Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Kerstin Groeper und Giuseppe Bruno
Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2018 bei hey! publishing, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-040-2
Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.
Mutter Erde
Rhythmisches Trommeln dröhnte durch das alte Gebäude, das etwas abgelegen unter den hohen Kiefern der Toskana stand. Ein hoher Zaun aus Metallgittern umfasste den Garten, der mit Olivenbäumen, Zypressen und Kiefern bewachsen war. Eine Schotterstraße führte auf das Anwesen zu und verengte sich hinter dem Haus in einen ausgefahrenen Feldweg. Hier gab es sonst nichts mehr.
Das Anwesen lag auf einem der vielen toskanischen Hügel, und von einer Terrasse hatte man einen weiten Blick über die grüne Landschaft aus Steineichen, Kiefern und den silbergrünen Olivenbäumen. Es hatte in diesem Jahr viel geregnet, sodass der Wald nach dem Sommer noch grün war. Hin und wieder ragte in der Ferne ein anderes Haus aus dem Grün heraus, ansonsten war die Gegend wenig besiedelt. Hinter dem Haus fiel der Garten in ein steiles Tal ab, das völlig ursprünglich war und durch das ein kleiner Bach floss. Zwei Falken schwebten am Himmel, gingen in einen Sturzflug über und verschwanden außer Sichtweite. Der Himmel färbte sich in ein grelles Orange, als die Sonne langsam hinter den Wipfeln verschwand.
Nur der Klang der Trommeln passte nicht zu diesem Bild. Wenn es das Stakkato der mittelalterlichen Marsch-Trommel wäre, das zum Palio oder beim Fahnenschwingen gerührt wurde, dann hätte es zu der Umgebung gepasst, doch der dumpfe Klang von mehreren Indianertrommeln war surreal, als wäre irgendwie der Ort vertauscht worden. Auch die indianische Schwitzhütte im Garten hätte man eher in Süd-Dakota erwartet, aber nicht vor den Toren Sienas.
Auf der großen gefliesten Terrasse hob der Mann mit langem, wallendem Haar, in das sich bereits einige graue Strähnen gemischt hatten, die Arme bittend nach oben und ließ seine sonore Stimme erklingen. Die langen Fransen seiner Lederjacke fielen übertrieben lang nach unten und wehten in der Brise ein wenig hin und her. An den Fingern des Mannes steckten einige Ringe mit Türkisen. Um den Hals hatte der Mann eine indianische Kette. Er war braungebrannt und wirkte mit einer tiefen Falte auf der Stirn wie ein Schamane aus alter Zeit. Sein Alter war schlecht zu erraten, denn er war drahtig, und seine Haut wirkte durch die Bräune frisch und jung. Man schätzte ihn auf Anfang vierzig, er konnte aber auch schon wesentlich älter sein. Um ihn herum saßen an die zwölf Frauen auf Kissen, schlugen im gleichmäßigen Takt ihre Trommeln und hielten nun inne, um den Worten des Meisters zu lauschen.
„Fühlt ihr die Kraft der Natur?“, rief der Mann mit donnernder Stimme.
Die Trommeln stimmten wieder ein. „Ja!“, riefen die Frauen voller Hingabe.
Wieder wurde es still. „Fühlt ihr, wie ihr mit der Trommel und dem Universum eins werdet?“
Der Mann wartete die Antwort nicht ab. „Hört ihr den Herzschlag von Mutter Erde? Hört ihr die Ahnen, die zwischen den Sternen wandeln? Fühlt ihr, wie die Trommel euer spirituelles Bewusstsein öffnet und euer Herz den Frieden des Universums spürt?“
Der Schamane streckte die Hände nun nach oben. „Die Trommel bringt das Kosmos zum Schwingen, und der Frieden in unseren Herzen öffnet unser Bewusstsein. Wir durchschreiten das Tor zu den Sternenwesen. Mit ihrer Hilfe können wir Mutter Erde heilen, und hier finden wir unsere spirituelle Quelle, um anderen Menschen zu helfen.“
Langsam ließ der Mann die Hände sinken, und die Frauen nahmen ihr Trommelkonzert wieder auf. Summend schwangen sie hin und her, gerieten immer mehr in Ekstase und sangen flehend in einer fremden Sprache. Es klang nach we-ho-we-ho. Der Schamane nahm eine Räucherschale in die Hände, entzündete sie mit betont langsamen Bewegungen und verteilte dann den Rauch mit einer Vogelschwinge. Die Frauen inhalierten den Rauch und setzten ihren Singsang fort.
„Die Frauen sind die Hüterinnen der Mutter Erde!“, fuhr der Schamane fort. „Sie tragen die zukünftigen Generationen in ihrem Leib, sie sind die Vertrauten der Mondfrau und die Trägerinnen uralten Wissens. Fühlt dieses alte Wissen in eurem Leib, das euch von euren Müttern und Großmüttern weitergegeben wurde. Fühlt eure Weiblichkeit, die euch von Mutter Erde geschenkt wurde. Die Trommel öffnet dieses uralte Wissen in euch. Ihr seid berufen, der Trommel zu dienen. Findet eure Krafttiere, und sucht eure Kraftorte, um dieses alte Wissen in euch zu erwecken. Lernt die Sprache der Trommel, um dann euer Wissen weiterzugeben.“
Mit einem tiefen Seufzen beendeten die Frauen ihren Trommelschlag, legten die Trommel achtsam neben sich auf die Decke und lächelten dann beglückt. Ihre Augen hingen an der Gestalt des Mannes, der sich zufrieden zurücksinken ließ und den Frauen wohlwollend zulächelte. „Habt ihr es gespürt?“, fragte er.
Eine Frau in einem geblümten Schlabberkleid und Birkenstocksandalen nickte eifrig. „Ich konnte den Tanz der Sterne fühlen!“, berichtete sie. „Alles war in Bewegung.“
„Selbstverständlich!“, stimmte der Schamane zu. „Alles ist in Bewegung. Auch die Vergangenheit, die Zukunft und das Jetzt. Das Leben ist ein Kreislauf, ebenso wie die Natur oder die Ausdehnung des Universums.“
Die Frauen sahen sich verzückt an. Einige waren schon älter, und sahen sich bereits als Heilerinnen, andere waren noch jünger. Bei allen fiel auf, dass sie eher unmodische Kleidung trugen. Die Frauen bevorzugten gemütliche Tunika, Jogginganzüge oder Sommerkleider. Alle trugen bequeme Sandalen oder Gesundheitslatschen. Einige hatten ihre Haare mit einem bunten Tuch hochgebunden. Verliebt und voller Hingabe himmelten sie ihren Meister an, der sich in diesem Interesse geradezu sonnte.
„Morgen werden wir für jede Frau den persönlichen Kraftort suchen“, versprach er.
„Werden wir auch etwas über das Medizinrad erfahren?“, erkundigte sich eine Frau.
Der Schamane lächelte freundlich. „Freilich! Diese Woche wird euch tiefe Einblicke in euer Seelenleben geben. Ihr werdet erfahren, wer ihr wirklich seid. Und wer ihr einst gewesen seid. Das Medizinrad wird euch offenbaren, wo eure Fähigkeiten sind und auf welche Reise ihr euch noch begeben müsst. Der Kurs initiiert euch als Schamanin, euer spiritueller Name wird sich euch offenbaren und zum Schluss erhaltet ihr die heilige Pfeife. “
„Werden wir auch heilige Lieder lernen?“, fragte eine weitere Teilnehmerin.
„Aber sicher! Ihr lernt den Pfeifengesang zum Füllen der Pfeife, lernt, wie man die Geister einlädt und wie man seine Gebete spricht. In der Schwitzhütte werdet ihr zu den Ahnen sprechen und sie um Hilfe anflehen. Ich habe die Zeremonie bereits vorbereitet. Wir gehen jetzt dorthin, entkleiden uns und reinigen unseren Körper und unsere Seele. Das ist notwendig, ehe wir mit der Ausbildung anfangen können.“
Die Frauen fieberten vor Aufregung und folgten dem Schamanen zu der kleinen Schwitzhütte im hinteren Teil des Gartens. Eine Frau erwartete sie dort, die bereits Steine in einem Feuer neben der Schwitzhütte erhitzt hatte. Sie stellte sich als „Healing Sun“ vor, die Lebenspartnerin des Schamanen und ebenfalls Medizinfrau. Die Frauen nickten vor Ehrfurcht. Die meisten hatten bisher nur über E-Mail mit der Dame zu tun gehabt, als sie sich über die Homepage zu dem Kurs angemeldet hatten.
Healing Sun zeigte auf eine Bank, auf die die Frauen ihre Kleidung legen konnten. „Mein Partner führt euch durch die Zeremonie. Danach kann jede sich auf ihrem Zimmer duschen. Wir sehen uns am Morgen wieder, denn ich fahre noch nach Rom, um zwei weitere Gäste abzuholen."
„Ach, ist das schade“, meinte eine Frau. „Die haben ja dann die Schwitzhütte verpasst.“
Healing Sun lächelte verbindlich. „Das ist leider so. Der Flug ging nicht anders. Sie werden die Zeremonie morgen Abend nachholen. Natürlich darf jeder daran teilnehmen, wenn er das möchte. Morgen Nachmittag werde ich euch auf eine Kräuterwanderung führen.“
Sie verabschiedete sich, indem sie den Frauen nacheinander beide Hände reichte, und verschwand dann in Richtung des Hauses.
Der Schamane wartete, bis sie außer Sichtweite war, und nickte dann den Frauen auffordernd zu. „Ich lege die heißen Steine in die Grube und warte dann auf euch. Legt alles ab, damit nichts zwischen euch und den Geistern steht.“
Einige der Frauen kicherten etwas albern, als sie sich zögernd entkleideten. Eine Frau schielte etwas besorgt auf den Schamanen, der bereits völlig nackt war und nun mit einer Mistgabel die glühenden Steine ins Innere der Schwitzhütte schaufelte. Dann stand er abwartend am Eingang und hielt die Decke in die Höhe, damit die Frauen eintreten konnten. Zögernd krabbelte eine nach der anderen ins Dunkle, manchen hielten sich die Arme vor die Brüste, als sie an dem Mann vorbeikamen. Dann saßen alle im Kreis um eine Grube und warteten gespannt, was nun folgen würde. Als Letztes trat der Mann ein und ließ die Decke vor den Eingang fallen. Bis auf die glühenden Steine in der Grube, die wie die Augen eines lebendigen Tieres leuchteten, war es dunkel. Der Schamane warf etwas Salbei auf die Steine, das sofort verglühte und ganz kurz die niedrige Hütte erhellte. Betend hob der Schamane die Hände nach oben und forderte die Frauen auf, es ihm nachzumachen. Er lächelte, als sein Blick kurz über die Brüste streifte. Dann ließ er die Hände wieder sinken und griff nach einer Pfeife, die neben ihm auf einem kleinen Gestell lag. Er stopfte sie mit Tabak, sang dabei ein fremdes Lied, entzündete sie, nahm einen Zug, stieß den Rauch theatralisch nach oben und reichte dann die Pfeife an die Frau neben sich. Als er die Hand zurückzog, streifte er dabei wie unabsichtlich ganz leicht ihre Brüste. Die Frau zuckte zusammen, nahm dann aber einen Zug aus der Pfeife, als der Schamane wieder geschäftig nach dem Salbei griff, um es auf die Steine zu legen. Die Pfeife machte die Runde. Es wurde gesungen, und der Schamane lud mit kräftiger Stimme die Geister ein, dann schüttete er Wasser auf die Steine. Augenblicklich breitete sich heißer Dampf aus, der den Frauen den Schweiß aus den Poren trieb und ihnen den Atem nahm. Noch nie hatten sie erlebt, dass Luft so heiß sein konnte. Sie vergaßen alles um sich herum und hörten nur noch den eintönigen Singsang des Mannes, der ihnen wohltuende Schauer über den Rücken laufen ließ.
Luca Marcetti
Luca Marcetti befand sich auf der Rückfahrt von Genua und war bester Laune. Er hatte das ganze Wochenende bei Mercedes verbracht, und die kleine Affäre, in die er quasi dienstlich geschlittert war, vertiefte sich in einer angenehmen Richtung. Er hatte Mercedes aus der Prostitution gerettet und ihr eine anständige Arbeit in Genua verschafft. Sie sollte dort in Sicherheit sein, bis der Prozess mit diesem widerlichen Schuft vorbei wäre. Der Prozess hatte längst stattgefunden, und der Zuhälter saß im Knast. Kein Grund, sich weiter um Mercedes zu kümmern, doch das zierliche Mädchen aus Haiti hatte es ihm angetan. Sein Beschützerinstinkt war angesprungen, und er hatte sich Hals über Kopf in dieses zarte Wesen verliebt. Wann immer es sein Beruf zuließ, sauste er über das Wochenende nach Genua, um sich davon zu überzeugen, dass es ihr gutging. Bisher war es nur ein Flirt. Sie gingen aus, unterhielten sich, genossen ein schönes Essen und wechselten verliebte Blicke. Er wollte ihr nach den schrecklichen Erfahrungen Zeit lassen. Doch nun hatte er ihr einen Job in Siena vermittelt, sodass sie in seiner Nähe sein würde. Das fühlte sich gut an! Sehr gut sogar! Er konnte vielleicht einen Schritt mehr wagen und sie in seine kleine Wohnung einladen. Selbstverständlich ganz ohne Hintergedanken. Schließlich war er ein Ehrenmann.
