wesentliche bei dem Tanz ist die Umarmung, sie ist innig und eng. Man tanzt zu Musik aus den 1940ern.“
„Klingt interessant“, hörte Reinhold sich sagen. „Und wo fand der Kurs statt?“
„In einem Studio namens ,El Porteño‘. So nennen sich die Bewohner von Buenos Aires selbst, es bedeutet Hafenbewohner. Und für Hamburg passt das wieder!“
„Uns hat das sehr gut gefallen“, betonte Eva. Sie ergriff Michaels Hand und die beiden schauten sich verliebt in die Augen. „Es hat unsere ganze Beziehung neu belebt.“
„Tatsächlich?“, erwiderte Sabine skeptisch. „Inwiefern?“
„In jeder Beziehung. Bald wollen wir nach Buenos Aires. Aber erst hat Eva einen größeren Auftrag in Südafrika und danach steht für mich ein Projekt in Südfrankreich an. Lange Wochen der Trennung für uns, leider …“ Michael schmachtete seine Eva an.
Reinhold räusperte sich. „Vielleicht wäre das wirklich eine gute Idee. Gib mir doch mal die Adresse des Studios. Was meinst du, Sabine?“
*
Hamburg-Barmbek
Juana wälzte sich im Bett hin und her. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht einschlafen. Kein Wunder, sie hatte den ganzen Tag vor sich hingedämmert. Blöde Grippe. Während andere einen kleinen Schnupfen bekamen, plagte sie immer gleich die ganze Bandbreite von Übeln aus Fieber, Gliederschmerzen, Müdigkeit. Gestern hatten sie noch geprobt, da hatte sie nur ein leichtes Kratzen im Hals verspürt. Bestimmt hatte Pablo sie angesteckt, der fing sich immer alles mögliche bei seinen Kerlen ein und reichte es dann an sie weiter. Natürlich ohne selbst groß krank zu werden. Heute morgen war sie wie mit einem Messer in der Kehle aufgewacht, in durchgeschwitzter Bettwäsche, und hatte sich sterbenselend gefühlt.
„Ah, no hay problema, bleib im Bett, guapa, ruh dich aus, werd schnell wieder gesund“, hatte Pablo gesagt, als sie ihn anrief. Wenn er mit ihr sprach, verfiel er immer wieder in ein Sprachenmischmasch. Er lag bestimmt noch bei Carlos im Bett und klang nicht übermäßig traurig, dass sie die Proben absagte.
„Kümmere dich bitte um die offenen Aufträge für die Dinner-Shows“, krächzte Juana. „Auf dem Schreibtisch liegt eine Liste von Leuten, die noch unsere Antwort erwarten.“
„Ja, wird gemacht, Chefin“, gab Pablo fröhlich zurück. „Wenn du noch etwas brauchst, sag Bescheid. Hast du alles?“
„Ich brauche nichts, ich will sowieso nur sterben“, grummelte Juana.
„Que boludo, was für ein Quatsch, morgen bist du wieder gesund!“ Pablo hatte noch ein wenig auf sie eingeredet, um sie aufzumuntern und sich dann verabschiedet.
Das Gespräch war nun zehn Stunden her und sie fühlte sich keinen Deut besser. Außerdem war sie einsam. Keiner kümmerte sich um sie. Pablo war der einzige, der ihr noch ein wenig familiären Halt gab. Sie vermisste Argentinien, die Sonne, ihre Mama, doch am meisten vermisste sie Rolf, ihren Ex-Mann. Er war Deutscher und hatte ihr geholfen, das Studio aufzubauen. Er hatte mit seiner Werbeagentur dafür gesorgt, dass man sie kannte, und den ganzen Papierkram für sie erledigt. Als er weg war, musste sie sich den ganzen Mist aneignen, denn Pablo war bei aller Liebenswürdigkeit dazu nicht zu gebrauchen. Rolf hatte sie umsorgt, wenn sie krank war, ihr Tee und Suppe gekocht, die Kissen aufgeschüttelt, das Bett bezogen, ihre Hand gehalten und ihr Gesellschaft geleistet. Nie vermisste sie ihn so sehr wie in Krankheitszeiten.
Drei Jahre waren sie verheiratet gewesen. Drei Jahre voller Harmonie und Zärtlichkeit und ebenso voller Streit und Wut. Von einem Moment auf den anderen hatte die Stimmung zwischen ihnen umkippen können. Dann fielen sie aus dem Himmel in die Hölle, schrieen sich an, knallten mit den Türen, warfen sich wüste Beschimpfungen an den Kopf. Worum es gegangen war, wusste sie dann gar nicht mehr. Meist waren irgendwelche Kleinigkeiten aus dem Ruder gelaufen, oft hatte es mit Eifersüchteleien zu tun. Erotisch aufgeladen gingen sie dann miteinander ins Bett und vögelten den restlichen Groll einfach weg. Hatte sie jedenfalls gedacht.
Doch Rolf hatte sie von einem Tag auf den anderen verlassen: „Es geht nicht mehr, Juana, ich kann nicht mehr, ich gehe daran kaputt. Es tut mir leid.“ Sie hatte es nicht glauben können und alles versucht, um ihn zu halten. Doch er hatte seinen Abgang schon komplett durchgeplant, sich eine Wohnung und einen Job in einer anderen Stadt genommen.
„Du verrätst unsere Liebe, wie kannst du nur, du hattest mir die Ewigkeit versprochen!“, heulte sie und umklammerte seine Beine.
„Wir sind ohne einander besser dran. Du wirst es bald merken, ich spüre es jetzt schon“, hatte er erbarmungslos geantwortet. Dann war er gegangen, mit einem gepackten Koffer. Den Rest seiner Sachen hatte sie zur Heilsarmee gebracht, ehe er sie abholen konnte. Seine tolle Stereoanlage zu zerschlagen, hatte ihr bloß über einen Abend hinweg geholfen.
Sie war am Boden zerstört gewesen, hatte gefressen, gekotzt, gehungert, geheult. Pablo war kurz davor gewesen, sie in die Klapse einzuliefern oder sie in ein Flugzeug zu setzen und zurück nach Buenos Aires zu verfrachten.
Aber sie hatte es geschafft, dank des Tangos, den sie unermüdlich weiter tanzte, auch wenn sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Dank des Tangos, der ihre Lebensader war, ihre Heimat, der Klang ihrer Lebendigkeit, hatte sie überlebt. Irgendwann konnte sie wieder lachen, sie traten auf, Pablo und sie, zehn Kilo leichter, schöner, reifer, und sie hatte es allen gezeigt.
Rolf, dieser Verräter, hatte sich binnen einen Jahres scheiden lassen und lebte nun in Köln mit seiner Neuen. Sie war auch Argentinierin und Tänzerin, aber klapperdürr. Juana hasste sie. Mit ihr betrieb Rolf eine Tanzschule, die dank seines werberischen Geschicks florierte. Seine Agentur hatte er verkauft.
Juana wühlte das Telefon unter einem Berg benutzter Taschentücher hervor und wählte seine Mobilnummer, obwohl sie wusste, dass es falsch war. Er war wie eine Droge, die sie vor allem dann brauchte, wenn sie sowieso schon litt. Doch seine Tussi ging immer an die Privatnummer und auch im Studio schien sie wie ein Schießhund nur darauf zu warten, dass Juana anrief. Weil er Juana so plötzlich verlassen hatte, verspürte Rolf immerhin ein gewisses Schuldgefühl, das ihn dazu gebracht hatte, ihr die Schulden für das „Porteño“ zu erlassen und auf ihre Anrufe zu reagieren, wenn sie es nicht übertrieb.
„Rolf“, stammelte sie, als er sich überraschender Weise meldete. „Mir geht es so schlecht. Du musst kommen.“
„Juana, das tut mir leid. Was hast du denn?“ Seine Stimme klang mitfühlend.
„Eine Grippe. Aber nicht irgendeine, sondern eine hochgefährliche! Über 40 Grad Fieber“, übertrieb sie.
„Du Arme. Kann Pablo dir nicht helfen? Du weißt doch, Köln ist nicht gerade um die Ecke und wenn es nicht lebensbedrohlich ist, kann ich hier nicht weg.“
„Pablo muss sich um das Studio kümmern, damit wir nicht Pleite machen. Und ja, man kann sterben an einer Grippe!“ Juana fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie tat sich selbst unendlich leid.
„Hmm“, sie hörte, wie er mit jemandem flüsterte. Bestimmt sein Vögelchen. „Hör zu, wenn es dir so schlecht geht, dann ruf doch bitte den Notarzt. Der wird dir helfen.“
„Notarzt?“ Wut stieg in Juana auf. „So wimmelst du mich ab, ja? Nach all dem, was du mir angetan hast?“ Ihre Stimme versagte.
„Es tut mir leid, wie oft soll ich das denn noch sagen. Es ist eine Menge schief gelaufen zwischen uns. Aber die Dinge sind nun mal, wie sie sind, wir leben nicht mehr zusammen, sind nicht mehr verheiratet und du musst allein klarkommen.“
Juanas Herz zog sich zusammen, als sie ihn so sprechen hörte. Kaltes, herzloses Arschloch. Hatte ihre Liebe verraten und sich ein dürres Luder geschnappt, das einfach zu reiten war. Blöder Idiot, Widerling. So und so Ähnliches schrie sie in das Telefon, bis das Tuten sie darauf aufmerksam machte, dass Rolf aufgelegt hatte. Nach nochmaligem Wählen ging gleich seine Mailbox ran.
Da nun sowieso alles egal war, rief sie im Studio an, wo der Anrufbeantworter ansprang. Dann probierte sie es zu Hause bei ihm. Das dürre Stück nahm ab, legte aber noch schneller wieder auf als Rolf.
Erschöpft ließ Juana das Telefon auf den Boden fallen und schleppte sich in die Küche. Sie fror und zitterte, und der Spiegel, an dem sie vorbeikam, zeigte ihr eine gealterte Frau mit wirrem Haar und irren Blick, die die Bettdecke hinter sich herzog. Juana riss den Kühlschrank auf und begann, wahllos Essen in sich hineinzustopfen. Obwohl ihr Hals wie Feuer brannte und ihr Tränen die Wangen hinunterliefen, gab die Nahrungsaufnahme ihr den Trost, den sie nun brauchte. Käse und Schinken, Oliven, Joghurt, Pudding, Fleischsalat schlang sie hinunter, goss Milch hinterher, riss Schränke auf, fand Brot, Chips, Schokolade, später Vanilleeis, um den wunden Hals zu kühlen, den Honig löffelte sie direkt aus dem Glas, dann Nutella. In so einen Fressrausch hatte sie sich schon lange nicht mehr gesteigert, sie konnte nichts dagegen tun, es war wie das wilde Kratzen an einer Wunde, die danach nur noch mehr juckt und nässt. Der Schmerz ließ nach, je mehr sie aß, der Herzschmerz wurde weniger, je voller ihr Bauch wurde. Sie ließ sich auf den Küchenboden sinken. Schwer fühlte sie sich, schwer und taub und matt, wie eine aufgedunsene Wurst, die gleich platzen würde. Schlagartig setzte Übelkeit ein. Sie sah sich um, als wäre sie jäh erwacht, sah sich inmitten von Essenresten und aufgerissenen Verpackungen, den Mund verschmiert, die Hände klebrig bis zu den Ellenbogen und ekelte sich vor sich selbst.
