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Stunde der Verlierer

©2017 355 Seiten

Zusammenfassung

Fünf Millionen Dollar – das Lösegeld aus einer Flugzeugentführung – versteckt in einer unzugänglichen Gegend in Honduras.

Nur einer kennt den Weg dorthin: Mase Kurvin.

Aber als der alte Fuchs endlich Kasse machen will, verfolgt ihn das Pech. Nachdem er mit dem Hubschrauber abstürzt und sich ein Bein bricht, fällt er in die Hände dreier skrupelloser Gangster, die den Braten riechen und ihn zwingen, sie zu dem Versteck zu führen.
Aber da sind noch Denison, ein heruntergekommener Journalist, und Kurvins junge Freundin Elina mit von der Partie. Beide sind aus völlig gegensätzlichen Motiven hinter dem Geld her. Als auch noch Liebe ins Spiel kommt, wird die Situation ausweglos, denn der Erfolg des einen muss zwangsläufig die Niederlage des anderen bedeuten.
Das ist jedoch nur hypothetisch, denn die drei Gangster haben von Anfang an nicht die Absicht, mit irgendjemandem zu teilen.

Wolf G. Winning ist seinen Lesern auch bekannt durch seine Romane „Wer weiß schon, wann die Stunde schlägt“, Stille Nacht – eisige Nacht“ und im Besonderen durch die hist. Indianer-Romane „Roter Bruder Abel“, Mountain Sunrise“ und in Vorbereitung: „Igmuntanka Wicasha – Der Pumamann“.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wolf G. Winning

Die Stunde der Verlierer

Roman

Prolog

Mit dieser wahnwitzigen Idee hatte alles begonnen. In diesem verdammten Flugzeug – damals.

Damals – vor langer Zeit, an jenem heißen Tag im Juni 1967.

In dieser Boing 727.

Da stand sie am Ende der Rollbahn in der Mittagssonne wie ein großer silberner Vogel, der seine Schwingen ausgebreitet hielt, um ein Fleckchen Schatten auf den Beton unter sich zu werfen. Kochende Luft stieg in gläsernen Schleiern von der Piste empor. Mit ihrem die Konturen verzerrenden Flimmern unterstrich sie die starre Regungslosigkeit dieser Maschine, die an ein entsetztes, zitterndes Tier erinnerte. Nichts regte sich sonst in weitem Umkreis. Die Männer in Kampfanzügen mit Stahlhelmen und automatischen Waffen blieben unauffällig im Schatten der Gebäude. Ihre Haltung drückte Gespanntheit und Einsatzbereitschaft aus. Aber nichts deutete auf unmittelbar bevorstehende Aktionen hin.

Zahlreiche Augenpaare beobachteten die Maschine aus dem Tower des Flughafens heraus und auf den Monitoren im Raum des Einsatzkommandos. Stimmen schwirrten durcheinander, verflochten sich zu nicht zusammenhängenden Wortfetzen, die keinen Sinn ergaben. Auch der ständige Sprechfunkkontakt zu den Bewaffneten außerhalb der Gebäude konnte über die allgemein herrschende Hilflosigkeit und Unsicherheit nicht hinwegtäuschen.

Nichts war bis jetzt präzisiert worden. Nichts konnte entschieden werden. Der Tatendrang einiger Herren lag vorläufig auf Eis. Wie ein Bannkreis hatte sich abwartende Tatenlosigkeit rund um das Flugzeug gelegt, so als wütete das Gelbe Fieber oder die Pest an Bord. Dabei handelte es sich um etwas, das in seiner Gefahr viel akuter war, als eine dieser Krankheiten, etwas, das Menschenleben weitaus schneller und unkalkulierbarer vernichten konnte.

Der Flugkapitän fühlte, wie ihm der Schweiß austrat, das Hemd unter den Achseln nässte und den Kragen am Hals kleben ließ, obgleich die Frischluftzufuhr im Cockpit einwandfrei funktionierte.

Walter C. Brunstetter, 44 Jahre alt, dreiundfünfzigster Einsatz auf diesem Flugzeugtyp. Auf dem Pan Am Flug Nr. 347 von Philadelphia nach Bogotá, unfreiwillig zwischengelandet auf dem International Airport in Richmond, Virginia, mit einer Pistolenmündung im Nacken.