Marcetti donnerte die Autobahn in Richtung Siena entlang und schaffte es tatsächlich, mit nur zehn Minuten Verspätung vor der Questura zu halten. Er parkte seinen roten Alfa Romeo GTV in einer Seitenstraße und hastete die Treppe in den ersten Stock hoch. Sein Kollege Pietro Balloni schaute ihn über den Rand seiner Brille vorwurfsvoll an. „Ciao!“, knurrte er.
Auch die Assistenten Giulia musterte ihn kopfschüttelnd. Aber eher, weil er offensichtlich noch in Räuberzivil war: weiße Leinenhose, gestreiftes Hemd und unrasiert. Marcetti schnappte sich aus einer Schublade einen Rasierapparat und verschwand auf der Toilette. Seine beiden Mitarbeiter wechselten einen langen, vorwurfsvollen Blick und vertieften sich dann wieder in ihre Arbeit.
Balloni nahm das schnurlose Telefon aus der Halterung, das die Stille des Morgens mit einer futuristischen Melodie unterbrach. „Balloni, Squadra Mobile!“, meldete er sich. Er konzentrierte sich auf die Stimme am anderen Ende und machte sich gewissenhaft Notizen. „Va bene!“, sagte er schließlich. „Wir sind unterwegs.“ Geschäftig stand er auf und zog eine bequeme Jacke über. Mit seiner Kurzhaarfrisur und seinen blauen Augen erinnerte er irgendwie an eine spitzbübische Comicfigur.
„Wir müssen zu einem Mordfall“, informierte er seine Kollegin mit ruhiger Stimme.
„Oh?“ Giulia sah ihn interessiert an. Sie war keine Schönheit, hatte aber sympathische Augen und ein kumpelhaftes Wesen. Sie passte perfekt zu Marcetti, der sich von einer allzu hübschen Kollegin sonst wohl ablenken ließ. Giulia arbeitete ihm zu, war lustig, aber ganz und gar nicht weiblich. Mit Balloni verband sie inzwischen eine tiefe Freundschaft, denn beide deckten immer wieder sehr solidarisch die Eskapaden ihres Chefs. „Ein Mord? Was ist denn passiert?“
Balloni winkte ab. „Ich weiß noch nichts. Wir fahren erst einmal hin. Sag doch schon mal dem Staatsanwalt Bescheid. Er soll an diese Adresse kommen.“ Er hielt der Assistentin den Zettel hin, damit sie die Adresse abschreiben konnte. „Fungaia“, murmelte sie erstaunt. „Da ist doch nichts.“
Balloni zuckte mit den Schultern und wartete auf Marcettis Rückkehr. „Ein Mord!“, informierte er ihn. „Wir müssen nach Fungaia. Nehmen wir dein Auto oder rufen wir eine Pantera?“ Balloni wartete ruhig auf die Antwort, obwohl er sie schon ahnte, denn Marcetti hasste es, in einem blauen Polizeiauto irgendwohin gefahren zu werden.
Marcetti versteckte den Rasierapparat wieder in der Schublade und runzelte die Stirn. „Nein, wir fahren mit meinem Auto. Fungaia ist ja nicht weit. Was ist denn passiert?“
Balloni schob ihn zur Tür hinaus und erzählte ihm im Gang, was er bereits erfahren hatte. „Ein Mann ist tot in einer Schwitzhütte aufgefunden worden.“
Marcetti riss verwundert die Augen auf. „In was?“
„Einer Schwitzhütte“, wiederholte Balloni geflissentlich. „So ein Ding, wie es Indianer benutzen.“
Marcetti hatte immer noch ein großes Fragezeichen in seinem Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf. „Und da liegt eine Leiche drin?“
„Genau! Zumindest erzählt das die Polizei. Ich habe Brandesa verständigen lassen.“
„Gute Idee!“ Marcetti seufzte zufrieden. Staatsanwälte waren nicht sein Fall, aber mit Brandesa hatte er in der Vergangenheit immer ganz gut zusammengearbeitet. „Hoffentlich hat er Zeit und schickt uns nicht irgendeinen anderen Deppen.“
Balloni zog den Kopf ein und schwieg. Grundsätzlich hatte Marcetti ja recht, aber Balloni hatte immer Angst, dass irgendwann jemand so eine respektlose Äußerung seines Chefs mitbekam.
Marcetti dagegen grinste gut gelaunt. Endlich mal wieder ein Mord. Er hatte gerade die Nase voll von illegalen Einwanderern, Menschenschmuggel und Einbrüchen. Aus dem Kofferraum holte er sich eine lange Hose und ein Jackett, zog die kurze Hose aus und schlüpfte hüpfend in die lange Hose. Mit der Hand suchte er das Gleichgewicht, indem er sich an seinem Wagen abstützte. Balloni stand kopfschüttelnd daneben und grinste frech, als er beobachtete, wie sein Chef sich in Sekundenschnelle in einen seriösen Ermittler verwandelte.
„Gut?“, erkundigte sich Marcetti.
„Gut!“, bestätigte Balloni.
Marcetti setzte sich ans Steuer und fuhr die Via San Marco hinunter, um die Stadt über die Porta San Marco zu verlassen. Er überquerte die Autobahn, fuhr nach Costafabbri und von dort die Strada degli Agostoli entlang. Das war eine Abkürzung, außerdem liebte er die mit Steineichen überwachsene Straße. Er fuhr in Richtung Santa Colomba und bog nach einer Weile rechts in eine Staubstraße ab, die nach Fungaia führte. Der Wagen holperte über die ausgefahrene Schotterpiste, und nun tat es Marcetti doch leid um seinen schicken Oldtimer. Er würde wieder durch die Waschanlage fahren müssen. Balloni konnte seine Gedanken scheinbar riechen, denn er kicherte leicht.
„Halt die Klappe!“, meinte Marcetti böse.
„Ich sage doch gar nichts“, verteidigte sich Balloni.
„Aber du denkst!“
Sie erreichten den kleinen Ort, in dessen Mitte ein riesiger Baukran hochragte. Einige alte Häuser sollten restauriert werden, doch die Baustelle war wie ausgestorben. „Der Kran steht hier auch schon seit über 15 Jahren“, meinte Marcetti kopfschüttelnd.
„Die sind pleite“, wusste Balloni. „Die Bank versucht nun, die Häuser einzeln zu versteigern.“
„Und?“
„Wer will hier schon wohnen? Schwierig!“
„Aha! Und wo müssen wir jetzt hin?“ Marcetti hielt kurz und wartete auf Anweisungen. Hinter ihm bremste ein weiteres Auto. Es war der Wagen des Staatsanwalts, wie Marcetti durch den Rückspiegel erkennen konnte. Grüßend hob er die Hand und bog dann links in eine kleine Straße ein. Hier waren die Schlaglöcher noch tiefer, wenn das überhaupt noch möglich war. Marcetti hatte Angst, dass sein Auto einfach darin verschwinden würde. Vorsichtig kurvte er drumherum und fuhr schließlich in einen Hof. Hier warteten bereits zwei Polizeiautos, dahinter schaute ihnen eine Gruppe Menschen entgegen. Rechts davon befand sich ein größerer Parkplatz, auf dem mehrere Autos standen. Sie hatten ausschließlich deutsche Kennzeichen. Marcetti stellte sich hinter die Polizeifahrzeuge, stieg aus und begrüßte erst einmal Signore Brandesa. „Schön, dass Sie da sind!“, meinte er ehrlich. Dann schüttelte er den Kollegen von der Polizei die Hände. „Also, was habt ihr?“ Er ging sofort zu einem vertraulichen „Du“ über.
Der erste Polizist deutete auf eine junge Frau, die völlig aufgelöst und mit verweinten Augen in der Gruppe von Frauen stand. Auch die anderen Frauen sahen schockiert aus. „Diese Frau hat heute Morgen einen Mann tot in der Schwitzhütte gefunden“, berichtete der Polizist. „Die Spurensicherung ist gerade da, danach können wir uns das ansehen.“
„Wann genau?“, erkundigte sich der Staatsanwalt. Er hatte bereits Papier und Kugelschreiber gezückt und auch Balloni machte sich Notizen.
„So gegen neun.“
„Name?“
Der Polizist zuckte mit den Schultern. „So weit sind wir noch nicht. Die Kommunikation ist etwas schwierig. Es sind alles Deutsche.“
„Deutsche?“, wunderte sich Marcetti. „Schon wieder?“ Der letzte Mordfall, den er vor einem Jahr bearbeitet hatte, war auch ein Deutscher gewesen. „Siena scheint ein gefährlicher Ort für Deutsche zu sein!“
Auch der Staatsanwalt wunderte sich und warf ihm einen erstaunten Blick zu. Marcetti grinste und hob unschuldig die Schultern. „Ich kann nichts dafür!“ Er wandte sich wieder an den Polizisten. „Nehmen Sie die Personalien auf, dann rede ich gleich mit den Damen. Ich möchte zuerst diese Schwitzhütte sehen.“
Der Polizist führte die Ermittler hinter das Haus und zeigte auf die Polizeiabsperrung und die Schwitzhütte, die dahinter lag. Männer in weißen Schutzanzügen waren damit beschäftigt, Spuren aufzunehmen. Trotzdem konnte man durch den offenen Eingang eine Gestalt erkennen, die dort am Boden lag. Einer der Männer kam auf Marcetti und Brandesa zu. „Guten Morgen!“, grüßte er höflich.
Die beiden grüßten ebenfalls und ließen sich erste Erkenntnisse mitteilen. „Den genauen Todeszeitpunkt kann ich erst später nennen, aber der Mann liegt dort bestimmt schon seit gestern Nacht.“
„Und die Todesursache?“
„Na, die ist sonnenklar! Er wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.“
„Also kein Unfall?“, stellte Marcetti fest. „Herzinfarkt, oder so etwas?“
„Nein! Außer, er ist auf einen Stein gefallen. Aber die Steine, die dort in der Schwitzhütte liegen, wurden nicht bewegt, und er ist auch nicht draufgefallen. So viel weiß ich schon. Nein, jemand hat ihm von hinten einen gehörigen Schlag verpasst.“
„Habt ihr die Mordwaffe gefunden?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es müsste Blut dran kleben. Aber hier an den Steinen ist nichts.“
„Haben Sie eine Vermutung, was es sein könnte?“ Marcetti kniff angestrengt die Augen zusammen. Das war alles sehr mysteriös.
Der Mann von der Spurensicherung kicherte erheitert, was im Falle dieses ernsten Ereignisses nicht ganz passte. „Ich tippe auf eine Kriegskeule.“ Er deutete auf die Schwitzhütte. „Der Typ da drin sieht aus wie ein Indianer, da liegt die Vermutung nahe, dass er mit einem Tomahawk erschlagen wurde.“
Oje! Marcetti ahnte bereits die Schlagzeile: Indianer in der Toskana mit Tomahawk erschlagen! Sie mussten unbedingt die Presse von hier fernhalten!
Marcetti ließ die Männer weiterarbeiten und ging wieder zu den verschreckten Frauen. Er stellte sich als Luca Marcetti von der Squadra Mobile in Siena vor und fragte höflich, ob denn jemand Englisch verstehe. Nur zwei der Damen meldeten sich, und Marcetti seufzte verzweifelt. Das würde allerdings mega-schwierig werden.
Einer der Polizisten, der sich von den Frauen die Ausweise vorzeigen ließ, machte bereits einen völlig genervten Eindruck. Seine Stimme war nahe am Schreien, als ob die Personen ihn dann besser verstehen könnten. Er erreichte damit das Gegenteil, denn die Damen waren inzwischen völlig verängstigt. So würde man aus ihnen keine vernünftigen Informationen bekommen.
Luca Marcetti stellte sich dazu und hob beruhigend seine Hände. „Piano, piano!“
Er ließ sich von dem Polizisten die Ausweise geben und fragte eine der Damen, die etwas Englisch konnte, ob sie wohl so freundlich wäre, seine Worte zu übersetzen. „Wir nehmen jetzt nur die Personalien auf“, erklärte er ruhig. „Bitte beruhigen Sie sich!“ Er wartete kurz, bis die Dame übersetzt hatte, und wandte sich dann fragend an die Frauen. „Wer von Ihnen hat denn die Leiche gefunden?“
Eine jüngere Frau meldete sich, die zum Glück Englisch verstand. Sie stellte sich als Susanne Körber vor. Sie zitterte immer noch am ganzen Leib und fuhr sich nervös durch ihr blondes Haar. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid und helle Espadrilles. Ihr Haar war strubbelig, als hätte sie es heute noch nicht gekämmt.
„Können wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte Marcetti. Er drückte Balloni die Ausweise in die Hand, damit er die Daten aufschrieb.
Susanne Körber führte Marcetti ins Haus, das im Halbdunkel des Morgens lag, weil die Fensterläden noch geschlossen waren. Irgendjemand öffnete sie, und Marcetti blinzelte, als das Sonnenlicht ihn blendete. Der Raum war wie ein großer Seminarraum eingerichtet, allerdings fehlten Stühle und Tische, stattdessen lagen überall Kissen auf dem Boden. Wie selbstverständlich nahm die Frau darauf Platz, und Marcetti setzte sich ihr gegenüber. Auf diese Weise hatte er eine Vernehmung noch nie geführt!
Er zückte ein Taschentusch, als die Frau schniefte, und sie putzte sich dankbar die Nase.