Sie schaffte es gerade noch, den Klodeckel im Bad hochzureißen, bevor ein Schwall aus ihr herausschoss, als hätte man einen Feuerwehrschlauch aufgedreht. Ihr Magen krampfte in konvulsivischen Zuckungen, wehrte sich wie ein zorniges Kind und gab alles wieder von sich, was sie in der vergangenen halben Stunde in sich hineingestopft hatte. Sie hatte ihn gut trainiert. Früher musste sie sich den Finger tief in den Hals stecken, um zu kotzen, als ihr Rachen chronisch wund war, hatte sie eine Zeit lang eine Feder benutzt. Später genügte der bloße Gedanke an die Fresserei, die Unmengen von Kalorien, der Selbsthass, um zu kotzen.
Als alles draußen war, spülte sie, stand zittrig auf, putzte sich die Zähne und schleppte sich zurück ins Bett. Jetzt war sie leer. Nun würde sie Ruhe finden. Kurz überlegte sie noch, Pablo anzurufen, als der Schlaf sie schon übermannte.
Kapitel 3
Mittwoch, 27. Februar
Hamburg-Volksdorf
Lust hatte sie eigentlich nicht. Der Nachmittag war so zähflüssig gewesen, die Arbeit am Bildschirm war ihr wie eine Sisyphos-Beschäftigung erschienen. Immer dieselben Zahlenkolonnen abgleichen, Fehler suchen und beheben, ein um den anderen Tag. Dabei standen hinter den Zahlen Geldbeträge, und zwar nicht unerhebliche, mit denen man lauter angenehme Dinge tun konnte. Die Eigentümer dieser Vermögen jedenfalls mussten sich nicht um ihr tägliches Brot sorgen, um die Miete, nicht einmal um den nächsten Urlaub. Sie hatten alle ausgesorgt und arbeiteten, wenn überhaupt, nur noch aus Spaß – aus „Jux und Dollerei“, wie ihre Mutter sagen würde.
Seitdem Sarah in die Privatkundenabteilung gewechselt war, wurde ihr mehr und mehr bewusst, wie ungleich der Reichtum verteilt war. Wer Geld hatte, bekam fast ohne eigenes Zutun immer mehr dazu, er brauchte nur einen kleinen Teil des immensen Vermögens unangetastet lassen. Dann gab es die anderen, die herumkrebsten, schlecht bezahlten Jobs nachgingen und davon kaum die Miete und Lebenshaltungskosten aufbringen konnten. Auch wenn diese Menschen in ihrem Stadtteil nicht so verbreitet waren, wie es dem Hamburger Durchschnitt entsprach, sah Sarah sie dennoch überall. Es waren dieselben, die in ausgetretenen Schuhen vor den Kundenschalter traten und um einen Dispo baten. Doch bekamen sie diesen, gerieten sie nur tiefer in die Mühlen der Banken, die ihnen nun horrende Zinsen abverlangten, bis zu 14 Prozent, und das in Zeiten, in denen man für eine Geldanlage nur 0,5 bis einen Prozent Zins auf sein Geld bekam. Dann gab es noch diejenigen, die gar keinen Job hatten, von staatlicher Unterstützung lebten, ob gewollt oder ungewollt, alleinerziehende Mütter kleiner Kinder, Immigranten, Arbeitslose, Kranke. Sarah wusste, dass sie es „gut hatte“ – ein sicherer Job, ein gehobenes Einkommen, eine solide Altersvorsorge. Und auf der anderen Seite wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie sich mit dem Feind verbündet hatte, denn ihr Vater war einer von denen gewesen, die letztendlich dem Risikomanagement einer Bank zum Opfer gefallen waren.
Sarah schob die Gedanken beiseite, straffte den Rücken und fuhr den PC runter. Dann räumte sie den Schreibtisch auf, spülte die Teetasse in der kleinen Pantry aus, tauschte noch ein paar Belanglosigkeiten mit der neuen Kollegin, die Anschluss zu suchen schien, und verließ die Bank. Sie hatte ihre Schwimmsachen bereits im Auto deponiert, damit sie nicht nach Ausreden suchen konnte. „Dem inneren Schweinehund ein Schnippchen schlagen“, sagte sie energisch zu sich. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein dicker, wuscheliger Hund mit Schweinsohren und -schnauze auf, der es sich gerade auf ihrem Sofa gemütlich machte, eine Szene, die sie sofort mit Neid erfüllte.
„In der Vorbereitung liegt der Erfolg!“, mahnte sie sich, während sie ausparkte. Sie sprach gern auf diese Weise mit sich und würde es noch viel mehr tun, wenn sie in der Bank nicht schon ein paarmal seltsame Blicke geerntet hätte und nun darauf achtete, zumindest dort darauf zu verzichten.
Das Schwimmbad Ohlsdorf erschien ihr für ihr Vorhaben am geeignetsten. In Volksdorf gab es mit dem Taka-Tuka-Land vorrangig ein Spaßbad für die Kleinen und ihre Familien, in der Alsterschwimmhalle mit den Olympiamaßen trainierten die ambitionierteren Hobbysportler, zu denen sie sich nicht zählte. Ohlsdorf hingegen war ein etwas spießiges Freizeitbad mit Vereinsanbindung, das sie darauf hoffen ließ, unbehelligt ein paar Bahnen zu schwimmen. Außerdem war es nur wenige Kilometer von ihrer Arbeitsstelle entfernt.
Auf dem dazugehörigen Parkplatz war etwas frei. Sie löste eine Karte für 90 Minuten und suchte sich eine Umkleidekabine. Es war eng und die Luft von stickigem Chlorgeruch erfüllt, der sie 30 Jahre zurückwarf. Vor der Zeit des Taka-Tuka-Lands war das Bad in Volksdorf ein ganz normales Schwimmbad gewesen. Dort hatte sie Schwimmen gelernt. Ihr Vater hatte über ungezählte Freitagnachmittage hinweg mit Engelsgeduld versucht, ihr die Furcht vor dem Wasser zu nehmen. Sarah war ein schrecklicher Angsthase gewesen. Sie versuchte um jeden Preis zu vermeiden, dass ihr Wasser ins Gesicht spritzte. Tauchen war überhaupt nicht möglich gewesen. „Schwimm doch mal unter meinem Arm durch“, hatte ihr Vater gebeten und den Arm über die Wasseroberfläche gehalten. Sie hatte sich geweigert. Nach geschätzten zwei Jahren hatte sie zwar mit Ach und Krach ihren Freischwimmer gemacht, der damals noch darin bestanden hatte, zwanzig Minuten im Schneckentempo neben dem rettenden Rand entlang zu schwimmen und am Ende unter Aufbringung ihres gesamten Mutes vom Einer zu springen und dabei gezwungenermaßen mit dem Kopf unter Wasser zu tauchen.
„Schwimmen macht fit!“, erklärte sie sich selbst und begab sich unter die prasselnde Dusche. Im Abfluss schwammen Haare. Sarah versuchte nicht hinzuschauen, auch die stark übergewichtige Frau zu ignorieren, die sich weisungsgemäß der Badebekleidung beim Duschen entledigt hatte und Mengen von Shampoo auf Kopf- und Schamhaaren verteilte.
Sie fror, als sie die Halle betrat. Wann sie zuletzt schwimmen gewesen war, wusste sie nicht mehr – es hatte sich jedoch nicht allzu viel verändert. Der penetrante Chlorgeruch, der glitschige Boden, Stimmen, die viel zu laut durch die Halle gellten, muffelige Bademeister mit Schnauzbart, Schmerbauch und Gummischlappen. Zu allem Übel schien auch noch eine Schwimmgruppe zu trainieren. Etwa ein Drittel des Schwimmbeckens war der Länge nach abgeteilt und wurde von Jugendlichen durchpflügt. Sie warfen das Wasser auf, bis es wie kochendes Wasser schäumte, und schmissen ihre Oberkörper voller Elan nach vorn. Der Trainer, selbst ein junger Mann, stand am Rand und brüllte unverständliche Kommandos, denen er mit seiner Trillerpfeife Pfiffe folgen ließ.
Sarah zupfte ihren Badeanzug zurecht und hangelte sich vorsichtig die Einstiegstreppe zum Nichtschwimmerbereich herunter. Sie ahnte, dass dies doch nicht ihr neuer Lieblingssport werden würde. Das Wasser war viel zu kalt. Ein Kind mit Badekappe beobachtete sie misstrauisch. Sie lächelte es an und tauchte vorsichtig ein. War man erst einmal im Wasser, war es gar nicht so kühl.
Sie machte ein paar vorsichtige Schwimmzüge. Es ging gar nicht so schlecht, eigentlich sogar ganz gut. Sie schwamm zu der Plastikkette, die den Schwimmerbereich abtrennte, und hob sie an, um darunter hindurchzugehen. Natürlich ohne das Gesicht nass zu machen. Immer in Reichweite des Beckenrandes schwamm sie los. Den kurzen Moment der Angst, als sie wusste, dass sie nun keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, versuchte sie zu überwinden, indem sie das Ende des Schwimmbeckens anvisierte. Ein älterer Mann kam ihr kraulend entgegen. Sie wich aus und hielt sich einen Moment lang am Beckenrand fest. Dann schwamm sie weiter, darauf bedacht, dass die kleinen, kappeligen Wellen ihr nicht ins Gesicht schwappten.
Nach der ersten Bahn verschnaufte sie kurz am Beckenrand, bevor sie die nächste Bahn in Angriff nahm. Auf diese Weise schwamm sie ein paar Mal hin und her. Langsam wurde ihr heiß. Außerdem fühlten sich ihre Beine müde an und sie war ein bisschen außer Atem. Top in Form war etwas anderes. Nun zogen zwei Bademeister eine weitere rot-weiße Schlange über das Wasser und trennten eine weitere Bahn ab. Der öffentliche Bereich war nun auf eine etwas breitere Bahn geschrumpft. Nur noch ein paar kleinere Kinder mit ihren Müttern tummelten sich im Nichtschwimmerbereich, ein paar ältere Herrschaften versuchten tapfer, weiter ihre Bahnen zu ziehen. Eine neue Gruppe Jugendlicher betrat die Halle. Schlanke, schlaksige, teilweise aber auch überraschend durchtrainiert wirkende Jungs mit V-förmigen Oberkörpern, definierten Muskeln und schmalen Hüften neben plumpen, eher bullig wirkenden Mädchen in Adidas-Schwimmanzügen. Sarah hatte immer schon gefunden, dass Schwimmtraining nur etwas für Jungs war. Mädchen, die zu viel schwammen, entwickelten sich sehr stämmig.
