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Im Schatten des Palio

Luca Marcettis erster Fall

von Kerstin Groeper (Autor:in) Guiseppe Bruno (Autor:in)
©2017 297 Seiten

Zusammenfassung

Unter der sengenden Mittagssonne Sienas wird ein Mann tot in einem Müllkontainer gefunden. Schnell steht fest: Das Opfer ist ein deutscher Politiker. In die Toskana ist er gereist, um als Mitglied einer Delegation zu verhandeln. Aber irgendetwas unterscheidet den Toten von den Parlamentariern. Zurückgezogen wohnt er in einem schäbigen Ferienhaus am Rande der Stadt. Die Festplatte seines Computers wurde gelöscht. Und winzige Blutspritzer an einer Wand stammen von einer unbekannten Person. Commissario Luca Marcetti entdeckt immer neue Ungereimtheiten, die es zu enträtseln gilt. Dabei haben gerade die Festtage um den Palio, dem gefährlichen Pferderennen Sienas, begonnen, das Marcetti heilig ist. Seine Ermittlungen geraten ins Stocken und es zeichnet sich bald ab, dass viel mehr hinter dem Mord steckt, als er vermutet hatte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Siena, die wunderschöne Stadt im Herzen der Toskana, ist der Schauplatz des berühmten Pferderennens, das zweimal im Jahr – am 2. Juli und 16. August – von den einzelnen Stadtteilen, genannt Contraden, ausgetragen wird.

Durch Dekret ordnete die Großherzogin der Toskana Violante von Bayern im Jahre 1729 die noch heute bestehenden 17 Contraden. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum sozialen Leben der Stadt. Jede Contrade verfügt über ein Zentrum mit Garten, in dem das ganze Jahr über Treffen und Feiern stattfinden.

Als Angehörigen der Nobile Contrada dell‘Aquila (ebenso wie die Autoren des Buches) gibt es für unseren Protagonisten Commissario Luca Marcetti nichts Wichtigeres, als sich in dieser Zeit um einen Sieg seiner Contrade zu bemühen. Entsprechend genervt ist er auch, als er mit einem Mord konfrontiert wird, bei dem er die Ermittlungen übernehmen muss.

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Luca Marcetti

Luca Marcetti eilte leicht schnaufend die Via di Città hinunter, die im morgendlichen Dunst lag, in diesem mystischen Halbschatten der Häuserschluchten, ehe die Strahlen der Mittagssonne für kurze Zeit das unebene Pflaster der alten Stadt streichelten. Er war noch kurz in seinem Büro gewesen, doch dann hatte ihn die Aufregung übermannt: die Verlosung der Pferde, die an diesem wunderschönen Mittwochmittag unter dem saphirblauen Himmel stattfinden sollte. Der Palio, das berühmte Pferderennen im Herzen von Siena, würde mit dieser Zeremonie seinen Anfang nehmen. Sein Herz schlug höher, als er sich dem zentralen, muschelförmigen Platz in Siena näherte.

Luca Marcetti erreichte den Campo, den weiten Platz, der sich plötzlich im gleißenden Sonnenlicht vor ihm öffnete, und ließ seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, die sich vor dem gotischen Palast der Stadtverwaltung eingefunden hatte. Vor dem roten Gebäude mit den zierlichen weißen Säulen war eine kleine provisorische Bühne aufgebaut worden, auf der an einem langen wackeligen Holztisch und auf ebenso unsichereren Klappstühlen die Capitani saßen. In hitzigen Diskussionen hatten diese Vertreter der einzelnen Stadtteile in mehreren Proberennen die zehn Pferde ausgewählt, die nun jeden der teilnehmenden Stadtteile bei dem Pferderennen repräsentieren sollten. Marcetti konnte vage seinen Capitano erkennen. Er saß ganz links, seinen Kopf erwartungsvoll nach vorn gebeugt, im Mundwinkel eine seiner eindrucksvollen dicken kubanischen Zigarren, auf der er nervös herumkaute. Marcetti konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er seinen Freund bei dieser wichtigen Aufgabe sah.

Mandriani war sein Freund, natürlich hatte er ihn in der Generalversammlung im letzten Herbst zum Capitano gewählt, aber eher, weil zu dem Zeitpunkt niemand sonst zur Verfügung gestanden hatte, der qualifiziert gewesen wäre. Mandriani war beliebt, verstand es, die gespaltenen Lager in seinem Stadtteil wieder zu vereinen, außerdem hatte er als Arzt und Gerichtsmediziner viele Kontakte nach außen. Das war ein immenser Vorteil, denn nur durch geschicktes Manipulieren, durch geheime Kontakte und Absprachen mit anderen Contraden war ein Sieg bei dem Pferderennen inmitten von Siena überhaupt möglich. Marcetti wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn und spitzte erwartungsvoll den Mund, als sein prüfender Blick über den Platz glitt. Seitlich neben der Bühne standen in einer Reihe die Pferde in provisorischen Boxen, die nacheinander wie in einer Lotterie verlost wurden. Weiße Nummern an den Flanken verhinderten, dass die edlen Tiere vertauscht oder heimlich ausgewechselt wurden. Nervös schlugen die Pferde mit ihren Schweifen, ließen sich von der Aufregung der vorbeidrängenden Menschen anstecken.

Ein eigenartiges Fieber lag über der Stadt, ein nervöses Pulsieren, das sogar die Touristen ansteckte, die wie jedes Jahr zu dem Palio nach Siena strömten. Luca Marcetti dagegen waren die Touristen völlig gleichgültig. Der Palio war keine Touristenattraktion, es war seit Jahrhunderten ein Wettkampf der einzelnen Contraden um Ehre und Sieg. Unhöflich bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die sich vor der Bühne drängte. Er wollte noch näher am Geschehen sein, denn in dem Lärm der grölenden Menge war kaum etwas zu verstehen. Er erreichte den Ort, an dem sich die Mitglieder seiner Contrade versammelt hatten, erkennbar an den gelben Schals mit dem Symbol des doppelköpfigen Adlers, den alle sichtbar über die Schultern drapiert hatten. Aufgeregt machten ihm die Menschen Platz, ließen ihm automatisch den Vortritt oder schlugen ihm wohlwollend auf die Schultern: „Ah, ciao, Luca!“

Luca Marcetti war eine wichtige Persönlichkeit in Siena. Seit Generationen gehörte er dem Hochadel der Toskana an, aber noch wichtiger, zur Prominenz der Nobile Contrada dell’Aquila. Stolz flatterte das gelbe Fazzoletto, der Schal mit dem schwarzen Adler auf seiner Schulter, alt und ausgeblichen, ein Zeichen davon, wie oft er schon von seinem Besitzer getragen worden war. Aber auch Luca Marcetti selbst war eine eindrucksvolle Erscheinung. Groß und stattlich, denn er liebte gutes Essen; dunkle Locken, bereits hier und da mit einem silbernen Schimmer, der ihm mit seinen achtunddreißig Jahren durchaus Eleganz verlieh; und dazu ein sorgfältig gestutzter Vollbart. Der Knopf seines weißen Hemdes spannte sich gefährlich über seinem Bauch, bereit jederzeit abzuspringen und in einem Gully zu verschwinden. Es waren die typischen fünf Kilo zu viel, die er mit ein wenig Disziplin in vier Wochen wieder heruntertrainiert könnte, wenn ihm sein anstrengender Job die Zeit dafür ließ. In seinem Gesicht dominierte eine lange Nase, ganz nach etruskischem Profil, und um seine ausdrucksvollen braunen Augen hatten sich freundliche Lachfältchen gebildet. Er hatte ein lautes, tiefes, ansteckendes Lachen, das zu seiner ausladenden Gestik passte. Wenn er irgendwohin kam, zog er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war der geborene Adelige oder Herrscher; seine Vorfahren waren Grafen, Ritter und Söldner gewesen und hatten bei allen Schlachten in vorderster Linie gekämpft. Immer noch steckte diese angeborene Präsenz in ihm, diese Aura von Größe, die einen natürlichen Anführer ausmachte. Tatsächlich war Luca Marcetti Hauptkommissar, Commissario Capo der Squadra Mobile, sehr zum Ärgernis seines Vaters, der eine Karriere in einer angesehenen Bank für ihn vorgesehen hatte. Aber da hätte er sicher nicht diesen Luxus, sein Büro während der Dienstzeit verlassen zu können, um sich um seine Contrade zu kümmern.

Er war eindeutig eine Autorität, obwohl man das seiner legeren Kleidung nicht gleich ansah. Trotzdem war sein Sommer-Outfit modisch gewählt: kurze, elegante Hose, weißes Hemd, bequeme Sandalen. Jetzt hüpfte er vor Aufregung wie ein kleiner Junge, weil das nächste Pferd genannt wurde: „Numero 26, Zilata Usa!“

Die Stimmung erreichte ihren Siedepunkt, und kurz wurde es still, als das nächste Papier auseinandergefaltet wurde: „Aquila!“

Der Rest ging im tosenden Jubel der Contradaioli von Aquila unter, die zum roten Rathaus mit dem berühmten Turm drängten, um „ihr“ Pferd in Empfang zu nehmen. Die sechsundneunzig Stunden des Palio hatten begonnen!

Der Barbaresco, der Pferdepfleger der Contrade, nahm den Schimmel am Zügel und versuchte ihn vor den begeisterten Menschen in Sicherheit zu bringen. „Sch, sch!“, versuchte er sein Glück, denn von jetzt an musste alles unternommen werden, damit das Pferd sich nicht verletzte. Einige besonnene Männer, unter ihnen Luca, bildeten einen schützenden Ring um das nervöse Pferd und geleiteten es von dem mit Menschen überfluteten Platz. Johlend folgten ihnen die zahlreichen Anhänger der Contrade, sangen bereits die ersten Spottlieder gegen den „Feind“. Mit erhobenen Fäusten folgte die Hymne der Contrade, die mit einem laut gebrüllten „A-A-Aquile“ endete. Singend verließ der Tross den Platz, ließ einige kopfschüttelnde Touristen hinter sich zurück, die nicht verstanden, was hier vorging.

Eilig drängte sich der Pferdepfleger mit dem Tier die enge Straße hoch, die im Halbschatten der schlammfarbenen Häuserschluchten lag. In Siena war eigentlich alles wie getrockneter Schlamm. Von schlammrosa über schlammgelb bis schlammgrau. Selbst die gebogenen, oft verwitterten Dachziegel zeigten ein warmes Schlammorange. Aber diese gedämpften Farben passten zu den grünen Pinien, den silbergrauen Olivenhainen und dem erdigen Geschmack des Weins.

Der Barbaresco versuchte das tänzelnde Pferd zu beruhigen, das durch den Lärm irritiert den Kopf hoch warf. Auch der Capitano hatte sich inzwischen dem Zug angeschlossen und hob begütigend die Hände, um den Gesang zu dämpfen. Sein grauer Anzug war eine Spur zu groß, so, als versuchte er, durch die Kleidung die Wichtigkeit seiner Position zu unterstreichen. „Jetzt seid doch mal leise!“, bat er seine Anhänger mit tiefer Stimme. Seine Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt, und er warf eine Locke seines silbrigen Haars nach hinten. Mehrere kräftig gebaute Männer drängten die begeisterten Menschen einige Meter zurück und gaben dem Pferd mehr Platz, sodass es sich beruhigen konnte. Diszipliniert reihten sich die anderen Contradaioli dahinter ein, gingen nun ordentlich hinter dem Pferd her, ihr Gesang um einiges harmonischer. Behutsam führte der Barbaresco das Pferd in Richtung des Stalles, der vor Jahrhunderten gebaut worden war und nur für diesen Zweck benutzt wurde: Zweimal im Jahr, im Juli und August, für das Pferderennen mitten in der Stadt, für das Siena weltweit bekannt war. Viele wussten vielleicht nicht, dass Siena in der Toskana lag, aber den meisten war der Palio zumindest ein ungefährer Begriff.

Luca Marcetti befand sich direkt hinter dem Pferd inmitten der aufgeregt diskutierenden Menschen, als sein Handy klingelte. „Pronto!“, rief er in Hochstimmung.

Eine Stimme redete aufgeregt auf ihn ein, und er verstand kein Wort. Amüsiert bat er um eine Pause: „Aspetti, aspetti!“, dann ließ er sich einige Meter zurückfallen. „Was?“

Wieder erklang die jugendliche Stimme, und er erkannte Pietro Balloni, seinen Assistenten. Ernst redete Balloni auf ihn ein, und Marcettis Stimmung sank auf den Nullpunkt: „Mord?“

„Si, si, si …“, weiter hörte Luca nicht mehr hin. Ein Mord? Jetzt? Jetzt war der Palio! Er hatte keine Zeit für einen Mord! Das ganze Jahr über war nichts los gewesen, und ausgerechnet jetzt? Sie hatten ein gutes Pferd, mit Aussicht auf Sieg. Jetzt mussten Ränke geschmiedet, Verbündete gewonnen und vor allen Dingen die feindlichen Contraden beobachtet werden. Die Contrade! Sie war der Inbegriff seines Lebens und Denkens. Die Nobile Contrada dell’Aquila war eine der siebzehn Contraden, die es in Siena gab. Sie war klein, aber vielleicht gerade deswegen eine in sich verschworene Gemeinschaft. Wie oft hatte er hier als Jugendlicher Zuflucht gefunden, ob bei Liebeskummer, Krach mit den Eltern, Ärger in der Schule. Seine Freunde waren stets für ihn da, auch jetzt noch, wenn er als Commissario auf verschlungene, geheime und diskrete Informationsquellen angewiesen war. Er zahlte es durch seine absolute Loyalität zurück, indem er der Contrade immer zur Verfügung stand. Ein Contradaiolo mit Leib und Seele. Sich jetzt um einen Mord zu kümmern? Mamma mia!

Jetzt musste schnellstens mit einem guten Fantino, wie die Jockeys in Siena genannt wurden, verhandelt werden, und es mussten politische Ränke geschmiedet werden! Marcetti gehörte zu den Vertrauten des Capitano, dem Mann, der während des Palios alles entschied, und auf ihn warteten wichtige Aufgaben. Nur widerwillig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Handy zu: „Was ist passiert?“

Balloni wiederholte geflissentlich seine Worte, denn er kannte seinen Chef und sein Temperament nur zu gut. Kurz und knapp meldete er: „Ein Mann mit eingeschlagenem Schädel, gefunden in einem Müllcontainer, an der Superstrada nach Florenz, Ausfahrt Monteriggioni.“

„An der Superstrada?“, überlegte Marcetti überrascht. Dort gab es keine Müllcontainer.

„Nein, du nimmst die Ausfahrt Monteriggioni, fährst an der Festung vorbei, dann nach ein paar Kilometern kommt die Mülltonne.“

„Ach so! Ist der Tatort schon abgesperrt?“

„Natürlich“, erklärte Balloni in seiner ruhigen Art. „Und die Spurensicherung ist auch schon verständigt.“

„Bene“, knurrte Marcetti. „Was soll ich dann noch dort?“

Ein leises Kichern antwortete ihm: „Du bist der Chef. Es handelt sich um Mord.“

„Ach so! Na schön, ich komme gleich.“

„Ciao“, erklang es am anderen Ende.

Marcetti beeilte sich, die anderen einzuholen, und wandte sich an seinen Capitano: „Mi dispiace! Aber ich muss kurz weg. Ein Mord.“

Ungläubige, ein wenig wässrige Augen, von der aufgeschaukelten Begeisterung der letzten Minuten, schauten ihn entgeistert an. „Jetzt? Jetzt ist Palio! Ich brauche dich hier!“

„Lo so! Das weiß ich doch“, entgegnete Luca unwillig und warf theatralisch die Arme hoch. „Wahrscheinlich ein Tourist.“ Nur ein Tourist konnte die Frechheit besitzen, sich während des Palios umbringen zu lassen.

Ohne besondere Eile schritt Marcetti zu der Questura, dem Polizeipräsidium von Siena. Ein gelber Palast, mit grünen Fensterläden, der durch einen Bogengang im ersten Stock mit der gegenüberliegenden Präfektur, dem Amtssitz der Provinzregierung, verbunden war. Sein Blick fiel schuldbewusst an seiner legeren Kleidung herunter, aber ihm blieb keine Zeit, sich umzuziehen. In Sandalen unterwegs zu einem Mordfall! Madre mia! Er fürchtete den vorwurfsvollen Blick seines Assistenten, den er natürlich geflissentlich übersehen würde. Warum musste ausgerechnet heute ein Mord geschehen? Marcettis Auto stand in einer kleinen Seitenstraße auf einem der wenigen freien Parkplätze. Es hatte schon seine Vorteile, Commissario zu sein: Während die Stadt für den Verkehr gesperrt war, konnte er ungehindert überall hin – und noch besser: Er konnte überall parken. Respektlos kurvte er seinen roten Alfa Romeo GTV, schon ein Oldtimer, durch die engen Straßen, hupte manchmal, um eine der Vespas aus dem Weg zu scheuchen, die wie Libellen durch die engen Straßenzüge schwirrten, die Fahrer natürlich vorschriftswidrig ohne Sturzhelm. Er fuhr die enge Via di San Marco hinunter, an den winzigen Läden entlang, die sich überall im Erdgeschoss der Häuser verbargen. Leise bewegten sich die Fliegenvorhänge an den Eingangstüren, als er mit erhöhter Geschwindigkeit an ihnen vorbei donnerte, und kurz wehte eine leichte Brise aus Benzin- und Ölgeruch durch die Geschäfte. Das Dröhnen seines Motors hallte noch durch die Straßenzüge, als Luca bereits die Stadt über die Porta San Marco, eines der vielen vollständig erhaltenen Stadttore der Stadt, welche die uralte Ziegelmauer der Stadtfestung unterbrachen, verlassen hatte. Im Nu befand er sich auf der zweispurigen Superstrada nach Florenz. Er beschleunigte auf einhundertfünfzig Stundenkilometer und ignorierte wie immer die Geschwindigkeitsbegrenzung von neunzig. Aber wer sollte ihn auch aufhalten? Er würde einfach seinen Dienstausweis ziehen, und die Sache wäre geregelt.