„Sie haben also die Leiche gefunden?“, erkundigte sich Marcetti in seinem holprigen Englisch.
„Ja, heute Morgen“, bestätigte die Frau. Wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht. „Wir waren gestern in der Schwitzhütte, und ich wollte noch einmal die Stimmung aufnehmen; da habe ich ihn liegen sehen.“
„Sie konnten ihn also sehen, ohne die Schwitzhütte zu betreten?“
„Ja, ich habe gleich gesehen, dass etwas nicht stimmt, und bin hingegangen, um nach ihm zu sehen. Er hatte Blut am Kopf. Ich habe mich zu ihm gesetzt und sofort erkannt, dass er tot war. Da bin ich zum Haus gerannt und habe um Hilfe geschrien.“
„Woran haben Sie erkannt, dass er tot war?“, fragte Marcetti. „Haben Sie ihn angefasst?“
Susanne Körber schüttelte den Kopf. „Nein, er starrte mich mit toten, geöffneten Augen an. Es war so schrecklich.“
„Und dann sind Sie wieder ins Haus gelaufen?“
„Ja! Ich war völlig hysterisch. Die anderen haben dann auch nach ihm geschaut, und eine hat die Polizei angerufen. Es war schwierig, denn wir kennen uns hier nicht aus. Die Seminar-leiterin ist ja auch nicht da.“
„Welche Seminarleiterin?“, erkundigte sich Marcetti.
„Healing Sun. Sie ist nach Rom gefahren, um noch zwei Teilnehmer abzuholen.“
„Healing Sun?“ Marcetti schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ja, sie heißt so. Sie ist eine große Medizinfrau.“
„Aha!“ Marcetti versuchte, die Informationen zu ordnen. Er war hier anscheinend auf eine Art Sekte gestoßen. „Und Sie kennen den Mann, der getötet wurde?“
Wieder schluchzte die Frau vor Verzweiflung. „Aber natürlich! Es ist Minninewah! Er ist ein großer Schamane! Ich habe schon einige Kurse bei ihm besucht. Dieser Kurs sollte mich als Schamanin initiieren.“
„All diese Damen sind also wegen des Kurses hier?“, wollte Marcetti wissen.
„Aber ja!“
„Wann sind Sie denn angereist?“
„Gestern! Wir wollten den Kurs mit einer Schwitzhütte beginnen. Heute hätten wir mit der Ausbildung angefangen.“ Sie weinte wieder. „Wer tut denn so etwas? Er war doch so ein guter Mensch! Ein Heiler! Ein Wissender!“
Marcetti reichte ihr ein weiteres Taschentuch. „Es tut mir wirklich leid. Aber können Sie mir sagen, wann Sie ihn das letzte Mal lebend gesehen haben?“
Die Frau zögerte kurz, als müsste sie darüber nachdenken, dann senkte sie den Kopf. „Nach der Schwitzhütte! Wir saßen noch zusammen und haben uns unterhalten.“
„Allein?“, wunderte sich Marcetti.
Die Frau nickte. „Ja, das macht er manchmal. Wir haben ja auch ganz persönliche Fragen an ihn.“
„Ach so! Können Sie einschätzen, wie spät es war, als Sie ihn verlassen haben?“
„Vielleicht gegen Mitternacht?“
„Hmh!“ Marcetti machte sich Notizen und wurde dann abgelenkt, als draußen hektische Rufe erklangen. Er klappte sein Notizbuch zu und nickte der Frau freundlich zu. „Sie werden alle hierbleiben müssen, bis wir Sie vernommen haben. Könnten Sie das bitte den anderen sagen? Ich versuche einen Dolmetscher aufzutreiben.“
„Selbstverständlich!“ Susanne Körber erhob sich ebenfalls, um dem Commissario nach draußen zu folgen. Die Frauen standen immer noch beisammen und blickten einem Auto entgegen, das gerade die Einfahrt hochfuhr.
Viola Hämmerlein
Der ältere Ford hielt hinter den Polizeiautos und Marcettis Alfa Romeo, und drei Frauen stiegen aus. Susanne Körber eilte auf sie zu, und ehe Marcetti es verhindern konnte, hatte sie der Frau über den Todesfall berichtet. Fassungslos begann die Frau hysterisch zu weinen und versuchte sich an den Polizisten vorbeizudrängen, die sie gerade in Empfang nehmen wollten.
„Mein Mann!“, rief sie hysterisch. „Mio marito!“
Marcetti seufzte gequält, als er erkannte, dass hier gerade die Ehefrau vom Tod ihres Mannes erfahren hatte. Zwei weitere Frauen standen völlig verdattert neben ihren Koffern und schienen überhaupt nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. Marcetti nickte Balloni zu, dass er sich um die Ankömmlinge kümmern sollte, während er zu der weinenden Ehefrau ging.
„Prego!“, bat er mit eindringlicher Stimme. „Sie dürfen gleich zu Ihrem Ehemann, aber wir müssen warten, bis die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig ist.“
„Was ist denn passiert?“, fragte die Frau völlig aufgelöst.
„Ihr Mann wurde heute früh ermordet aufgefunden. Wir wissen noch gar nichts. Bitte kommen Sie ins Haus, und beruhigen Sie sich erst einmal.“ Behutsam führte Marcetti die völlig verstörte Ehefrau ins Haus und ließ sie auf einem Kissen Platz nehmen. Nebenbei stellte er befriedigt fest, dass die Frau anscheinend ganz gut Italienisch konnte. Das würde die Sache erleichtern. Er reichte ihr ein Taschentuch und sah besorgt auf seinen schwindenden Vorrat.
Der Staatsanwalt trat ebenfalls näher und setzte sich dann mit einem Stirnrunzeln auf ein Kissen. Marcetti ignorierte ihn und konzentrierte sich ganz auf die Frau. Sie war mittleren Alters, mit dunklen strähnigen Haaren, braunen Augen und einem eher ungepflegten Äußeren. Make-up oder Friseur schienen für die Dame unnötige Ausgaben zu sein. Sie trug ein Batik-T-Shirt, das schon vor dreißig Jahren unmodern gewesen war, eine einfache Jeans und industriell hergestellte Mokassins. Auffallend war eigentlich nur der Indianerschmuck, den sie am Hals und an den Händen trug.
Marcetti räusperte sich und suchte die Aufmerksamkeit der Frau, die immer wieder versuchte, zum Fenster hinauszuschauen. Sie war unkonzentriert, und Marcetti wusste, dass er heute nicht mehr viel von ihr erfahren würde.
„Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“, bat er freundlich.
„Natürlich!“ Die Frau kramte in einer mit Fransen besetzten Tasche, holte den Geldbeutel heraus und suchte nach dem Ausweis. Es war ein deutscher Personalausweis, auf dem der Name Viola Hämmerlein stand. Als Adresse war tatsächlich Fungaia angegeben. Also hatten sie das Anwesen gekauft oder angemietet.
„Und der Tote ist ihr Ehemann?“
Wieder schniefte die Frau, fasste sich dann aber relativ schnell. „Ja!“
„Können Sie mir bitte seinen Namen nennen?“
„Eugen Gustav Hämmerlein. Geboren 1967 in Memmingen.“
„Und dieser andere Name, Minni …?“
„Minninewah? Das ist sein spiritueller Name, der ihm vom Schöpfer gegeben wurde. Es bedeutet Heiliger Wind.“
„Ach so!“ Marcetti vertiefte die Frage nicht weiter. „Und Sie bieten hier Seminare an?“
„Ja! Wir bilden Menschen zu Schamanen aus. Wir öffnen das Bewusstsein eines jeden zu seiner eigenen Spiritualität und zeigen ihm den Weg zur Erkenntnis.“
Marcetti verzog die Lippen. Was für ein Unsinn! Aber die Frau glaubte offensichtlich daran.
„Aber gestern waren Sie nicht hier?“, fragte er höflich. Es war eine rhetorische Frage.
„Nein, ich habe noch jemanden in Rom vom Flughafen abgeholt. Ich bin abends weg und habe dann in Rom übernachtet.“
Marcetti sah sich kurz im Raum um und kniff die Augen zusammen. „Wer hätte ein Interesse, Ihren Mann tot zu sehen? Hatte er irgendwelche Feinde?“
Frau Hämmerlein schniefte und rieb sich mit der Hand über die Nase. „Neider gibt es genug in der Szene. Aber hier?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir dachten, dass wir hier in Ruhe und ohne Anfeindungen leben könnten.“
Marcetti machte sich eine Notiz. Szene! Was das wohl bedeutete? „Welche Neider?“, erkundigte er sich neugierig.
„Ach, es gibt ein ganzes Online-Forum, dessen Teilnehmer Jagd auf Schamanen machen! Sie machen alles schlecht. Und dann gibt es noch jede Menge Leute, die nicht so erfolgreich sind und die unwahre Dinge über uns behaupten.“
„Zum Beispiel?“
„Mein Mann wurde von seinem Großvater initiiert. Er war ein Chickasaw-Indianer. Der Vater meines Mannes war in Deutschland als Soldat stationiert. Er hieß Welsh. Ihm zu Ehren nennt mein Mann sich James Welsh. Unter diesem Namen haben wir auch die Website. Es gibt immer wieder Leute, die das nicht glauben und uns schlechtmachen, aber die wissen gar nichts.“
„Hmh!“ Marcetti versuchte, darin einen Sinn zu sehen. Ein Name, egal ob richtig oder falsch, schien ihm kein plausibles Tatmotiv zu sein. Wenn jemand die Geschichte nicht glaubte, musste er sich zu keinem Schamanenkurs anmelden. Basta! Das war eher so ein Hickhack unter Insidern.
„Was kostet denn so ein Kurs?“, wollte er wissen. Geld war immer ein gutes Tatmotiv.
Frau Hämmerlein knabberte nervös an den Lippen, und Marcetti notierte sich ein weiteres Ausrufezeichen in seinem Gehirn. Hier gab es definitiv eine Spur.
„Ach …“, meinte Frau Hämmerlein ausweichend. „Das ist ganz unterschiedlich. Manche wollen nur einen Trommelkurs oder ein Wochenende mit Schwitzhütte ….“
„Ich rede von diesem Kurs!“, betonte Marcetti.
„Nun, einige sind hier zum ersten Mal. Dann ist es der Grundkurs. Er kostet 2800 Euro für die Woche.“ Sie zögerte kurz und machte eine fahrige Handbewegung. „Natürlich mit Kost und Logis!“
„Aha!“ Marcetti legte nachdenklich den Kopf schief. Draußen hatte er mehr als zehn Teilnehmer gesehen. Sie sprachen hier also locker von 30 000 Euro. Ein einträgliches Geschäft!
„Und die Teilnehmer wohnen hier?“
„Ja, wir haben genügend Zimmer. Bad und Toilette sind aber auf dem Gang.“
„Gibt es auch ein Esszimmer, in dem wir nicht auf dem Boden sitzen müssen? Oder ein Büro?“
Frau Hämmerlein schniefte wieder. „Oben habe ich ein Büro.“
„Wir werden es wohl durchsuchen müssen. Vielleicht finden wir da einen Hinweis.“ Marcetti wartete die Zustimmung nicht ab. Er sah auf, als Balloni ins Zimmer trat.
„Die Leiche wurde freigegeben. Wir können sie in die Gerichtsmedizin transportieren lassen.“
Marcetti sah den Staatsanwalt fragend an, und dieser nickte sein Einverständnis. „Das wird ganz schön kompliziert“, meinte er.
Marcetti teilte dessen Meinung. „Oje …“ Dann wandte er sich an seinen Kollegen: „Sag der Polizei, sie sollen alle Unterlagen sicherstellen, die sie finden. Außerdem will ich für morgen einen Dolmetscher. Organisiere das bitte! Ich möchte, dass das Anwesen rund um die Uhr bewacht wird und keiner das Grundstück verlässt. Wenn die Damen etwas brauchen, dann soll ihnen das ein Polizist bringen. Ich will alle Ermittlungsergebnisse auf meinem Tisch, und sag Mandriani, er soll sich mit der Obduktion beeilen.“
„Ja, Chef!“ Balloni grinste breit und machte sich ebenfalls Notizen. Er wusste, dass der Gerichtsmediziner ein Freund von Marcetti war und sicherlich schnell die gewünschten Informationen liefern würde.
Brandesa wandte sich an Marcetti und streckte ihm die Hand zu. „Sie halten mich auf dem Laufenden und melden sich, wenn Sie etwas brauchen! Und keine Eskapaden!“ Er lächelte schief.
Marcetti wusste natürlich, auf was der Staatsanwalt anspielte, und zuckte unschuldig mit den Schultern. „Natürlich nicht!“, versicherte er.
„Keine Zeugin mehr auf eigene Faust in Sicherheit bringen …“ Der Staatsanwalt funkelte Marcetti an.