Die Jugendlichen alberten an der Seite herum, bis sie von ihrem Trainer zur Ordnung gerufen wurden. Dann sprangen sie nacheinander mit flachen Kopfsprüngen ins Wasser und begannen, sich „einzukraulen“, wie der Trainer verlangte. Auch Sarah stieß sich wieder vom Rand ab und schwamm pflichtbewusst weiter. Etwa in der Mitte des Beckens wich sie dem älteren Herrn aus, der beharrlich auf Rechts-Schwimmen bestand. So musste sie ihre Nähe zum Rand kurzfristig aufgeben. In diesem Moment pflügte ein Jugendlicher im Schmetterlingsstil rechts an ihr vorbei und erzeugte eine Art Bugwelle. Wassertropfen prasselten ihr über den Kopf, brannten in den Augen. Prompt riss sie den Mund auf, erschrak noch mehr, schluckte Wasser, verschluckte sich, strampelte panisch hustend zum Rand, der lächerliche zwei Meter entfernt war. Dort klammerte sie sich fest, rieb sich die Augen, die Wimperntusche verschmierte, das verdammte Chlorwasser brannte wie Höllenfeuer in Nase und Rachen, sie versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. In ihre Ohren war Wasser geflossen, daher hörte sie erst nichts.
„Alles in Ordnung?“ Ein Bademeister mit Schnauzbart ging neben ihr in die Hocke, musterte sie forschend.
„Ja, danke, es geht schon.“ Sie versuchte zu lächeln.
„Wir haben sonst auch Kurse für Erwachsene.“
„Ja, danke. Ich kann schwimmen“, gab sie leicht patzig zurück.
„Gegen Wasserangst kann man in jedem Alter etwas machen.“
Hatten Bademeister neuerdings eine psychologische Zusatzausbildung? In ihrer Kindheit hatten die meisten ängstliche Kinder kurzerhand ins Wasser geworfen wie junge Katzen, die man ertränken wollte, und im Extremfall erst kurz vor dem Absaufen wieder herausgezogen.
„Aha. Danke, gut zu wissen.“ Sie drehte den Kopf weg, um dem Schnauzbärtigen zu signalisieren, dass das Gespräch zu Ende war.
Eine Zeit lang starrte sie noch zu den Schwimmern hinüber, die diese Bezeichnung immerhin verdienten. Dann wählte sie die nächstgelegene Treppe, stieg die glitschigen Stufen empor und ging duschen. Sie zerrte den nassen Badeanzug herunter und seifte sich ein, mit dem Rücken zum Raum. Ihre Haut war rot und pickelig vom Chlorwasser. Auch die Haare shampoonierte sie, sie waren sowieso schon nass. Dabei hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Doch außer ihr war niemand im Duschraum. Sie wickelte sich in das große Handtuch, schlang ein kleines um die nassen Haare, nahm ihre Sachen und trat auf den Flur hinaus. Aus der Halle erklangen die gewohnten Kommandos vom Schwimmtraining, doch hier war alles still. Während sie zu ihrem Spind schlurfte, hatte sie wieder das blöde Gefühl, dass jemand hinter ihr war. Ihr Nacken prickelte, sie atmete hektisch, während sie ihre Kleidung aus dem schmalen Schrank in die Umkleidekabine trug. Mehrfach sah sie sich um, erblickte jedoch niemanden.
„Jetzt reiß dich aber zusammen!“, sagte sie laut, während sie sich möglichst schnell abtrocknete und anzog. Paranoia, das fehlte ihr noch. Ihr war abwechselnd heiß und kalt. Die Klamotten klebten fliegenpapierartig an ihr, zwängten sie ein wie Wurstpellen. Sie schienen eingelaufen zu sein. Sie verzichtete sogar darauf, sich einzucremen und zu schminken. Das ungute Gefühl blieb, es war, als atmete jemand vor der Umkleidekabine, wartete darauf, dass sie herauskam.
Ruckartig riss sie die Tür auf. Natürlich war niemand zu sehen. Sie föhnte kurz die Haare, band sie zu einem Pferdeschwanz und schulterte die Tasche. An der Kasse saß niemand mehr, auch der Kiosk hatte Feierabend. War es schon so spät? Die Uhr zeigte acht, eigentlich einen ganz normale Zeit für Feierabendschwimmen.
Sarah stieß die Tür auf. Ein Schwall frischer Luft schlug ihr entgegen. Sie atmete erleichtert ein und aus. Wahrscheinlich war ihr das Klima drinnen nicht bekommen. Der Parkplatz war überraschenderweise voll, bestimmt parkten noch andere Leute hier, Anwohner oder Bahnfahrer. Sie hatte vergessen, wo ihr Auto stand und musste suchen. Plötzlich raschelte es hinter ihr. Sarah fuhr herum. Nichts. Langsam hatte sie das Gefühl, durchzudrehen. Am Ende der Reihe stand ihr Wagen. Sie schloss auf, warf die Tasche hinein, sprang auf den Fahrersitz und verriegelte die Tür. Zittrig betätigte sie den Anlasser, der Wagen setzte sich in Bewegung. Sie atmete auf.
*
Hamburg, Elbchaussee
Reinhold saß an seinem Schreibtisch und surfte im Netz. Angeblich war er mit Schuldingen beschäftigt – zumindest hatte er das Sabine gesagt. Dabei verlangte sie gar keine Erklärung von ihm, denn sie war selbst nach dem Abendessen in ihr Arbeitszimmer gegangen, um einen Fall durchzugehen. Doch anders als er tat sie es wahrscheinlich wirklich – anders als er ging sie nämlich in ihrem Beruf auf.
Obwohl er eigentlich tatsächlich den morgigen Unterricht hätte vorbereiten müssen, konnte er sich nicht aufraffen. Seufzend stand er auf, trat vor sein Bücherregal und zog lustlos mal hier, mal dort ein Buch heraus. Nichts inspirierte ihn. Egal, dann würde er eben morgen im Arbeitsbuch weitermachen. Das konnte er nach so vielen Schülergenerationen so gut wie auswendig, insofern erübrigte sich eine weitere Vorbereitung.
Er genehmigte sich noch einen großen Schluck Rotwein und ließ sich wieder in seinen Schreibtischstuhl fallen. „In“ traf es – er versank darin, das weiche Büffelleder schmiegte sich an seinen Hintern und um seine Oberschenkel wie ein Handschuh. Der Ledersessel war viel zu bequem, hier konnte man gar nicht arbeiten. Er fühlte sich schwer und aufgedunsen, die vergangenen Jahre hingen ihm in den Knochen, sein Leib war zu füllig, die Muskeln zu schwach. Reinhold klickte sich durch ein paar Seiten im Netz. Im Hintergrund waren einige Schulseiten geöffnet, falls Sabine doch mal kurz hereinschauen würde. Unwahrscheinlich, und im Grunde war es ihr sicher vollkommen schnuppe, ob er arbeitete oder sich einen herunterholte. Diese Form der Sexualhygiene ersparte ihr wenigstens seine Annäherungsversuche. Sabine war nicht dumm. Ganz im Gegenteil. Bestimmt vermutete sie, dass er sich Pornoseiten anschaute und dabei an sich herumspielte. Es gab weiß Gott genug Schmuddelkram im World Wide Web. Solange er keine Kinderpornos guckte, war ihr sicher alles egal. Da hätte er sie beruhigen können – auf Kinder stand er nun gar nicht, weder Jungs noch Mädchen. Die hatte er täglich zur Genüge um sich. Aber junge Frauen mit naivem Touch machten ihn am meisten an. Nicht nur sexuell gesehen das genaue Gegenteil seiner Gattin, die klug, brillant und ältlich war. Er rieb sich die Stirn. Warum machte er sich eigentlich ständig Gedanken über Sabine? Was sie von ihm hielt, was sie denken sollte und was nicht, war es nicht im Grunde genommen einerlei?
Er öffnete seine Lieblingspornoseite Youporn. Inzwischen gab es davon auch eine deutsche Version, aber er bevorzugte die englische. Oben liefen immer die gerade gesehenen Filme, man konnte sie auch bewerten oder in Kategorien suchen, nach Dreiern, reifen Frauen, Gruppensex, Lesben, Blow jobs – was auch immer. Reinhold ließ den Cursor über die Bilder gleiten und klickte einen der Filme an. Eine nachgespielte Arztszene: Frau geht zum Arzt, kurzes Gespräch, dann eine Untersuchung auf dem gynäkologischen Stuhl, danach zieht der Weißkittel seinen Schwanz raus und nagelt die angebliche Patientin, um ihr endlich zu dem langersehnten Orgasmus zu verhelfen. Eine lächerliche Szene, der angebliche Arzt klein, dick und behaart, die Patientin dürr und tätowiert, aber es reichte aus, um ihn anzutörnen. Er vergewisserte sich, dass die Tür zu war, holte dann seinen Schwanz aus der Hose und begann zu masturbieren. Binnen kurzer Zeit hatte sich das verschrumpelte Würstchen zu veritabler Größe aufgerichtet. Natürlich konnte er nicht mit dem ansehnlichen Teil des vermeintlichen Doktors mithalten, der sein Gerät der braungebrannten Tussi nun abwechselnd in den Vorder- und Hintereingang schob. Die Kamera zoomte auf diesen Vorgang. Schmatzende und klatschende Geräusche wechselten sich rhythmisch ab, die Frau stöhnte und jauchzte. Er kam ungefähr zeitgleich mit dem Herrn Doktor, doch während der sein Sperma über die Hinterbacken der nun wahrscheinlich als geheilt Entlassenen verteilte, wischte Reinhold sich diskret mit einem Papiertaschentuch ab. Dann klickte er die Seite weg. Etwa fünf Minuten hatte die Wichserei wohl gedauert. Hinterher war er immer leicht angeekelt, von den Filmchen und von sich selbst, wie nach einem hastig verschlungenen Cheeseburger bei einem der einschlägigen Junk Food Drive Ins – noch während einem die Soße von den Fingern tropft, bereut man schon, überhaupt angehalten zu haben.