Er hatte bis jetzt getan, was der Kerl mit der Waffe hinter ihm verlangte, und er würde es auch weiterhin tun. Aber er sorgte sich um die anderen. Seinen Copiloten. Den Bordtechniker. Den Navigator. Was geschähe, wenn einer von ihnen die Nerven verlöre und durchdrehte? Würde der Bursche hinter ihm einfach abdrücken?

Fieberhaft wälzte sich dieser Gedanke in seinem Hirn hin und her, während der Blick hilflos über die flimmernden Instrumente huschte.

In der Luft war ihm die Gefahr nicht so groß erschienen. Aber jetzt befanden sie sich am Boden, nun mussten die Burschen mit ihren Forderungen herauskommen. Jetzt nahte der kritische Moment. Und falls sie nicht bekamen, was sie wollten …

„Fünf Millionen.“

Das war es also. Die Stimme des Mannes hinter seinem Sitz, kalt und ohne besonderen Nachdruck, so, als nannte er den Preis für eine Schachtel Zigaretten oder eine unbedeutende Gefälligkeit.

„Fünf Millionen?“, wiederholte Brunstetter halblaut. Seine Stimme klang unsicher, ungläubig. Er wollte sich zu dem Unbekannten umdrehen, aber der Druck der Waffe in seinem Genick verstärkte sich unmissverständlich. Brunstetter beschränkte sich darauf, atemlos zu erwidern: „Damit kommen Sie nicht durch … Das … das kriegen Sie nie.“ Er begann noch mehr zu schwitzen.

„Wie viel ist dieses verdammte Scheißflugzeug wert?“, fragte der Kerl mit der Pistole hart.

Brunstetter schwieg.

„Wie viel ist es wert!“ Der Ton in dieser Stimme signalisierte Gefahr – tödliche Gefahr. Der harte Druck auf Brunstetters Nackenwirbel begann zu schmerzen, nicht so, dass er es nicht aushalten konnte, doch Schmerzen beinhalten auch Informationen. Er beugte sich etwas nach vorn. Der Druck der Pistolenmündung folgte ihm.

„Ich kaufe diese Maschinen nicht ein, ich fliege sie nur.“

„Aber sie ist denen doch fünf Millionen wert, nicht wahr?“

Brunstetter nickte, vorsichtig.

„Also dann geben Sie’s durch. Diese Aasgeier da draußen können doch rechnen. Außerdem müssen sie es wegen der Leute da hinten tun. Sie können es sich nicht leisten, abzulehnen.“

Das war die längste Rede, die Brunstetter bisher von ihm gehört hatte. Er schaltete ohne ein weiteres Wort das Mikrophon ein und gab die Forderung der Flugzeugentführer weiter. Dann, nachdem er einen Moment abgewartet hatte, hob er den Kopf etwas an. „Sie fragen, ob Sie keine politischen Forderungen stellen.“

„Nein!“, schnauzte der Mann hinter ihm. „Aber wenn ihnen das zu wenig ist, können wir ja sechs oder sieben Millionen fordern.“

Während der Kapitän wieder in das Mikrophon sprach, stellte der Mann sich neben ihn. Die Pistole zeigte auf Brunstetters Kopf, und er sah aus den Augenwinkeln einen grauen, etwas ausgebeulten Anzug von nicht sehr hoher Qualität und ein anthrazitfarbenes Hemd ohne Krawatte.

„Eine solche Summe ist so schnell nicht zu beschaffen“, erklärte Brunstetter mit belegter Stimme. Das übliche Spiel. Man wollte die Sache hinauszögern, Zeit gewinnen, und es konnte ein Nerven aufreibendes Katz und Maus Spiel werden. Aber er, verdammt noch mal, saß hier vor dieser unberechenbaren Pistole.

Gegenwehr? Der Gedanke blitzte durch sein Gehirn und verschwand ebenso schnell wieder. Keine Chance. Da stand immer noch dieser andere Mann, den er vorhin kurz gesehen hatte, neben der Tür. Auch er besaß eine Pistole, und die Tasche seiner braunen Cordjacke bauschte sich über etwas, das eine Handgranate sein konnte. Der dritte stand draußen und überwachte die Passagiere.