„Nein, nein!“ Marcetti bemühte sich um Professionalität. Er sah dem Staatsanwalt nach, wie er das Haus verließ und wandte sich wieder Frau Hämmerlein zu. „Kommen Sie, ich führe Sie zu Ihrem Ehemann.“
Die Frau hatte sich etwas gesammelt und reagierte nun gefasst. Ihr Mann lag bereits auf einer Transportwanne und so war sein blutiger Hinterkopf nicht zu sehen. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, und so war es nicht möglich, ihm die Augen zu schließen. Kurz ließ die Ehefrau den Anblick des Toten auf sich wirken, dann hob sie ein Tuch über das Gesicht. „Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Voller Leben und Güte.“
Sie ging neben den Männern her, die die Transportwanne trugen und ließ es zu, dass er in einen Leichenwagen geschoben wurde. „Was passiert nun mit ihm?“
Marcetti schluckte schwer. Es war immer schlimm, einen Mordfall zu untersuchen. „Wir bringen ihn in die Gerichtsmedizin und untersuchen die Todesursache und vor allen Dingen den Todeszeitpunkt. Anschließend können Sie sich um die Beerdigung kümmern. Es wird ein paar Tage dauern. Sollen wir Ihnen bei der Überführung nach Deutschland helfen?“
Frau Hämmerlein schüttelte den Kopf. „Nein, er war glücklich hier. Ich möchte ihn hier beerdigen lassen.“
„Gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden müssen?“
Frau Hämmerlein lachte verächtlich. „Höchstens welche, die hier was absahnen wollen. Aber hier gibt es nichts zu holen.“
„Und die Kurseinnahmen?“
„Die laufen auf uns beide!“, erklärte Frau Hämmerlein.
„Und Sie sind auch die Erbin?“ Marcetti runzelte die Stirn.
„Quasi. Die Akademie läuft auf uns beide. Jeder ist auch allein zeichnungsberechtigt. So kann jeder auch allein die Geschäfte weiterführen.“
Frau Hämmerlein sah Marcetti von der Seite an. „Keine Sorge! Es reicht gerade so zum Leben.“
Marcetti setzte sein Pokerface auf. „Wir werden die Konten prüfen. Das gehört zu unseren Ermittlungen. Mord aus Geldgier war schon oft ein gutes Tatmotiv.“
Frau Hämmerlein nickte harmlos. „Tun Sie das! Ich habe nichts zu verbergen. Die Akademie dient der Verbreitung schamanischen Wissens. Natürlich leben wir davon, aber Reichtümer kann man davon nicht anhäufen.“
„Naja, bei 30 000 Euro Einnahmen …“ Marcetti ließ den Satz unvollendet.
„Ach, wissen Sie … da kommen die Miete für das riesige Haus, Steuern, laufende Kosten … so viele Kurse kann man im Jahr gar nicht anbieten. Ich will nicht jammern, aber so viel verdient man hier nicht.“
Frau Hämmerlein wandte sich wieder dem Leichenwagen zu, der bereit zur Abfahrt war. Sie ging einige Schritte mit und kehrte dann mit gesenktem Kopf zum Haus zurück, wo sie von den anderen Damen getröstet wurde.
Marcetti verschwand wieder im Haus und ließ das Ganze auf sich wirken. Balloni schloss sich ihm an, und gemeinsam wanderten sie durch das Haus und den Garten. Kopfschüttelnd sahen sie sich die Schwitzhütte an, die immer noch von einer Polizeilinie abgesperrt war. Neugierig sah Marcetti hinein. „Die Spurensicherung hat rein gar nichts gefunden. Auch keine Blutspritzer — außer an der Stelle, wo der Mann gelegen hat. Vielleicht wurde er bewegt?“
„Du meinst, dass der Tatort woanders ist?“
„Wäre doch möglich? Oder kannst du mir erklären, warum hier keine Blutspritzer sind?“
Balloni schüttelte den Kopf. Marcetti kletterte in die Schwitzhütte hinein und sah sich um. Eine niedrige Hütte, die aus Ästen gebaut und mit Decken abgedichtet worden war. In der Mitte eine Grube mit Steinen, sonst nichts.
Er kam wieder heraus und winkte Balloni, ihm zu folgen. „Schauen wir uns mal die Zimmer an.“
Er bat Frau Hämmerlein freundlich darum, ihm das Anwesen zu zeigen, und die Dame führte die Ermittler willig durch das Haus. Es war ein alter, heruntergekommener Palast, der insgesamt zwei Stockwerke hatte. Unter dem Dach lagen die früheren Unterkünfte der Bediensteten. Die Decke war niedriger als im Rest des Hauses. Nur wenige Zimmer waren als Gästezimmer hergerichtet worden. Frau Hämmerlein war schweigsam und abgelenkt, sodass sie kaum etwas sagte. Im ersten Stock lagen weitere Zimmer, die von den Seminarteilnehmern bewohnt wurden. Am hintersten Ende war ein Durchgang, der zum privaten Teil des Hauses führte. Hier befanden sich zwei getrennte Schlafzimmer, ein Badezimmer und ein Büroraum.
Ein Polizist packte gerade einige Unterlagen in eine Kiste und stellte den Computer sicher. Zum ersten Mal regte sich bei Frau Hämmerlein Widerstand. „Bekomme ich den denn wieder? Da sind alle meine Unterlagen und Anmeldungen gespeichert.“
Marcetti beschwichtigte sie. „Aber sicher! Wir prüfen ihn auf verdächtige Mails oder andere Hinweise, und dann bekommen Sie ihn zurück.“
„Wie lange kann das dauern?“
„Zwei, drei Wochen, vielleicht auch einen Monat. Es kommt darauf an, was wir finden.“
„So lange!“ Wahre Verzweiflung klang in der Stimme mit. „Sie legen ja die ganze Akademie damit lahm!“
Der Commissario zuckte mit den Schultern. „Ein Mord ist eben kein Kavaliersdelikt.“
Er deutete auf die Schlafzimmer. „Sind das die Zimmer von Ihnen?“
Die Frau nickte.
„Sie haben getrennte Schlafzimmer?“
Frau Hämmerlein ging in Verteidigungshaltung. „Ja! Mein Mann und ich waren mehr wirtschaftliche Partner. Ich habe mich um das Marketing gekümmert.“
„Dafür haben Sie aber reichlich betroffen reagiert“, stellte Marcetti fest.
„Entschuldigen Sie mal! Ich kenne meinen Mann nun schon seit zehn Jahren! Wir gehen sehr respektvoll miteinander um und haben uns auf einer ganz anderen Ebene wiedergefunden. Natürlich bin ich entsetzt und betroffen. Ich habe meinen Partner und einen lieben Menschen verloren!“
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen!“ Marcetti zog den Kopf ein und gab Balloni das Zeichen zum Rückzug. „Welche Räume gibt es im Erdgeschoss?“, lenkte er ab.
„Nur den Seminarraum, eine große Küche und ein großes Esszimmer. Außerdem einen Wirtschaftsraum, eine Art Abstellkeller und einen weiteren kleinen Seminarraum, der zur großen Terrasse führt.“
„Ganz gut geeignet für so ein Ausbildungszentrum“, stellte Marcetti fest.
Frau Hämmerlein nickte gedankenverloren. „Hier ist es absolut ruhig. Niemand beschwert sich, wenn wir trommeln oder in der Schwitzhütte unsere Lieder singen.“
Marcetti trat wieder in den Seminarraum und ließ diesen Raum auf sich wirken. Erst jetzt betrachtete er die großen Fotografien genauer, die hinter imposanten Glasrahmen an der Wand hingen. Sie zeigten den Schamanen in immer wieder anderen Posen: mit erhobenen Händen und wallendem, wehendem Haar vor einem Sonnenuntergang; mit Ringen bestückt eine Pfeife den Himmel entgegen haltend; ein Foto zeigte ihn in indianischer Lederkleidung, vor einem Wasserfall stehend. Die Wände waren geschmückt mit indianischen Artefakten. Marcetti sah bemalte Trommeln, Traumfänger, gemusterte Decken, Schilde und Federschmuck. Nur einen Tomahawk fand er nirgends. Na ja … wäre ja auch unwahrscheinlich, dass die Tatwaffe einfach so an der Wand hing. Trotzdem trat er näher und untersuchte, ob irgendwelche Nägel aus der Wand schauten, an denen nichts aufgehängt war. Aber auch hier wurde er nicht fündig.
Die Küche und anderen Nebenräume waren ebenso unauffällig. In der Küche hingen ein paar Fotos von anderen Kursen und ihren glücklichen Kursteilnehmerinnen, die ein Zertifikat in den Händen hielten. Bei einem Kurs war tatsächlich auch mal ein Mann vertreten, aber ansonsten waren die Teilnehmer ausschließlich weiblich.
Der zweite Seminarraum war genauso ausgestattet wie der erste, nur dass hier nicht nur Kissen, sondern auch eine breite Matratze lag. Auch hier war eine Egowand des Schamanen ausgestellt. Zudem hing an einer Seite auch ein großes Bild von Frau Hämmerlein. „Healing Sun“ stand in verschnörkelter Schrift darauf. Einige kleinere Fotos zeigten Healing Sun bei der schamanischen Arbeit: wie sie Wasser auf einige Steine goss, Kräuter sortierte und eine Schale mit Räuchergut in den Händen hielt. Marcetti wurde einfach nicht schlau daraus. Wer sollte ein Interesse haben, zwei völlig abgedrehte Menschen so zu hassen, dass man einen davon ermordete? Einen Pfarrer ermordete man doch auch nicht! Wieder überprüfte Marcetti die Wände, aber auch hier war nichts zu finden. Nichts war verändert worden.
Frau Hämmerlein hatte geschwiegen und sah ihn nun fragend an.
„Frau Hämmerlein …“
„Healing Sun!“, wurde er unterbrochen. „So lautet nun mein Name.“
„Frau Hämmerlein!“, wiederholte Marcetti unbeeindruckt. „Ich bin von der Mordkommission und nicht bei Peter Pan. Nimmerland ist gerade abgebrannt, und wir zwei stellen uns jetzt mal ganz schnell der Realität. So leid es mir tut! “ Er räusperte sich, und eine steile Falte erschien auf der Stirn. „Sie haben also beide schamanisch gearbeitet?“ Er wollte wissen, welche Auswirkungen der Tod des Mannes auf das Unternehmen hatte.
„Ja!“, gab Frau Hämmerlein zu. „Aber der Magnet war mein Mann.“
„Das bedeutet, dass sein Tod für Sie finanziell ebenfalls ein Verlust ist. Und nicht nur menschlich?“
Frau Hämmerlein schaute ihn entsetzt an, und Marcetti machte eine verlegene Geste. „Ich muss das fragen, weil ich immer noch nach einem Tatmotiv suche. Sorry, wenn ich ein wenig kühl wirke.“
Die Frau schluckte schwer und nickte dann voller Verständnis. „Natürlich! Es klang halt so abgebrüht! Aber es ist schon so, wie Sie es sagen. Finanziell ist das ein Desaster. Die meisten Teilnehmer kamen natürlich wegen Minninewah. Trotzdem habe auch ich immer einen Teil der Ausbildung übernommen. Zum Beispiel die Kräuterführungen, die Mondphasen, das Räuchern oder eben Frauenthemen.“
„Aha!“ Marcetti nahm die Information auf und speicherte sie ab. Er wusste noch nicht, ob er sie irgendwie brauchen konnte. Er sah aus den Augenwinkeln, dass Balloni eifrig mitschrieb, und nickte ihm zufrieden zu.
Geschäftig wandte er sich wieder der Frau zu. „Wir überprüfen selbstverständlich alle Alibis. Können Sie bitte meinem Kollegen das Hotel sagen, in dem Sie übernachtet haben? Wir werden das überprüfen. Reine Routine!“
Der Rest des Tages war anstrengend, denn die Gespräche mit den anderen Frauen zogen sich hin. Die Sprachbarriere war ein riesiges Problem. Zwei der Frauen waren erst am Morgen in Rom gelandet, trotzdem schrieb Balloni sich die Daten auf, um das zu überprüfen. Sie waren völlig durcheinander und fragten, ob sie wieder abreisen durften. Marcetti hatte dafür durchaus Verständnis, denn zu einem Kurs zu fahren, nur um zu erfahren, dass der Kursleiter verstorben war, war sicherlich nicht lustig. Bedauernd schüttelte Marcetti den Kopf. „Im Moment müssen wir alle Personen bitten, das Haus nicht zu verlassen. Sie müssen verstehen, dass wir erst unsere Ermittlungen fortsetzen müssen, ehe wir entscheiden können, wer gehen darf oder nicht. Sie dürfen vermutlich morgen abreisen.“
Leises, empörtes Gemurmel war zu hören, denn natürlich fühlten sich die Damen unschuldig. Marcetti hob die Hände und bat um Verständnis. „Bitte, meine Damen! Es wird sich bestimmt nur um wenige Tage handeln. Aber wir müssen hier einen Mordfall aufklären!“
Nacheinander befragten Marcetti und Balloni die Frauen, wann sie den Schamanen das letzte Mal gesehen hatten oder ob ihnen sonst etwas aufgefallen wäre. Es kam nicht viel dabei heraus, denn alle versicherten, dass sie ihn das letzte Mal in der Schwitzhütte getroffen hätten. Da stimmten alle überein. Es klang auch nicht danach, als hätten sich die Frauen untereinander abgestimmt. Kurz überlegte er, ob sie wohl alle gemeinsam den Mord verübt hätten, doch dann schob er diesen Gedanken als absurd zur Seite. Trotzdem wollte er nicht ausschließen, dass eine dieser Frauen vielleicht die Mörderin war. Er wandte sich an die Polizisten und ordnete an, dass das Haus rund um die Uhr bewacht wurde und niemand das Gelände verlassen durfte. Es dauerte nicht lange, und mehrere Carabinieri trafen ein, die in voller Uniform in Stellung gingen. Der Palast verwandelte sich in eine Festung.