Was Michael bei ihrem letzten Treffen erzählt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. So begeistert hatte er geklungen, geradezu beseelt war er gewesen. Tango, argentinischer Tango. Er gab die Suchbegriffe ein. Millionen Links wurden ihm dazu präsentiert. Er sah sich Fotos an: Schöne Frauen in schwarzen, tief ausgeschnittenen und hoch geschlitzten Kleidern schmiegten sich an gut aussehende Männer in Anzügen, verharrten in fotogenen Posen. Bei Youtube gab es Unmengen von Filmen. Offenbar tanzten Massen von Leuten diesen Tanz und eine nicht unerhebliche Anzahl von Latinos sogar unglaublich gut. Einige rasten in irrer Geschwindigkeit über das Parkett, bewegten ihre Füße und Beine so flink, drehten ihre Partnerin so schnell, dass ihm schon vom Zusehen schwindlig wurde. Dazu lief knisternde Musik wie aus Schwarz-Weiß-Filmen, oftmals falsettierte ein Sänger mit sich fast verknotender Zunge. Andere Videos zeigten Paare, die langsam, versunken tanzten, sie bewegten ihre Körper und Beine in raubtierhafter Anmut, die Frauen schritten meist rückwärts und streckten dabei die Beine so elegant, dass ihm schier die Luft wegblieb. Welch eine Anmut und Grazie. Er sah eine Sinnlichkeit, die die Fickfilmchen nicht annähernd boten. Sein Mund wurde trocken, er nahm noch einen Schluck Wein. Die Männer in diesen Videos waren auf eine so selbstverständliche Weise maskulin und attraktiv, dass ihm der Doktor mit seinem Ständer wie der Hauptdarsteller einer albernen Posse erschien.
Reinhold kam aus dem Schauen und Staunen gar nicht mehr hinaus. Während in der Mitte des Bildschirms ein Video lief, wurden daneben schon wieder zehn andere angeboten. Dabei waren die Kerle, die diesen Tanz teilweise vor Riesengruppen anderer Tänzer aufführten, die im Kreis um das Paar herumsaßen, begeistert applaudierten und Zwischenrufe hören ließen, beileibe nicht alle jung, schlank und schön. Einer war dabei, der aussah wie Dirk Bach in seinen besten Zeiten, klein und kugelrund. Er bugsierte ein Geschoss von Tänzerin vor sich her und schwang sie um sich herum, eine Blondine mit vibrierenden Röcken und Hüften. Dieser kleine Dicke war so schnell und präzise, dass selbst Reinhold, der von diesem Tanz nichts verstand, der Atem stockte. Zu alledem schienen die beiden einen Heidenspaß miteinander zu haben. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal so einen Spaß gehabt? Er ahnte, dass es Jahrzehnte her war.
Er schloss die Seite und wandte sich stattdessen den Urlaubsbildern zu. Wie in den vergangenen Jahren waren sie auch im letzten Sommer in der Provence gewesen. Es waren schöne Wochen in blühenden Landschaften, die er stets leicht angeduselt von dem hellen, fruchtigen Rosé genossen hatte. Auf den meisten Bildern waren entweder er oder Sabine zu sehen gewesen – logisch, einer hatte fotografieren müssen. Doch abgesehen davon, dass sie jedes Jahr etwas älter und irgendwie verwischter aussahen, unterschieden sich die Bilder nicht voneinander. Er hätte nicht einmal mehr sagen können, in welchem Ort sie jeweils gewesen waren.
Er schloss das Fotoprogramm und gab Tango Argentino und Hamburg in der Suchmaschine ein. Prompt erschienen mehrere Tanzschulen, die sich offenbar auf diesen Tanz spezialisiert hatten. Einige wurden von Argentiniern betrieben, andere nicht. Michael hatte irgendetwas vom Hauptbahnhof erzählt. Tatsächlich gab es dort eine Tangoschule namens „El Porteño“, die auch Anfängerkurse und Schnupperworkshops anbot. Reinhold erinnerte sich an den Namen. Sie schien einem argentinischen Paar zu gehören. Glutäugig starrte der Mann namens Pablo Hernandez von der Website, die Lippen zu einem übertriebenem Lächeln aufgeworfen. In seinem Arm posierte die Frau, Juana Rojas, in einem bis zu den Hüften geschlitzen silbernen Fummel. Sie war ein kleines bisschen zu üppig für ihre Kleidergröße, ihre Brüste quollen Reinhold geradezu entgegen. Vielleicht war das doch etwas zu viel für den Anfang. Außerdem widerstrebte es ihm, auf Michaels Spuren zu wandeln. Es gab auch andere Tanzschulen, zum Beispiel das „Tango Ocho“, das von Deutschen geführt wurde. Dort wurden jeden Sonntag Schnupperkurse angeboten. Er notierte sich die Adressen und Telefonnummern und fuhr den Rechner herunter.
Im Wohnzimmer traf er auf Sabine, die es sich gerade auf der Couch gemütlich machte. Zu ihrem Ritual gehörte es, noch ein letztes Glas zusammen zu trinken. Heute stand das handgeschnitzte Backgammon-Spiel auf dem Tisch, das sie vor zwanzig Jahren zu einem Spottpreis in Marrakesch gekauft hatten.
„Magst du spielen?“, fragte er und setzte sich ihr gegenüber.
„Gern. Bist du fertig geworden?“
„Einigermaßen. Und du?“
„Ich muss morgen etwas früher los. Um elf habe ich einen Gerichtstermin, aber die wichtigste Akte, die ich dafür durcharbeiten sollte, liegt im Büro.“
Er nickte und überließ ihr die Spieleröffnung. Abwechselnd würfelten und zogen sie. Sabine starrte konzentriert auf die Steine. Sie spielte, um zu gewinnen, ihm war es einerlei, ob er gewann oder verlor. Um der guten Stimmung willen ließ er sie meist gewinnen, wenn erforderlich. In der Regel spielte Sabine allerdings so gut, dass sie ihm sowieso haushoch überlegen war. Auch dieses Mal musste er sich keine Mühe geben, um zu verlieren. Sie sah ihn befriedigt an. „Noch ein Glas?“
Er nickte und entkorkte eine weitere Flasche Rotwein. Früher, als er noch geraucht hatte, war das nun die Zeit für eine Zigarette gewesen. Manchmal sehnte er sich noch nach dem bitteren Geschmack auf der Zunge, das Rauchausstoßen, die lässige Pose. Doch Sabine hatte ihm die Vorteile des Nichtrauchens so lange vor Augen gehalten, dass er irgendwann kapituliert hatte. Und sie hatte ja Recht.
„Ich habe mal ein wenig recherchiert“, begann er.
Sie zog die Augenbrauen hoch und wartete wortlos.
„Michael war so enthusiastisch, als er über den Tangokurs sprach, dass ich mir überlegt habe, das auch mal zu machen.“
„Du willst Tango tanzen lernen? Bist du in der Midlife-Crisis? Und mit wem denn?“ Sabine machte aus ihrer Skepsis keinen Hehl.
„Na, für die Midlife-Crisis bin ich wohl schon zu alt“, gab er zurück. „Und mit wem wohl – mit dir natürlich!“
„Mit mir?!“ Sabine lachte. „Du weißt, dass ich zwei linke Füße habe. Und ich dachte, du auch!“
„Mit deinen zwei linken Füßen kannst du aber ziemlich gut Tennis spielen. Und wusstest du, dass argentinischer Tango Gehirntraining ist?“
„Gehirntraining, wie das? Dann mache ich doch lieber einen Sprachkurs oder löse Sudokus!“
„Das Gehirn muss sich komplexe Bewegungsabfolgen merken. Das schult Bereiche, die sonst nicht angesprochen werden. Außerdem – wäre es dir lieber, ich würde mir eine knackige 25-jährige Gasttänzerin zulegen?“
Sabine winkte ab. „Wenn es das ist, was du willst, werde ich dir sicher nicht im Wege stehen. Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass ich auf dem Parkett eine sonderlich gute Figur machen würde.“
„Du kannst es doch wenigstens mal ausprobieren. Mir zuliebe! Es ist schon seltsam – normalerweise wollen doch Frauen ihre Männer zum Tanzen überreden und die blocken. Wieso ist es bei uns denn andersherum?“
Sabine lachte. Einen Moment blitzte wieder die bildhübsche Junganwältin hervor, in die er sich damals verliebt hatte. „Bei uns ist eben vieles anders, Reinhold! Aber wenn du darauf bestehst, tue ich dir den Gefallen. Aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn ich dir auf den Füßen herum trample und mich wie ein Stück Holz anfühle!“
Was er an Sabine immer gemocht hatte, war ihre Selbstironie und ihr Witz. Er beugte sich zu ihr herüber und gab ihr einen Kuss. Es fühlte sich ein wenig unbeholfen und hölzern an. Ihm wurde bewusst, dass sie eine endlose Zeit nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Sie waren zu einem ältlichen Geschwisterpaar mutiert, allerdings zu einem, das sich ausnehmend gut verstand. Und war es nicht besser, eine harmonische, aber sexlose Ehe zu führen, als sich ständig die Köpfe einzuschlagen und anschließend das Gehirn heraus zu vögeln?
„Prima, dann halte dir nächsten Sonntag frei, da wird nämlich ein Schnupperkurs im ,Tango Ocho‘ angeboten!“
Sie standen auf, räumten die Gläser weg und verabschiedeten sich mit einem keuschen Wangenküsschen voneinander, bevor jeder in sein Schlafgemach ging. Zuerst hatte das gemeinsame Schlafen aufgehört, weil Reinhold schnarchte und Sabine das trotz Ohropax nicht mehr ertrug, dann der Sex. Aber so war das vielleicht in jeder langjährigen Ehe, dachte Reinhold, als er sich langsam entkleidete. Dann dachte er an Michael und Eva und ihm kamen Zweifel.
*
Hamburg-Sankt Georg
Pablo und Juana saßen zusammen in dem kleinen Büro, das sich an ihr Tangostudio anschloss, und rauften sich buchstäblich die Haare. Sie hatten die Zahlen der letzten Monate zusammengetragen und waren die Buchungen der nächsten Wochen durchgegangen. Juana schob sich einen Eukalyptusbonbon in den Mund. Ihre Grippe war fast weg, aber ihr emotionaler Zustand immer noch düster, wie Pablo unschwer an ihrem Outfit erkennen konnte. Juana trug nur dann Hosen, wenn sie sich schlecht fühlte. Heute trug sie eine Art Jogginghose, in der Pablo sie noch nie gesehen hatte, und dazu ein Kapuzenshirt. Gruselkleidung für eine Frau, die so gern ihre Weiblichkeit betonte wie Juana.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, behauptete Pablo. „Mach dir keine Sorgen!“
„Nein, tut es nicht. Du willst es dir und mir nur schönreden! Sieh es ein, wir stehen kurz vor der Pleite. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, können wir Ende des Jahres dichtmachen. Dann müssen wir unsere Familien anbetteln, damit sie uns das Geld für die Rückflugtickets schicken.“ Sie zog die Nase hoch.
„Haben doch alle selbst kein Geld! Vergiss es, Juana. So schnell kommst du mir nicht davon.“
„Aber was sollen wir denn machen?“, jammerte Juana, schob den Stuhl zurück und tigerte in dem kleinen Raum auf und ab.