Der Mann neben Brunstetter kam mit einer unwirschen Bewegung ganz nahe zu ihm heran. Er schien nervös zu werden und neigte offenbar zu Zornausbrüchen. Würde er dieses gefährliche Tauziehen um ein bisschen Zeit durchhalten, ohne diese verdammte, Pistole zu benutzen?

„Jetzt hört mir mal genau zu, ihr Scheißkerle!“, schrie er ungehalten in das Mikro. „Ich gebe euch genau zwei Stunden Zeit, um die Kohle zu beschaffen. Wenn die Zeit um ist und ihr habt es nicht, stirbt hier der erste. Ich hoffe, ihr habt das begriffen. Wenn das Geld da ist, kommt einer von uns raus und zählt es. Und dann wollen wir es in Plastikbeuteln eingeschweißt haben. Verstanden?“

Dieses Verlangen löste beim Krisenstab, der spontan für diesen Notfall gebildet worden war, zunächst ratlose Gesichter aus, dann brach hier und da zögernde Erkenntnis durch. Sie wollen das Geld über dem Meer abwerfen, wo es von Komplicen mit einem Boot aufgefischt wird.

Wenn man nur wüsste wo, dann könnten sie Vorkehrungen treffen. Aber was wird mit den Luftpiraten selbst? Was beabsichtigen sie, ihre eigenen Personen betreffend?

„Habt ihr das verstanden?“, schnarrte die Stimme durch das Empfangsgerät.

„Ja, natürlich …“, gab der Sprecher des Krisenstabes zögernd zurück und wurde dann bestimmter. „Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht. Aber unternehmen Sie bis dahin nichts Unüberlegtes.“

„Da ist noch was“, klang die Stimme aus dem Flugzeug und machte eine kurze Pause, „wir brauchen noch drei Fallschirme Army Standard.“

Die Leitung war unterbrochen.

Der Mann im grauen Anzug richtete sich wieder auf.

„Sie haben jetzt zwei Stunden Zeit“, sagte er zu Brunstetter. „Zeit zum beten, dass die da draußen tun, was wir verlangen.“

Der Pilot holte tief Luft und wischte sich flüchtig mit der Hand über die feuchte Stirn. Zwei Stunden konnten eine verdammt lange Zeit sein, und er fürchtete, dass es die längsten zwei Stunden seines Lebens werden könnten.

Benjamin Fowler, der Mann im grauen Anzug, war der älteste der drei. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren hatte er das Alter hinter sich, in dem man sich gewöhnlich auf solcherlei Abenteuer einlässt. Er war nie verheiratet gewesen und hatte seinen Lebensunterhalt auf eine Weise bestritten, die sein Konterfei schon wiederholt in Polizeiakten hatte erscheinen lassen. Er war keinesfalls ein Neuling in diesem Gewerbe wie Joe Kendall, und die zehn Jahre, die er insgesamt in mehreren Etappen hinter vergitterten Fenstern zugebracht hatte, ließen allmählich die Erkenntnis in ihm reifen, dass sich Verbrechen im kleinen Stil nicht lohnte – zu kleiner Gewinn bei zu häufigem Risiko. So war vor langer Zeit schon der Plan in ihm entstanden, endlich einen letzten großen Fisch an Land zu ziehen, wie er sich auszudrücken pflegte, ehe die Zeit ablief und die Knochen zu morsch wurden. Er hatte zu viele Leute kennengelernt, die in Obdachlosenasylen hausten und mit kleinen Gaunereien ihr Leben fristeten.

Und jetzt, hier im Cockpit einer Boing 727 Tri-Jet mit der Pistole in der Hand hinter dem Piloten stehend, wusste er, dass ein solches Schicksal ihm erspart blieb – so oder so.

Er hatte mehr als zwanzig Jahre weniger zu verlieren als die anderen, als Duncan zum Beispiel, Richie Duncan, der mit der Handgranate in der Tasche seiner Cordjacke neben der Tür, der von dem Ehrgeiz getrieben wurde, immer und bei allem der Beste zu sein, was ihn manchmal bis zum Fanatismus trieb.