Wolfram Isedor
Auf dem Weg nach Siena klingelte Marcettis Handy. „Pronto?“, antwortete er kurzangebunden. Er übersah das Augenrunzeln seines Partners, der damit missbilligend zum Ausdruck brachte, dass Marcetti während des Autofahrens ans Handy ging.
„Ciao, sono Ise!“, ertönte eine fröhliche Stimme. „Ich bin im Hotel Garden!“
„Schon?“, wunderte sich Marcetti überrascht. Er war so mit diesem Fall beschäftigt gewesen, dass er ganz vergessen hatte, dass sein Kollege und Freund Wolfram Isedor sich angemeldet hatte. Er kam extra aus München, um an der Settimana Gastronomica der Contrada dell‘Aquila teilzunehmen. Marcetti freute sich nach dem verpatzten Palio im August auf einen ruhigen Herbst. Seine Contrade hatte ein gutes Pferd gezogen und hätte im Rennen durchaus den Favoriten noch einholen können, wenn der Fantino nicht in der letzten Kurve vom Pferd gestürzt wäre. So hatte Civetta gewonnen, und die Nobile Contrade dell’Aquila wartete weiter auf den lang ersehnten Sieg. Im Herbst würde es nach dem Palio ruhiger werden, und in der Feinschmeckerwoche seiner Contrade würden andere Themen wichtig werden.
„Hast du mich vergessen?“, fragte Ise mit einem erstaunten Kichern.
„Ma no!“, versicherte Marcetti. „Ich bin noch im Dienst! Kannst du im Hotel Garden einen Tisch für uns reservieren? Dann komme ich später vorbei.“
„Klar! Ich muss mich eh noch duschen! Bis später!“
„Ciao!“, verabschiedete sich Marcetti.
Balloni sah ihn von der Seite an. „War das Ise?“
Marcetti grinste. „Ja, er kommt für ein paar Tage und macht Urlaub. Ich nehme ihn zur Settimana Gastronomica von meiner Contrade mit. Das wird lustig!“
„So verfressen, wie ihr beide seid, glaube ich das bestimmt!“, brummte Balloni respektlos.
„Verfressen? Wir?“ Marcettis Stimme wurde hoch. „Wir sind Feinschmecker! Kulinarische Experten … aber doch nicht verfressen!“
Balloni lachte laut. „Okay!“, gab er nach. „Was habt ihr Feinschmecker denn vor?“
„Nichts Besonderes! Ich wollte Ise mal die Taufe unserer Contrada zeigen.“ Er beugte sich flüsternd zu Balloni: „Ich will ihn taufen lassen, aber sage ihm nichts!“
„Echt?“ Auf Ballonis Stirn zeigte sich ein dickes Ausrufezeichen. Normalerweise wurden nur enge Verwandte oder Seneser in eine Contrade getauft, aber keine Ausländer.
Marcetti nickte. „Ich habe das schon mit dem Priore und so geklärt. Ise wird getauft.“
„Cool!“, freute sich Balloni. Er selbst stammte aus Grosseto, und so war er kein Angehöriger einer Contrade, wie die Stadtteile von Siena genannt wurden. Überhaupt empfand er das Getue um die Contraden und das Palio als reichlich seltsam. Er war immer froh, wenn der Rummel, der zweimal im Jahr stattfand, vorüber war. Dabei übersah er geflissentlich, dass fast das ganze gesellschaftliche Leben von Siena in diesen Contraden stattfand. Immer wieder wurden Grillabende, Feiern, Konzerte oder Essen für die Angehörigen ausgerichtet, Ferienfreizeiten mit den Kindern veranstaltet oder gemeinsame Ausflüge geplant. Natürlich gab es auch öffentliche Konzerte, Bars, Discos und Restaurants in Siena, aber viele Aktivitäten fanden tatsächlich innerhalb dieser eingeschworenen Gemeinschaften statt. Ein bisschen neidisch schwieg er eine Weile.
„Magst du auch mitgehen?“, fragte Marcetti. „Morgen geht es los mit Grillen. Auf der Piazza di Postierla.“
Balloni vergaß seinen Neid. „Gerne!“ Er lächelte.
Marcetti parkte sein Auto wieder vor der Questura, und die beiden verschwanden in ihrem Büro. Giulia hatte bereits Dienstschluss, und so machten sie sich selbst daran, einen vorläufigen Bericht zu schreiben. Akribisch verglichen sie ihre Aufzeichnungen und dachten dann darüber nach. Viel konnten sie bisher nicht vorweisen. „Was meinst du?“, fragte Marcetti seinen Kollegen.
Balloni sah ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. „Völlig verrückt!“
„Wer? Der Mordfall oder diese Frauen?“
„Beides!“, erklärte Balloni. „Ich dachte, die Seneser spinnen mit dem Palio, aber die sind ja völlig durchgeknallt.“
„Verrückt sein ist aber nicht verboten. Wo siehst du hier ein Mordmotiv?“
Balloni lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Keine Ahnung. Ich kenne mich in dieser Szene überhaupt nicht aus und kann mir gerade absolut nicht vorstellen, warum jemand einen Schamanen tötet.“
Marcetti nickte zustimmend. „Ich auch nicht. Vielleicht jemand, der enttäuscht wurde?“
„Könnte sein! Glaubst du, dass der echt ist?“
„Dieser angebliche Schamane?“ Marcetti schnaubte verächtlich. „Ganz sicher nicht!“
„Vielleicht sollten wir erst einmal herausfinden, wer der wirklich war. Der Typ hat sich ganz sicher nicht aus Liebe zu Italien hierher abgesetzt.“
Marcetti wedelte mit der Hand. „Pietro, du überprüfst mal alle Alibis. Dann überprüfst du die Website, die Anmeldungen und die Wohnsitze der Teilnehmer. Außerdem will ich wissen, ob irgendjemand schon öfter bei so einem Kurs war. Bleib an dem Computer dran und informiere mich, wenn da etwas Interessantes zu finden ist. Klar?“
Balloni schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „Klar!“
„Bis morgen!“ Marcetti verabschiedete sich und hechtete die Treppe hinunter. An der Pförtnerloge nickte er dem wachhabenden Polizisten zu. „Ciao!“
„Ciao, Dottore!“, erschallte es zurück.
Marcetti sauste mit seinem Wagen wieder zur Porta San Marco hinunter, nahm die Tangenziale um Siena herum und näherte sich dann über die Ausfahrt „Siena Nord“ dem Hotel Garden. Das Hotel lag malerisch in einem riesigen Park mit Steineichen und war ein ehemaliger Palast. Marcetti sauste an dem in dunklem Holz gehaltenen imposanten Empfang vorbei und grüßte die Damen dort flüchtig. „Ciao!“
„Ciao, Dottore!“, klang es freundlich zurück. Marcetti war hier bekannt.
Ise saß bereits an der Bar und wartete auf ihn. „Hey!“, grüßte er Marcetti mit einem breiten Grinsen.
Marcetti umarmte ihn herzlich und musterte den Deutschen dann prüfend von oben bis unten. Ise hatte wieder sein schwarzes Outfit an, seine Füße steckten in riesigen schwarzen Turnschuhen und er trug den obligatorischen goldenen Ring in seinem Ohr. Seine Wangen waren bereits leicht gerötet von dem Aperitif, den er gerade zu sich nahm. An der Bar stand ein dunkelhäutiger Kellner, der Marcetti nun ebenfalls herzlich begrüßte. „Benvenuto, Dottore! Ebenfalls einen Aperitif?“
Marcetti grüßte Signore Atta, der vor allen Dingen für seine Cocktails, aber auch seine exquisite Musikauswahl bekannt war. Gerade lief eine Live-Aufnahme von Journey. „Was schlägst du denn vor?“, erkundigte sich Marcetti und ließ seine Blicke an den gut gefüllten Regalen entlangschweifen.
„Bloody Mary?“, meinte Atta mit einem Zwinkern. Er kannte Marcettis Vorliebe für eher scharfe und hochprozentige Sachen.
Marcetti schüttelte sich vor Vorfreude. „Genial!“
„Soll ich ihn an den Tisch bringen?“, schlug Atta vor.
„Ja, bitte!“
Marcetti folgte Isedor auf die Terrasse des Hotels, von der aus man einen wunderschönen Blick auf Siena hatte. In der Ferne sah man den Torre della Mangia, zusammen mit dem Dom aus schwarz-weißem Marmor, dem Wahrzeichen der Stadt. Die Terrasse war von einer halbhohen Steinmauer umgeben und mit Weinreben überwachsen. Alles sehr idyllisch. Der Ober führte sie an einen Tisch und legte ihnen die Speisekarte vor. Schweigend lasen die beiden das Menu und leckten sich dann genießerisch über die Lippen. Wie auf Verabredung fingen beide an zu lachen.
„Und, wie war die Fahrt?“
Isedor winkte ab. „Alles frei!“ Er grinste breit und schlug die Karte zu. Er wartete, bis Atta den Drink brachte, und hob dann sein Glas, um mit Marcetti anzustoßen. „Und, wie war das Palio?“
Marcetti seufzte tief. „Katastrophe! Wir haben verloren. Kein gutes Jahr für uns, also lass uns lieber von was anderem reden!“
„Okay! Was macht dein Fall mit diesem Zuhälter? Sitzt der immer noch im Knast?“
Marcetti schnitt eine Grimasse. „Ja, aber nicht mehr lange. Mich ärgert immer noch, dass wir nicht an die Hintermänner herangekommen sind.“
Isedor zuckte mit den Schultern. „Mei, zumindest haben wir den Fall aufgeklärt. Was die Politik damit macht, kann uns wurscht sein.“
Marcetti nahm einen tiefen Schluck. Er sah das anders. Um einen Politiker hereinzulegen und zu ermorden, war ein junges Mädchen in die Prostitution gezwungen worden. Sie hatten den Zuhälter als Mörder erwischt, doch die wahren Hintermänner waren ungestraft davongekommen. Es war eine abgekartete Sache gewesen, und so etwas mochte er nicht.
„Wie geht es Mercedes?“, erkundigte sich Isedor neugierig nach dem jungen Mädchen.
„Gut!“, antwortete Marcetti ausweichend. Er wollte Ise nicht auf die Nase binden, dass sich da vielleicht etwas anbahnte.
„Ist sie immer noch in Genua?“, forschte Isedor nach.
Marcetti warf ihm einen prüfenden Blick zu und überlegte, wie viel Ise wohl wusste oder ahnte. Sein deutscher Kollege schlürfte jedoch unschuldig an seinem Aperitif und schien die Frage eher aus höflichem Interesse gestellt zu haben.
„Ja, sie arbeitet da in einem Restaurant.“ Marcetti verschwieg, dass Mercedes demnächst nach Siena ziehen würde.
„Das ist schön!“, freute sich Ise. „Was gibt es sonst neues? Wieder einen toten Politiker in einer Mülltonne gefunden?“
„No, einen toten Indianer in einer Schwitzhütte!“, unkte Marcetti.
Isedor riss die Augen auf. „Was?“
Marcetti kicherte. „So ein Schamane wurde erschlagen in einer Schwitzhütte gefunden. Wir tappen noch völlig im Dunkeln. Es ist erst heute passiert.“
„Das ist aber schon reichlich seltsam! Was macht denn ein Schamane hier in Siena?“
Marcetti zuckte die Schultern. „Wir haben hier durchaus eine Esoterik-Szene, und bei dem Ermordeten handelt es sich angeblich um einen echten Indianer. Aber er ist Deutscher, zumindest laut Ausweis.“
„Schon wieder ein Deutscher!“, wunderte sich Ise. „Liegt das an mir?“ Er gluckste erheitert.
Marcetti warf ihm ein schiefes Grinsen zu und wandte sich dann an den Kellner, um sein Essen zu bestellen. Wie auf Verabredung entschieden sich die beiden für panierte Garnelen auf Salat sowie Spaghetti Amatriciana und beschlossen dann, sich das Fiorentina brüderlich zu teilen.
Entspannt lehnte Marcetti sich zurück und blinzelte Ise verschwörerisch zu. „Hast du Lust, uns ein bisschen zu helfen?“
„Im Urlaub?“ Ises Grinsen wurde noch breiter.
„Ein bisschen Zeitvertreib! Damit du dich nicht langweilst. Ich könnte auch um Amtshilfe bitten. Ganz offiziell.“
„Ein toter Schamane?“ Ise überlegte sich die Antwort. „Das ist mindestens genauso schlimm wie ein toter Politiker.“
„Und lauter deutsche Frauen, die kein Italienisch können“, bemerkte Marcetti.
„Sind sie wenigstens hübsch?“
„Einige!“, bestätigte Marcetti. „Obwohl sie auf Styling keinen besonderen Wert legen.“
„Nicht so wichtig“, meinte Ise lapidar. „Bin nicht auf der Suche.“
„Nun, hilfst du, oder nicht?“
Ise strahlte ihn an. „Freilich! Das wird ein Spaß! Aber stell‘ eine offizielle Anfrage. Der Fall kann sich ja hinziehen.“
„Und dein Urlaub?“
„Ach, da hänge ich einfach ein paar Tage dran … das geht schon.“
Ihr Gespräch verstummte, als die Vorspeise kam. Hungrig aßen Sie den Salat und bestellten zum Essen eine Flasche Rotwein.