„Mehr Dinner-Shows! Die laufen immer super.“
„Ja, in der Vorweihnachtszeit. Dann können wir uns wieder vor angeduselten Belegschaften kleiner Firmen zum Affen machen. Aber jetzt doch nicht, wo es auf den Sommer zugeht!“
„Vergiss nicht unsere derzeitige Show zum Firmenjubiläum!“
„Naja …“
„Bald ist auch wieder Hafencity Tango. Dann kommen neue Leute in unsere Kurse und wir verdienen wieder viel Geld.“
„Sooo toll war das im letzten Jahr auch nicht. Wenn es regnet, bleiben alle zu Hause. Kann man nie wissen in fucking Hamburg, wie das Wetter wird.“ Sie spuckte den Bonbon aus und biss in eine der Medialunas, die Pablo mitgebracht hatte. Der süße Teig schmeckte tröstlich.
„Dieses Jahr wird super Wetter! Und mit dem Akkordeon-Orchester und unserer neuen Show wird es grandios!“, behauptete Pablo.
„Und wenn schon. Unsere Milongas müssen besser laufen, die Kurse voller werden. Wie viele Leute waren gestern Abend da – zehn? Wenn es hochkommt. Und du hast bestimmt wieder ein oder zwei Paare so reingelassen!“
Pablo lächelte schuldbewusst. „Das ist auch Kundenbindung, wenn einige mal keinen Eintritt bezahlen müssen. Martin und Susanne machen immer mit beim ,Tango Porteño‘-Ballett. Und Rafael und seine Frau haben mitgeholfen bei der Renovierung.“
„Das mag sein, aber so kommen wir auf keinen grünen Zweig, das muss dir doch klar sein!“
Pablo spielte geistesabwesend mit der Maus. Dann grinste er triumphierend. „Juana, ich habe Bombenidee. Wir laden einen Gastlehrer ein. Einen echten jungen Tänzer aus Buenos Aires!“
„So, und wovon sollen wir die bezahlen?“
„Du sagst selbst, Wirtschaft ist am Boden in Argentinien! Laden wir natürlich nicht erste Garde ein. Aber gibt es so viele gute und unbekannte Tänzer, die arbeiten für kleines Geld. Kostet uns nicht mehr als Carlos am Tresen. Und wohnen kann er bei mir.“
„Wer, Carlos?“
„Nein, der Gastlehrer!“
„Sag nicht, er muss schwul sein.“
„Nein, lieber nicht, sonst gibt es nur Verwicklungen. Außerdem: Soll flirten auf Milongas mit unsere Gäste, den Frauen.“
Wie auf allen Milongas waren auch hier die Frauen in der Überzahl. Gerade in ihrem Studio gab es eine Reihe treuer, aber einsamer Herzen, die oft den ganzen Abend nur herum gesessen hätten, wären sie nicht eifrig von Pablo betanzt worden.
Juana überlegte. Dann seufzte sie. Sie hatte auch keine bessere Idee. „Okay, hast du schon jemanden im Auge?“
„Es gibt da ein oder zwei Tänzer, die ich beobachte, sie unterrichten mal hier, mal da, mal sehen, wen ich gewinnen kann.“
„Du meinst, wer verzweifelt genug ist, kommt auch nach Hamburg?“
„Nein, Hamburg ist ein großes Abenteuer für Argentinier!“
Juana zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Na, schauen wir mal … und nun lass uns üben für die Show.“
„La vida es una milonga y hay que bailar …“,[3] grinste Pablo und zog Juana hoch.
*
Buenos Aires, San Telmo
„Kannst du mir mal helfen?“ Mariana versuchte das enge Bustier zu schnüren, ohne dass es verrutschte. Ihre Brüste wurden in den spitzen Tüten des schwarzen Glitzerfummels nach oben gedrückt und erschienen so mindestens zwei BH-Körbchen größer. Adrian stellte sich hinter sie und band mit schnellen, geschickten Bewegungen das Mieder. Mariana trug einen schwarzen, hochgeschlitzten Rock und blutrote Tanzschuhe – allerdings ein älteres Paar mit fester Sohle, denn sie machten sich fertig für ihren Auftritt in San Telmo. In dem vorrangig von Touristen frequentierten Viertel aus pittoresken, nicht allzu verfallenen Altbauten an malerischen Calles und Plazas, auf denen Cafés und Restaurants ihre Stühle und Tische aufgestellt hatten, drehte sich alles um Touristenattraktionen – Asados aus gegrilltem Rindfleisch, Empanadas, die typischen gefüllten Teigtaschen, die von fliegenden Händlern angeboten wurden, und natürlich Tango. Man durfte sich nicht zu schade dafür sein, denn was hier getanzt wurde, unterschied sich erheblich von den Vorführungen auf den Milongas, bei denen man auf ein versiertes Publikum aus Tänzern traf. Hier, auf den Straßen von San Telmo, waren die Bedingungen härter: Die Frauen mussten mit ihren spitzen, hohen Absätzen gefährlichen Löchern im Boden ausweichen, sexistische Bemerkungen ertragen – oft zum Glück in Sprachen, die sie nicht verstanden –, Pfiffe, Johlen angetrunkener Besucher, die einen Blick unter ihren Rock erheischen wollten oder Schlimmeres vorhatten. Man musste seinen Ghettoblaster mitbringen und möglichst schrammelige Gassenhauer spielen, dazu effektheischerische Figuren tanzen, hohe Boleos, verschlungene Ganchos, machomäßiges auf-den-Boden-Grätschen der Frau. Aber an manchen Tagen konnte man mit diesen Auftritten, die sich nah an der Grenze zur tänzerischen Prostitution aufhielten, wie Adrian fand, gutes Geld verdienen. An anderen Tagen blieb der Hut, den sie neben sich aufgestellt hatten und den er nach der Show, die sie halbstündlich wiederholten, herumgehen ließ, vergleichsweise leer. Es war ein Glücksspiel. „La vida es una milonga y hay que bailar.“
Mit drei, vier anderen Tanzpaaren hatten sie das Revier unter sich aufgeteilt, damit sie sich nicht in die Quere kamen. Erstaunlicherweise war das Paar, das am meisten Geld verdiente und bei den Touristen am beliebtesten war, nicht das Beste. Bernardo war schon über 50, ein schmieriger Kerl mit nach hinten gekämmtem, schütterem Haar und einem Bauch, den er in eine Weste mit rotem oder silbernen Rücken zwängte, und Rosie, seine Partnerin, eine Amerikanerin, die vor mehr als 25 Jahren in Buenos Aires kleben geblieben war, nachdem sie sich in einen Tangotänzer verliebt hatte. Die Affäre war längst Schnee von gestern, Dutzende waren ihr nachgefolgt, bis Bernardo ihr einen sicheren Hafen bot. Rosie war proper, Ende 40 und tanzte nicht besonders gut, war aber voller Emphase dabei, warf die Beine, himmelte Bernardo glutvoll an, grätschte vor ihm auf den Boden und himmelte sein Gemächt an.
Die Touristen schienen ihren etwas schmutzigen Stil zu mögen, der wahrscheinlich genau die Art von Erotik ausstrahlte, die sie mit Tango verbanden – jedenfalls war ihr Hut immer gut gefüllt.
Waren Adrian und Mariana nach Bernardo und Rosie dran, blieb ihre Ausbeute mager. Aber als sie sich heute auf den Weg gemacht hatten, berichtete Adrian hoffnungsvoll, dass am Vortag aus Krankheitsgründen keiner der beiden Tänzer da gewesen war.
Leider konnte Marianas Mutter nicht auf Carlito aufpassen, so dass eine Freundin einsprang, Susana, die den Kleinen allerdings nicht allzu gut kannte. Im letzten Moment, als sie gerade loswollten, hatte Carlito so ein Theater gemacht, dass Mariana kurzerhand beschloss, den Kleinen und Susana mitzunehmen.
„Meinst du, das klappt?“, fragte Adrian zweifelnd, während er den Wagen mit seinem Sohn durch die von Schlaglöchern übersäte Straße schob. Er schwitzte jetzt schon und war voller Sorge, dass sich Schweißflecken über sein frisch gebügeltes weißes Hemd ausbreiten könnten. Susana und Mariana liefen plaudernd und lachend vor ihm her, als handle es sich um einen Familienausflug.
„Na klar, mach dir keine Sorgen!“, rief Mariana fröhlich und winkte einen der Busse heran, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit und oftmals mit offenen Türen an ihnen vorbei bretterten. Der Busfahrer bremste abrupt, sicher nur wegen Marianas gewagtem Outfit, und ließ sie einsteigen. Kaum hatte Adrian den Buggy seines Sohnes die steilen Stufen hinauf gewuchtet, als der Bus schon wieder losfuhr. Die Frauen entwerteten seelenruhig die Fahrscheine und schnatterten ohne Pause weiter, unbeeindruckt vom Kamikaze-Fahrstil des Fahrers, der in Buenos Aires ganz normal war, während Adrian einen halbwegs sicheren Platz für sein Kind suchte. Die wenigsten jungen Eltern in Buenos Aires benutzten Kinderwagen oder Buggys für ihre Sprösslinge. Sobald sie laufen konnten, wurden sie an der Hand hinter sich her gezerrt. Oft kam es vor, dass man in der „Subte“, der Untergrundbahn, Eltern mit klitzekleinen Babies sah, die sie auf dem Arm trugen. Seit Adrian vor einigen Jahren in Stuttgart gewesen war, wo alle Babies und Kleinkinder gut verpackt in Wagen herumgefahren wurden, war für ihn klar gewesen, dass sein Kind, sollte er einmal Vater werden, es auch sicher und bequem haben sollte.
Beim Bus- und Bahnfahren wurde es nur etwas schwierig, weil die öffentlichen Verkehrsmittel in diesem Moloch von Stadt überhaupt nicht auf die Belange von Kleinkindern ausgerichtet waren. Ebenso wenig nahm man im mörderischen Straßenverkehr Rücksicht auf Kinder, Schwangere und alte Leute. Es war eigentlich ein Wunder, dass es nicht mehr Verkehrstote gab, überlegte Adrian, als Mariana ihn am Ärmel zog: „Wir müssen raus!“
Adrian hievte seinen Sohn, der ihn zufrieden angrinste und an einer Medialuna lutschte, aus dem Bus, der eine stinkende Wolke ausstieß und davon brauste. Obwohl sie noch einen weiteren Bus hätten nehmen können, entschieden sie sich, das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Mariana ging sicheren Schrittes auf ihren Highheels vor ihm her. Anders als Europäerinnen wäre es den meisten argentinischen Tänzerinnen nicht in den Sinn gekommen, mit einem Schuhbeutel am Handgelenk zur Milonga zu gehen und die flachen Straßenschuhe dort zu wechseln. Man trug seine Tanzschuhe, wenn man aus dem Haus ging, und fertig.