Er war der Sohn einer Arbeiterfamilie aus Detroit, der während seiner gesamten Kindheit im Schatten seines älteren Bruders gestanden hatte. Sein Vater, der sich Zeit seines Lebens in den Automobilwerken abrackerte, hatte ihm von frühester Kindheit an eingeschärft, dass man stets versuchen müsse, der Beste zu sein. Nur so bekäme er eine Chance, besser zu leben als er. Doch er war ein verbissener, emotionsloser Sonderling und erst als er in die Armee eintrat, wurde ihm die Befriedigung des persönlichen Erfolges zuteil. Infolge seiner körperlichen Beschaffenheit und seiner psychischen Härte, die er nach außen hin zur Schau trug, fand er sehr schnell den Weg zu einer Eliteeinheit. Dort absolvierte er ein hartes Überlebenstraining, bei dem er sich außerordentlich hervortat. Er konnte unter Bedingungen überleben, bei denen kein anderer seiner Kameraden mehr dazu in der Lage war.

Seine kriminellen Neigungen führten irgendwann zur unehrenhaften Entlassung aus der Armee, und er musste feststellen, dass man mit den dort erlernten Fähigkeiten nur schwerlich das große Geld verdienen konnte. Er hielt sich mit kleinen Gaunereien, gelegentlichen Überfällen und Einbrüchen über Wasser. Aber immer häufiger stand er vor der Situation, dass sein Geld mal wieder das Weite gesucht und ihn mit leeren Taschen und knurrendem Magen, in den sich eine heiße Wut einnistete, zurückgelassen hatte.

Und eines Tages lernte er Benjamin Fowler kennen …

Draußen in der Passagierkabine stand Joe Kendall mit der Aufgabe, eine Anzahl verängstigter und unberechenbarer Menschen in Schach zu halten. Er wäre lieber da drinnen bei Fowler gewesen, der eine gewisse Sicherheit ausstrahlte, aber jeder hatte seinen Teil zu übernehmen. Das hatte Fowler ihnen vorher eingeschärft. Und schließlich ging es um fünf Millionen Dollar.

Vor Jahren noch hatte Joe Kendall das Leben eines Durchschnittbürgers geführt, war verheiratet und hatte einen neunjährigen Jungen. Und er war darauf versessen, es ihnen zeigen, dass mehr in ihm steckte, als sie alle ihm zutrauten. Er war neu in diesem Milieu und fühlte sich deshalb ein wenig unsicher. Aber diesmal war Fowler dabei. Fowler, der immer genau wusste, was zu tun war und klare Anweisungen gab. Ihm konnten sie so leicht nicht beikommen. Als junger Mann war Fowler sogar bei der Airforce gewesen. Nein, er steckte alle in die Tasche. Sein Plan war so genial, beinahe verrückt genial, dass er einfach gelingen musste.

Sein Sohn, den er als Bogart-Fan Humphrey taufen ließ, war drei Jahre alt gewesen, als Susan zur Welt kam, die kein Wunschkind war, ihn aber dennoch mit ungestümem Vaterstolz erfüllte, weil er sich schon bei ihrem ersten Kind ein Mädchen gewünscht hatte.

Leider dauerte Susans Leben nur zwei Jahre und sieben Monate, dann wurde sie beim Spielen von einem Auto überfahren, als er auf sie achtgeben sollte.

Von da an war alles schief gegangen, was er angepackt hatte, und seine Frau hatte ihm die Unaufmerksamkeit von damals nie verziehen. Zu Recht, wie er sich anfangs eingestand. Aber irgendwann musste man einmal damit aufhören, irgendwann musste dieser unselige Abschnitt seines Lebens zu Ende sein und ein neuer beginnen. Er fühlte instinktiv, dass er nun an der Schwelle eines solchen stand.

Die Frist von zwei Stunden verstrich, ohne dass etwas geschah.