Interessiert wedelte Isedor mit der Hand. „Und was hast du bis jetzt herausgefunden?“
„Nichts!“, erklärte Marcetti. „Die Leiche ist in der Gerichtsmedizin, wir haben alle Spuren sichergestellt, den Computer beschlagnahmt und die Zeugen befragt. Es handelt sich um einen Schamanen, der ein Ausbildungszentrum leitet und dem der Schädel eingeschlagen wurde. Die Frauen sind Kursteilnehmerinnen, bis auf eine — bei der handelt es sich um die Ehefrau. Sie war zum Todeszeitpunkt wohl in Rom, um noch zwei Teilnehmerinnen abzuholen. Balloni überprüft das gerade.“
„Man hat ihm den Schädel eingeschlagen? Ganz schön brutal“, stellte Isedor fest.
Marcetti nickte. „Ich dachte auch an Mord im Affekt. Mit viel Wut.“
„Wer aber war da so wütend?“, überlegte Isedor. „Eine der Frauen?“
„Könnte sein. Alle sagen aus, dass sie den Schamanen zuletzt lebend in der Schwitzhütte gesehen haben. Eine Frau hatte anschließend noch ein Gespräch mit ihm. Sie sagt aus, dass sie ihn so gegen Mitternacht verlassen habe. Sie hat ihn auch am Morgen gefunden und die Polizei verständigt.“
„Glaubst du, dass sie die Mörderin sein könnte?“
Marcetti runzelte die Stirn. „Du meinst, dass sie gewitzt genug wäre, um nach dem Mord zu bleiben, die Nacht abzuwarten, am Morgen die erschrockene Seminarteilnehmerin zu spielen und die Polizei zu verständigen?“ Marcetti stellte sich Susanne Körber vor und schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Aber irgendetwas an ihrer Aussage stimmt nicht.“
„Und wieso glaubst du nicht, dass sie die Mörderin sein könnte?“
„Ihre Verzweiflung war echt.“
„Hmh!“ Isedor warf Marcetti einen vielsagenden Blick zu. Er kannte die Schwäche seines italienischen Kollegen, auf weinende Frauen hereinzufallen. Dann war er besonders schlecht und schaltete ganz gerne mal sein Ermittlergehirn aus.
„Soll ich noch mal mit ihr sprechen?“, bot er an.
„Unbedingt! Mit all diesen Frauen! Und ich würde dich bitten, diese Website von dem Typen mal zu checken. Daraus werde ich überhaupt nicht schlau.“
„Mache ich!“, erklärte Isedor großzügig. „Hast du den Link?“
Marcetti zog sein Notizbuch heraus und schrieb die Web-Adresse auf einen Schmierzettel.
Isedor nahm ihn entgegen und steckte ihn in seinen Geldbeutel. „Ich schaue mir das morgen gleich an. Holst du mich ab?“
„Ja, so gegen zehn Uhr, ist das okay?“
„Freilich!“ Isedor lächelte verbindlich. „Hast du immer noch diesen Oldtimer?“
„Klar! Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Marcetti dachte mit Schrecken an die Schotterstraße und überlegte kurz, ob er für den morgigen Tag nicht doch lieber ein Polizeiauto bestellte.
Die beiden Männer wurden durch das Essen abgelenkt, das der Kellner brachte, und wechselten das Thema. Isedor erzählte von zwei Mordfällen, die er in München bearbeitet hatte, und erkundigte sich dann nach der Settimana Gastronomica, der Feinschmeckerwoche. „Was gibt es da alles zu essen?“, wollte er wissen.
„Jeden Tag etwas anderes!“, schwärmte Marcetti. „Die Einnahmen sind natürlich für die Contrada, damit wir irgendwann mal genug Geld haben, um das Palio zu gewinnen.“
„Haha, damit ihr alle anderen bestechen könnt“, stellte Isedor fest.
„Ach, Bestechung ist kein schönes Wort. Nennen wir es arrangiare!“
„Und sonst?“ Isedor sah gespannt zu, wie der Kellner gerade das riesige Stück Fleisch filetierte und dann Olivenöl darüber strich. Er nahm den Teller mit dem großen Knochen.
„Am zweiten Tag gibt es Fisch, so viel weiß ich schon“, erzählte Marcetti. „Und dann lassen wir uns überraschen.“
„Auch gut!“ Isedor kaute bereits an dem zarten Fleisch und seufzte genussvoll. Eigentlich war er nach den Spaghetti satt, aber das Fleisch war wirklich köstlich. „Und dann?“
„Dann folgt das Festa Titulare! Unsere Taufe. Da gehen wir in unseren Costume durch die ganze Stadt, schwingen unsere Fahnen — und gegen Mittag folgt dann die Taufe an unserem Brunnen.“
„Und was bedeutet die Taufe?“
„Unser Priore nimmt die Anwärter in die Gemeinschaft der Contrada auf. Das gilt ein Leben lang! Meist sind es natürlich die Kinder von einem Contradaiolo. Aber manchmal sind es auch Erwachsene. Zum Beispiel die Ehefrau von einem Contradaiolo. Es ist ein schönes Fest.“
„Da bin ich ja mal gespannt! Gehst du auch mit?“
„In voller Montur!“, antwortete Marcetti.
Isedor kicherte belustigt. „Das möchte ich wirklich gern sehen!“
„Wirst du, keine Sorge!“
Nach dem Essen saßen die beiden noch in der Bar und unterhielten sich über die aktuelle Weltpolitik, beziehungsweise ihre Fußballvereine. Der AC Siena stand immer noch wegen Bestechung in der Kritik. Dagegen war der FC Bayern mal wieder Tabellenführer in der Bundesliga. Nur mit dem neuen Trainer „von Gaal“ war Ise unzufrieden. Der war ihm zu arrogant, außerdem hatte er ewig die Niederlande trainiert, den Erzfeind von Deutschland, zumindest im Fußball. Dann wurden sie still, als Atta extra für sie eine Aufnahme von Led Zeppelin lauter drehte.
Es war spät, als Marcetti sich verabschiedete. Bis auf einige wenige Gäste in der Bar war es still. Isedor setzte sich an den Hotelcomputer und loggte sich mit seinem Gästepasswort ein. Interessiert suchte er die Homepage des Schamanen und klickte sich durch die Seiten. „So ein Unsinn“, murmelte er kopfschüttelnd. Angefangen bei indianischer Taufe, indianischen Hochzeitszeremonien oder Schwitzhütten, wurden auch Alpenschamanismus, Chickasaw- Massagen und Trommelkurse angeboten. Am abenteuerlichsten war die Biografie des Schamanen: Angeblich stammte er von einem Chickasaw-Indianer ab, war von ihm zum Medizinmann ausgebildet worden und versuchte nun, beide Welten in Einklang zu bringen. Immer wieder fanden sich Verbindungen zwischen keltischen oder „alpenschamanischen“ Wurzeln und indianischen Zeremonien. Ein heilloses esoterisches Durcheinander. Am besten war jedoch die „Vision“ dieses Minninewah, die ihm offenbart hatte, dass er die Reinkarnation von „Tecumseh“ sei. Ise konnte sich dunkel an einige Indianerbücher erinnern, die er als Jugendlicher gelesen hatte. Tecumseh war ein Prophet seines Volkes gewesen, ein charismatischer Mensch, der es fast geschafft hätte, die Indianerstämme gegen die Weißen zu verbünden. Ganz sicher suchte sich Tecumseh keinen heruntergekommenen Pseudoschamanen als Reinkarnation. Verächtlich pfiff Ise durch die Zähne und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Hier steckte mehr dahinter! Dieser Kerl roch geradezu nach Betrug. Dagegen war seine Lebensgefährtin direkt seriös. „Healing Sun“ stellte sich lediglich als Heilpraktikerin dar, die Mondphasenkurse und Kräuterlehre oder auch schamanisches Trommeln anbot. Bodenständig. War sie dahintergekommen, dass bei diesem Typen alles nur Show war? Auch das wäre ein Mordmotiv. Enttäuschte Erwartungen. Aber wer glaubte überhaut so einen Unsinn?
Über seinen Account schrieb er eine E-Mail an sein Präsidium in München und bat um Daten über Herrn Hämmerlein. Er schickte den genauen Namen sowie Geburtsort und -datum und bat darum, auch die Eltern und Großeltern in Erfahrung zu bringen. „Ist da ein Indianer in der Familie?“, schrieb er dazu. „Oder irgendein Hinweis auf amerikanische Eltern oder Großeltern?“ Er wollte dem Typen ja auch nicht Unrecht tun. Manchmal gab es die verrücktesten Geschichten. „Und schickt mir das Vorstrafenregister, falls es eines gibt!“, fügte er hinzu. Dann bat er um Auskünfte über dessen Ehefrau. Isedor spürte den Alkohol und beschloss, heute nichts mehr zu schreiben. Er hatte bereits zwei Tippfehler entdeckt und wollte nicht, dass seine Kollegen ahnten, dass er hier vielleicht einen zu viel gebechert hatte. Mit der nötigen Bettschwere suchte er sein Zimmer auf, schlüpfte aus den Sachen und ließ sich nur mit der Unterhose bekleidet ins Bett fallen. Zähneputzen verschob er auf morgen.
Pünktlich um neun Uhr weckte ihn der Empfang, und Ise fuhr erschrocken aus dem Tiefschlaf auf. Mit seiner Hand fuhr er durch seine Haare, dann warf er einen Blick auf seine Uhr. Noch eine Stunde! Das reichte gerade zum Duschen, für einen Kaffee und einen Blick in seine E-Mails. Vielleicht hatten die Kollegen schon etwas herausgefunden? Ihre Arbeitszeit begann ja um acht. Mit nassen Haaren galoppierte er wenig später in den Frühstücksraum des Hotels. Nach einem prüfenden Blick entschloss er sich doch, ein paar Eier zum Kaffee dazuzunehmen. Mit vollem Mund kaute er genussvoll an dem italienischen Weißbrot und schlürfte den heißen Espresso. Dann verschwand er an dem Computer, um vor der Ankunft seines italienischen Kollegen die Mails abzurufen. Seine Arbeitskollegen hatten bereits eine erste Antwort geschickt, und so lächelte er wohlwollend. Ein gutes Team hatte er da. Neugierig las er, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Eugen Gustav Hämmerlein, geboren in Schorndorf, Eltern aus Schorndorf, Großeltern aus Schorndorf. Mutter aus Wintersbach, Eltern aus Wintersbach, Großeltern aus Wintersbach. Es war bereits ein Wunder, dass die Eltern dieses „Schamanen“ sich überhaupt gefunden hatten. Eine Chickasaw-Verwandtschaft war da weit und breit nicht in Sicht. Isedor verzog amüsiert die Lippen. Das war doch schon ganz gut für’s Erste. „Vorstrafen?“, tippte er zurück.
„Dauert noch!“, kam es prompt.
„Und seine Ehefrau?“
„Viola Hämmerlein? Da fehlen uns Mädchenname und Geburtsort!“
Uh, er hatte vergessen, auch die Daten der Frau durchzugeben. Verflixt! „Viola Hämmerlein, geboren in Meißen. Mädchenname Bergisch“, tippte er hastig.
„Wir kümmern uns darum.“
„Okay! Danke euch!“
Isedor loggte sich aus und ging zur Rezeption, um dort auf die Ankunft von Marcetti zu warten. Freundlich grüßte er die Dame vom Empfang und antwortete auf ihre Frage nach seinem Wohlbefinden im besten Italienisch, dass er ganz wunderbar geschlafen hätte.
Er ließ sich in eines der lindgrünen Sofas plumpsen und schnappte sich eine italienische Tageszeitung, als bereits Marcetti durch die Tür schaute. „Buongiorno!“, grüßte dieser überschwänglich.
„Ciao!“, grüßte Ise mit einem schiefen Grinsen zurück. Klar, dass sein Kollege glücklich war, einen Deppen gefunden zu haben, der ihm bei den Ermittlungen half.
Minninewah
Marcetti hatte dieses Mal darauf verzichtet, mit seinem eigenen Auto zu fahren. Also quetschte er sich zu Balloni auf den Rücksitz, während er den Beifahrersitz Ise überließ. Mit einem Tippen auf die Schulter des jungen Polizisten wies er ihn an, endlich loszufahren. „Nach Fungaia!“, befahl er kurz angebunden.
Ise dagegen schenkte dem jungen Mann ein freundliches Zwinkern und stellte sich vor: „Ise, Commissario di Monaco! Sono qui per auitare un po.“
Der Polizist räusperte sich verlegen und stellte sich ebenfalls mit einem leicht schiefen Grinsen vor: „Agente Pizzi!“
„Pizzi?“, forschte Ise überrascht.
„Du hast ihn letztes Mal schon getroffen!“, belehrte ihn Marcetti.
„Aj, ja, unsere mobile Einsatztruppe! Wie konnte ich das vergessen?“ Prüfend glitt Ises Blick an dem Polizisten in seiner schnittigen Uniform entlang und blieb an dessen Haaren hängen. „Hast du einen neuen Haarschnitt?“, wunderte er sich.
Agente Pizzi spitzte die Lippen und grinste noch breiter. „Nur etwas länger!“, antwortete er. „Gerade noch vorschriftsmäßig.