Der Wagen holperte monoton über die Teerschwellen der Autobahn, und er ließ lässig seinen Arm aus dem offenen Fenster hängen, während der Wind seine Locken zerzauste. Seine Gedanken waren eindeutig nicht auf den Mordfall gerichtet. Stattdessen spekulierte er über die Chancen, die sie mit dem Pferd hatten. Zilata Usa! Kein schlechtes Los! Jetzt musste Mandriani beweisen, wie viel strategisches Geschick er besaß, auch wenn Marcetti ein wenig Zweifel daran hatte. Sein Freund kannte eine Menge Leute, aber er war neu als Capitano und verfügte vielleicht noch nicht über alle Kontakte, die er für diese Position brauchte. Genau hier würde Mandriani Unterstützung brauchen, politisches Kalkül, etwas, das Marcetti in die Wiege gelegt worden war. Aber wie sollte er sich um die Contrade kümmern, wenn er durch einen Mordfall aufgehalten wurde? Hoffentlich konnte er die Angelegenheit schnell klären.

Nach einigen Minuten erreichte Luca die Ausfahrt von Monteriggioni, eine vollständig erhaltene Festung aus dem Mittelalter, die trutzig auf einem Hügel stand und den Weg nach Siena überwachte. In regelmäßigen Abständen erhoben sich die Wachtürme über die eindrucksvolle Festungsmauer aus weißem Gestein, und mit ein bisschen Fantasie konnte man sich noch die Ritter und Soldaten vorstellen, die hier einst gekämpft hatten.

Nach einer langen Kurve wurde Luca von einem uniformierten Polizisten eingewiesen, der offensichtlich sein rotes Auto kannte und auf seine Ankunft gewartet hatte. Marcetti verzog erfreut die Mundwinkel. Balloni leistete wie immer gute Arbeit, und hatte die Polizia Stradale bereits über ihn aufgeklärt. Umsichtig parkte Marcetti sein Auto neben einigen verdorrten Ginsterbüschen und stieg aus. Eilig kam Balloni auf ihn zu, sein abgegriffenes braunes Notizbuch hatte er aufgeschlagen in der Hand. Seine runde Brille mit silberner Fassung rutschte fast von seiner schmalen Nase, als er über das Gestell hinweg seinem Chef zunickte. Sein Blick blieb konsterniert an dem sommerlichen Aufzug des Commissarios kleben, sein ganzes Gesicht war ein unausgesprochener Vorwurf. Inspektor Balloni wirkte neben seinem Chef geradezu bescheiden. Klein, zierlich, mit abstehenden Ohren, die alles zu hören schienen, und einem spitzen Gesicht. Seine schwarzen, kurz geschnittenen Haare waren wie bei einem kleinen Jungen nach vorn gekämmt, und so sah er wie ein Lausbub aus – oder eher: wie ein sizilianischer Lausbub. Balloni war ein südländischer Typ. Er wirkte auf den ersten Blick, als könnte er nicht bis drei zählen, aber seine blitzenden blauen Augen belehrten jeden eines Besseren. Sein Alter lag zwischen siebzehn und siebenundzwanzig und war einfach nicht zu schätzen. Laut Geburtsurkunde war er achtundzwanzig, falls diese nicht gefälscht war. Marcetti hatte ihn zu seinem Mitarbeiter ernannt, weil er dessen Arbeit schätzte. Balloni war gewissenhaft, fleißig und vor allen Dingen loyal. Durch ihn konnte sich Marcetti die eine oder andere Extravaganz erlauben. Allerdings schien er mit seinen Sandalen eine gewisse Grenze überschritten zu haben.

Marcetti überging gekonnt die Reaktion seines Mitarbeiters und musterte den Ort beziehungsweise die sandige Parkbucht, auf der ein normaler grüner Müllcontainer, mit eingedrückten Dellen und Schmutzflecken, flimmernd in der heißen Sonne stand. Die Straße war mit jungen Platanen gesäumt, die bereits die Blätter hängen ließen – ein Zeichen, dass es länger nicht mehr geregnet hatte. Auf der anderen Straßenseite lagen hinter einem hohen geschmiedeten Zaun einige verlassene Fabrikhallen. Sie trugen die typischen Zeichen von Vandalismus: eingeworfene Fenster, beschmierte Wände und zertrümmerte Türen. Auf den gekiesten Wegen wuchs Unkraut, und einige Fässer rosteten vor sich hin. Ansonsten war hier weit und breit nichts.

Freundlich begrüßte Marcetti erst einmal zwei Männer von der Polizei und tauschte Informationen über den bevorstehenden Palio aus. Dann erinnerte er sich an seinen eigentlichen Auftrag und nickte Balloni zu. Eifrig redete sein Partner auf ihn ein: „Also, eine Hausfrau hat die Leiche vor etwa einer Stunde in dem Müllcontainer gefunden. Sie heißt …“

„Unwichtig!“, wehrte Marcetti ungeduldig ab, denn ihm war klar, dass diese Frau sonst keine Informationen geben konnte. Er ging davon aus, dass die Polizei ein umfangreiches, nichtsdestotrotz nichts sagendes Protokoll abliefern würde. Im Moment hatte er keine Lust, sich mit einer hysterischen Hausfrau zu unterhalten. Das konnte er noch später oder in den nächsten Tagen oder … „Weiter!“ Er machte eine wedelnde Bewegung mit seiner Hand, als blätterte er in dem Notizbuch seines Assistenten.

„Sie hat sofort die Polizei verständigt, und die sind so gegen elf Uhr zwanzig hier eingetroffen. Sie haben erst die Spurensicherung verständigt. Das sind die zwei dort drüben.“ Balloni deutete auf zwei Männer in weißen Overalls, die bereits eifrig am Boden knieten.

„Ah, sehr gut! Ist der Staatsanwalt schon unterwegs?“ Ohne den Staatsanwalt konnte in einem Mordfall nicht ermittelt werden. Erst musste der Staatsanwalt sich ein Bild von dem Vorfall machen.

„Ja, er müsste gleich hier sein. Die Procura schickt Signore Brandesa.“

Marcetti unterdrückte ein unwilliges Schnauben, als er an den eleganten Staatsanwalt dachte, den er für einen aalglatten Typen hielt. Andererseits waren alle Staatsanwälte, die er kannte, aalglatt. Das gehörte offensichtlich zu ihrem Image. Interessiert nickte er in Richtung der Mülltonne. „Habt ihr schon etwas gefunden?“

„Nein, wir wollten erst so viele Spuren wie möglich sichern, ehe wir etwas anrühren.“

„Meinst du, dass sie hier überhaupt welche finden werden?“

Balloni zuckte mit den Schultern. „Der Müllcontainer steht auf unbefestigtem Boden. Vielleicht finden wir noch Reifenspuren.“

Stirnrunzelnd blickte Luca Marcetti auf den sandigen Boden. „Ziemlich viele Reifenabdrücke.“

„Stimmt“

„Gibt es sonst noch etwas?“

Balloni nickte eifrig, als er wichtig in sein Notizbuch blickte. „Der Müll ist Dienstag geleert worden, also gestern, daher kann die Leiche noch nicht so lange dort deponiert worden sein. Wir nehmen auf jeden Fall Fingerabdrücke von den Griffen.“

„Da werden Tausende sein! Ich glaube kaum, dass jemand seine Fingerabdrücke hier hinterlässt, wenn er eine Leiche verschwinden lässt.“

Wieder zuckte Balloni nur mit den Schultern. Diese Dinge gehörten zur normalen Polizeiarbeit, Fingerabdrücke auszuwählen oder auszuschließen war später Sache des Commissarios oder des Staatsanwalts.

„Haben sich irgendwelche Zeugen gemeldet?“

„Noch nicht, aber wir werden die Leute in der nächsten Ortschaft befragen.“

„Gut!“

Ein weiteres Fahrzeug näherte sich, und langsam wurde es eng um den Tatort. Ein schneidig gekleideter, in seinem dunklen anthrazitfarbenen Anzug ziemlich arrogant wirkender Mann mit dunkler Sonnenbrille stieg aus und näherte sich Marcetti. Er blickte indigniert auf seine schmalen schwarzen Schuhe, die nun leicht staubig wurden. „Was ist hier los?“, fragte er ohne Umschweife, machte sich noch nicht einmal die Mühe, die Brille abzunehmen.

„Buongiorno“ Der Commissario schüttelte ihm höflich die Hand und erinnerte sein Gegenüber auf unangenehme Weise an gewisse gesellschaftliche Gepflogenheiten.

„Buongiorno“, wiederholte der Staatsanwalt eine Spur freundlicher und schob die Brille auf die perfekt geschnittenen, glatten, leicht mit Gel gestylten Haare. Marcetti seufzte, als ihm klar wurde, dass er in diesem Fall mit dem Kerl zusammenarbeiten würde. Es graute ihm davor.

„Ein Mann liegt hier tot in der Mülltonne. Sehr appetitlich!“ Er wies undeutlich in Richtung des Fundortes.

Auch der Staatsanwalt wand sich sichtlich und schnaubte angewidert durch die Nase. „Haben Sie schon irgendwelche Informationen?“

„Nein, wir sichern die Spuren und haben ansonsten auf ihre Ankunft gewartet. Können wir die Leiche jetzt bergen?“

Der Staatsanwalt trat unschlüssig näher. „Sind die beiden von der Spurensicherung fertig?“

„Ja, ja, hier gibt’s nicht viel. Wir nehmen nur noch einige Reifenabdrücke. Wenn Sie also ein wenig vorsichtig sind …“

„Ja, kein Problem. Wir lassen den Tatort noch eine Weile gesperrt, damit ihr in Ruhe arbeiten könnt.“

„Danke!“

„Soll ich den Leichenwagen rufen?“, fragte Balloni eifrig und erntete einen eher spöttischen Blick seines Vorgesetzten.

„Na sicher!“

Die Polizisten winkten einige Fahrzeuge weiter, die extrem langsam an dem Tatort vorbeifuhren. Neugierige Augen hinter getönten Scheiben versuchten einen Blick darauf zu erhaschen, was hier vorgefallen war. Schließlich traten zwei uniformierte Männer an den Müllcontainer heran und öffneten den Deckel. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem sommerlich gekleideten Commissario. Schneidige graue Uniformhosen, steife dunkelblaue Hemden und schwarz polierte Stiefel. Sie schwitzten unter der unbequemen Kleidung und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Professionell zogen sie sich Plastikhandschuhe über, dann beugten sie sich über den Container. Fliegen summten um sie herum, und ein penetranter Geruch stieg auf. „Uhh!“, stöhnte Marcetti angeekelt und ging einen Schritt zurück.

Die Leiche lehnte halb sitzend, in eine braune Decke eingewickelt, an der Wand, denn der Container war nicht lang genug gewesen, um sie liegend aufzunehmen. Das war ein Glück, denn sonst wäre die Leiche wahrscheinlich nie gefunden worden. Die Hausfrauen hätten ihren Müll auf den Toten geworfen, und er wäre für alle Zeiten verschwunden gewesen. Umsichtig legten die Männer von der Spurensicherung eine graue Plane auf den Boden, damit die Leiche nicht in den Staub plumpste.

Mit einem Ruck zog ein Polizist den Körper hoch, dann griff der andere nach den Beinen des Toten. Wenig rücksichtsvoll zogen sie die Leiche aus dem Container, bis sie schließlich auf die Plane fiel. Eine klaffende Wunde am Hinterkopf zeugte von der Todesursache. Die blonden Haare waren verklebt vom getrockneten Blut, und Schmeißfliegen flogen aufgeschreckt herum. Vorsichtig schlugen die Männer die Decke auf, ob vielleicht noch andere Verletzungen zu sehen waren, aber die Leiche schien sonst unversehrt. Ein Mann, vielleicht Mitte vierzig, kräftig gebaut, aber schlank. Erstaunlich war nur seine Kleidung: eine offene Jeans, so als wollte der Mann gerade zur Toilette gehen, ein kariertes Baumwollhemd und schwarze Reitstiefel – das alles war für diese Jahreszeit sicherlich ungewöhnlich. Die Augen des Toten waren zum Glück geschlossen. Marcetti hasste es nämlich, in erstarrte Augen zu blicken. Mit spitzen Fingern zog ein Polizist der Spurensicherung den schmalen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche des Toten. Vorsichtig öffnete der Mann den Geldbeutel aus schwarzem Leder und zeigte erstaunt auf die grünen Geldscheine, die deutlich zu sehen waren.

„Raubmord können wir ausschließen“, meinte Marcetti nüchtern.

„Sonst noch etwas?“

Der Polizist blätterte durch den Geldbeutel, was mit den Plastikhandschuhen nicht ganz einfach war. Dann zog er hinter einigen Kreditkarten einen Ausweis heraus.

„Wie praktisch“, murmelte Luca Marcetti und nahm den Ausweis in die Hand. „Florian Bauer. Ein Deutscher.“ Wie er befürchtet hatte. Nur ein Tourist würde sich während des Palios umbringen lassen.

Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Nase und gab den Ausweis an den Staatsanwalt weiter. „Sehr merkwürdig“, meinte dieser. In der Regel versuchte man die Identität einer Leiche zu verbergen und stattete sie nicht mit einem Ausweis aus. Mit einem Kopfschütteln gab er den Ausweis an Marcetti zurück: „Wir müssen das deutsche Konsulat in Rom verständigen, damit die Angehörigen benachrichtigt werden können.“

Marcetti nickte nur und blickte sinnend auf den deutschen Ausweis. Diese kleine grüne Plastikkarte bedeutete eine Menge Ärger. Das konnte er förmlich riechen.

Der Staatsanwalt wandte sich an die umstehenden Männer: „Va bene! Die Leiche geht in die Gerichtsmedizin. Ich will Todesursache und Zeitpunkt des Todes. Ich will alle Zeugenaussagen der Anwohner, ob sie irgendetwas gehört oder gesehen haben. Sämtliche Informationen landen unverzüglich bei dem Commissario. Ist das klar?“ Ein kurzes Nicken antwortete ihm, und im gleichen Tonfall wandte er sich an Marcetti: „Sie sammeln die Informationen und halten mich auf dem Laufenden. Die Deutschen wollen sicher einige Antworten.“ Gemeinsam mit dem Commissario schlenderte er zurück zu seinem Auto. „Was sind Ihre nächsten Schritte?“

„Ich lasse die Hotels überprüfen, vielleicht finde ich dort einen Hinweis“, schlug Marcetti vor.

„Das ist naheliegend“, stimmte der Staatsanwalt zu. „Und sonst?“

Marcetti hatte keine Ahnung. Die üblichen Methoden, wie Freunde und Bekanntenkreis abklopfen, eventuell Ehefrau oder Freundin befragen, den Arbeitgeber aufsuchen, waren hier nicht wirksam. Es würde schwierig werden, überhaupt irgendwelche Anhaltspunkte zu finden. Vielleicht ein Leihwagen? „Ich werde erst mal ermitteln, ob der Deutsche allein oder in Begleitung hier war und ob er beruflich oder privat unterwegs war. Vielleicht stoße ich dabei auf etwas Interessantes. Vielleicht liegt ja schon eine Vermisstenanzeige vor?!“

„Gute Idee“, murmelte der Staatsanwalt. „Halten Sie mich auf dem Laufenden.“

„Selbstverständlich, Dottore!“, beruhigte Marcetti den Staatsanwalt.

Schweigend beobachteten die beiden die Arbeit der Polizei, dann gingen sie einige Schritte zur Seite, als der silberfarbene Leichenwagen vorfuhr.

Balloni eilte geschäftig herbei und wies den Fahrer in seinem grauen Anzug ein. Die Leiche wurde mitsamt der Decke vorsichtig in einen länglichen metallfarbenen Behälter gelegt und dann in die Ladezone des Autos geschoben. Gesprächsfetzen drangen zu Marcetti hinüber, Spekulationen, wie der Mann wohl ermordet worden war. Der Staatsanwalt schaltete sich ein, gab dem Fahrer noch ein paar Anweisungen, dann wandte er sich wieder an Marcetti: „Der Gerichtsmediziner wird sich unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen. Aber geben Sie mir auch Bescheid. Hier ist meine Handynummer.“

„Si, Dottore!“, murmelte Marcetti und steckte die Visitenkarte des Staatsanwalts sorgsam in seinen eigenen ledernen Geldbeutel.