Benjamin Fowlers Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen, dünn und gerade wie der Rücken einer Messerklinge. Er fuhr mit einer hastigen Bewegung herum, als eine der Stewardessen herein kam, und feuerte einen Schuss aus seiner Pistole ab. Die Kugel schlug vor den Füßen der Stewardess in den Kabinenboden und ließ die junge Frau hysterisch aufschreien. Sie presste sich mit weit aufgerissenen Augen gegen die Wand neben der Tür.

Der Schuss und das Aufschreien der Frau waren über das eingeschaltete Mikrophon des Piloten bei der Einsatzleitung im Tower zu hören gewesen und ließen dort jene Überzeugung die Oberhand gewinnen, dass die Entführer der Maschine Ernst machten.

„Wenn ihr Tote haben wollt, dann könnt ihr es gleich sagen“, brüllte Fowler in das winzige Mikro. „Wir haben ’ne Menge Auswahl hier.“ Er griff in das Haar des Piloten und presste mit der anderen Hand die Mündung der Waffe hinter Brunstetters rechtes Ohr.

Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Angst ließ ihm die Feuchtigkeit aus den Poren treten und in feinen Perlen seine Stirn bedecken. Würde der Bursche hinter ihm jetzt die Nerven verlieren? Oder würde er ihn aus Berechnung erschießen? Der Tod des Piloten verliehe seiner Forderung größeren Nachdruck als der jedes anderen. Was würde er spüren, wenn die Pistole hinter seinem Ohr losging? Nichts? Würde es einfach nur dunkel um ihn werden? Niemand konnte es ihm sagen …

„Sagen Sie ihnen etwas!“ Die Stimme hinter ihm klang ätzend wie Säure, die sich durch Brunstetters Gehörgänge fraß und jedes Wort in seinem Hals erstickte. Er musste zweimal ansetzen, ehe er einen Ton heraus brachte. Der Kerl wird also noch nicht schießen, lässt mir noch ein paar Worte lang Zeit, ein paar Sätze vielleicht sogar …, vielleicht auch länger … Vielleicht schießt er gar nicht und droht nur …

Vielleicht …!

„Hören Sie …“, Brunstetters Stimme klang schwer und belegt, „die machen Ernst. Wenn Sie das Leben der Passagiere und der Crew und auch die Maschine nicht gefährden wollen, dann halten sie diese Männer nicht länger hin.“

Das war’s. Diese paar Sätze hatten ihn angestrengt wie ein hartes Stück Arbeit, und er fragte sich, ob man auf der anderen Seite auch das Pumpen seines Herzens hören konnte.

„Haben sie schon jemand umgebracht?“, wollte die Stimme vom anderen Ende der Leitung knapp und nüchtern wissen.

„Bis jetzt noch nicht.“

„Wie viele sind es?“

Brunstetter zögerte. Was sollte die Frage? Sie hatten doch drei verdammte Fallschirme verlangt. Glaubten sie etwa, dass es nur eine Finte war? Die Pistole war noch immer drohend hinter seinem Ohr. Weshalb wollen sie das wissen? Wollen sie die Maschine stürmen lassen?

Mein Gott …!

„Tut mir leid“, murmelte Brunstetter. Seine Stimme klang erschöpft. Dann folgte einen Moment Stille, in der Brunstetter nur aufmerksam lauschte. Schließlich sagte er an Fowler gerichtet: „Sie brauchen nochmals eine Stunde, um die Summe herbeizuschaffen. Schließlich sind fünf Millionen …“

„Ich weiß, wie viel fünf Millionen sind“, unterbrach Fowler ihn ungeduldig. „Hoffentlich wissen die da drüben auch, was ein Menschleben wert ist.“

„Bedenken Sie, dass bis jetzt noch niemand getötet wurde.“ Brunstetter raffte sich aus seiner psychischen Erschöpfung auf. „Ganz gleich, wie die Sache auch ausgehen mag, es ist besser für Sie, wenn es dabei bleibt. Immerhin sind fünf Millionen auch eine Stunde Warten wert.“

Fowler ließ die Haare des Piloten los und nahm die Pistole zurück. Das Verschwinden des Druckes hinterließ eine erleichternde Leere in Brunstetters Empfinden. Aber er machte sich keine Illusionen und wusste, dass der Lauf der Waffe noch immer auf ihn gerichtet war.