„Cool!“ Ise lehnte sich zurück und tauschte erste Informationen mit seinen Kollegen aus. „Also, meine Leute sagen, dass dieser Hämmerlein keine amerikanischen Verwandten hatte, sondern es eher ein Wunder ist, dass die Familie noch nicht durch Inzucht ausgestorben ist.“
Marcetti lachte dröhnend. „So etwas habe ich fast befürchtet. Die Story mit dem indianischen Großvater ist also erstunken und erlogen?“
„So ist es. Über die Frau weiß ich noch nichts, und an den Vorstrafen bin ich auch dran. Ich müsste die Informationen spätestens morgen haben.“
„Bene! Also, dann konfrontieren wir die Damen mal mit diesen Tatsachen und hören, was sie dazu sagen.“
„Das wird nicht schön!“, meinte Ise zynisch.
Marcetti und Balloni wechselten einen tiefen Blick und schüttelten ebenso die Köpfe. „Nein, niemand erfährt gerne, dass er auf dem Arm genommen wurde.“
„Und viel Geld für einen Scharlatan ausgegeben hat!“, betonte Isedor.
„Uh, dann haben wir aber ein ziemliches Mordmotiv und viele Verdächtige“, stellte Balloni fest.
Ise stieß Agente Pizzi mit dem Ellbogen an und zwinkerte belustigt. „Das macht doch Spaß, oder nicht?“
Der Agente konzentrierte sich auf die Straße und nickte mit einem Lächeln.
Die Fahrt dauerte nicht lange, und alle schwiegen, als der Wagen über die Staubstraße holperte. Dann hielt Pizzi vor dem großen Anwesen, und alle stiegen aus. Ein Carabiniere salutierte und meldete, dass es keine besonderen Vorkommnisse gegeben hätte. „Die Damen befinden sich alle noch im Frühstücksraum.“
Die drei Kommissare betraten das Haus, während Pizzi sich noch mit dem Carabiniere unterhielt. Als die Männer den Frühstücksraum betraten, verstummte die Unterhaltung der Frauen. Ein peinliches Schweigen entstand. Eine Polizistin in Uniform grüßte die Beamten und zuckte verlegen mit den Schultern. „Ich verstehe leider gar nicht, was die Damen sagen.“
Marcetti deutete auf Isedor und grinste breit. „Dazu haben wir jetzt Commissario Isedor aus Deutschland. Außerdem habe ich um einen Dolmetscher gebeten.“
Die Polizistin lächelte erleichtert und schüttelte Isedors Hand. „Angenehm!“
Marcetti übernahm die Initiative und grüßte die anwesenden Frauen. Auf Englisch stellte er seinen deutschen Kollegen vor und erklärte, dass er bei den Ermittlungen helfen würde.
Viola erhob sich als Erste und begrüßte Isedor relativ gefasst. „Ich bin Viola Hämmerlein. Der Ermordete war mein Mann!“
Isedor schüttelte die dargebotene Hand und machte ein betroffenes Gesicht. „Mein Beileid. Hoffentlich können wir den Fall bald klären, damit Sie wissen, wer Ihren Mann ermordet hat.“
„Das hoffe ich auch“, flüsterte die Witwe. „Bitte nennen Sie mich ‚Healing Sun‘ … damit fühle ich mich einfach wohler.“
Marcetti verdrehte die Augen, sagte aber nichts, während Isedor verblüfft den Kopf schief legte. „Healing Sun?“, erkundigte er sich.
„Das ist mein spiritueller Name. Viola passt jetzt nicht mehr zu mir.“
Isedor ließ seinen Blick über die anwesenden Damen schweifen und verkniff sich ein Grinsen. Alle sahen irgendwie aus, als litten sie unter akutem Realitätsverlust. Aber das war noch lange kein Mordmotiv.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen? Dann können Sie mir nochmals erzählen, was gestern passiert ist.“
Healing Sun nickte vorsichtig und bot Isedor einen Stuhl an. Marcetti und Balloni setzten sich ebenfalls dazu, schwiegen aber, als Isedor die Unterhaltung begann. Hin und wieder übersetzte Isedor für seine italienischen Kollegen. Anfangs wiederholten die Frauen fast wortwörtlich, was sie am vergangenen Tag schon erzählt hatten, doch Isedor ließ nicht locker und hinterfragte immer wieder, was sie tatsächlich über diesen Schamanen wussten. In hingebungsvoller Bewunderung vermittelten die Frauen dabei ein Bild eines Heiligen. „Minninewah war ja so spirituell“, schwärmte eine Frau, die Claudia Trost hieß, sich aber „Cloudwoman“ nennen ließ. Es stellte sich heraus, dass sie bereits an mehreren Seminaren teilgenommen hatte. „Er wurde von seinem Großvater initiiert, einem Medizinmann der Mandan, der die große Pockenepidemie überlebt hatte.“
Isedor war etwas verwirrt. „Ich dachte, sein Vater sei Chickasaw gewesen?“
Claudia ließ sich nicht beirren. „Aber ja, aber sein Großvater mütterlicherseits war Medizinmann der Mandan. Bis zum Alter von 13 Jahren ist er von ihm unterwiesen worden.“
Isedor staunte nicht schlecht, denn seine ersten Rückmeldungen hatten ergeben, dass Herr Hämmerlein wohl eher nicht in Amerika aufgewachsen war. Er machte sich einen Vermerk, um das überprüfen zu lassen. Er räusperte sich, als er die Damen mit dieser unschönen Wahrheit vertraut machte. „Also, erste Nachforschungen haben ergeben, dass Herr Hämmerlein aus Schorndorf stammte — ebenso seine Eltern und Großeltern. Der andere Teil seiner Familie stammt aus Wintersbach … bis in die dritte oder vierte Generation.“ Isedor konnte sehen, dass die Frauen zutiefst erschüttert waren.
„Woher wollen Sie denn das so genau wissen?“, blaffte ihn Susanne Körber an.
Isedor legte herausfordernd den Kopf schief. „Ich bin bei der Polizei. Da genügt ein Anruf bei den Kollegen. Das sind Informationen, die in jedem Melderegister stehen.“
„Von heute auf morgen?“, giftete Frau Körber immer noch voller Unglauben.
„Von heute auf morgen. Vorstrafenregister dauert etwas länger.“
„Na, da können Sie aber lange warten!“, empörte sich Cloudwoman. „Es ist eine Schande, wie Sie hier von so einem heiligen Menschen sprechen. Er ist die Reinkarnation von Tecumseh!“
Isedor räusperte sich und schlug einen verbindlichen Tonfall an. „Ich verkünde hier nur Tatsachen. Aus dem Einwohnermeldeamt geht nur hervor, dass die Familie eindeutig aus Baden-Württemberg stammt. Kein Hinweis auf eine amerikanische Verwandtschaft. Das macht mich natürlich neugierig, wie er auf eine so spannende Biografie kommt.“
Isedor blickte in groß aufgerissene Augenpaare, die ihn fassungslos anstarrten. „Ja, also …“, stammelte Healing Sun. „Ich habe meinem Mann da immer vertraut.“
„Aber nicht überprüft?“, forschte Isedor nach.
„Ja, warum denn? Ich habe ihn vor Jahren bei einer Schwitzhüttenzeremonie kennengelernt, die von einer Organisation angeboten wurde. Sie haben damals für Minninewah geworben. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass er echt ist. Es hat viel Geld gekostet, und natürlich denke ich da nicht, dass es sich um Betrug handelt. Ich habe Minninewah schätzen gelernt und nach einiger Zeit geheiratet. Gemeinsam haben wir dann diese Akademie gegründet. Ich habe nie eine andere Geschichte gehört. Er hat viel von seinem Vater und Großvater erzählt.“
„Diesem James Welsh?“
„Ja!“
„Und wie hieß dieser Großvater?“
„Mato nunpa“
„Vom Volk der Mandan?“
„Genau!“
Auch bei den anderen Frauen regte sich der Widerstand. Sie bestätigten diese Geschichte und beteuerten, wie sehr sie dem Mann vertraut hatten. Seine Zeremonien seien echt gewesen und so berührend und bereichernd. „Haben Sie denn einen Vergleich?“, erkundigte sich Isedor zweifelnd.
„Aber ja!“ Mehrere der Frauen nickten heftig. „Wir haben schon bei anderen Schwitzhütten und Trommelgruppen mitgemacht.“
„Ist denn dieser Minninewah bei den anderen Gruppen bekannt gewesen?“, fragte Isedor.
„Aber ja, er galt als großer Heiler! Bei Schamanentreffen war er immer anwesend und hat auch gesprochen. Einmal hat er sogar eine Reise in die USA organisiert, um die Menschen auf die heilige Insel der Mandan zu bringen und dort mit ihnen zu beten. Es war berauschend!“ Susanne Körber seufzte, als die Erinnerung sie einholte. Ihre Augen waren feucht vor Trauer. „Wie kann nur jemand einen so spirituellen Menschen umbringen?“
Isedor runzelte die Stirn. „Interessante Frage. Vielleicht, weil er gar nicht so spirituell war?“ Kurz musterte er die junge Frau, dann flüsterte er auf Italienisch mit seinen Kollegen. Betont kühl wandte er sich wieder an Frau Körber. „Mein Kollege sagt, dass Sie gestern die Letzte waren, die Herrn Hämmerlein lebend gesehen hat?“
Susanne Körber nickte schniefend. „Und ich habe ihn gefunden. Es war so schrecklich!“
„Bleiben wir mal bei dem Abend …“, unterbrach Isedor den Redefluss. „Warum waren Sie mit ihm noch zusammen? War es da nicht schon spät?“
Susanne Körber schluckte schwer und fing an zu stammeln. „Das war nichts Ungewöhnliches“, verteidigte sie sich. „Minninewah hat oft noch Zeit für seine Teilnehmer gehabt.“
„Und über was haben Sie gesprochen?“, fragte Isedor.
„Wie bitte?“ Susanne Körber schaute den Kommissar irritiert an.
„Na, wenn er sich noch Zeit für Sie genommen hat, muss es doch einen Anlass gegeben haben.“
Die Frau verlor leicht die Fassung und suchte offensichtlich nach Worten. Isedor folgte seinem Gespür und wagte einen Schuss ins Schwarze. „Oder kam der Anlass ganz ohne Worte aus?“
Ein Raumen ging durch die anwesenden Frauen. „Na, hören Sie mal!“
Isedor zuckte unschuldig mit den Schultern. „Wir werden es eh erfahren. Die Obduktion wird ergeben, ob der Ermordete noch Geschlechtsverkehr hatte. Es ist besser, lieber gleich die Wahrheit zu sagen, sonst machen Sie sich nur verdächtig.“ Seine Worte hatten bei Susanne Körber einen Tränenausbruch zur Folge. Schluchzend schlug sie sich die Hände vors Gesicht. „Ich konnte doch nur fühlen, dass Minninewah einsam war. Er und seine Frau waren doch gar nicht mehr zusammen! Das ist doch nichts Schlimmes!“
Isedor kniff die Augen zusammen, als er die Information erst einmal verdaute. Kurz klärte er Marcetti und Balloni auf, die ebenso überrascht die Augen aufrissen. „Verschmähte Liebe wäre aber schon ein Tatmotiv!“, meinte Marcetti zufrieden. Sein deutscher Kollege war wirklich eine großartige Hilfe.
Isedor hatte inzwischen die Reaktion der anderen Frauen verfolgt, die in wütendes Flüstern verfallen waren. Gleich mehrere beschimpften Susanne Körber als „Flittchen“ und „Schlampe“, die ihrerseits zum Angriff überging. „Ach, tut doch nicht so!“, fauchte sie nun aggressiv. „Ihr seid doch auch mit ihm ins Bett!“
Ihre Worte gingen in wütendem Geschrei unter, als die Frauen sich plötzlich alle gegenseitig beschuldigten und sogar mit Schlägen aufeinander losgingen. Nur mit Mühe gelang es den Polizisten, die Frauen wieder zu beruhigen. Selbst Agente Pizzi und ein Carabiniere kamen herein, um die Auseinandersetzung zu schlichten. Marcetti gab Anweisung, die Frauen voneinander zu trennen und einzeln zu verhören. Außerdem forderte er Verstärkung an, um die Frauen in ihren Zimmern überwachen zu können. „So ein Saustall!“, schimpfte er, als die Frauen keifend in ihren Zimmern verschwanden. Mit seinen Fäusten in den Hüften musterte er Isedor, der ihm einen halbwegs verzweifelten Blick zuwarf. „Was war das denn?“
Marcetti kniff die Lippen zusammen, als er die Daten abrief, die er in diesem Fall schon gesammelt hatte. War es hier zu einem Mord im Affekt gekommen? „Eine Beziehungstat?“, überlegte er laut.