Signore Brandesa stieg zufrieden in sein Auto. Im Gegensatz zu Marcetti, der Staatsanwälte als lästiges Übel empfand, mochte Brandesa den Commissario, obwohl er sich Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. Aber Marcetti hatte auf seine unkonventionelle Art Erfolg, und das ließ auch ihn gut aussehen.

Marcetti verabschiedete sich förmlich und ging missmutig zu seinem Alfa Romeo. Balloni folgte ihm und hielt ihm die Tür auf. „So ein Mist!“, schimpfte Marcetti. „Ausgerechnet ein Deutscher!“ Er befürchtete weitere Komplikationen, die er im Moment überhaupt nicht brauchen konnte. Wie sollte er sich da um seine Contrade kümmern? Pietro Balloni erriet die Hintergedanken seines Chefs. Er selbst kam aus Grossetto und hatte wenig Einfühlungsvermögen für die Begeisterung der Seneser für ihr Palio. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie eine ganze Stadt zweimal im Jahr dem kollektiven Wahnsinn verfiel. „Und jetzt?“, fragte er höflich.

Marcetti drückte ihm den Ausweis des Toten in die Hand. „Hier, überprüf die Meldungen der Hotels. Irgendwo muss er schließlich gewohnt haben. Ah, ja! Ruf das Konsulat an und check die Vermisstenanzeigen. Ich muss schnell noch etwas anderes erledigen“, meinte Marcetti.

Balloni seufzte und verdrehte empört die Augen. So, wie er das sah, würde er den Fall alleine lösen müssen. Zumindest bis der Palio vorbei war. Energisch schob er seine Brille zurück, als er dem Auto nachsah, das in einer Staubwolke Richtung Siena verschwand. Insgeheim genoss er die Verantwortung, die Luca Marcetti ihm überließ. Sie waren ein Team, gleichberechtigte Partner, und Marcetti gab ihm nie das Gefühl, dass er der Vorgesetzte war. Er lächelte in sich hinein, denn in den nächsten drei Tagen wäre er der Chef. Erst danach würde sein Marcetti wieder ansprechbar sein. Seine Aufgabe bestand nun darin Dottore di Sabato, Leiter der Questura, zu verheimlichen, dass Luca etwas ganz anderes im Kopf hatte, obwohl er es sicherlich ahnen würde. Die meisten Mitarbeiter kamen zum Glück aus anderen Gegenden, sonst wäre die Mordabteilung in Siena über Wochen hinweg nicht einsatzfähig. Dottore di Sabato sah über diese Unzulänglichkeiten bei Luca Marcetti großzügig hinweg, denn es hatte auch Vorteile, einen Angehörigen einer Contrade im Team zu haben. Das verkürzte Behördengänge und machte Informationen zugänglich, die sonst überhaupt nicht zu ermitteln wären. Siena war eine geschlossene, in sich verschworene Stadt. Das hatte auch ein Kollege aus Mailand feststellen müssen, der gegen Siena wegen Bestechung im Fußball ermittelt hatte. Gerüchten zufolge hatte eine Menge Geld den Besitzer gewechselt, damit der Fußballclub von Siena weiterhin in der Serie A spielen konnte. Selbstverständlich konnte niemandem etwas nachgewiesen werden, und der Ermittler war unverrichteter Dinge abgezogen. Ganz Siena hatte darüber gelacht: In einer Stadt, in der seit Jahrhunderten das „Arrangiare“ beim Palio fester Bestandteil der Kultur war und in der Geheimabsprachen mit zum Spiel gehörten, war Bestechung eine hohe Kunst und kein Verbrechen. Niemand hätte sich gewundert, wenn tatsächlich bestochen worden wäre, alle hätten nur gestaunt, wenn sich jemand dabei hätte erwischen lassen. So hatte die Stadt einen Triumph mehr, und der AC Siena war in der Serie A geblieben.

Luca Marcetti parkte seinen knatternden Alfa Romeo wieder vor dem Dom und bemerkte nebenbei, dass der Auspuff erneuert gehörte. Das war der Nachteil mit diesem Oldtimer: Die Reparaturen kosteten ihn ein Vermögen. Aber der Wagen hatte Klasse und passte zu dem Image des Junggesellen, das er eifersüchtig hegte. Immer wenn eine Beziehung zu eng wurde und die Angebetete plötzlich nach Namen für die zukünftigen gemeinsamen Kinder suchte, suchte er stattdessen das Weite. Eine Scheidung und ein sechzehnjähriger Sohn reichten ihm.

Warum wollten alle Frauen immer gleich heiraten? Mit seinen achtunddreißig Jahren fühlte er sich zu jung für diese Verpflichtung. Noch einmal wollte er sich nicht an die Kette legen lassen. Er hatte eine gute Beziehung zu seinem Sohn, eine eher schlechte zu seiner Exfrau, zahlte pünktlich den Unterhalt für die beiden, und das war genug. Nur ungern erinnerte er sich an ihr ständiges Nörgeln, an die ewigen Forderungen ihrer Eltern. „Unsere Tochter hat etwas Besseres verdient. Warum arbeitest du nicht bei deinem Vater in der Bank? Nie bist du zu Hause. Polizist ist doch kein anständiger Beruf.“ Nun hatte seine Exfrau etwas Besseres. Nämlich nichts! Vielleicht eignete sich sein Beruf wirklich nicht für eine Ehe? Mag sein. Aber er liebte seine Arbeit und wollte sich nicht noch einmal von einem nörgelnden Weib oder ehrgeizigen Schwiegereltern einengen lassen.

Im Dauerlauf erreichte er die Questura und nickte dem Polizisten, der an dem winzigen verglasten Empfangsschalter über einigen Überwachungsmonitoren schwitzte, freundlich zu. Dann öffnete er die mit Glas eingefasste Tür zum Treppenhaus und hechtete in den ersten Stock. Die Wände der Flure waren in freundlichem Gelb gestrichen, und die Räumlichkeiten der Büros waren zweckmäßig und modern eingerichtet. Helle Schreibtische, ergonomische Drehstühle und silberne Aluminiumregale dominierten die Ausstattung. Sein Büro dagegen war ein einziges Sammelsurium aus Papier und Aktenbergen. Die meiste Zeit verbrachte er hier und wühlte sich durch Stöße von Papier. Über die Abwechslung im Moment war er eigentlich ganz froh. Nachlässig machte er einige Notizen, überhörte dabei geflissentlich das Telefon, das gleichmäßig vor sich hin summte, dann war er wieder auf dem Weg nach draußen.

„Dottore Marcetti!“, hörte er die sonore, aber bestimmte Stimme seines Vorgesetzten. Eine freundliche Erscheinung mit sanften braunen Augen, dunkelbraunen Haaren, einer hohen Stirn und stets im gepflegten hellen Anzug.

Marcetti zuckte merklich zusammen, dann drehte er sich langsam um. „Si?“

„Haben Sie das Telefon nicht gehört?“

Uh! Sein Chef liebte es überhaupt nicht, wenn er den Gang entlanglaufen musste, um nach seinen Mitarbeitern zu sehen. „Äh, doch, aber …“, versuchte sich Marcetti herauszureden.

„Gibt es schon Neuigkeiten über den Toten?“

„Ah, aber ja!“ Marcettis Brust schwoll an vor Stolz, als er die ersten Ermittlungsergebnisse aufzählte: „Ein Deutscher! Den Namen und die Adresse haben wir schon. Florian Bauer.“

Angenehm überrascht blinzelte der Dottore. „Das ging aber schnell! Haben Sie das deutsche Konsulat verständigt?“

„Äh, ja“, stotterte Luca verlegen, „das wollte ich gerade tun.“

„Gut! Was sind Ihre nächsten Schritte?“, fragte der vollendete Gentleman und stemmte dabei geschäftig die Hände in die Hüften.

„Nun, wir ermitteln erst mal den Aufenthaltsort des Opfers. Die Hotels oder so. Wir gehen nicht davon aus, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort ist. Vielleicht finden wir in dem Hotel einen Hinweis. Die Leiche ist auf dem Weg zur Gerichtsmedizin, um den genauen Todeszeitpunkt festzustellen.“

„Sehr gut! Sie halten mich bitte auf dem Laufenden“, mahnte der Dottore freundlich. Seine Stirn legte sich in einige besorgte Falten, als Marcetti verdächtig eilig durch die beige gestrichene Tür verschwand.

Marcetti blinzelte, als das gleißende Sonnenlicht ihn blendete, dann sauste er im Dauerlauf zu dem Treffpunkt seiner Contrade. Die Questura lag direkt zu Füßen des riesigen Doms, der auf dem höchsten Hügel die Stadt überragte. Er war aus schwarzem und weißem Marmor gebaut und erinnerte Marcetti an einen Sträfling in seiner Gefängniskluft, wie in einem Dick-und-Doof-Film, mit Stan Laurel und Oliver Hardy. Aber wahrscheinlich kam ihm dieser Vergleich nur, weil er Polizist war.

Der Stadtteil von Aquila grenzte direkt an den Dom; so musste Marcetti nur eine Seitenstraße entlang sausen, und schon war er inmitten des Geschehens. Eine der wenigen Möglichkeiten, in denen Arbeit und Freizeit so dicht nebeneinander lagen. Die Costa Larga, die kurze steile Straße, die an dem Stall vorbeiführte und in der man bereits nach wenigen Metern ins Schnaufen geriet, als wollte man einen Gipfel erstürmen, war bereits für den Verkehr gesperrt worden. Eifrige junge Männer schützten das Pferd nun vor eventuellen Übergriffen, hielten abwechselnd Wache, stolz auf diese ehrenvolle Aufgabe. Mehrfach war es vorgekommen, dass ein Pferd von einer verfeindeten Contrade verletzt oder vergiftet worden war. Und das Tückische daran war, dass der Feind meist nebenan hauste. Wie sonst könnte wohl eine seit Jahrzehnten andauernde Feindschaft entstehen?!

Der Staatsfeind von Aquila war Pantera, der Panther, dessen Gebiet gleich hinter dem Brunnen von Aquila begann. Es war ein ständiger Ort des Konfliktes. Jetzt hatten sich an der unsichtbaren Grenze dieser beiden Stadtviertel einige Jugendliche versammelt, die mit erhobenen Fäusten den Feind herausforderten:

E abbasso stallo riggi

san quircio e due porte

sono tutte gatte morte

sono tutte gatte morte

fanno schifo alla citta!

Frei übersetzt hieß das ungefähr:

„Hinter den Straßen Stalloreggi und San Quirico und dem Platz Due Porte, da sind die toten Katzen und verpesten mit ihrem Gestank die ganze Stadt!“

In vorderster Linie brüllte ein vierschrötiger junger Mann mit knallrotem Kopf, der kaum noch zu bändigen war: Mirco – allen als Dampfhammer bekannt. Die Wand aus gelben Poloshirts, die Statussymbole der Contradaioli, und gelben Fazzoletti, die wie Fahnen in die Schlacht getragen wurden, wog in Hetzattacken vor und zurück. Auf der anderen Seite marschierten ebenfalls Jugendliche auf, jederzeit bereit, eine Invasion ihres Gebiets zu verhindern. Unauffällig standen da auch einige Mannschaftswagen der Polizia Municipale. Polizisten, mit Schlagstöcken bewaffnet, quollen daraus hervor und stellten sich wachsam, aber ohne einzuschreiten, in der Nähe auf. Giovanni Mandriani fühlte sich als Capitano von Aquila genötigt, einzuschreiten. Mit beruhigenden Worten redete er auf die erregten jungen Männer ein: „Was wollt ihr denn von diesen Beckamorti, diesen Totengräbern? Sie nehmen doch am Rennen überhaupt nicht teil! Jetzt beruhigt euch mal wieder. Wir haben andere Aufgaben. Diese Miezekatzen sind es nicht wert.“

Sogleich nahmen mehrere Männer Mirco an den Schultern und zogen ihn wieder auf den Platz mit dem Brunnen zurück. Hier wurden im Herbst die neuen Mitglieder der Gemeinschaft getauft und damit in einer feierlichen Zeremonie in die Contrade aufgenommen. Ein Adler, das Namenssymbol der Contrade, schmückte den Brunnen, und die Touristen schöpften daraus kostenlos das Wasser in ihre Plastikflaschen, nicht ahnend, welch heilige Handlung hier sonst durchgeführt wurde.

Luca Marcetti gesellte sich dazu und gestikulierte lebhaft mit dem Capitano und dessen zwei Stellvertretern.

„Habt ihr schon einen Fantino?“

Giovanni Mandriani zuckte mit den Schultern, als ahnte er bereits, dass sein Freund von ihrer Wahl wenig begeistert sein würde. „Ja, Minisini!“

Luca Marcetti schnaubte empört durch die Nase: „Der? Der ist ein Idiot! Der kann sich nicht mal auf dem Rücken von dem Pferd halten.“

Mauro und Paolo nahmen ihren Capitano sofort in Schutz: „Minisini hat bereits zwei Palios gewonnen! So schlecht ist er nicht! Und Zilata Usa ist ein gutes Pferd!“

„Ja, aber warum nicht Massimo oder Bruscelli?“, brachte Marcetti die beiden erfolgreichsten Jockeys ins Spiel.

„Weißt du eigentlich, wie viel die kosten? Das können wir uns nicht leisten.“

„Wir werden nie gewinnen, wenn wir keinen guten Fantino einkaufen.“, bemerkte Marcetti gereizt. Der letzte Sieg lag nun fünfzehn Jahre zurück, und langsam wurde es knapp. Es fehlten nur noch drei Contraden, dann wäre Aquila die „Nonna“ des Palios. Die Großmutter aller siebzehn Contraden, die schon am längsten nicht mehr gewonnen hatte. Den ungeliebten Rekord hielt Torre: Vierundvierzig Jahre ohne Sieg. Eine unglaublich lange Zeit. Aber auch fünfzehn Jahre waren beileibe zu lang. Wie würde Pantera lachen, wenn sie wieder nicht gewannen.

Es war abzusehen, dass Pantera irgendetwas unternehmen würde, damit Aquila auch dieses Mal nicht den Sieg davontrug.

„Wir brauchen Verbündete! Drago läuft nicht, also müssen wir sehen, dass uns jemand anderer hilft“, meinte Mandriani sachlich. Drago, die Contrade mit dem grünen Drachen auf der Fahne, war ihr engster Verbündeter. Doch ein Freund, der nicht am Start war, konnte nicht helfen. Er konnte nicht den Start verzögern, den Feind blocken, vielleicht die anderen Pferde in die Zange nehmen, damit der andere einen Vorteil hatte.

„Hm, vielleicht Torre?“, schlug Paolo vor.

Torre hat seit vierundvierzig Jahren nicht mehr gewonnen. Die unterstützen niemanden. Torre will selbst siegen.“

Marcetti lächelte spöttisch. „Solange Torre eine Frau als Capitano hat, werden sie nicht gewinnen.“

Alle lachten verhalten, dachten eher spöttisch an die Contrade mit dem Zeichen des Elefanten auf dem scharlachroten Tuch. Aber es war ein bitteres Lachen, denn allzu schnell konnte es ihnen ebenso gehen. Jahre der Hoffnung, ohne die Chance zu siegen. Dann überlegten sie weiter.

„Wir könnten mit Civetta und Tartuca verhandeln. Die beiden haben keine guten Pferde gezogen.“

„Stimmt. Vai Go ist eine Krücke. Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Schindmähre zugelassen wurde“, meinte Marcetti geringschätzig. Selbstverständlich war das eine reine Loyalitätsbekundung gegenüber seiner Contrade, keine fachliche Meinung über die tatsächlichen Qualitäten des anderen Pferdes.

„Nun, dann kannst du dich um Tartuca kümmern. Rede du mit dem Capitano, ob er bereit ist, uns zu helfen.“ Marcetti neigte den Kopf und rechnete sich seine Chancen aus. Tartuca, die Schildkröte, war tatsächlich ein williger Verhandlungspartner, wenn die in Aussicht gestellte Summe stimmte. „Welche Summe habe ich zur Verfügung?“

Eine undeutliche Handbewegung war die einzige Antwort, aber Marcetti hatte auch so verstanden: So wenig wie möglich, aber mit der größten Aussicht auf Erfolg.

„Ich rede mit dem Capitano. Ich kenne Carlo Arezzini recht gut. Außerdem haben sie erst letztes Jahr gewonnen und brauchen vielleicht Geld“ So erstaunlich das klang, aber es war eine einfache Tatsache. Ein Sieg kostete eine Contrade ein Vermögen. Manche mussten sogar Darlehen aufnehmen, um die teure Siegesfeier bezahlen zu können. Der Palio lief nach anderen Regeln als ein normales Pferderennen.

„Gut! Und ich besuche den Capitano von Civetta“, bot Mandriani zufrieden an.

Hmh. Civetta, die Eule, galt als Verbündeter von Aquila, ebenso wie Drago, aber Luca Marcetti bezweifelte, dass ihnen von dieser Seite geholfen würde. „Ich glaube nicht, dass Civetta uns unterstützen wird.“

„Warum nicht? Sie sind unsere Verbündeten.“

„Ja schon, aber sie haben seit 1979 nicht mehr gewonnen. Wenn Civetta nicht aufpasst, dann sind sie bald die Nonna des Palios und tragen den schwarzen Schleier.“

„Aber sie haben kein gutes Pferd“, widersprach der Capitano.