„Wir sind nicht wild aufs Töten, sofern man uns nicht dazu zwingt“, sagte die Stimme hinter ihm auffallend ruhig. „Sagen Sie ihnen, wir akzeptieren diese Stunde. Aber nur noch diese und nicht länger.“

Brunstetters verkrampfte Schultern sanken herab, ohne sich zu entspannen. Er tat einen tiefen Atemzug, und dann sprach er wieder in das kleine Mikrophon vor seinen Mund …

Zwei Stunden später: Benjamin Fowler hatte Joe Kendall in das Flughafengebäude geschickt, um die Geldübergabe ab zuwickeln. Kendall neigte weniger zu unüberlegten Aktionen als Richie Duncan, und er ließ sich auch nicht so leicht mit irgendwelchen Tricks hereinlegen. Andererseits konnte Fowler auch, falls die Verantwortlichen der Fluggesellschaft ein falsches Spiel trieben, am leichtesten auf ihn verzichten. Duncans Brutalität und Entschlossenheit brauchte er, wenn es je zum Ernstfall käme.

Jetzt warteten sie auf Kendalls Rückkehr, und Fowler musste sich eingestehen, dass er mittlerweile nervös wurde. Schließlich war das hier nicht etwas, das man routinemäßig einmal im Monat durchzog.

Der Wagen, der Kendall von der Maschine abgeholt hatte, war noch nicht wieder zu sehen. Die Betonpiste des Byrd-Fields lag ohne Leben in der Sonne, in ihrer Eintönigkeit nur von einigen Reifenspuren unterbrochen. Die Flughafengebäude duckten sich in sicherer Entfernung unter der Hitze des Nachmittags gleich sprungbereiten Tieren. Eine lauernde, gefährliche Bereitschaft ging von ihnen aus, eine passive Drohung, die nach außen hin alle Aktivitäten, die sich in ihrem Innern abspielten, mit einem Mantel der Regungslosigkeit umhüllten.

Duncan öffnete die Tür und steckte seinen Kopf ins Cockpit. „Ziemlich lange schon. Findest du nicht auch?“

Auch er wurde langsam ungeduldig. Fowler setzte eine gelassen-zuversichtliche Miene auf, um die eigene Unruhe zu verbergen.

„Dauert eben seine Zeit, fünf Millionen nachzuzählen und in Plastiktüten zu verschweißen.“

„Und wenn sie ihn kassiert haben?“

Dieser Gedanke war Fowler auch schon gekommen, aber es war besser, er ließ ihn nicht von sich Besitz ergreifen.

„Sie würden einen zu hohen Preis dafür zahlen müssen.“

„Falls wir ernst machen.“

Der Blick, mit dem Fowler seinen Komplicen betrachtete, war fest und prüfend. „Zweifelst du etwa daran?“

Duncan grinste. „Ich nicht, aber vielleicht die da draußen.“ Das Grinsen verschwand ohne Übergang, so, wie es gekommen war und ließ sein derbes Gesicht brutal erscheinen. „Bis jetzt haben wir noch keine Leiche hinausgeworfen. Vielleicht war das ein Fehler. Die rechnen sich aus, dass auch wir noch ’ne Menge zu verlieren haben. Ich finde, wir sollten …“

„Nur ruhig Blut“, mahnte Fowler. „Dazu ist immer noch Zeit. Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen. Aber wenn es dich beruhigt, so werde ich mal nachfragen.“ Er machte eine bezeichnende Kopfbewegung in Richtung Passagierkabine. „Und du kümmere dich wieder um die da. Macht sich langsam Unruhe breit.“

In der Tat war unwilliges Stimmengewirr aufgekommen, das jedoch sofort wieder erstarb, als Duncan auf seinem Posten war.