Nach ein paar Minuten waren sie dort angekommen, wo sie normalerweise tanzen, in einer Art Fußgängerzone, die auf eine andere schmale Straße traf. Gegenüber lag ein Tabakgeschäft, daneben ein Empanada-Stand und ein bei Touristen sehr beliebtes Lokal, in dem es Riesensteaks gab. Adrian baute die Musikanlage auf, justierte die Lautsprecher und schob die CD in den Player. Susana nahm den zappelnden Carlito aus dem Wagen und setzte sich mit ihm auf einen Mauervorsprung. Die ersten Töne des Tangos erklangen. Mariana und Adrian warfen sich in Pose, den Kopf leicht zurück geworfen, die Brust stolz vorgereckt, und schritten langsam aufeinander zu. Hier waren übertriebene Bewegungen gefragt, die voll und ganz dem Tangoklischee entsprachen. Manchmal genossen sie es auch, zu schauspielern.
Adrian ergriff Marianas Hand, umarmte sie fest, aber geschmeidig, und begann sie rückwärts zu führen. Marianas lange Beine glitten gestreckt über den Boden, ihre Füße ertasteten den unebenen Untergrund geschickt und balancierten ihren Körper aus, so dass sie sich so bewegte, als tanzte sie auf feinstem Parkett. Sie bewegten sich gemeinsam auf ihre eingeschworene Art und Weise, erspürten intuitiv den Körper des anderen und tanzten voller echter Leidenschaft und Harmonie. Dies war ihr Element, ihre gemeinsame Sprache – neben dem Sex. Wenn alles andere versagte, wenn sie sich stritten und sich mit Worten nicht mehr erreichen konnten, hatten sie noch immer den Tango. Über den Tango waren sie einander immer wieder nahe gekommen, hatten sich jenseits der Worte versöhnt. Wer ihnen zusah, wurde unweigerlich von ihrer Ausstrahlung in den Bann gezogen, ob er etwas vom Tanzen verstand oder nicht – es war, als würde man ihnen bei etwas höchst Intimen zusehen, das sie zudem auch noch unglaublich gut beherrschten.
Ein paar Leute hielten an und warfen Münzen in den Hut. Blieben einige stehen, folgten meist weitere und so war es auch dieses Mal. Im Nu hatte sich ein Kreis um sie herum gebildet, man klatschte und feuerte sie an. Es war eine angenehme Gruppe, wie Adrian mit einem schnellen Blick in die Runde feststellte, keine besoffenen geilen Kerle, sondern kultivierte Menschen, Touristen zumeist, die dieses Geschenk, das sie ihnen machten, zu würdigen wussten. Mit einem Ohr nahm Adrian das beruhigende Klingeln der Münzen wahr, die nach und nach den Hut füllten, mit dem anderen hörte er die Musik. Ihr Tanz wurde durch die Aufmerksamkeit des Publikums noch besser. Dafür sorgte das Adrenalin. Er führte ein paar gewagte Volcadas, bei denen Mariana ihm fast entgegen fiel, und dann einige hohe und schnelle Boleos, bei denen ihr Bein in einer Schleife nach oben kreiste und sie für einen Sekundenbruchteil ihren roten Spitzenslip entblößte – genau die kalkulierte Erotik, die die Zuschauer befeuerte, nun ein paar Scheine in den Hut zu legen. Es waren Figuren, die Adrian normalerweise nie so führen würde, aber er wusste, was die Leute in San Telmo erwarteten und bediente ihr Verlangen. Hier war der Tango Pose, Show, Effekt. Sie kreisten in mehreren schnellen Drehungen umeinander, dann hob er Mariana zu einigen Saltadas, zu Sprüngen, hoch und endete beim letzten Ton des Stückes mit ihr auf seinem Bein. Applaus brandete auf. Sie lächelten, verbeugten sich, Adrian entledigte sich seines Jacketts. Mariana konnte nichts mehr ausziehen, sie ruckelte mit aufreizenden Bewegungen ihr Bustier zurecht und gewährte den Schaulustigen beim Verbeugen noch ein paar Blicke auf ihre prächtigen Brüste.
Es hatten sich sogar noch mehr Zuschauer eingefunden, die auf den nächsten Tanz warteten. Ein richtig guter Tag! Adrian vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass bei Susana und Carlito alles in Ordnung war. Der Kleine saß auf ihrem Schoß und nuckelte am Daumen, während Susana mit jemandem plauderte, der neben ihr saß.
„Sie ist abgelenkt!“, raunte er Mariana zu.
„Nun mach dir mal keine Sorgen, ihm geht es doch prima“, gab seine Frau zurück.
Das nächste Stück war eine schnelle Milonga und sie konzentrierten sich darauf, dem Rhythmus zu folgen. Für dieses Stück hatten sie eine Art Choreographie, doch das merkte niemand, alles sah wie zufällig und aus dem Moment heraus entstanden aus. Kleine schnelle Bewegungen, rasante Drehungen, dazwischen ein paar blitzende Spielereien, bei denen sie sich anlachten – es klappte wie am Schnürchen, sie hatten die Zuschauer in ihren Bann gezogen. Adrian schwitzte, aber er genoss den Tanz, genoss es, seine Frau in den Armen zu halten, und das zu tun, was er im Leben am besten konnte: tanzen.
Plötzlich riss sie das hässliche Quietschen von Bremsen aus dem Tanzfluss. Adrian ließ Mariana los, sah sofort alarmiert zu Susana – wo war Carlito? Er sah sie laufen, schreien, rannte ebenfalls reflexartig los, zu dem Lieferwagen, der viel zu schnell durch die kleine Calle gefahren und abrupt zum Stehen gekommen war, in einer Staubwolke, aus der nun auch Carlito auftauchte, dicht vor der Stoßstange des Wagens, anscheinend unversehrt und brüllend. In wenigen Sekunden war Adrian bei ihm, nahm ihn in die Arme, tröstete ihn und suchte den kleinen Körper nach Blessuren ab. Gott sei Dank war nichts geschehen, sein Sohn unverletzt. Doch Adrian zitterte und brüllte den Fahrer an, der ausgestiegen war, wieso er durch eine Fußgängerzone fahre. Der zuckte mit den Achseln, murmelte etwas von Lieferzone und deutete auf die Cafés. Es sei ja nichts passiert, und wieso denn niemand auf das Gör aufpasse. Auch Mariana war nun da und gemeinsam umarmten sie ihren Sohn. Susana stand hilflos daneben und eben noch konnte Adrian sehen, wie irgend ein Kerl sich mit dem Hut und ihren Tageseinnahmen aus dem Staub machte, als er sagte: „Schluss, aus. So geht es nicht mehr weiter.“
Kapitel 4
Sonntag, 6. April
Hamburg, Altona und Sankt Georg
Sarahs Wagen war zur Inspektion in der Werkstatt. Eigentlich hätte er bereits am Freitag fertig sein sollen, aber dann hatte man sie angerufen, weil noch irgendetwas zu tun war, so ganz hatte sie nicht verstanden, worum es ging – irgendeine Sonde musste ausgetauscht werden. Man hatte ihr einen Ersatzwagen angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Außer dem obligatorischen Besuch bei der Mutter hatte sie nichts vor. Am Wochenende gab es relativ wenig Verspätungen und sie verstand nicht, warum so viele Leute unzufrieden waren und die Nachteile des Hamburger Verkehrsverbundes anprangerten – sie fuhr recht gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
In ihrem „Sonntagsstaat“, bestehend aus schlichter schwarzer Hose und dezent gemusterter Bluse zu Trenchcoat und Schuhen mit kleinem Absatz saß sie im ratternden Zug und blickte aus dem Fenster. Grüne Vorgärten zogen vorüber, gelegentlich konnte sie einen Blick auf einen gedeckten Tisch erhaschen oder auf eine Familie, die sich im Garten aufhielt. Sarah mochte diese Blicke in fremde Leben. Sie hatte einen geruhsamen Sonnabend verbracht, sich um die Wohnung gekümmert und eingekauft, abends gekocht und gelesen und sogar noch einen Film auf Arte geschaut. Eigentlich schaute sie kaum fern, aber dieser Film über ein altes Ehepaar, bei dem der Mann todkrank war, dies jedoch nicht wusste, weil ihm seine Frau die Diagnose verheimlichte, die überraschend selbst starb, weshalb sich der Witwer nach Japan aufmachte, um die Träume seiner Frau auszuleben und am Fuße des Fushijama verschied, dieser Film hatte sie berührt. Einen Moment lang hatte sie überlegt, wie es wäre, einen Gefährten zu haben, der sie durch das Leben begleitete. Aber dann am Ende würde sowieso einer übrig bleiben, meist waren es die Frauen, die länger lebten und dann nicht nur allein sterben, sondern zuvor auch noch den Tod ihres Mannes verkraften mussten. Mal ganz abgesehen davon, dass viele zuvor den Partner im Alter hatten pflegen müssen.
Den ganzen Sonnabend hatte sie mit kaum jemandem reden müssen, so dass ihre durch den arbeitsbedingten Zwangskontakt mit Kunden und Kollegen erschöpften Speicher wieder aufgefüllt waren. Nun war sie bereit für das allwöchentliche Treffen mit ihrer Mutter.
Als sie an ihre Zimmertür klopfte, antwortete die Mutter nicht sofort, was ungewöhnlich war. Normalerweise saß sie schon „gestiefelt und gespornt“ in Hut und Mantel bereit und vermittelte Sarah das Gefühl, chronisch zu spät zu sein.
„Mutter?“ Sarah klopfte noch mal, leicht beunruhigt, sie sah ihre Mutter schon bewusstlos am Boden liegen.
„Ja, komm ruhig rein!“
Sarah öffnete die Tür. Ihr bot sich ein ungewohntes Bild. Die Mutter, geschminkt und frisiert, aber nur halb angezogen, wedelte aufgeregt mit mehreren Kleidern auf Bügeln herum: „Soll ich das anziehen? Oder das? Oder lieber dieses?“
Sarah deutete spontan auf ein pflaumenfarbenes Ensemble: „Mir gefällt das gut!“
Die Mutter verzog das Gesicht, als hätte Sarah ihr einen Müllsack schmackhaft machen wollen und entschied sich für ein zitronengelbes Kleid, das sie nach Sarahs Meinung sehr blass machte. Aber ihre Meinung war anscheinend nicht gefragt – oder diente nur dazu, um sich dagegen zu entscheiden.
Während die Mutter im angrenzenden Bad verschwand, um sich anzuziehen und letzte Hand anzulegen, wie sie sagte, blickte sich Sarah im Zimmer um. Auf dem Bett türmte sich ein Kleiderhaufen. Anscheinend hatte sie schon mehr anprobiert. Das letzte Mal, das sie ihre Mutter so erlebt hatte, war, als sie den Steuerberater kennengelernt hatte, der ihr Stiefvater werden sollte.