„Na gut, versuch es. Vielleicht ziehen sie im nächsten Palio ein besseres Pferd und brauchen dann unsere Unterstützung.“ Wieso sollte Civetta auf Sieg setzen, wenn sie ohnehin keine Chance hatten? Es wäre tatsächlich vernünftiger, sich Gunst und Wohlwollen seiner Freunde zu sichern für den Fall, dass sie im nächsten Jahr mehr Glück bei der Auslosung der Pferde haben.

Verschwörerisch steckten die Männer die Köpfe zusammen und gingen den ausgesprochen engen und dunklen Weg entlang. Die Gasse wirkte wie eine überlange Toreinfahrt und führte von der Piazza di Postierla mit dem Brunnen zum „Rostro“, dem Adlernest. Hier war der Treffpunkt von Aquila, ein kleines denkmalgeschütztes Gebäude mit bröckeliger Fassade, an der Efeu emporrankte. Im ersten Stock befand sich ein baufälliger Balkon mit geschmiedeter Brüstung, der an Romeo und Julia erinnerte. Der Treffpunkt lag in einem Hinterhof, an einer Seite abgeschirmt von einigen hohen Steineichen, auf der anderen Seite umgeben von geschmackvoll renovierten Häusern. Einige lange Reihen mit Biertischen und Bänken waren bereits aufgestellt worden, um am Abend die Menschen bewirten zu können. Diese Essen fanden in allen Contraden statt, selbstverständlich vor dem Palio, aber auch zu anderen Gelegenheiten. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft war wichtig. Und so wurden immer wieder Abende veranstaltet, die diese Solidarität förderten. Die Abendessen waren zudem eine wichtige finanzielle Einnahmequelle, um das Geld für einen Fantino oder etwas anderes Wichtiges aufzutreiben. Mehrmals im Jahr gab es kulinarische Wochen, aber vor dem Palio war die Teilnahme an diesen Essen sozusagen Pflicht, eine Art Solidaritätsbekundung. Für die Touristen war der Palio vielleicht nur drei Minuten lang, aber für Siena dauerte der Palio das ganze Jahr.

Die Männer betraten nacheinander das Gebäude, das gerade erst renoviert worden war und noch nach frischer Farbe roch. Auf elegante Weise waren die wurmstichigen Balken getüncht und das alte Flair mit moderner Architektur ergänzt worden: Große Fenster mit Rahmen aus schwarzem Aluminium und eine Treppe mit modernem Drahtgeländer. Prunkstück im Erdgeschoss war eine großzügig bestückte Bar, im Obergeschoss waren die vorsintflutlichen Toiletten so erneuert worden, dass sich nun selbst Damen nicht mehr wie früher auf den völlig verdreckten Plumpsklos genieren mussten. Am silbernen Drahtgeländer der offenen Galerie hing ein riesiger rosa Stoffpanter am Galgen, als permanente sichtbare Herausforderung an den Feind. Im Keller gab es eine riesige Küche, in der die Abendessen für die Angehörigen der Contrade gekocht wurden. An den gelb gestrichenen Wänden im Erdgeschoss hingen Fotos, die den Ruhm vergangener Jahre bezeugten und jetzt mit deutlichen Fettspuren am Glas versehen waren, die von den duftenden Nebeln stammten, die regelmäßig aus der Küche aufstiegen.

Ins Gespräch vertieft stellten sich die Männer an den Tresen der Bar, die im Sommer auch gern draußen aufgebaut wurde. Paolo zapfte für alle das Bier, und eindringlich redete der Capitano auf einige andere Männer ein. Im Hof tobten kreischend Kinder aller Altersstufen herum, spielten den Palio der Kinder, während ihre Mütter die neugeborenen Babys bewunderten. Manchmal verirrten sich Touristen in den Hof, hielten den Treff für ein billiges Restaurant und wollten sich auf die einladenden Bänke setzen. Dann sprangen einige der Jugendlichen Hände wedelnd auf und scheuchten die verdatterten Störenfriede davon. „No tourists, no tourists!“, machten sie ihnen unmissverständlich klar.

Der Capitano wurde über sein Handy zu einem Einsatz gerufen und verabschiedete sich hastig. „Eine Untersuchung im Krankenhaus. Wahrscheinlich dein Mordfall“, grummelte er unwillig und blinzelte Marcetti vertraulich zu. „Dann ruf mich an, wenn du etwas weißt.“ Marcetti lächelte zurück, wusste natürlich, was den Capitano erwarten würde. „Du weißt doch! Der tote Deutsche in dem Container.“ Es war durchaus positiv für seine Ermittlungen, wenn ausgerechnet der Gerichtsmediziner sein Freund war.

Luca Marcetti merkte, dass es im Moment nichts zu tun gab, und schlenderte zurück zur Questura. Den Capitano von Tartuca konnte er noch am Abend treffen – oder später am Campo, wenn die Pferde ihren ersten Probelauf machten.

So etwas musste geschickt eingefädelt werden, beiläufig und unauffällig.

In seinem Büro wartete bereits Pietro Balloni auf ihn, der ihn vorwurfsvoll über seine Brille hinweg anblinzelte. Marcetti ignorierte den deutlichen Vorwurf und schenkte sich erst einmal ein Mineralwasser ein. „Und?“

Balloni schnaubte ärgerlich, dann berichtete er: „Die deutsche Botschaft weiß Bescheid. Sie setzt sich mit uns in Verbindung, auch wegen der Überführung nach Deutschland und so …“

„Das wird noch eine Weile dauern, bis wir vom Staatsanwalt die Genehmigung haben. Schließlich handelt es sich hier um Mord.“

Balloni nickte nur, dann fuhr er fort: „Die Polizei ermittelt den Aufenthaltsort. Sobald sie etwas wissen, rufen sie uns an.“

„Na, wunderbar! Dann werfe ich jetzt einen Blick auf die letzten Berichte, und anschließend mache ich Feierabend.“

„Schön, dann fahre ich ins Krankenhaus und schaue, was die Obduktion ergibt.“

Marcetti grinste überheblich. „Das brauchst du nicht. Giovanni Mandriani ist der Gerichtsmediziner. Er wird mich sofort anrufen, wenn er etwas weiß.“

„Ist er nicht der Capitano von Aquila?“

„Ja“, bestätigte Marcetti mit einem Augenzwinkern.

„Und wieso ruft er dich an, wenn er noch nicht einmal weiß, ob du für den Fall zuständig bist?“

„Na, aus Gewohnheit! Ich will immer alles wissen! Aber er war dabei, als du mich angerufen hast. Er ist gerade unterwegs zum Krankenhaus.“

Pietro Balloni verdrehte zum hundertsten Male die Augen. In Siena gab es zwei Strukturen: die offizielle und die inoffizielle. Die inoffizielle war bei weitem schneller.

Also vertiefte er sich wieder in den Bericht eines Einbruchs, der in den letzten Tagen stattgefunden hatte – und der, wie die anderen auch, zu dem Stapel mit den ungeklärten Fällen hinüber wandern würde. Ausländische Banden kamen per Schiff an Land, versteckten sich einige Tage in den dichten Wäldern um Siena, raubten einige Häuser aus und verschwanden dann auf Nimmerwiedersehen. Manchmal gelang es den Carabinieri, eine Bande zu schnappen, aber das gestohlene Gut blieb in der Regel verschwunden. Siena unternahm alle Anstrengungen, um dieser Diebesbanden Herr zu werden, denn sie fürchteten Umsatzverluste, wenn die Touristen ausblieben. Immer wieder stießen ahnungslose Wanderer auf Carabinieri oder sogar Soldaten, die sich in der Wildnis auf die Lauer legten, um die Banden zu schnappen. Oft war monatelang Ruhe, und dann schwappte wieder eine Einbruchswelle über die Stadt. Die Seneser kochten vor Wut, denn sie waren stolz auf ihre Stadt und darauf, dass Siena trotzdem zu den sichersten Städten in Europa gehört.

Die erste Probe

Am frühen Nachmittag kam der ersehnte Anruf: Die Polizei hatte den Aufenthaltsort des Ermordeten ermittelt. Der Deutsche war tatsächlich ordnungsgemäß im Hotel Garden gemeldet gewesen.

Hotel Garden?“, krächzte Marcetti nervös.

„Si, si!“, bestätigte die Stimme eifrig.

„Oh, dio!“ Marcetti wusste rasiermesserscharf, dass es Ärger geben würde. Das Hotel gehörte Lisa Bari, eine der prominentesten Familien in Siena. Marcetti bekam Magenschmerzen, als er daran dachte, dass er nun in ihrem Hotel ermitteln musste. Wie sollte er nur einen Skandal von ihr fernhalten? Die Presse, das Gerede, die Touristen? Alles würde plötzlich sehr peinlich werden. Hätte dieser Idiot sich nicht ein anderes Hotel aussuchen können? Jetzt war Diplomatie gefragt. „Lass uns gehen!“, befahl er wenig begeistert.

Dieses Mal ließ er sich von einem uniformierten Polizisten in seinem Dienstfahrzeug durch die Stadt kutschieren, wie es einem Commissario eigentlich zustand. Dass er manchmal alleine fuhr, war reine Extravaganz und wurde von seinem Chef nicht gern gesehen. Sie fuhren an dem alten Stadttor, der Porta Camollia, vorbei, und gelangten in den Stadtteil von Istrice, dem Stachelschwein. Das Hotel Garden war ein alter herrschaftlicher Palast aus dem siebzehnten Jahrhundert, umgeben von einer mannshohen Mauer aus Natursteinen und mitten in einem wunderschönen Park gelegen. Jahrhunderte alte Steineichen säumten den Weg zu dem Hotel. Mehrere weitere, ausgedehnte Gebäude mit großen modernen Zimmern und in der Nähe des gut gepflegten Pools ergänzten das Anwesen.

Das Haupthaus allein beherbergte 25 Zimmer, und in ihm befanden sich zusätzlich die Rezeption, eine Bar und das Restaurant. Nicht nur Hotelgäste dinierten hier, das Restaurant wurde außerdem häufig für große Familienfeiern gebucht. Regelmäßig versammelte sich hier der Fußballclub vor einem Spiel, denn Lisa Bari galt als „Mama“ sowohl des AC Siena als auch der Basketballmannschaft.

Von der mit wildem Wein überrankten großzügigen Terrasse des Hotels Garden hatte man einen herrlichen Blick über Siena, und Luca Marcetti nutzte die romantische Stimmung regelmäßig, um der einen oder anderen Schönheit zu imponieren.

Balloni parkte direkt vor dem Eingang, und Marcetti gab in kurzen Worten einige Verhaltensregeln: „Ganz unauffällig. Lass mich nur machen.“

Balloni schürzte überrascht die Lippen: Diese Taktik war ihm bei seinem Vorgesetzten neu. Sonst ließ er den Commissario ganz gern heraushängen.

Harmlos, als wären sie Touristen auf der Suche nach einem Hotel, betraten sie die ehrwürdigen Hallen. Die gewölbten Stuckdecken waren mit Putten bemalt und kunstvoll restauriert worden. Das Hotel befand sich seit Jahrzehnten in Familienbesitz, seitdem Signore Bari den Palast einem verarmten Grafen abgekauft hatte. Jetzt hatte seine Tochter Lisa das Hotel übernommen, aber noch immer standen die Angestellten stramm, wenn der alte Herr mit Grandessa durch die Hallen schritt.

Alberto, der Geschäftsführer des Hotels, begrüßte Marcetti überschwänglich, wusste er doch, dass der Commissario ein Freund von Lisa war. „Ah, Dottore! Kommen Sie auf einen Café vorbei?“ Er stand hinter der Rezeption aus dunkel gebeiztem Holz, hinter der sich eine rustikale Regalwand aufbaute, in der die Fächer samt Haken für die Schlüssel der Gäste untergebracht waren. Alles wirkte edel und gediegen, passte zu dem herrschaftlichen Ambiente.

„Ma si!“ Marcetti lächelte freundlich, dann sah er sich unauffällig um, ob jemand in der Nähe war. Seine Stimme wurde vertraulich: „Kann ich dich mal privat sprechen? Ich habe ein kleines Problem.“

Alberto wurde blass, denn er erkannte sofort, dass Marcetti dienstlich hier war. Jovial führte er die beiden in sein Büro, froh darum, dass Marcetti den Schein eines harmlosen Besuchs wahrte. Ein schwerer Schreibtisch aus poliertem Mahagoni stand in der Mitte des hellen Raumes, penibel aufgeräumt, mit einem Bild der Ehefrau und des Sohnes auf der rechten Seite. Alberto schloss die Tür und fragte nervös: „Was kann ich für Sie tun?“

„Ein Mord!“, erklärte Marcetti unumwunden. „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass der Mann hier gemeldet war. Vielleicht können Sie uns dabei helfen?“

Auch Marcetti ging zu einem formellen Sie über, obwohl er Alberto durchaus duzte, wenn er privat im Hotel war.

Auf Albertos Stirn bildete sich Schweiß. Oh dio! Welch ein Skandal! Er sah bereits die Presse, die Polizei und verschreckte Hotelgäste, die Hals über Kopf abreisten. In seinem Kopf drehten sich Zahlen über den möglichen Verlust, nicht gerechnet den Image-Schaden, der nun entstehen könnte! „Ein Mord?“, wiederholte er völlig überflüssig.

„Ja, ein Mord an Florian Bauer aus Deutschland. Haben Sie Informationen über ihn?“

„Ich werde sofort im Computer nachsehen. Wollen Sie mitkommen?“

„Gern“, meinte Marcetti mit einem Nicken.

Sichtlich nervös führte Alberto die beiden in die Rezeption zurück und tippte den Namen des Gesuchten in das Keyboard des Hotelcomputers ein. Er runzelte konzentriert die Stirn, als er aufmerksam die Daten las, die auf dem Flachbildschirm erschienen. Ein erleichtertes Lächeln lief über sein Gesicht, und es war deutlich zu sehen, dass ihm ein dicker Stein vom Herzen fiel. „Er ist abgereist.“, meinte er triumphierend. Balloni kicherte belustigt. „Abgereist“, das war allerdings eine nette Umschreibung für einen Mord.

Alberto wischte sich den Schweiß von der Stirn, als die roten Zahlen in seinem Kopf sich wieder beruhigten. Er wurde sofort wieder geschäftsmäßig, höflich und sachlich. „Ja, er war für eine Nacht hier, dann ist er abgereist.“

„So, wann war das?“

„Sonntag“

Heute war Mittwoch. Luca Marcetti sah sofort ein Problem. Energisch zückte er sein Handy und rief die Polizeizentrale an: „Ciao, sono Luca! Hört mal, der Aufenthaltsort von diesem Deutschen ist falsch. Entweder, ihr habt nicht richtig ermittelt, oder er war irgendwo ohne Meldung untergekommen. Prüft das bitte sofort nach.“

Luca Marcetti nagte nervös an seinen Lippen, denn sie verloren unnötig Zeit. In der Regel wurde ein Mord in den ersten achtundvierzig Stunden aufgeklärt, oder es wurde zäh.

Höflich wandte er sich wieder an Alberto: „Wer kommt denn nur für eine Nacht nach Siena?“

Alberto überprüfte die Meldungen und legte die Stirn in Falten. „Stimmt, er hatte für eine Woche gebucht.“

„Wieso ist er dann abgereist?“

Alberto blätterte in einem Stoß von Papier, dann riss er erstaunt die Augen auf. „Ah, ja! Signore Bauer gehört eigentlich zu einer Delegation von deutschen Politikern, die mit einer italienischen Abordnung über irgendwelche EU-Rechte verhandeln.“

„Politiker?“, Marcetti wurde sofort misstrauisch.

„Ja, er war über diese Delegation bei uns gemeldet. Aber dann ist er abgereist.“

„Warum?“

Alberto zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte er nach Deutschland zurück? Woher soll ich das wissen?“

Marcettis Stimme wurde leise: „Wenn er wieder in Deutschland wäre, hätte man ihn kaum ermordet in einer Mülltonne finden können.“

„Stimmt. Außerdem habe ich ihn noch ein, zwei Mal bei diesen Verhandlungen gesehen.“, erinnerte sich Alberto.

„Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“

„Vielleicht Montag oder Dienstag! Ich weiß nicht mehr genau.“

„Was ist mit heute früh?“, klopfte Marcetti die Erinnerung des Geschäftsführers ab.

„Nein, da haben die Leute einen Ausflug gemacht. Und Signore Bauer war sicher nicht dabei“

„Sie wissen nicht, wohin er von hier aus gegangen ist?“

„Nein“

Marcetti wurde ungeduldig, obwohl er wusste, dass Alberto die Wahrheit sagte. „Okay, ich brauche die Namen der anderen Deutschen. Ich will mit jedem einzelnen sprechen.“

„Oh dio!“, Alberto schwirrte schon wieder der Kopf.