Isedor pfiff leise durch die Zähne. „Das war echt ein Schuss ins Schwarze! Volltreffer!“
Marcetti nickte wie abwesend. „Ich glaube, wir haben hier gerade die Büchse der Pandora geöffnet. Susanne Körber war sicherlich nicht die Einzige, die mit dem Typen ein Verhältnis hatte.“
„Nee, nicht, wie die anderen ausgeflippt sind, als es herauskam“, bestätigte Isedor. „Eigentlich nichts Neues, dass ein Guru mit seinen Anhängern sexuelle Beziehungen hat.“
„Und wie passt da die Ehefrau rein?“, überlegte Marcetti weiter. „Meinst du, dass die davon wusste und einverstanden war?“
Isedor wackelte mit dem Kopf hin und her. „Naja, sie hat uns ja schon vorher erzählt, dass sie nur noch miteinander befreundet beziehungsweise Geschäftspartner waren. Ich glaube nicht, dass sie eifersüchtig war.“
„Das glaube ich auch nicht. Bei ihr sehe ich eher das Geld. Vielleicht hatte sie Angst, dass sie finanziell ins Hintertreffen gerät, wenn er eine neue Frau hat.“
„Kann sein. Aber noch scheinen diese Affären eher spontan gewesen zu sein. Frauen, die ihn angehimmelt haben.“
„Trotzdem sollten wir das genauer überprüfen. Wer war vorher schon auf einem Kurs und hätte Zeit für eine Affäre gehabt?“ Marcetti blickte auffordernd zu Balloni, der sich eifrig Notizen machte. „Schau mal, ob du in dem Computer Listen von den früheren Seminaren findest.“
Balloni nickte eifrig. „Mach ich!“ Hilfesuchend wandte er sich an Isedor: „Können Sie mir da helfen?“
„Freilich!“, stimmte Isedor sofort zu. Dann kicherte er freundlich. „Waren wir nicht schon längst beim Du?“
Balloni schob seine Brille hoch und schützte sich vor dem geballten Charme des deutschen Kommissars. Nur mühsam konnte er sich ein Kichern verkneifen. „Freilich!“, übernahm er dessen Lieblingswort.
Isedor seufzte erleichtert und knuffte Balloni freundschaftlich gegen die Seite. Dann wartete er auf die nächsten Anweisungen von Marcetti. Der Commissario unterhielt sich gerade mit Agente Pizzi, der anscheinend weitere Informationen hatte. Interessiert verfolgte er das Gespräch der beiden.
„Was für ein schwarzer BMW?“, erkundigte sich Marcetti gerade.
„Anscheinend hat die Dame, die hier die Post austrägt, mehrfach einen schwarzen BMW gesehen. Ich habe mich gerade mit ihr unterhalten.“
„Und wieso ist das wichtig?“, wollte Marcetti wissen. Seine Stimme klang eine Spur genervt.
„Na, weil es ein deutsches Kennzeichen war. Der Dame fiel es auf, weil der Wagen hier in der Nähe stand und dann wieder wegfuhr.“
„Und warum ist es ihr nicht früher aufgefallen?“
„Also …!“ Pizzi seufzte tief, als er merkte, dass der Commissario langsam die Geduld verlor. „Erst dachte die Dame, dass der Fahrer vielleicht auf der Suche nach dem Hotel war, aber dann fiel ihr auf, dass das Auto ein paarmal hier vor dem Haus stand und der Fahrer das Haus beobachtete.“
„Welches Hotel?“, fragte Marcetti.
„Am Ende des Dorfes befindet sich ein einfaches Hotel“, erklärte Pizzi geduldig.
„Und warum hat sie nicht gleich gemeldet, dass ein Auto hier auf der Lauer lag?“
„Weil ….“; meinte Pizzi gedehnt. „Hier mehrere Häuser verkauft werden sollen. Sie dachte, dass es Touristen wären, die sich für die Häuser interessieren. Erst als hier Carabinieri ums Haus herumstanden, dachte sie, dass vielleicht mehr dahinterstecken könnte.“
„Wo ist die Dame jetzt?“
„Zu Hause. Ich habe ihre Adresse.“
„Warum lassen Sie eine Zeugin einfach fahren?“ Marcetti schaute ihn verwundert an.
„Weil ich sie jederzeit in die Questura rufen kann, wenn Sie das wünschen!“ Pizzi lächelte Marcetti freundlich an. „Ich dachte, dass es vielleicht interessant für Sie wäre.“
„Allerdings! Lass sie am Nachmittag kommen. So gegen drei Uhr.“ Marcetti machte eine Pause und entspannte sich etwas. Wohlwollend sah er den jungen Polizisten an. „Gute Arbeit!“, lobte er schließlich. „Super aufgepasst! Wie lange dauert es noch, bis ich Sie endlich in meiner Abteilung haben kann?“
Agente Pizzi strahlte ihn an. „Nicht mehr lange! Ich sitze bereits an den Prüfungen.“
„Sehr gut!“, knurrte Marcetti zufrieden. „Und immer schön auf die Kleinigkeiten achtgeben!“
Nach kurzer Beratung schickte Marcetti seinen Mitarbeiter zur Questura zurück. Es gab genügend andere Spuren, denen Balloni folgen sollte. Es machte Sinn, die Aufgaben aufzuteilen. Mit einem Lächeln sah Marcetti dem Auto nach, das in einer Staubfahne verschwand. Pizzi und Balloni waren ein gutes Team, auf das man sich verlassen konnte.
Kurz ging er hinter das Haus, wo die Spurensicherung nun die weitere Umgebung der Schwitzhütte absuchte. Alles war immer noch mit einem Trassierband abgesperrt, und die Ermittler arbeiteten sich in Richtung des unzugänglichen Tals vor.
„Schon was gefunden?“, fragte Marcetti.
Einer der Männer sah auf und schüttelte den Kopf. „Nichts!“
Marcetti presste die Lippen zusammen und trat neben die Schwitzhütte. Prüfend sah er den Abhang hinunter, der sich einige Schritte weiter auftat. „Wir brauchen die Tatwaffe!“, mahnte er entschlossen. „Wenn der Mann im Affekt ermordet wurde, hat sich der Täter der Waffe sicherlich schnell entledigt. Sucht auch das Dickicht dort ab. Alles, was sich in Wurfweite befindet.“
„Sollen wir es abholzen?“, fragte der Mann von der Spurensicherung etwas genervt.
„Wenn es sein muss!“
Claudia und Tonja
Der weitere Vormittag wurde zäh. Nacheinander vernahmen Marcetti und Isedor die übrigen Seminarteilnehmerinnen. Immer einzeln wurden sie von der Polizistin in den Frühstücksraum geführt, wo die Ermittler sich mit ihnen unterhielten. Vor allen Dingen wollte Marcetti erfahren, wer von ihnen eine Beziehung zu dem Schamanen gehabt hatten.
Den beiden eröffnete sich ein wahrer Sumpf an verheimlichter Liebe, Abhängigkeit und Eifersucht. Alle äußerten sich negativ über Susanne Körber, die ihnen wohl in Sachen Gunst den Rang abgelaufen hatte. Claudia Trost spuckte Gift und Galle, als sie zu ihrer Nebenbuhlerin befragt wurde. „Dieses Flittchen hat sich ihm quasi aufgedrängt!“, beschwerte sie sich. „Die wollte doch bloß einen Indianer in ihrem Bett!“
„Und Sie?“, erkundigte sich Ise mit hochgezogener Stirn.
„Ich …?“ Claudia Trost alias Cloudwoman geriet ins Stottern. „Das ist doch ganz etwas anderes! Wir haben eine spirituelle Verbindung gespürt.“
„Also hatten Sie auch sexuellen Kontakt mit Herrn Hämmerlein?“ Es war eine Vermutung.
„Ich hatte eine Beziehung mit Minninewah!“, korrigierte die Frau stur.
„Aha … und hat dieser große Schamane sonst noch mit jemandem das Bett geteilt?“, fragte Ise nicht ohne eine gewisse Süffisanz in seiner Stimme.
Claudia Trost funkelte ihn empört an. „Bei Ihnen klingt das irgendwie schmutzig. Hier ist doch kein Bordell!“
Marcetti wechselte einen tiefgründigen Blick mit seinem deutschen Kollegen und zuckte mit den Schultern. „Verschmähte Liebe ist immer ein Tatmotiv! Deswegen müssen wir dem wohl nachgehen, auch wenn es vielleicht schmutzig klingt.“
„Na ja, dann hätte ich ja wohl eher Grund, Susanne Körber zu ermorden! Aber die lebt ja leider noch …!“ Frau Trost ging ungeniert zum Angriff über.
Ise lachte trocken. „Stimmt! Aber vielleicht fällt Ihnen jemand ein, der einen Grund hätte, den Schamanen zu ermorden? Gab es eine Frau, die sich eventuell mehr erhofft hätte?“
„Das weiß ich doch nicht!“, verteidigte sich Claudia Trost.
„Aber Sie sind nicht zum ersten Mal bei diesem Seminar. Wer folgt denn dem Ruf des Schamanen noch so voller Hingabe?“
Claudia Trost seufzte tief. „Mei … auf jeden Fall mal Susanne Körber! Und diese Tonja Wildhuber! Die ist bestimmt schon zum dritten Mal dabei.“
„Aha … und die beiden, die erst am Morgen angekommen sind?“
„Die kenne ich nicht. Sie haben sich über die Website angemeldet.“ Cloudwoman schnaubte geringschätzig.
„Sie klingen nicht so begeistert“, stellte Ise fest.
„Nein, ich mag es nicht, wenn immer wieder Anfänger an den Kursen teilnehmen. Da kommt man nicht weiter.“
„Es handelt sich also wirklich um eine Ausbildung?“ Ise klang leicht verwundert.
„Aber ja … die Initiation kommt nicht über Nacht. Man braucht einige Jahre, um seine Bestimmung zu finden und all die Lieder und Zeremonien zu erlernen. Die Akademie bietet einen seriösen Weg, sein spirituelles Bewusstsein zu finden.“
„Aha!“ Ise schluckte seine Zweifel hinunter und lehnte sich etwas zurück. Misstrauisch musterte er Claudia Trost und wechselte dann einen Blick mit seinem Kollegen. Marcetti wedelte mit der Hand und entließ die Frau gnädig. Als sie den Raum verlassen hatte, wandte er sich an Ise. „Und?“
„Zu ehrlich“, meinte Ise mit einem Kopfschütteln. Es bedeutete, dass er die Frau nicht für die Mörderin hielt.
„Sehe ich auch so!“, stimmte Marcetti zu. „Und jetzt?“
„Wir verhören die beiden Damen, die verspätet angereist sind. Wahrscheinlich können wir die eh schnell ausschließen und nach Hause schicken. Und dann nehmen wir uns diese Tonja vor.“
„Gute Idee!“ Marcetti rief nach der Polizistin und schickte nach den beiden Damen. Dann wurden sie kurz unterbrochen, als Agente Bolgeri mit einem Dolmetscher auftauchte. „Gott sei Dank!“, stöhnte Marcetti erleichtert. „Das wurde schon richtig zäh!“ Marcetti interessierte sich mehr für die jüngeren Frauen und wies Agente Bolgeri die älteren Semester zu. Vier ältere Damen verschwanden mit dem Ermittler und dem Dolmetscher auf der Terrasse des Anwesens, nachdem Marcetti kurz umrissen hatte, was er wissen wollte. Verunsichert blickte die Polizistin von einem zum anderen und fragte, wo sie denn nun die beiden Damen hinbringen sollte.
Marcetti ging davon aus, dass die Aussagen in diesem Fall schnell vonstatten gehen würden, und winkte ungeduldig. „Bringen Sie die beiden zu mir!“
„Gleichzeitig?“
„Ja!“
Kurze Zeit später saßen die beiden älteren Damen völlig verstört vor den beiden Kommissaren und wechselten verwirrte Blicke.
Marcetti versuchte es zur Abwechslung mit Freundlichkeit. „Keine Sorge. Wir verstehen schon, dass die Situation für Sie furchtbar ist! Bitte beantworten Sie uns einige Fragen, dann können Sie wahrscheinlich abreisen!“
„Oh, wirklich?“ Wahre Erleichterung blitzte in den Gesichtern der Frauen auf. Beide waren schon deutlich nach den Wechseljahren, und Marcetti schloss sie als sexuelle Gespielinnen aus. Der Guru hatte genug Auswahl an jüngeren Frauen.
„Was passiert denn mit unserem Geld?“, erkundigte sich eine Dame, die mit ihrer dürren Gestalt und spitzen Nase eher einer Hexe ähnelte.
Marcetti zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das müssen Sie mit der Veranstalterin klären. Wir ermitteln nur bezüglich des Mordfalls.“
„So ein Verdruss!“, klagte die Dame. „Ich habe all mein Erspartes für den Kurs ausgegeben.“
„Das tut mir leid für Sie“, versicherte Ise. „Sie heißen Traude Hinrichs?“ Er schaute prüfend auf den Ausweis, der vor ihm auf dem Tisch lag.
„Ja!“ Die ältere Dame schniefte theatralisch. „Aus Leer.“
„Eine weite Reise!“, bestätigte Ise. „Und Sie wollten hier eine Woche verbringen?“
„Ja, ich habe mit meiner Freundin den Wochenkurs gebucht. Wir spüren schon lange unsere spirituelle Berufung und wollten hier unsere Ausbildung beginnen.“
„Sie kannten also Herrn und Frau Hämmerlein vorher nicht persönlich?“
„Nein, wir haben Healing Sun erst am Flughafen kennengelernt, als sie uns dort abholte.“
„Ist es nicht ungewöhnlich, so viel Geld für einen Kurs zu bezahlen, ohne dass man die Kursleiter kennt?“
„Aber die Akademie hat die besten Referenzen!“, verteidigte sich Frau Hinrichs. Selbst ein Häuptling der Lakota spricht wohlwollend von der Einrichtung.“
„Ach so, das ist natürlich etwas anderes!“, gab Ise nach.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (ePUB)
- 9783956070402
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (Oktober)
- Schlagworte
- Siena Toskana Schamane Esoterik Schwitzhütte Contrade Commissario Kommissar Toskana-Krimi Palio Spiritualität New Age Plastik-Schamanen Krimi Italien Im Schatten des Palio