„Wohin möchtest du denn heute essen gehen?“, fragte sie, als die Mutter schließlich vor ihr stand und man sich die obligatorischen Nicht-Küsse gegeben hatte.
„Ich dachte, dass wir heute einfach mal hier in der Einrichtung essen.“ Ihre Mutter vermied das Wort „Altenheim“, auch das euphemistische „Seniorenresidenz“ kam ihr schwer über die Lippen.
Sarah nickte erstaunt. „Okay … wenn du meinst.“
„Wozu bezahle ich die horrenden Preise jeden Monat, wenn wir immer das Sonntagsessen, das besonders gut sein soll, versäumen?“, fuhr Wilma in leicht aggressivem Tonfall fort.
Sarah wagte zu sagen: „Normalerweise schimpfst du doch auf die Küche und brauchst am Sonntag dringend eine Pause von – nach deinen eigenen Worten – der Mischpoke alter Leute?“
„Also bitte, was erlaubst du dir! Das sind alles ehrenwerte Menschen, die zeit ihres Leben hart gearbeitet haben und nun die letzten Jahre in Frieden genießen wollen. Ist ein bisschen Respekt zu viel verlangt?“ Die Mutter musterte sich im Spiegel und zupfte an ein paar Haarsträhnen herum.
„Entschuldige, Mutter, so habe ich das nicht gemeint.“
„Außerdem gehöre ich auch dazu. Denkst du so von mir?“
„Nein, natürlich nicht. Ich hatte bloß gedacht, du wolltest am Sonntag lieber aushäusig essen. Wir können aber auch gern hier bleiben.“
„Ach, wie gnädig“, schnappte ihre Mutter und zog sich mit einem Konturenstift die Lippen nach, bevor sie sie in einem Pfirsichton anmalte.
Sarah unterdrückte ein Stöhnen. Sie wünschte sich zurück in die ruhige Abgeschiedenheit ihrer eigenen vier Wände. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie auch gar nicht zu kommen brauchen. Im übrigen schwante ihr, dass hinter dem plötzlichen Sinneswandel der Mutter nur ein Mann stecken konnte.
Die Mutter, die wohl merkte, dass sie übertrieben hatte, warf ihr ein versöhnliches Lächeln zu und sagte auch prompt: „Ich möchte dir auch jemanden vorstellen.“
Sarah folgte ihrer Mutter in den Speisesaal. Der große, lichte Raum war gediegen eingerichtet, mit schweren Teppichen und gemütlichen Stühlen an Vierer- bis Achtertischen. Keine Kantinenatmosphäre, sondern eher das Ambiente eines gehobenen Restaurants. Sie waren in etlichen Restaurants in der Nähe gewesen, die weniger einladend wirkten. Umso weniger verstand Sarah, warum sie in den zwei Jahren, die die Mutter nun hier lebte, nie den Sonntag hier verbracht hatten.
Die Mutter steuerte zielstrebig einen Tisch an der großen Fensterfront mit Elbblick an. Dort saß bereits ein etwa 75-jähriger Mann mit schlohweißem, dichtem Haar und leicht gebräunter Haut in einem blauen Zweiteiler. Er erhob sich sofort.
„Meine Tochter Sarah – Sarah, das ist Hans, ein guter Freund“, stellte die Mutter sie einander vor. Hans warf ihr einen flüchtigen Blick zu und schüttelte ihr die Hand, wobei er ihre Mutter kaum aus den Augen ließ.
„Sehr erfreut“, sagte er. Er hatte manikürte Finger mit perfekt gefeilten Nägeln. Bestimmt ließ er sich von einer Asiatin die Hände in Paraffin baden, Sarah sah so etwas manchmal im Einkaufszentrum gegenüber ihrer Bank. Der Mutter küsste Hans die Hand, zog ihr den Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte, und schob sie sanft an den Tisch. Der Mutter gefiel es offensichtlich, hofiert zu werden. Sie strahlte und sah so glücklich und jung aus, wie Sarah sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Eine Kellnerin eilte herbei und brachte drei Gläser Rosé-Champagner. Hans reichte den Damen ein Glas und räusperte sich, als wollte er eine Rede halten. Dann warf er der Mutter einen innigen Blick zu. Diese errötete und ergriff das Wort.
„Sarah, der Hans und ich verbringen hier viel Zeit miteinander und ich freue mich, dass du ihn heute kennenlernst.“ Sie drohte Hans schelmisch mit dem Finger: „Wenn meine Tochter nicht mit dir einverstanden ist, wird das nämlich nichts mit uns! Auf uns!“
Sarah nahm einen Schluck und überlegte. Viel Zeit? Sie war doch erst letzte Woche hier gewesen, da war noch nicht die Rede gewesen von einem ominösen Hans. War er etwa im Laufe der Woche aufgekreuzt? Oder hatte die Mutter ihm ihr schon längere Zeit verheimlicht? Der Mann sah aus wie ein Heiratsschwindler, so wie er im Buche stand: Zu glatt, um real zu sein, zu galant, um ehrlich zu sein, zu gebräunt, zu straff. Einfach von allem zu viel.
Das Gespräch plätscherte dahin. Hans, so erfuhr sie, war einst erfolgreicher Schiffsmakler gewesen, hatte drei Ehen hinter sich, daraus fünf Kinder und acht oder neun Enkel, so genau wusste er es selbst nicht. Kaum einer seiner Söhne kam ihn besuchen, nur eine Tochter reiste alle zwei Wochen aus Mecklenburg-Vorpommern an.
„Ihr würdet euch verstehen, sie ist auch so eine ganz Liebe!“, betonte Hans und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Im Klartext meinte er wohl, sie sei auch so eine graue Maus, die weder Mann noch Kind noch nennenswerte Karriere hatte.
Sie bestellten, irgendetwas mit Fisch, Sarah war es ganz egal und Hans freute sich, dass sich die Damen seinen Ratschlägen fügte. Die Mutter gab sich wie ein anschmiegsames Kätzchen, charmant, kichernd, Sarah wusste, dass sie ihre Krallen erst nach der Balzphase ausfuhr. Mehrere Kellner wuselten um sie herum. Dieser Speisesaal stand einem guten Restaurant wirklich in nichts nach. Auch die übrigen Tische waren besetzt. Der Altersdurchschnitt entsprach dem eines gehobenen Hamburger Lokals, denn die Bewohner der Residenz hatten zumeist Besuch bekommen: Kinder, die auf ein Erbe hofften – eine Hoffnung, die sie angesichts der Preise und des Gesundheitszustandes der Eltern lieber schnell begraben sollten – mit eigenen Kindern, die Oma und Opa ein selbstgemaltes Bild überreichten, bevor sie den Gameboy aus der Tasche zogen.
Sarah blickte nach draußen auf die Elbe, die in einer grauen Ursuppe aus Wolken und Nieselregen da lag. Früher war sie mit ihrem Vater manchmal an den Hafen gefahren, wenn er das Geschäft mal früher schließen konnte. Dann hatten sie die dicken Pötte bewundert, die mit Lasten beladen von kleinen Schleppern gezogen wurden. Kreuzfahrtschiffe hatte es damals noch nicht gegeben. Sie hatten immer ein Spiel gespielt, bei dem sie sich überlegten, wohin sie fahren würden, wenn sie Zeit und Geld hätten. Auch jetzt wünschte sie sich weit weg. Nicht, dass sie der Mutter den Flirt nicht gönnte, ganz im Gegenteil, sie fand es geradezu befreiend, nicht im Mittelpunkt der mütterlichen Aufmerksamkeit zu stehen.
Nach dem Essen drängte man ihr noch Panna Cotta auf, ein Dessert, das sie eigentlich nicht mochte, das aber doch besser schmeckte als erwartet, begleitet von Espresso und Sambucca. Hans saß dicht neben der Mutter, seine Hand auf ihrer und erzählte aus seinem bewegten Leben. Sarah unterdrückte ein Gähnen und sah unauffällig auf die Uhr. Konnte sie heute vielleicht schon etwas früher gehen? Die Mutter war sowieso beschäftigt, oder würde ihr das als Unhöflichkeit ausgelegt werden?
„Nebenan spielen sie nun Doppelkopf“, sagte Hans. Anscheinend war er dem Unterhaltungsprogramm hier nicht so abgeneigt.
„Oh, das habe ich eine Ewigkeit nicht mehr gespielt! Sarah, hast du auch Lust oder musst du noch arbeiten?“, fragte die Mutter. Als wenn Sarah sich sonntags schon einmal wegen der Arbeit früher verabschiedet hätte. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?
Sarah ergriff die Gelegenheit und murmelte etwas von einer Kosten-Nutzen-Analyse, die sie tatsächlich noch machen musste.
„Ja, das Berufsleben ist heutzutage sehr anspruchsvoll, da hat man selbst als Angestellter am Wochenende zu tun. Aber wir Selbstständigen kannten es nie anders“, kommentierte Hans und die Mutter nickte wissend.
Alle schienen froh, als Sarah sich verabschiedete. Vom nächsten Sonntag wurde nicht gesprochen, aber Sarah ging davon aus, dass sie bis auf Widerruf zu erscheinen hatte.
Den Weg zur Bahn rannte Sarah fast. Der Nieselregen war stärker geworden und eine kräftige Brise wehte. Sie fröstelte. Es dauerte acht elende Minuten, bis die Bahn angetrödelt kam. Sie verfluchte sich, weil sie nicht passend losgegangen war, sie kannte die Zeiten ja. Im Zug war es jedoch angenehm warm. Am Hauptbahnhof musste sie umsteigen. Eine Stimme informierte sie, dass es aufgrund von Gleisbauarbeiten zu Verspätungen käme. Sie ging nach oben in die Wandelhalle und kaufte sich einen Kaffee. Damit trat sie auf den Bahnhofsvorplatz zur Kirchenallee hinaus, wo sie sich unwohl fühlte. Allerlei seltsame Menschen hielten sich dort auf, Punks, Bettler, Obdachlose, Betrunkene, so schien es ihr jedenfalls. Sie ging ein paar Schritte Richtung Lange Reihe, dort war sie früher ab und zu mal essen gegangen. Aus einem schlichten Gebäude an der linken Seite erklang Musik, die sie nicht deuten konnte. Es hörte sich irgendwie nach Tanzmusik an. Sie blieb stehen. Das Schild am Eingang deutete auf eine Moschee hin. Aber das passte nicht. Sie blieb unschlüssig stehen. Ein Pärchen ging an ihr vorbei, er in einer schwarzen, weiten Hose, unter ihrem Mantel blitzte ein schwarzes Kleid hervor, in der Hand trugen beide buntbestickte Beutel. Sie bogen in den Eingang ein. Neugierig folgte Sarah ihnen. „Tango El Porteño“ verkündete ein schnörkeliges, verziertes Schild, das sie bisher übersehen hatte.