„Keine Sorge. Ganz unauffällig. Wann reisen die anderen Politiker ab?“

Wieder schaute Alberto in den Computer. „Nach dem Palio. Am Sonntag.“

„Nach dem Palio. Na, das sind aber schöne Verhandlungen. Politiker haben vielleicht ein tolles Leben!“, flötete Marcetti zynisch. „Wann kann ich diese Politiker am besten antreffen?“

„Sie essen heute Abend bei uns im Hotel.“

Marcetti sah keine andere Möglichkeit, als am Abend zurückzukehren. Sein siebter Sinn sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte, und er musste schnell reagieren, sonst würden alle Spuren verwischt.

„Allora!“, meinte er resigniert. „Ich komme später wieder und informiere die Herrschaften über den Tod ihres Kollegen. Gibt es dafür vielleicht einen separaten Raum?“

„Ich werde es arrangieren.“, bot Alberto sofort an. Alles, was für irgendwelchen Trubel sorgte, musste unbedingt vermieden werden.

„Gut!“, verabschiedete sich Marcetti. Mit einem Nicken wies er Balloni an, ihm zu folgen.

Schweigend saßen sie im Auto, während Marcetti nachdachte. Wieso hatte der Politiker das Hotel gewechselt? Und wer hatte einen Grund, einen unbekannten Tedesco, einen Deutschen, zu ermorden? Das war alles sehr ungewöhnlich!

„Und jetzt?“, wagte Balloni zu fragen.

„Wir brauchen unbedingt den Aufenthaltsort. Wieso ist dieser Kerl nicht mit den anderen Deutschen in dem Hotel geblieben?“

„Vielleicht mochte er es ruhig?!“, meinte Balloni sarkastisch.

„Sehr ruhig“, stimmte Marcetti zu. „Ruhiger als auf einem Friedhof ist es nirgendwo.“

Sie hatten die Questura fast erreicht, als das Handy erneut klingelte. „Pronto!“

Es war der Capitano, nun in seiner Eigenschaft als Gerichtsmediziner. „Also, ich habe das Ergebnis der Obduktion. Interessiert dich das noch?“

„Aber ja, leider bin und bleibe ich zuständig.“

Giovanni Mandriani seufzte tief. „Oh? Jetzt? Beim Palio? Das ist schlecht. Kannst du den Fall nicht abgeben?“

Marcetti lachte kurz und ohne wirkliche Heiterkeit auf, ein deutliches Zeichen seiner Resignation. „Natürlich nicht. Also, was gibt’s?“

„Der Tote ist mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Todesursache war eine massive Gehirnblutung. Der Tod trat gestern so gegen dreiundzwanzig, vierundzwanzig Uhr ein.“

„Ah, interessant“, meinte Marcetti. „Sonst noch etwas?“

„Ja, er war sexuell erregt. Ich habe ihm auch etwas Scheidenflüssigkeit entnehmen können.“

Marcetti nagte an seinen Lippen. „Also hatte er ein Rendezvous mit einer Frau gehabt?“

„Offensichtlich. Ich schicke eine Probe zur DNA-Analyse.“

„Mach das. Und halt mich auf dem Laufenden.“, bat Marcetti. Das war offensichtlich eine heiße Spur. Wo hatte der Politiker bloß so schnell eine Frau kennengelernt? Alberto hatte nichts von irgendwelchen Ehefrauen oder Freundinnen der Politiker erzählt, die ihre Männer bei dieser „Dienstreise“ begleiteten.

„Gut!“, erklang die Stimme des Mediziners. „Sehe ich dich gleich bei der Probe?“

Marcetti seufzte tief: „Wahrscheinlich nicht. Der Fall ist ziemlich kompliziert. Ein deutscher Politiker!“

„Madonna! Kannst du dich nicht abseilen? Ich brauche deine Unterstützung“, versuchte Mandriani seinen Freund zu überreden.

„Ich werde es versuchen“, beendete Marcetti das Gespräch.

Die erste Probe, bei der die Pferde mit dem Gelände vertraut gemacht wurden, war im Grunde nicht so wichtig, aber alle anderen Capitani wären anwesend, und er würde eine Gelegenheit verpassen, mit dem Capitano von Tartuca zu reden. Natürlich musste er versuchen, für eine halbe Stunde unauffällig von der Arbeit zu verschwinden.

In der Questura begab sich Marcetti als erstes zum Einsatzleiter der Polizei. Dazu musste er über den Verbindungsgang gehen, der die Questura mit der Präfektur verband, denn die Einsatzzentrale der Polizei war dort im Obergeschoss untergebracht. Die Questura war eine mit modernster Technik ausgestattete Behörde, an der an mehreren Bildschirmen gleichzeitig die wichtigsten Plätze in Siena beobachtet wurden. Hier liefen die Anrufe ein, hier wurden Verkehrsunfälle und Überfälle gemeldet, hier landeten die Beschwerden über Ruhestörungen und die Beobachtungen, die über fliegende Händler angestellt wurden. Alle Einsätze wurden von hier aus koordiniert. An einem Pult wurden über Funk die Einsatzfahrzeuge verständigt oder der Funkkontakt zu den Fußstreifen hergestellt.

Marcetti wandte sich an den diensthabenden Sergente: „Habt ihr schon etwas über den neuen Aufenthaltsort von Florian Bauer herausgefunden?“

Der Mann in seiner schneidigen Uniform machte ein geschäftsmäßiges Gesicht. „Ich habe einen Mann losgeschickt, um die Meldungen der Hotels zu überprüfen, aber bisher noch keine Antwort erhalten.“

„Nur einen Mann?“, Marcetti plusterte sich auf wie ein Pfau.

„Wisst ihr, was hier los ist? Ein deutscher Politiker wird ermordet, und Sie schicken nur einen Mann!“

„Äh, ja …“, stotterte der Polizist, der sich mindestens sechs Dienstgrade unter dem des Commissario befand. „Wir haben ja noch anderes zu tun!“

„Etwas anderes?“, polterte Marcetti los. „Wie viele Morde haben wir eigentlich im Jahr? Ich will sofort eine Antwort! Und wenn sie eine ganze Schwadron ausschicken müssen!“

Der Polizist wurde rot wie eine Tomate und wand sich sichtlich in der bedrohlichen Gegenwart des Commissarios.

„Selbstverständlich! Aber es kann nur ein Mann die Meldungen durchsehen. Wenn er nichts findet, dann werde ich allerdings eine Schwadron losschicken, die alle Hotels und Ferienanlagen durchsucht.“

Marcetti erlaubte sich ein breites Lächeln und schlug dem Polizisten freundschaftlich auf die Schulter. „Gut! Sehr gut! Ich will Ergebnisse! Verstanden?“

„Si, Dottore!“

Mit Balloni im Schlepptau kehrte der Commissario in sein Büro zurück. Dort wartete bereits Giulia, seine kleine, eher unscheinbare, rothaarige Büroassistentin, mit Neuigkeiten auf ihn. Sie entsprach überhaupt nicht seinem Idealbild, das er von einer Frau hatte: flachbrüstig, spitze Nase, Brille. Aber gerade deswegen war sie eine gute Assistentin, denn er konnte sich auf seine Aufgaben konzentrieren und wurde nicht durch ihre Weiblichkeit abgelenkt. Letztendlich ein genialer Schachzug seines Chefs, gerade Giulia in sein Büro zu beordern. Giulia war fröhlich, lustig, der Kumpeltyp für alle Männer, und Marcetti arbeitete gern mit ihr zusammen. „Na, kleine Maus, was liegt an?“

„Die deutsche Botschaft hat angerufen. Alle da sind sehr aufgeregt, denn bei dem Toten handelt es sich um einen Politiker. Sie haben darum gebeten, einen Beobachter schicken zu dürfen.“

„Nur über meine Leiche!“, wehrte Marcetti entsetzt ab.

„Nun, offensichtlich hat sich der deutsche Staatsanwalt bereits mit unserem in Verbindung gesetzt. Und Dottore Brandesa ist einverstanden. Er hat Dottore di Sabato und den Magistrat verständigt, und jetzt ist ein Tedesco zu uns unterwegs.“

Marcetti rutschte das Herz in die Hose, und irgendwo fühlte er, dass ein Magengeschwür in seinen Gedärmen wuchs. Er sollte Babysitter für einen deutschen Ermittler spielen? Jemand, der ihn auf Schritt und Tritt begleiten, nerven und stören würde. Es wurde immer schlimmer.

„Glauben die Deutschen etwa, dass wir nicht in der Lage sind, zu ermitteln?“, fragte er empört.

Giulia zuckte nur die Schultern. „Nun, schließlich geht es um einen Politiker.“

„Wieso ist das ein Unterschied?“

Es war eine rein rhetorische Frage, auf die er keine Antwort erwartete. Unwillig blickte er auf die Uhr und bemerkte stirnrunzelnd, dass es langsam Nachmittag wurde, eigentlich die Zeit für den ersten Probelauf der Pferde. „Wann kommt dieser Tedesco?“

„Morgen“

Marcetti schlug energisch in die Hände. „Also gut, wir lösen den Fall bis morgen, dann sind wir den Kerl wieder los.“

Sie mussten den Fall ohnehin schnell lösen, denn das Wochenende rückte näher und am Samstag wäre alles geschlossen, weil der Palio stattfand. Niemand in Siena hatte Lust, an diesem Tag zu arbeiten, die Polizei eingeschlossen.

„Ich brauche die verdammte Meldung! Balloni! Mach diesen Schlafmützen da drüben mal Dampf!“

Balloni starrte wortlos auf seine Schuhspitzen, ohne sich zu rühren.

„Was ist los?“, knurrte Marcetti ungehalten.

„Du hast ihnen erst vor fünf Minuten Dampf gemacht.“

„Ach so, ja! Also, was machen wir als Nächstes?“

„Warum gehst du nicht ein wenig nachdenken, und wir benachrichtigen dich, wenn sich etwas Neues ergibt.“

Marcetti seufzte vor Dankbarkeit. „Eine gute Idee! Ich muss mir die ganze Sache mal durch den Kopf gehen lassen. Ruf mich an, wenn du etwas über den Aufenthaltsort des Mannes in Erfahrung gebracht hast.“

„Selbstverständlich! Was sonst?“

„Und schreib schon mal einen vorläufigen Bericht. Ach ja, versuche etwas über diese Politiker herauszubekommen. An was sie arbeiten und so.“

„Mach ich!“ Balloni nickte mit einem Lächeln und sah großzügig zu, wie Marcetti im Dauerlauf verschwand.

„Die spinnen, die Seneser“, meinte Balloni kopfschüttelnd zu Giulia und überlegte sich im Stillen, ob das kleine gallische Dorf von Asterix und Obelix nicht doch in Italien gelegen hatte. Seelenruhig griff er zum Telefon und flirtete eine Viertelstunde mit seiner Freundin. Giulia kicherte in sich hinein, tippte aber brav einige Suchbegriffe in den Computer ein. Manchmal hob sie drohend den Zeigefinger, versuchte Balloni auf diese Weise an seine Pflichten zu erinnern. Balloni streckte ihr frech die Zunge heraus, beendete aber doch das Gespräch mit seiner Freundin. „Ciao, Maria“, hauchte er. „Bis später“ Kurz zögerte er, dann nickte er heftig. „Ja, ja, um zwanzig Uhr, vor dem Kino. Ciao!“

Marcetti hatte das Gebäude inzwischen verlassen, nachdem ihn sein Chef noch in ein kurzes und unnötiges Gespräch verwickelt hatte. Hastig zog er das völlig zerknüllte Fazzoletto aus seiner Hosentasche und legte es sich um die Schulter. Der Stall war verlassen, das Pferd inmitten der Contradaioli bereits auf dem Weg zum Campo. Schnaufend vom schnellen Laufen schloss seine kräftige Gestalt mit den anderen auf, und er erntete den dankbaren Blick seines Capitanos. „Wie laufen die Ermittlungen?“

„Schlecht. Morgen kommt ein Deutscher, der mich unterstützen soll.“

Ein kollektives Stöhnen war zu hören, dann wischte Marcetti seine Sorgen mit einer ungeduldigen Geste beiseite. „Wo ist Minisini?“, erkundigte er sich nach dem Verbleib des Jockeys.

„Der kommt gleich. Er ist in meinem Haus untergebracht, gut bewacht.“

„Ah, sehr gut!“ Selbstverständlich wurde jeder Fantino sofort nach Vertragsabschluss von den anderen Jockeys oder anderen Contraden fern gehalten, damit er nicht mehr bestochen werden konnte. Schon öfter war ein Fantino nach dem Palio im Krankenhaus gelandet, wenn ihn die aufgebrachten Männer der eigenen Contrade wegen angeblicher Bestechlichkeit verprügelt hatten. Schon kamen die Söhne des Capitanos, Tomaso und Mateo, mit dem Fantino im Schlepptau bei den Contradaioli an. Jubelnd begrüßten alle den Hoffnungsträger, klopften ihm freundschaftlich auf die Schulter, als wäre er einer der engsten Verwandten. Marcetti musterte den zierlichen, dunkelhäutigen Fantino, der bereits in den Farben der Contrade gekleidet war: Eine gelbe, weit geschnittene Jacke, auf dessen Rücken der doppelköpfige Adler prangte. In der Regel waren die Fantini professionelle Jockeys, denn selbst für versierte Reiter war der Palio eine Herausforderung: Auf dem blankem Pferderücken die engen Kurven des Platzes entlang zu rasen war eine Kunst, wenn nicht eine besondere Form des Selbstmords.

Singend erreichten die Männer den Campo und führten das Pferd in den Eingangshof des Rathauses. Ab hier hatten nur noch der Capitano und der Barbaresco zutritt. Gespannt versammelten sich alle auf dem Platz und warteten auf den Anfang des Spektakels.

Die Proben liefen genauso wie später das richtige Rennen, damit die Pferde sich an den Ablauf gewöhnen konnten. Nur der ganze Prunkdurchlauf in den mittelalterlichen Kostümen vor dem Palio wurde weggelassen. Auf den provisorischen Tribünen, die einfach an geschmiedeten Haken an den Hauswänden aufgehängt wurden, drängten sich bereits die Kinder und andere Zuschauer. Jede deutsche Bauaufsicht wäre angesichts dieser Konstruktion Sturm gelaufen, aber in Siena wurde es seit Jahrhunderten so durchgeführt. Vermutlich sogar immer noch mit dem gleichen Haken. Statik hatte hier keine Bedeutung.

Luca Marcetti stellte sich zu den anderen und genoss die Atmosphäre. Fast ein wenig melancholisch wanderte sein Blick über den Platz, der nun fest in der Hand der Contradaioli lag. Er war einzigartig, der schönste Platz der Welt! Die Erbauer hatten die natürliche Beschaffenheit der Landschaft belassen. Der Platz lag in der Mitte der drei Hügel, auf denen Siena gebaut war, und das natürliche Gefälle war als gestalterisches Mittel genutzt worden. Darum glich er auch einem Amphitheater. Eine Straße führte um den Platz herum, eigentlich gepflastert, aber jetzt mit dem gelben Lehm für die Pferde bedeckt. Die Mitte des Platzes war mit roten Ziegeln gepflastert. Schmale Linien aus weißem Stein trennten die gesamte Fläche in neun Bereiche und verjüngten sich nach unten, sodass der Eindruck einer Muschel entstand. Am unteren Ende erhob sich der wunderschöne gotische Palast, der schon damals als Rathaus vorgesehen war: Der Palazzo Publico. Immer noch beherbergte er einen Teil der Stadtregierung, die andere Hälfte war im Museum der Stadt mit seiner exklusiven Gemäldesammlung untergebracht. Das elegante vierstöckige Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert, dessen Fassade verspielte Burgzinnen und gotische Fensterbögen zierten, war mit den bunten Fahnen der teilnehmenden Contraden geschmückt worden. Zweimal im Jahr beugte sich alles diesem Schauspiel, auch die Stadtregierung! Auf der linken Seite des Gebäudes befand sich die kleine Kapelle aus weißem Marmor, mit romanischem Torbogen und schönen Deckengemälden. Über der Kapelle erhob sich der Turm aus rotem Ziegelstein, Torre del Mangia genannt, dessen elegante, weiße Turmspitze sich wie eine Fackel in den blauen Himmel streckte. Ein schönes Gebäude, dem sich andere Häuser und Paläste anschlossen, manche sogar eindeutig im Baustil des Palazzo Publico, die den Platz umrahmten und ihm sein typisches Aussehen gaben.

Marcetti liebte diesen Platz. Am liebsten setzte er sich in eines der Cafés, um über seine Fälle nachzudenken. Hier kamen ihm immer die besten Ideen, während er nur dasaß und die Linienführung der antiken Baumeister bestaunte.

Nach verhältnismäßig kurzer Zeit kamen die Pferde aus der Eingangshalle des Rathauses. Für den Palio wurde der Eingang des Rathauses zweckentfremdet und beherbergte die Pferde und ihre Reiter. Mit den Fantini auf ihren Rücken näherten sich die Pferde tänzelnd und nervös der Mossa, dem Startplatz für das Rennen. Der Mossa umfasst einen Bereich aus zwei dicken Hanfseilen, zwischen denen die Pferde Aufstellung beziehen. Ein Pferd bleibt hingegen einige Meter hinter dieser Seilkonstruktion zurück. Von dieser Rincorsa-Position bestimmt der Fantino den Start, indem er einfach angaloppiert, wenn er den Zeitpunkt für richtig erachtete. Das vordere Seil wird dann fallen gelassen und das Rennen nimmt seinen Anfang.

Völlig unspektakulär verlief der erste Probelauf. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Pferde tatsächlich in der vorgegebenen Reihenfolge am Start standen. Aber dann fiel das Seil, die Pferde liefen ihre drei Runden verhalten um den Platz. Durch das Gefälle des Platzes waren Reiter und Pferde für alle Zuschauer gut sichtbar. Allein an der auffälligen Kleidung der Fantini war für das Publikum problemlos die Position ihres Favoriten zu erkennen. Irgendwie sah es witzig aus, wie in einem schaukelnden Auf und Ab die bunten Hemden der Fantini flatterten. In weniger als drei Minuten war alles vorbei und schon wurden die Pferde von jeder Contrade wieder vom Platz geführt. Trotzdem bildeten sich Knäuel von Menschen, die erregt diskutierten. Welches Pferd hatte einen guten Start gehabt, welches hatte gescheut? Jedes Zucken wurde interpretiert und fand Anlass für wilde Spekulationen. Hatte sich Berio, das Pferd von Brucco, der Raupe, vielleicht verletzt? Ein leichtes Nachziehen des linken Hinterhufs und der Traum vom siegreichen Rennen wäre aus! Niemanden interessierte, wer die erste Probe gewonnen hatte, denn dieser Sieg war nichts sagend und unwichtig. Denn jeder wusste, dass kein Fantino sein Pferd wirklich antrieb. Die Gefahr, dass es sich vor dem eigentlichen Rennen verletzte, war viel zu groß. Kamerateams drängten sich um die verschiedenen Capitani und versuchten sie zu Stellungnahmen zu bewegen. Canale 3, der örtliche Sender, lebte zu einem Großteil von den lukrativen Werbeeinnahmen während des Palios. In endlosen Wiederholungen wurde die erste Probe im Fernsehen gezeigt, gemischt mit Berichten über die Contraden und ihre Angehörigen. Die Leute sahen sich gern im Fernsehen und schrien Siegesparolen in die Kamera. An vielen strategisch wichtigen Orten in Siena waren Fernsehkameras installiert worden, die jede Einzelheit live auf den Bildschirm brachten. Franco Masoni, Chef und Eigentümer der Fernsehstation kommentierte in seiner ruhigen Art seit mindestens zwei Jahrzehnten das Ereignis. Nur einmal hatte er seine Kontenance verloren, als ausgerechnet seine Contrade gewonnen hatte. Luca Marcetti kannte ihn gut, denn Franco Masoni war ebenfalls ein Angehöriger von Aquila. Vor einigen Jahren war er selbst Capitano gewesen. Der Capitano zu sein, bedeutete, auf einem Schleudersitz zu sitzen: War man erfolgreich, wurde man unsterblich. Der eigene Name wurde eins mit dem gewonnen Seidenbanner, dem Pferd und dem Fantino. Verlor man dagegen, war man der Sündenbock für alle. Während des Palios hatte ein Capitano die absolute Macht. Er entschied über Strategie und Taktik und musste erst nach dem Palio in einer Generalversammlung Rechenschaft über seine Entscheidungen ablegen. Die Führung im restlichen Jahr oblag dem Priore, meist ein älterer, wohl verdienter Mann, der den Respekt und die Sympathie aller Mitglieder genoss.

Luca Marcettis Stimmung hatte sich deutlich gebessert. Zwar konnte er nicht an dem Abendessen der Contrade teilnehmen, weil er noch die deutschen Politiker befragen wollte, aber wenigstens hatte er den Probelauf gesehen. Er erinnerte sich an seinen Auftrag, mit dem Capitano von Tartuca zu verhandeln. Unauffällig näherte er sich dem älteren Herren mit dem auffallend schlohweißem Haar, und versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Doch sein väterlicher Freund war auffällig abweisend, so, als ahnte er, dass Marcetti versuchen würde, mit ihm ein wenig zu Gunsten von Aquila zu mauscheln. Aufmerksam achtete er darauf immer von irgendwelchen Leuten umgeben zu sein, sodass ein inoffizielles Gespräch nicht möglich war. Marcetti riss verblüfft die Augen auf, denn abgewiesen zu werden, noch ehe er überhaupt ein Angebot machen konnte, war mit Sicherheit ungewöhnlich.

Eigentlich hatte Marcetti längst Dienstschluss, aber in einem Mordfall konnte er auf so etwas keine Rücksicht nehmen. Er hatte viele Freiheiten, also wollte er seinen Chef nicht enttäuschen, indem er jetzt auf seine Arbeitszeit pochte. Er erledigte die Arbeit, so wie sie anfiel und erlaubte sich Urlaubstage, wenn nichts los war. Er überlegte, ob er vielleicht mit Pietro ins Hotel fahren sollte, als sein Handy klingelte. Ah, sicherlich die Polizei mit der Meldung über den Aufenthaltsort. Es war die Nummer seiner Freundin und er drückte sie enttäuscht weg. Im Moment hatte er keine Zeit für Frauen! Natürlich würde sie böse auf ihn sein, aber er erwartete, dass eine Angebetete Rücksicht auf seinen Dienst nahm. Er hielt sein Handy noch in der Hand, als es ein zweites Mal klingelte. Dieses Mal meldete sich Pietro Balloni.

„Und?“

„Komm sofort her!“, schrie ihm sein Mitarbeiter ins Ohr. „In der Zentrale ist gerade ein Anruf von einer Putzfrau eingegangen. Anscheinend hat sie etwas Verdächtiges bemerkt! Ich glaube, da ist etwas dran!“

„Va bene!“, brüllte Marcetti in sein Handy, versuchte den Lärm zu übertönen, denn die Gesänge um ihn herum erreichten ihren Höhepunkt.

Im schnellen Trab lief er die steile Via di Città in Richtung Dom und Questura bergauf. Schnell war er außer Atem und er überlegte mit schlechtem Gewissen, ob er nicht doch einige Kilo abspecken sollte. Gefährlich keuchend erreichte er die Questura und spurtete sofort weiter in die Einsatzzentrale, die zwei Stockwerke höher lag. „Was habt ihr?“, schnaufte er völlig außer Atem, immer noch hatte er sein Fazzoletto unvorschriftsmäßig um den Hals.

Der Polizist strahlte triumphierend. „Also, vor fünf Minuten ging ein Anruf von einer Frau bei uns ein. Sie möchte unerkannt bleiben. Soll ich dennoch ihren Aufenthaltsort ermitteln?“ Seine ganze Körperhaltung drückte Dienstbeflissenheit aus. Vorschriftsmäßig geschnittene schwarze Haare, eine gepflegte Uniform, blank polierte Stiefel. Hier war jemand, der Karriere machen wollte. „Genauso habe ich auch mal ausgesehen“, dachte Marcetti ein wenig neidisch. „Ohne diese paar Pfunde zu viel …“

Marcetti legte den Kopf schief und winkte nachlässig ab. Es war nicht gut Informanten zu verärgern. „Das hat Zeit! Was hat die Dame gesagt?“

„Also, sie arbeitet in einer Ferienanlage. La Pineta. In der Nähe von Monteriggioni. Sie reinigt zweimal in der Woche die Häuser und richtet sie für neu anreisende Touristen her.“ Marcetti zischte enttäuscht durch die Zähne. Saubermachen … Neue Touristen … Wenn es dort etwas zu sehen gab, dann waren vermutlich viele Spuren längst verwischt.

„Weiter!“, meinte er kurz angebunden.

„Also, die Frau hat das Haus eines Mannes geputzt und hat sich gewundert, dass er so früh am Morgen nicht da war. Sie war gegen neun Uhr bei ihm im Haus und da schlafen die Gäste in der Regel noch. Ihr sind einige Blutspritzer aufgefallen. Erst hat sie gedacht, dass es vielleicht Flecken von Moskitos sind und sich darüber geärgert. Inzwischen findet sie das ganze aber irgendwie seltsam. Vor einer Stunde ist sie deswegen noch einmal hin gefahren, aber der Tourist war immer noch nicht da.“

Marcetti brauchte keine drei Sekunden, um eine Entscheidung zu fällen. „Das ist unser Mann! Sofort die Spurensicherung verständigen! Schicken sie mir ein Einsatzfahrzeug dorthin und ich schnappe mir Balloni!“

„Woher wollen Sie wissen, dass dies der richtige Hinweis ist?“, wunderte sich der junge Polizist.

„Erstens, weil es in der Nähe von Monteriggioni ist. Zweitens, weil keine Putzfrau gern bei der Polizei anruft. Und drittens, weil ich meiner Nase traue. Wenn sie Karriere machen wollen, dann vertrauen Sie Ihrem Instinkt.“

„Das werde ich mir merken, Dottore!“ Der Polizist lächelte stolz. „Deswegen habe ich Sie auch verständigt.“

„Gute Entscheidung! Und jetzt stiften Sie besser eine Kerze dafür, dass ich Recht behalte.“

Dann fiel ihm noch etwas anderes ein. „Überprüfen Sie alle Meldungen von La Pineta! Ah, ja! Verständigen Sie den Besitzer darüber, dass wir kommen.“

„Okay“, meinte der Mann übertrieben langgezogen. Ihm schien die ganze Sache zu gefallen. „Hier ist die Adresse.“

„Oh! Die hätte ich fast vergessen“, meinte Marcetti ein wenig verlegen. Dann lief er ein Stockwerk tiefer und brüllte quer durch den Verbindungsgang: „Balloni!“

„Ich komme“, schallte es überrascht zurück.

„Los, wir fahren nach Monteriggioni!“

Balloni lächelte erfreut. „Also war die Information brauchbar?“

„Ich hoffe es.“

Neugierig schaute der Kopf des Questore aus dem Büro, das sich leider im gleichen Stockwerk befand wie die Squadra Mobile. „Was soll diese Aufregung?!“

Marcetti drehte sich mit eingezogenem Kopf um und meinte entschuldigend: „Ein Hinweis in dem Mordfall. Wir wollten dem sofort nachgehen.“

„Sehr gut!“ Der Questore war offensichtlich angenehm überrascht, dass Marcetti während des Palios so viel Einsatz zeigte. „Ich will Sie nicht aufhalten.“

In Höchstgeschwindigkeit rasten die beiden durch die Stadt, diesmal mit Blaulicht, das sie magnetisch auf ihrem Autodach befestigten. Marcetti nutzte die Zeit, um kurz den Staatsanwalt per Handy zu verständigen: „Ja, ein Hinweis von einer Putzfrau. Vielleicht brauchen wir einen Hausdurchsuchungsbefehl.“

„Ich komme sofort“, erklang es geschäftsmäßig. „Wie ist die Adresse?“

Zum zweiten Mal an diesem Tag überwanden Marcetti und Balloni die kurze Distanz nach Monteriggioni und fuhren dann auf der mit Platanen gesäumten Landstraße ein kurzes Stück in Richtung Siena zurück. Nach einigen Kilometern folgten sie einer Abzweigung, die zu der genanten Ferienanlage führte. Malerisch, inmitten von sanften Hügeln, Pinien und schlanken Zypressen standen die einzelnen Häuser aus Natursteinen in einem Olivenhain. In der Mitte der Anlage lag der unvermeidliche Swimmingpool, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Alles wirkte ein wenig abgegriffen und einfach. Luca Marcetti schüttelte den Kopf. „Kannst du mir erklären, warum jemand das Hotel Garden mit dieser Absteige tauscht?“

Balloni schüttelte verneinend den Kopf. Vorsichtig fuhr er in die Einfahrt, dann blieb er orientierungslos stehen. Hinter ihm kamen zwei blaue Einsatzwagen der Polizei mit quietschenden Reifen zum Stehen.

Hastig stellte sich ihnen Marcetti in den Weg und hob beruhigend die Hand. „Reicht schon wieder. Ganz ruhig. Wir warten erst mal auf den Besitzer und die Spurensicherung.“

Fast ein wenig verlegen stellten sich die übereifrigen Polizisten auf die Seite und ließen sich von Balloni kurz einweisen.

Ein schmieriger Typ, klein und drahtig mit einem durch die Sonne verschrumpelten Gesicht kam ihnen mit scheinheiligen Lächeln entgegen. „Oh, was kann ich für Sie tun?“

„Sind Sie Signore Oddo?“, fragte Marcetti mit einem höflichen Lächeln. Er hatte gelernt, den eventuellen Feind erst einmal in Sicherheit zu wiegen.

„Si, si!“, erklärte der Mann eifrig. Es schien, als ob er sich ein wenig dehnte, um in der Gegenwart des stattlichen Commissarios nicht so klein zu wirken.

„Wir suchen nach einem Deutschen. Florian Bauer. Können Sie mir das Haus zeigen, in dem er wohnt?“

„Florian Bau-är? Der Name sagt mir nichts“, behauptete der Mann. Nervös strich er seine fettigen schwarzen Haare nach hinten.

„So? Aber wir haben Informationen, dass er hier abgestiegen ist?“, wunderte sich Marcetti. Fragend drehte er sich zu Balloni um, als müsste dieser ihm die Tatsache bestätigen.

Der kleine Mann streckte sich frech. „Von wem?“

„Nun, wir haben einen Anruf erhalten, dass ihr Gast spurlos verschwunden ist, und wollten dem nachgehen!“

„Ich vermisse keinen Gast, und der Name sagt mir auch nichts!“

Marcetti platzte der Kragen, und sein Hemd spannte sich gefährlich, als er sich aufblähte. „Wir ermitteln in einem Mordfall, und sie sollten besser mit uns kooperieren, oder sie handeln sich unnötig Ärger ein!“

„Ein Mord? Wo ist dann der Staatsanwalt? Haben Sie einen Hausdurchsuchungsbefehl?“, fragte der Eigentümer herausfordernd.

Marcetti stand kurz davor, diesen Wurm zu zertreten, doch dann bog das Auto des Staatsanwalts um die Ecke. Marcetti wandte sich von dem Eigentümer ab und begrüßte erst einmal den Staatsanwalt. Mit kurzen Worten klärte er Signore Brandesa über den Stand der Dinge auf, dann deutete er unwillig auf Signore Oddo. „Angeblich weiß er nichts, aber warum sollte sonst eine Putzfrau bei uns anrufen? Ich will zumindest die Ferienhäuser sehen.“

„Was soll denn das?“, mischte sich der Eigentümer ein. „Sie verschrecken ja alle Gäste!“ Vorwurfsvoll deutete er auf einige Kinder in Badekleidung, die bereits neugierig in der Nähe standen. Der Staatsanwalt rückte seine Sonnenbrille zurecht, stellte sich demonstrativ vor den Commissario und schüttelte dem überraschten Eigentümer die Hand. „Entschuldigen Sie bitte die Umstände! Ich bin Dottore Brandesa, Staatsanwalt!“ Höflich zeigte er seinen Ausweis und zückte einige Papiere. „Wir haben Grund zu der Annahme, dass auf ihrem Grundstück ein Mord geschehen ist. Wo ist das Haus von Florian Bauer? Es wäre besser, mit uns zu kooperieren, ehe ich hier alle Ferienhäuser durchsuchen lasse. Das will doch keiner von uns, nicht wahr?“

Der Besitzer wurde sichtlich blass, wand sich wie ein Wurm und versuchte sich herauszureden: „Also ja, vielleicht ist er der Deutsche, der gestern eingezogen ist. Es ist das hinterste Haus, dort unten im Olivenhain.“

Marcetti verzog ironisch die Lippen und bohrte nach: „Wir wissen ziemlich genau, dass der Gast bereits seit Sonntag hier wohnt. Warum ist die Meldung noch nicht eingereicht worden?“

Die Stimme von Oddo wurde plötzlich säuselnd: „Seit Sonntag? Aber nein! Da wäre mir ein schrecklicher Fehler unterlaufen. Sind Sie sicher? Ich werde sofort meine Frau fragen, was da los ist.“

„Natürlich“, bemerkte Marcetti voller Sarkasmus. „Denn wir werden als Erstes alle Ihre Gäste überprüfen. Sicherlich haben Sie die anderen Meldungen ordnungsgemäß eingereicht, nicht wahr?“

„Oh!“, jammerte Signore Oddo weinerlich. „Wissen Sie, vielleicht fehlt die eine oder andere. Ich hatte einfach keine Zeit. Das ist doch nur ein Versehen!“

„Wissen Sie“, meinte der Commissario kalt. „Die Guardia di Finanza wird sich garantiert dafür interessieren …“

Auf einen Wink begab sich die Polizei zu den einzelnen Häusern und ließ sich die Pässe der Gäste zeigen. Marcetti hätte sein Auto dafür gesetzt, dass mehrere dieser Gäste nicht ordnungsgemäß gemeldet waren. Er packte den Eigentümer am Arm und schubste ihn in Richtung des letzten Ferienhauses: „Los! Aufsperren!“ Alle Höflichkeitsfloskeln waren wie weggewischt, stattdessen wurde der Eigentümer plötzlich wie ein Schwerverbrecher behandelt. Mit schlurfenden Schritten, unablässig vor sich hin jammernd, führte der Mann die Ermittler über den gekiesten Weg zu dem abgelegenen Ferienhaus.