Tango also – ob das die Art von Tango war, derentwegen Jutta nach Buenos Aires gegangen war? Mit einem Mal neugierig geworden, stieg Sarah die Treppe empor. Sie folgte einfach den Leuten und der Musik, die lauter wurde. Vielleicht hatte der Besuch bei der Mutter etwas damit zu tun. Die Mutter, eben noch eine griesgrämige Alte, nun mit Pfirsichbäckchen einen gebräunten Oldie anstrahlend. Und sie, die ihr Leben nach einem festen Zeitraster lebte und keine neuen Dinge zuließ – im Grunde war sie älter als ihre Mutter.
Oben erwartete sie plüschiges Interieur. Eine kleine Garderobe links, dahinter eine Ecke mit abenteuerlich hohen und glitzernden Sandalen und wenigen Herrenschuhen, sowie einige gewagte Fummel. Rechts eine Art Veranda, wo das Pärchen, das vor ihr gekommen war, rauchend saß. Geradeaus betrat man einen Tanzraum mit Bistro-Tischen und Stühlen. Einige Leute, in ihrem Alter oder älter und längst nicht so schick und sexy, wie befürchtet saßen dort, andere tanzten.
„Hola, kommen zur Milonga?“
Sie hatte den Stehtisch fast übersehen. Ein dunkelhaariger Mann mit blitzend weißen Zähnen lächelte sie an.
„Äh, ich, wollte nur gucken. Ich kann gar nicht tanzen, was ist das hier, Tango?“
„Kein Problem, ja, argentinischer Tango. Trinken einfach eine Wein und schauen“, sagte der Mann. „Ich heißen Pablo, und du?“
„Sarah“, murmelte sie und spürte, wie sie rot wurde.
Pablo führte sie sanft, aber bestimmt zu einem Tisch und drückte sie auf den Stuhl. Sie lächelte ihn dankbar an. Kurz darauf stellte er ein kleines Glas Rotwein vor ihr ab.
„Geht auf Haus, ist echte Wein aus Argentinien, prost!“, sagte er und zwinkerte ihr zu.
„Oh, danke“, stotterte sie und nippte. Er schmeckte schwer und aromatisch.
Auf der Tanzfläche bewegten sich mehrere Paare auf ganz unterschiedliche Weise. Einige schoben sich in langsamen Schritten über den Boden, mit etwas Abstand, andere verhakten die Beine in kompliziert anmutenden Bewegungen. Das Paar, das vor ihr die Treppe hochgegangen war, tanzte auch. Der Mann trug die Haare nach hinten gekämmt oder gesprüht und war ganz in Schwarz gekleidet, mit Ausnahme der roten Schuhe, trotz seiner Größe von bestimmt 1,90 Meter hatten sie Absätze. Die Frau, eine Blondine in den Vierzigern, die ihre Vorzüge mit einem tiefen Dekolleté betonte, hatte sich die Lippen rot geschminkt und trug bronzefarbene Schuhe. Sie schmiegte sich so eng an den Mann, als wollte sie mit ihm verschmelzen. Der Mann umschlang die Frau und hob die andere Hand hoch und etwas verdreht, was dem Tanzstil der beiden etwas sehr eigenes verlieh. Sie schienen sehr innig zu sein und tanzten voller Versunkenheit. Sarah trank ihren Wein in kleinen Schlucken. Wider Willen wurde sie in den Bann gezogen und sah den beiden fasziniert zu.
*
Hamburg-Hoheluft
Reinhold hatte Sabine dazu überreden können, den Schnupperkurs im „Tango Ocho“ zu belegen. Beinah hätte es nicht geklappt. Ein wichtiger Mandant hatte Sabine einen sonntäglichen Termin abverlangt, so dass sie in letzter Minute zu Hause ankam und keine Zeit mehr blieb, um sich umzuziehen. Nun saß sie im grauen Businesskostüm neben ihm, mit weißer Bluse und blickdichten Strümpfen, an den Füßen altjüngferliche Pumps, wie Reinhold fand. Aber er sagte nichts. Er selbst war am späten Vormittag aufgestanden, hatte in Ruhe gefrühstückt und Kaffee getrunken und sich dann nach einer ausgiebigen Dusche und Rasur vor seinen Kleiderschrank gestellt und überlegt, was er anziehen sollte. Schließlich hatte er sich für eine schwarze Hose und ein dezent gemustertes Hemd entschieden. Er wusste zwar nicht so recht, was man als Tangoneuling tragen sollte, aber mit Schwarz lag er wohl nicht allzu sehr daneben. Die Tänzer, denen er nun regelmäßig auf Youtube zusah, hatten meistens absonderlich weite Hosen an, oft mit hohem Bund, die unten etwas schmaler zuliefen, oder Anzüge, die nicht mehr der neuesten europäischen Mode entsprachen. Zweireiher, in denen die Männer dennoch eine ausnehmend gute Figur machten. Aber letztlich war es egal, was er trug. Er freute sich richtiggehend auf seine erste Tangostunde.
„Was summst du denn da?“, fragte Sabine mit hochgezogenen Augenbrauen.
Er verstummte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er seinen aktuellen Tango-Ohrwurm vor sich hin summte. Pocas Palabras hieß das Stück, zu dem er vorhin ein Paar – einen älteren Mann mit Schnurrbart und eine junge Asiatin – auf einem Tisch hatte tanzen sehen. Er erzählte Sabine davon.
„Auf einem Tisch?“, wiederholte sie und sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Ja, es wurde ein Küchentisch hereingetragen, die beiden stiegen hinauf und tanzten mit ganz kleinen Schritten, aber vollkommen musikalisch!“
„Seit wann verstehst du denn so viel von Musikalität?“, gab sie zurück und rührte damit schmerzlich an seinen abgebrochenen Klavierunterricht.
Er sagte nichts mehr. Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.
Das „Tango Ocho“ lag an einer viel befahrenen Straße mitten in der Innenstadt. Trotzdem fanden sie gleich einen Parkplatz. Das Studio befand sich in einem Hinterhof, zu dem ein holpriger Weg mit einem abgetretenen grünen Teppich führte. An der Tür hing ein Schild, das darum bat, sich der Nachbarn wegen leise zu verhalten.
Sie betraten das Studio, einen großen schummrigen Raum mit Holzboden und einer langen Bar. Auf den Barhockern saßen einige Leute, die die Neuankömmlinge kritisch musterten, zumindest kam es Reinhold so vor. Die meisten waren so jung, dass sie seine Schüler hätten sein könnten, über 30 war kaum jemand.
Er räusperte sich. „Wir kommen zum Tango-Schnupperkurs“, sagte er zu dem Mädchen hinter der Bar, eine Dunkelhaarige, die gelangweilt Wein ausschenkte und nebenbei auf ihrem Handy herum tippte.
„Treppe runter“, lautete die kurze Anweisung.
Reinhold erblickte auf der anderen Seite des Raumes eine Treppe, die ins Untergeschoss führte. Hintereinander stiegen sie die schmalen, rutschigen Betonstufen hinab. An der Garderobe hingen einige Jacken, im Schuhregal standen verwaiste Schuhe, Straßenschuhe sowie offensichtlich auch einige Tanzschuhe, die auf ihren nächsten Einsatz zu warten schienen. Sie hängten ihre Jacken auf und warteten. Ein junger Mann mit Ziegenbärtchen in zerrissenen Jeans kam auf sie zu.
„Findet hier der Tango-Schnupperkurs statt?“, fragte Reinhold.
„Geht gleich los. Ich bin Tobias. Ihr könnt schon mal reingehen“, gab der Mann zurück und hastete die Treppe hinauf.
„Bist du sicher, dass das Richtige für uns ist?“, fragte Sabine.
„Natürlich!“, gab er sich betont enthusiastisch und nahm ihre Hand, was er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr getan hatte. Es fühlte sich komisch an. Er zog Sabine hinter sich her in den Kursraum. Etwa so groß wie der Tanzsaal im Erdgeschoss, bestand der Boden aus Grobspanplatten und die Decke war erheblich niedriger, so dass man sich ein wenig wie in einem großen Schuhkarton fühlte. An der Stirnseite hing ein Spiegel, daneben stand eine Musikanlage. Leise Tangomusik erfüllte den Raum. Sieben oder acht Paare standen wartend im Kreis herum, manche unterhielten sich, andere traten schweigend von einem Bein auf das andere, ein Pärchen umarmte und küsste sich. Außer ihnen war nur ein weiteres Paar jenseits der 50 dort, instinktiv stellten sich Sabine und Reinhold daneben. Die anderen entsprachen der Altersstruktur, die schon beim Hereinkommen zu erahnen gewesen war. Die Männer trugen Freizeitkleidung, meistens Jeans und T-Shirt, der andere ältere Mann hatte ein Cordhose an, die etwas unter seinem Bauch saß. Die jungen Frauen waren überwiegend schlank und hatten Kleider oder weite Hosen aus weichen Stoffen an. Dass sie als einzige ein Businesskostüm trug, schien Sabine jedoch nichts auszumachen, wie Reinhold mit einem erleichterten Seitenblick feststellte.
Tobias kam Kaugummi kauend herein, begleitet von der Barfrau, die sich als Christine vorstellte. Sie gingen schnurstracks in die Mitte des Kreises, Tobias stellte die Musik mit einer Fernbedienung, die er aus der hinteren Hosentasche zog, lauter und umarmte seine Tanzpartnerin locker. Sie begannen zu tanzen, einige leicht wirkende Schrittkombinationen, die Reinhold bekannt vorkamen, ein paar Drehungen und Stopps, die Beine lässig umeinander wirbelnd. Reinhold bemerkte, dass Tobias ausgetretene Turnschuhe trug, während Christine, ganz in schwarz, schwindelerregend hohe Stilettos an den Füßen hatte, auf denen sie sich so leichtfüßig bewegte, als tanzte sie barfuß. Die beiden berührten sich beim Tanzen nur mit den Händen und am Rücken, von der engen Umarmung, die Reinhold es so angetan hatte, keine Spur. Als das Stück zu Ende war, ließ Tobias seine Partnerin abrupt los und stellte die Musik wieder leiser.
„Willkommen im ,Ocho‘ zum Schnupperkurs. Was ihr eben gesehen habt, werdet ihr heute nicht lernen. Dazu braucht ihr etwas länger. Aber eine Idee, was Tango ist, können wir euch in den nächsten 90 Minuten geben“, erklärte Tobias.
Christine stand neben ihm, das eine Bein lässig ausgestellt und nickte zu seinen Worten. Auch sie kaute mit offenem Mund Kaugummi. Reinhold unterdrückte den Impuls, ihnen zu sagen, dass sie damit aufhören sollten. Sie waren schließlich nicht seine Schüler. Bei denen hätte er so ein Verhalten nicht toleriert.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (ePUB)
- 9783956070419
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Juni)
- Schlagworte
- Tango Tanz Liebe Leidenschaft Tangoschule Argentinien Argentinischer Tango