Mit zitternden Händen sperrte Signore Oddo das kleine Haus auf und suchte nach dem Lichtschalter. Die braun gestrichenen Fensterläden waren geschlossen, und so lag alles im Dunkeln, wirkte eher wie eine Gruft. Neugierig traten Marcetti, Balloni und der Staatsanwalt ein, sorgsam darauf bedacht, selbst keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Alles war halbwegs sauber und aufgeräumt. Ein kleines Ferienhaus mit der typischen Zimmerdecke aus Balken und Ziegeln, ein Schlafzimmer, eine winzige Küchenzeile und ein Wohnbereich mit Fernseher vor einer moosgrünen, geschmacklosen Couch. Auf dem Esstisch lagen ein Notebook und einige unordentliche Notizzettel. Marcetti schickte Balloni wieder hinaus. „Pass auf, dass nur die Spurensicherung hierher kommt. Ich will keine neugierigen Kinder, die alle Spuren verwischen.“

Balloni verzog sich und sah sich ein wenig vor dem Haus um. Es stand ziemlich abseits, und hatte eine kleine mit roten Ziegeln gepflasterte Terrasse, die jetzt völlig im Schatten lag, einen Autostellplatz und einige Rotbuchen, die mit ihren rötlichen Blättern dem Ganzen einen farbigen Anstrich gaben. Ansonsten blickte man in den silbrig-grauen Olivenhain, nur in der Ferne erhoben sich die allgegenwärtigen dunkelgrünen Zypressen. Einige lieblos angepflanzte, fast völlig vertrocknete Strauchrosen und Lavendelbüsche umgaben die Terrasse in dem kläglichen Versuch, das einfache Haus gemütlicher zu gestalten. Außerdem stand dort nur eine billige Gartengarnitur aus Plastik und in der Ecke ein kleiner Tisch mit einer Vase. Es wurde langsam dämmrig, und Balloni hoffte, dass die Spurensicherung bald kam.

Im Haus schauten sich Marcetti und Brandesa unschlüssig um.

War das wirklich das richtige Haus?

„Wo ist der Gast?“, fragte Marcetti den Besitzer.

Dieser bemühte sich um einen besseren Eindruck. „Ich weiß es wirklich nicht. Wie kommen Sie denn darauf, dass hier ein Mord stattgefunden haben soll?“

„Weil Ihr Gast vermutlich seit gestern Nacht verschwunden ist.“

„Vielleicht ist er abgereist?“, hoffte der Eigentümer.

„Hat er bezahlt? Und warum sind dann seine Sachen noch hier?“, konterte Marcetti.

„Äh, ja, also …“

„Wie ist der Name Ihres Gastes? Ich meine, jener, der hier offensichtlich wohnt.“ Marcettis Stimme wurde ungeduldig.

„Ja, also, es könnte schon sein, dass der Name Florian Bau-är war.“, gab Signore Oddo zu.

„War?“, wunderte sich Marcetti.

„Ja, äh, also …?“

Marcetti schaute in das Schlafzimmer und inspizierte das große Eisenbett. Es war frisch bezogen und wirkte an sich unauffällig. Aber er sah sofort die kleinen Blutspritzer an der weiß gestrichenen Wand. In der Ecke lag eine Reitgerte auf einem Stuhl. Ordentlich hingen eine graue Hose und ein gestreiftes Hemd darüber. „Wie oft kommen die Putzfrauen?“

„Zweimal die Woche. Mittwoch und Samstag.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben für diesen Stall?“

„Stall?!“, empörte sich der Eigentümer.

Wieder fiel Marcettis Blick auf die Reitgerte, die er eben fast übersehen hatte, und plötzlich fielen ihm die Reitstiefel des Toten ein. Er war sich auf einmal sicher, dass sie das richtige Haus gefunden hatten. „Wissen Sie, wo ihr Gast zum Reiten hingegangen ist?“

„Keine Ahnung“, zuckte Oddo die Schultern. Er kümmerte sich nicht um die Hobbys seiner Gäste.

„Aha!“ Marcetti warf sich in Positur und wandte sich mit energischer Stimme an den Staatsanwalt: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Ort etwas mit dem Ermordeten zu tun hat. Die Spurensicherung soll alles auf Fingerabdrücke untersuchen oder anderes Beweismaterial sicherstellen.“

„Daran dachte ich auch“, stimmte Brandesa zu. „Sie sollen den Computer checken. Wahrscheinlich sind da am ehesten die Fingerabdrücke des Deutschen.“

„Bestimmt! Aber ist es erlaubt, den Computer eines deutschen Politikers zu überprüfen?“

Der Staatsanwalt legte triumphierend und lächelnd den Kopf schief. „Wissen Sie etwas über einen deutschen Politiker? Meines Wissens sind die alle im Hotel Garden. Sehen Sie zu, dass Sie möglichst schnell Informationen zusammentragen, ehe uns die Politiker Knüppel zwischen die Beine werfen. Wir müssen beweisen, dass Florian Bauer tatsächlich hier gewohnt hat.“

Marcetti lächelte und fand den Staatsanwalt nun doch ganz nett; dann deutete er auf den kleinen blauen Reisekoffer: „Nun, die Kleidung könnten auch seine Angehörigen identifizieren.“

„Fingerabdrücke sind mir lieber. Hoffentlich sind die Blutspritzer an der Wand von dem Toten, dann hätten wir endlich den Tatort.“

Marcetti nickte, dann überlegte er weiter. „Das Anwesen ist sehr abgelegen. Der Mörder müsste mit dem Auto gekommen sein. Vielleicht haben die anderen Gäste etwas gesehen?“

„Gute Idee! Obwohl ich nicht glaube, dass jemand mit dem Auto hier vorfährt, um jemanden umzubringen.“

Marcetti lachte geringschätzig. „Die meisten Mörder stellen sich einfach zu dumm an! Warum nicht? Wenn der Deutsche seinen Mörder gekannt hat? Ihn arglos ins Haus gelassen hat? So etwas ist schon oft passiert.“

„Da haben Sie Recht! Also gut, lassen Sie auch die Autospuren vor dem Haus sichern, soweit sie noch zu erkennen sind. Und befragen Sie die anderen Gäste.“

„Sehr wohl!“

„Ich kehre jetzt nach Siena zurück, und Sie kümmern sich darum, dass die Spurensicherung vernünftig arbeiten kann.“

Marcetti war das nur recht. Sobald Brandesa verschwunden war, würde er die Arbeit Balloni überlassen und selbst ins Hotel Garden fahren, um die Deutschen zu befragen. Für den ersten Tag hatte er ziemlich viel erreicht.

Gut gelaunt wandte er sich an Balloni: „Also, die Spurensicherung soll alles mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Alles! Ich will sämtliche Spuren der letzten Wochen. Bis ins Detail! Vielleicht finden Sie draußen vor dem Haus noch Reifenabdrücke, das wäre gut. Ach ja, sag den Polizisten, dass sie die Touristen befragen sollen, ob sie irgendetwas gesehen haben.“

„Das sind fast alles Deutsche oder Holländer! Soll ich einen Dolmetscher auftreiben?“

„Versuch es erst mal mit Englisch.“

Marcetti ließ sich von der Polizei nach Siena zurückfahren und lehnte sich zufrieden zurück. Wenn sie erst einmal den Tatort kannten, dann war auch der Mörder nicht mehr weit. Er würde diesem deutschen Ermittler, der morgen auftauchen würde, hoffentlich bald einen abgeschlossenen Fall präsentieren.

Parlamentarische Immunität

Es wurde spät. Die Sonne tauchte den Horizont in ein tiefes Lila, durchzogen mit roten Streifen. Deutlich hob sich die Silhouette von Siena mit dem charakteristischem Turm, den hintereinander gebauten Häusern aus Ziegeln und dem schwarz-weiß gestreiften Dom gegen den Hintergrund aus sanften Hügeln ab. Die Sonnenuntergänge in der Toskana waren atemberaubend. Marcetti wollte an keinem anderen Platz der Welt leben. Er war mit Leib und Seele ein Seneser und fühlte sich als Nachfahre der Etrusker, die hier gesiedelt hatten, ehe sie vom Römischen Reich geschluckt worden waren.

Marcetti ließ sich zur Questura fahren, dann überlegte er es sich anders und lief die steile Costa Larga in die Casato di Sotto hinunter, eine der engen und dunklen Straßen, wie sie typisch für Siena sind. Nach zweihundert Metern erreichte er das Haus, in dessen oberstem Stockwerk er sein kleines Apartment hatte. Gegenüber lag die kleine Kirche seiner Contrade, von der ockerfarbenen Häuserzeile eigentlich kaum zu unterscheiden, und in den umliegenden Gebäuden waren das Museum, die Verwaltung und der Fundus an Fahnen und Kostümen untergebracht. Den Stall konnte er quasi riechen, und nachts setzte er sich gern mit einem Glas Wein zu den Männern, die das Pferd bewachten.

Sein Apartment lag in einem der uralten Gebäude aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die von außen eher baufällig wirkten, innen aber aufwendig saniert worden waren. Meist verbargen die bröckeligen Fassaden, mit Elektroleitungen, die auf dem Putz verlegt worden waren, oder den Wäscheleinen vor den Fenstern, eine Pracht und Eleganz, die selbst dem unaufmerksamen Spaziergänger entging. Hinter unscheinbaren Türen öffneten sich plötzlich großzügige Innenhöfe, grüne Gärten oder Terrassen und ein luxuriöses mediterranes Wohnambiente. Liebevoll dekorierte Blumentöpfe mit Geranien standen in den unmöglichsten Winkeln, und in den Ritzen der alten Gemäuer wuchsen Efeu und Kapern. Obwohl seine Wohnung eher klein war, hatte Luca Marcetti bisher nichts Besseres gefunden. Für die wenigen Quadratmeter, die ihm zu Verfügung standen, war der Mietpreis viel zu hoch, und eine größere Wohnung im Zentrum war für ihn nicht erschwinglich. Aber er wollte keinesfalls in eine der Trabantenstädte wie Aqua Calda, in den Vororten von Siena ziehen. Hier, im Zentrum, war seine Heimat, hier war er aufgewachsen. Sein Vater, der nicht ganz unvermögend war, hatte seine Hilfe bei der Finanzierung einer neuen Wohnung angeboten, aber Marcetti verzichtete lieber auf die Unterstützung seines übermächtigen Vaters. Sein Apartment war daher spartanisch eingerichtet. Außerdem hütete er sich davor, Plunder anzusammeln. Ein elegantes Bett, noch mit der durchwühlten Bettwäsche der letzten Nacht, eine moderne Couch in schwarzem Leder, davor ein großer Plasmafernseher; diese Möbel dominierten das Zimmer. Außerdem besaß er einen antiken Schreibtisch, penibel aufgeräumt, als diente er nur zur Dekoration, ein Bücherregal und eine dunkle Glasvitrine, in der Dioramen mit kunstvoll bemalten Zinnfiguren standen. In der Küche war nur das notwendigste Geschirr untergebracht, obwohl er ganz gern kochte. Aber mehr als zwei Teller waren Luxus, weil er den Platz für etwas anderes brauchte: Sein Hobby war das Modellieren und Bemalen von Figuren, und so hatte er sich in der winzigen Küche, vor dem Fenster mit Blick auf eine riesige Zeder, einen Werkplatz eingerichtet. War das Wohnzimmer spartanisch eingerichtet, so quoll die Küche über. Jeden Quadratzentimeter nutzte er aus, und an den Wänden türmten sich Regale mit Bastel-Utensilien, Pinseln in allen Größen und Hunderten von kleinen Plastikfarbfläschchen.

Der Anrufbeantworter auf dem Schreibtisch blinkte, und Marcetti hörte ihn kaum interessiert ab. Eine helle, leicht verärgerte Frauenstimme schallte aus dem Mikrofon: „Luca! Hier ist Marcella! Ruf gefälligst zurück!“ Marcetti runzelte indigniert die Stirn und pfiff leise durch die Zähne. Diese Marcella wurde ihm eindeutig zu dominant. Er wünschte sich eine kleine kuschelige Freundin, eine, die sich freute, wenn er sich meldete, und ihn in Ruhe ließ, wenn er beschäftigt war. Hatte Marcella nicht verstanden, in welch verantwortungsvoller Position er arbeitete? Nun, er beschloss ihren Anruf zu ignorieren und nicht zurückzurufen. Als Nächstes erklang die Stimme seines Sohnes, von seiner eigenen Stimme fast nicht zu unterscheiden. „Ciao Babo, sono Francesco!“ Er drückte die Rückruftaste und lächelte noch über die kurze Nachricht, als sein Sohn bereits antwortete: „Ciao, Babo! Wie geht’s?“

„Ganz gut. Und dir?“

Ein Schnauben war zu hören: „Was fragst du noch? Wir haben ein schlechtes Pferd gezogen! Wir ersäufen unseren Frust gerade in Wein!“

„Oje“, bedauerte Marcetti seinen Sohn. Sein Sohn war auf Wunsch seiner Mutter in die Contrade Tartuca getauft worden, eine Entscheidung, die er bis heute bereute. „Gibt es sonst noch was?“ Er hatte das leichte Lallen in der Stimme seines Sohnes gehört und wollte das Gespräch lieber abbrechen.

„Nein, nein! Sehen wir uns am Sonntag?“

„Ja, klar! Ich melde mich vorher bei dir. Ciao, Francesco!“

„Ciao, Babo!“

Marcetti zog seine Sachen aus und warf sie nachlässig über einen Stuhl, dann erfrischte er sich kurz in seinem kleinen Badezimmer. Es war hell gekachelt, und eine schwarze Zierleiste lief in Augenhöhe an der Wand entlang. Immerhin bot es Platz für eine moderne Dusche mit Glas-Schwingtüren und verchromten Armaturen. Dann suchte er aus dem dunklen, mit Kleidung buchstäblich überquellenden Einbauschrank in der Garderobe einen grauen Anzug heraus. Schließlich wollte er auf diese deutschen Politiker einen guten, offiziellen Eindruck machen. Er schlüpfte hinein, steckte seinen Geldbeutel in eine Seitentasche seines Anzugs und warf einen Blick auf seine silberne Uhr der Marke Breitling. Neun Uhr! Oje! Mit eiligen Schritten, nebenbei noch eine Krawatte bindend, machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Er erlaubte sich einen kleinen Umweg und schaute kurz im Rostro vorbei. Die Angehörigen seiner Contrade hatten sich bereits zum gemeinsamen Abendessen versammelt und an den langen Tischreihen Platz genommen. An einem Tisch saßen ausschließlich die Männer und sangen, nicht mehr ganz nüchtern, Schlachtlieder gegen den Feind. An diesem Tisch saß auch der Capitano mit dem Fantino, der überschwänglich gefeiert wurde. An einem anderen Tisch saßen junge Frauen und Mädchen, die immer wieder ihre eigenen Schmäh- und Siegeslieder anstimmten. Es dominierte eindeutig die Farbe Gelb, denn sowohl die Tischdekoration als auch die Kleidung der Männer waren in der Farbe der Contrade gehalten. Alle trugen ihre gelben Schals um die Schultern, selbst kleinste Kinder liefen damit herum. Sie unterschieden sich eindeutig von den Tüchern, die an unwissende Touristen verkauft wurden. Ein Aufschrei ging durch die Reihen, als Marcetti auftauchte, und sofort wurde ihm ein Platz angeboten. „Hast du schon etwas gegessen? Komm, setz dich zu uns!“

Jemand schob ihm einen unbenutzten Plastikteller entgegen, und kurz überlegte Marcetti, ob er nicht doch etwas essen sollte. Nur zögernd lehnte er ab: „No, no! Mi dispiace! Ich muss noch etwas erledigen.“ Aber da tat es ihm schon leid, dass er überhaupt gekommen war. Jetzt fiel ihm der Verzicht noch schwerer, denn er sah, was er verpasste. „Vielleicht komme ich später noch vorbei“, hoffte er sehnsüchtig.

Schlecht gelaunt schlenderte er zum Dom, stieg in seinen Alfa Romeo und fuhr zum Hotel Garden.

Alberto, der stets dienstbeflissene Geschäftsführer, war persönlich vor Ort, um alles in die Wege zu leiten. „Die Deutschen sind gleich fertig mit dem Essen. Ich bringe sie dann in einen der Konferenzräume. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“

„Ja, ein Kaffee wäre schön“, brummte Marcetti. Der Tag war anstrengend gewesen, und er wurde langsam müde.

Gemeinsam stellten sie sich an die Bar des Hotels und genossen die Musik, die leise aus den Lautsprechern erklang. Der Barkeeper mit seinem exklusiven Musikgeschmack war der wahre Schatz des Hotels: Geboren in Äthiopien, aufgewachsen in Amerika, lebte er nun mit seiner italienischen Frau in Siena, er war sozusagen gestrandet. Seine ausgefallenen Cocktails waren stadtbekannt, aber am meisten genoss Marcetti die Musik, die Signore Atta in langen Stunden zu Hause zusammenstellte. Hier hörte man Kate Bush, Pink Floyd, Lou Reed, gemischt mit Andrea Bocelli oder Lionel Ritchie und den Eagles. Im Moment lief der Live-Mitschnitt „A horse with no name“ von America, und Marcetti legte sich seine Fragen zurecht, während er der getragenen Musik nachsann. Er überlegte sich, wer von den jungen Leuten heutzutage noch America oder die Eagles kannte. Signore Atta merkte in seiner dezenten Art, dass der Commissario in Gedanken versunken war, und polierte einige Gläser. Er wusste instinktiv, wann Gäste lieber Unterhaltung oder ihre Ruhe wollten. Als jedoch der Barkeeper dem Minihund einer amerikanischen Touristin Wasser mit Eiswürfeln reichte, runzelte selbst der in Gedanken verlorene Commissario die Stirn, als Zeichen, dass dies wohl der Gipfel an Dekadenz war. Attla zuckte nur grinsend die Schultern und nahm es als Spiel, als kleine Provokation, die zeigen sollte, dass auch er sich manchmal einen Scherz erlaubte.

Schließlich nickte Alberto dem Commissario zu, und gemeinsam gingen sie ein Stockwerk tiefer. Dort gab es eine weitere Bar, die jedoch nur bei großen Empfängen genutzt wurde. Jetzt hatten sich hier die deutschen Politiker versammelt und standen ein wenig irritiert herum. Alberto übernahm die Aufgabe, den Commissario vorzustellen, und Marcetti staunte, dass Alberto sogar die einzelnen Namen der deutschen Politiker wusste. Jeder reichte ihm mit einem festen, professionellen, geschulten Händedruck die Hand, dann setzten sich alle auf die hellgrünen Sofas. Marcetti wunderte sich, dass keine einzige Frau zu dieser Delegation gehörte.

Er räusperte sich kurz, wusste nicht, wie er eigentlich anfangen sollte. Schließlich stand er wieder auf und ging einige Schritte auf und ab. So konnte er besser nachdenken.

Er ließ seine Hände in den Hosentaschen verschwinden, ein Zeichen seiner Nervosität, und begann umständlich und in abgehacktem Englisch: „Also, leider habe ich sehr unerfreuliche Nachrichten für Sie …“ Er machte eine kurze Pause, dann ließ er seine Stimme absinken: „Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Kollege Florian Bauer heute Morgen ermordet aufgefunden worden ist.“ Er ließ sich Zeit, die Reaktion der versammelten Politiker in sich aufzunehmen. Alle wirkten glaubhaft erschrocken und entsetzt. „Wir bedauern diesen Vorfall sehr, und ich möchte Ihnen versichern, dass wir unser Möglichstes tun, um den Mord aufzuklären.“

Einer der Männer räusperte sich: „Und wie wurde Florian Bauer ermordet?“

Marcetti zog seine Hände wieder aus den Hosentaschen und hob sie entschuldigend in die Höhe. „Sie verstehen sicherlich, dass wir das im Moment noch nicht preisgeben können. Fest steht, dass er gestern Abend getötet wurde. Ich hoffe, dass Sie mir ein wenig weiterhelfen können, denn wir stehen natürlich erst am Anfang unserer Ermittlungen. Jeder Hinweis kann ein wichtiges Detail sein, auch wenn Sie vielleicht denken, dass es nebensächlich ist.“

Erregtes Getuschel war zu vernehmen, und Marcetti wartete höflich, bis er wieder die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer hatte. „Ihre Aufregung ist berechtigt, aber bitte verstehen Sie, dass ich Ihnen nun gern einige Fragen stellen möchte.“

„Nun, Sie wissen sicherlich, dass wir parlamentarische Immunität genießen. Aber vielleicht können wir Ihnen ja die gewünschten Informationen geben“, meinte ein Abgeordneter. Marcetti notierte sich zu diesem Gesicht ein Ausrufungszeichen in seinem Gedächtnis. „Ja, könnten Sie mir bitte noch einmal Ihre Namen notieren? Nur für die Akten!“, bat Marcetti höflich. Er konnte die Namen später auch über Alberto erfragen, aber er wollte sich die Gesichter merken. Er ließ einen Zettel herumgehen, und bereitwillig schrieb jeder seinen Namen darauf. „Ah, also Georg Abramczik. Natürlich weiß ich über ihre parlamentarische Immunität Bescheid. Selbstverständlich werde ich keine persönlichen Fragen stellen, denn ich gehe nicht davon aus, dass jemand von Ihnen etwas mit dem Mordfall zu tun hat. Aber Sie könnten mir helfen, einen Überblick darüber zu erhalten, was Signore Bauer zuletzt getan hat.“

Die Leute nickten vorsichtig, und Marcetti hatte den Eindruck, dass er sich auf brüchiges Eis begab. Ein falsches Wort von ihm, und er müsste über den deutschen Staatsanwalt seine Befragung fortsetzen. „Vielleicht können Sie mir sagen, wann Sie Signore Bauer das letzte Mal gesehen haben?“

Die vier Männer schauten sich kurz an, dann meinte Herr Kleinschmidt, ein feister Mann mit sorgfältig gepflegtem Zwirbelbart: „Ich denke, dass ich ihn am Dienstag das letzte Mal gesehen habe. Wir hatten ein Treffen mit der italienischen Delegation.“

Das stimmte mit der Einschätzung von Alberto überein, und so wandte sich Marcetti an die anderen: „Hat ihn jemand nach dieser Besprechung noch gesehen? Vielleicht am Abend? In der Bar?“

Klaus Haber, ein eleganter Mann mit goldumrahmter Brille, schüttelte wichtig den Kopf. „Nein, er hatte es eilig. Er hat sich gleich zu seinem Hotel fahren lassen.“

„Fahren lassen? Hatte er denn keinen Leihwagen?“

„Nein, wozu? Wir haben einen Fahrdienst. Herr Bauer ist jeden Morgen abgeholt worden.“

„Ach so! Und am Mittwoch hat ihn niemand mehr gesehen?“

Alle schüttelten wie verabredet den Kopf, und Marcetti bereute, dass er sie nicht einzeln befragen konnte. Aber dann würde sich vermutlich jeder dieser Herren auf seine Immunität berufen.

„Warum nicht? Was haben Sie am Mittwoch gemacht?“

„Wir haben uns Florenz angesehen. Aber Herr Bauer wollte nicht mit. Er wollte sich stattdessen in Siena die Auslosung der Pferde ansehen.“

„Aha, und das ist so ohne weiteres möglich? Ich meine, dass jemand aus einer Delegation nicht an irgendwelchen Ausflügen teilnimmt?“

Wieder antwortete Georg Abramczik, und Marcetti ordnete ihn insgeheim als Wortführer dieser Delegation ein. „Aber natürlich! Das sind schließlich Freizeitaktivitäten. Selbstverständlich sollte jeder an den Sitzungen teilnehmen, aber in seiner Freizeit kann jeder tun und lassen, was er will.“

„Aha, und Signore Bauer interessiert sich also mehr für Pferde? War das auch der Grund, warum er nicht im Hotel Garden geblieben ist?“

Herr Kleinschmid zuckte mit seinen breiten Schultern. „Das kann schon sein. Er hat sich oft abgeseilt.“

Marcetti wunderte sich: „Er hat schon früher ein anderes Hotel gebucht? Wieso tauscht er ein so gepflegtes Hotel wie das Hotel Garden mit einem einfachen Schuppen?“

Kleinschmid zögerte ein wenig, dann meinte er jovial: „Nun, unser werter Kollege war ein einfacher, bescheidener Mensch. Er liebte die Einsamkeit und zog sich gern zurück.“

„Ist das für einen Politiker nicht ein eher ungewöhnliches Verhalten? Ich meine, wer wählt ihn denn, wenn er so zurückhaltend ist?“

Klaus Haber nahm seinen Kollegen sofort in Schutz: „Herr Bauer hat sich für seine Wähler aufgeopfert. Wer würde es ihm übel nehmen, wenn er bei einer solchen Gelegenheit ein wenig Ruhe sucht.“

„Natürlich“, stimmte Marcetti zu. „Das verstehe ich. Am Abend auf der Terrasse sitzen und gemütlich einen Wein trinken. Ein bisschen den Stress vergessen.“

Alle nickten bestätigend, und Marcetti lächelte freundlich. „Können Sie mir sagen, woran diese Kommission hier arbeitet? Alberto sagte mir, dass Sie mit einigen italienischen Abgeordneten über EU-Rechten brüten?“

„Nun, leider können wir Ihnen hierzu keine Informationen geben“, wehrte Georg Abramczik die Frage ab.

Marcetti blinzelte überrascht, denn diese Information würde in jeder Zeitung stehen. Der Wortführer war ihm sofort unsympathisch – und nicht nur dessen Äußeres. Ein quadratischer Schädel ruhte auf einem massigen Rumpf, fast ohne Hals, und so machte der Politiker eher den Eindruck eines Preisboxers. Ein einfacher Arbeiter, der sich offensichtlich in der Partei hochgedient hatte. Marcetti entschuldigte sich freundlich: „Kein Problem! Letztendlich hat das nichts mit dem Mord zu tun. Können Sie mir sagen, ob Signore Bauer irgendwelche Feinde hatte oder vielleicht besorgt war?“

Wieder beantwortete Abramczik die Frage: „Nein, darüber ist uns nichts bekannt.“

„Hat sich Signore Bauer vielleicht anders verhalten als sonst?“

Marcetti drehte sich mit Absicht den anderen Männern zu, gab somit auch ihnen die Möglichkeit, zu antworten. Alle wechselten Blicke miteinander und schüttelten dann harmlos die Köpfe. Ihnen schienen die Fragen eher lästig zu sein.

Marcetti bemerkte eine gewisse Unruhe unter den Anwesenden und begab sich auf unverfängliches Terrain: „Kann mir vielleicht jemand Auskunft geben, was Signore Bauer in seiner Freizeit gemacht hat? Vielleicht weiß jemand, wo Signore Bauer zum Reiten hingegangen ist?“

„Zum Reiten?“, wunderte sich Herr Kleinschmid.

„Ja, wussten Sie das nicht?“, fragte Marcetti erstaunt. „Wie lange kennen Sie denn Florian Bauer schon?“

Herr Kleinschmid stotterte offensichtlich: „Äh, ja, schon etwas länger! Wir haben oft zusammengearbeitet.“

Marcetti wandte sich an die anderen: „Und wie lange kennen Sie Signore Bauer?“

Alle murmelten etwas Unverständliches, aber es ging eindeutig daraus hervor, dass alle mehrmals mit ihm zu tun gehabt hatten. „Aber niemand kannte Signore Bauer gut genug, dass er wüsste, was er so in seiner Freizeit getan hat? Ich meine so einfache Dinge wie Reiten, Sport, Lesen oder dergleichen?“

Plötzlich wollte niemand mehr antworten, und wieder fiel der Begriff der parlamentarischen Immunität. Marcetti tat überrascht: „Ich rede nur über Hobbys! Ich versuche mir ein Bild von ihm zu machen. Das sind doch keine Geheimnisse! Aber gut, vielleicht gehört es wirklich nicht hierher.“

Marcetti senkte frustriert den Kopf. „Kann mir jemand sagen, ob Signore Bauer in Siena jemanden gekannt hat oder hier früher schon einmal Kontakte hatte?“

Wieder kam nur ein kollektives Schulterzucken, und Marcetti legte den Kopf schief. „Finden Sie das nicht ungewöhnlich? Ein Mann, der noch nie in Siena gewesen ist, hier niemanden kennt, mietet sich ein einsames Ferienhaus und wird ermordet.“

„Sind wir in irgendeiner Form verdächtig, nur weil wir Ihnen keine Antworten geben können?“, meinte Abramczik herausfordernd. „Sie wissen doch, dass wir aufgrund unserer politischen Stellung überhaupt nicht mit Ihnen reden müssten!“

„Aber nein!“, wehrte Marcetti übertrieben freundlich ab. „Sie sind äußert kooperativ. Ich kann mir lediglich auf manche Informationen keinen Reim machen.“

„Nun“, lenkte Herr Haber ein. „Es ist einfach so, dass Herr Bauer sich ganz gern abgesondert hat und wir tatsächlich nicht viel über ihn wissen. Wir sind eine Arbeitsgemeinschaft. Manche verstehen sich besser und treffen sich auch in ihrer Freizeit, andere wollen lieber ihre Ruhe. Das ist alles.“

Marcetti tat verständnisvoll und lächelte versöhnlich. „Bene! Jetzt habe ich einen viel besseren Eindruck und bedanke mich herzlich für Ihre Kooperation. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt und viel Erfolg bei ihren Verhandlungen.“

Er schüttelte jedem Abgeordneten die Hand und verabschiedete sich höflich. Dann verließ er nachdenklich das Hotel Garden. Eigentlich hatte er nichts erfahren. Nun, offensichtlich war es doch nichts Ungewöhnliches gewesen, dass Florian Bauer ein einfaches Ferienhaus gewählt hatte. Alles wäre völlig normal, wenn er noch leben würde. Aber warum war er dann mehrere Male auf die parlamentarische Immunität hingewiesen worden?!

Intuitiv spürte er etwas. Er kehrte um und suchte nach Alberto. „Hör mal! Wäre es ein Problem, auch mit den italienischen Abgeordneten zu sprechen?“

Alberto zuckte sichtlich zusammen, doch dann nickte er resigniert. „Natürlich geht das! Vielleicht morgen beim Frühstück?“

„Gute Idee! Wann frühstücken die Herren?“

„So zwischen neun und zehn Uhr!“

Marcetti seufzte genauso resigniert, denn um diese Zeit wäre die zweite Probe des Palios. „Was machen sie anschließend?“

Alberto schaute auf seinen Terminkalender. „Anschließend ist eine Sitzung anberaumt. Pause um dreizehn Uhr mit Erfrischungen und Getränken.“

„Gut!“, freute sich Marcetti. „Das ist doch eine wunderbare Gelegenheit, dass ich ganz zwanglos mit ihnen plaudern kann.“

„Soll ich die Abgeordneten über Ihre Ankunft benachrichtigen?“

„Nein, nein!“, wehrte Marcetti ab. „Es ist ja kein Verhör. Ich möchte nur die Meinung der Italiener hören. Das ist alles.“

Marcetti lächelte freundlich und verabschiedete sich zum zweiten Mal: „Ciao, Alberto!“

„Buona notte, Luca!“

Marcetti parkte sein Auto vor dem Dom und lief die Via del Capitano zur Piazza di Postierla hinunter. Schon von weitem war das Gelächter seiner Contrade zu hören, und Marcetti freute sich, endlich mit seinen Freunden zusammen zu sein. Er war immer noch in seinem Anzug, aber er wollte keine weitere Zeit verlieren, indem er sich umzog. Schunkelnd saßen die Männer auf den klapprigen Stühlen oder Bierbänken und hoben die Plastikbecher zum nächsten Trinkspruch. Marcetti zwängte sich dazwischen, und gleich wurde ihm ein gefüllter Becher in die Hand gedrückt. Marcetti trank ihn mit tiefen Zügen aus und verlangte mit lauter Stimme nach mehr. Er musste sich beeilen, wenn er den Alkoholspiegel der anderen einholen wollte. Sofort rötete sich seine Nase, und eine angenehme Wärme breitete sich in seinen Gedärmen aus. Übermütig winkte er eines der Mädchen herbei, die zum Bedienen eingeteilt waren. „Amore! Bring mir doch etwas zu essen!“

„Wir haben nichts mehr!“, weigerte sich die schlanke Schönheit.

Schon hatte sie mindestens fünfzig Männer gegen sich, die empört ein Essen für den Commissario verlangten. Hilflos stand das Mädchen vor dem Ausbruch geballter männlicher Solidarität und sah sich nach Hilfe um. Eine Frau kam herbei und verlangte nach einer Erklärung für das Geschrei. Mit Löffeln und Messern schlugen die Männer auf den Tisch und brüllten: „Essen! Essen! Essen für den Commissario!“

„Va bene! Va bene!“, beruhigte die Dame die aufgebrachte Menge. „Ich koche schnell etwas für ihn!“

Ein gewaltiger Jubel antwortete ihr, und ihr Einsatz wurde der Anlass für den nächsten Trinkspruch: „Hoch lebe Maria!“

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2017
ISBN (ePUB)
9783956070280
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Siena Mord Politik Polizei Italien Deutschland Kommissar Im Schatten des Schamanen

Autoren

Kerstin Groeper, geboren 1961 in Berlin, arbeitete als Fachautorin und Journalistin, bevor sie nach Kanada ging. Sie verfasste viel gelesene Romane über die indianischen Kulturen Nordamerikas. Zu ihren Publikumserfolgen gehören »Kranichfrau. Die Geschichte einer Blackfeetkriegerin«, »Die Feder folgt dem Wind. Eine weiße Frau bei den Sioux« oder »Indianisch für Anfänger«. Zurück in Europa widmete sie sich ihrer Liebe zur toskanischen Stadt Siena, in der das gefährlichste Pferderennen der Welt, der Palio von Siena, veranstaltet wird. Kerstin Groeper, wie ihre ganze Familie, ist Mitglied der Nobile Contrada dell’ Aquila und nimmt seit zwanzig Jahren am Palio teil. Sie lebt in der Nähe von München. Im Sommer findet man sie jedoch in Siena.
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Titel: Im Schatten des Palio