Fowler tippte Brunstetter mit der Pistole auf die Schulter, zeigte auf die Kopfhörer und winkte mit dem Finger. Er tat es mehr, um sich selbst zu beruhigen, aber davon hatte er Duncan lieber nichts gesagt. Der Pilot streifte sie ab und reichte sie Fowler. Dieser hielt eine Hörmuschel gegen sein Ohr und sandte Brunstetter einen auffordernden Blick. Als die Verbindung zustande kam, sprach er in das Mikrophon. „Hört mal her! Das dauert mir alles zu lange.“ Er achtete nicht auf die Fragen und Einwände, mit denen sie ihn hinhalten wollten, sondern redete sofort weiter. „Ich will mit meinem Mann reden.“

Sie versicherten ihm, dass er gleich zurückkäme.

„Ich will mit ihm reden, verdammt noch mal! Und noch was. Falls sie hinter uns irgendwelche Maschinen aufsteigen lassen … Wenn wir auch nur eines von diesen Dingern ausmachen … Ihnen ist doch klar, dass wir ’ne Menge Geiseln hier haben.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er das blasse Gesicht des Copiloten und die stumme Gestalt des Funkers, die dicht beieinander hockten, um sie besser im Auge zu haben. Sie hatten sich während der ganzen Zeit völlig ruhig verhalten.

Es knackste im Hörer. Sekunden schlichen dahin, wurden zu einer Minute oder mehr. Fowler fluchte leise. Dann hörte er ein

„Hallo“. Kendalls Stimme, stellte er erleichtert fest.

„Alles in Ordnung dort?“

„Bin gleich fertig“, erklärte ihm Kendall. Er klang zuversichtlich, fast heiter. „Das ist vielleicht ’n Ding, kann ich dir sagen. Ihr braucht euch erst Sorgen machen, wenn ich in zehn Minuten nicht erscheine. Übrigens, da kommt noch ein Mann mit. Ich kann das Zeug nicht alles alleine schleppen. Ende.“

Etwa sieben Minuten später wurde der Wagen sichtbar, der sich in langsamer Fahrt der Maschine näherte.

„Geh an die Tür und pass auf, dass der andere Kerl nicht rein kommt!“, sagte Fowler zu Duncan. „Und sobald Joe oben ist, sollen sie die verdammte Treppe wieder wegfahren.“

Joe Kendall kam durch die vordere Tür, durch die er auch die Maschine verlassen hatte. Zwei große Leinentaschen mit dem Logo der Fluggesellschaft hingen über seiner Schulter, und er strahlte durch die zurückliegende Anspannung etwas verkrampft, aber siegessicher. Der zweite Mann stieg hinter ihm in deutlichem Abstand die Aluminiumstufen hinauf, legte die Fallschirme auf den Boden, ohne das Flugzeug zu betreten, und verschwand wieder Dann wurde die Treppe entfernt. Alles schien glatt zu gehen.

Zwanzig Minuten später erhielten sie Starterlaubnis. Die Maschine rollte in Position, und dann heulten die Turbinen auf. Die Boing 727 jagte über das Rollfeld und verlor den Boden unter dem Fahrgestell, hob sich steil empor, der messingfarbenen Sonne entgegen wie ein Adler, der mit seiner Beute entschwindet.

1.

Wenn die Not am größten ist, flötet ein kleines Vögelchen die Melodie der Hoffnung in das verzweifelte Ohr – und schwingt sich auf Adlerflügeln hoch in die Luft.

Honduras 1982.

Hier schien es nichts zu geben, was ihr helfen könnte – gar nichts. Angst und Verzweiflung drohten ihr die Kehle abzuschnüren. Ihre Augenlider zogen sich zusammen, als könnte sich dadurch ihr Blick schärfen. Tief in ihr glomm noch ein letzter Funken Hoffnung, wehrte sich hartnäckig gegen jede Realität.

Der quälende Glutball näherte sich mit nötigender Langsamkeit dem unebenen, sich scharf abgrenzenden Horizont. Der Himmel ging vom strahlend blassen Blau in ein schimmerndes Türkis über. Die Schatten wurden länger, schoben sich einem Aufatmen gleich über das durstig hechelnde Land. Der Tag ging zur Neige.

Gott sei Dank!

Ein heißer Tag, dem andere heiße Tage vorangegangen waren, so wie das nun mal in diesem Land ist.

Eine heiße Hand wischte so hilf- wie nutzlos über eine ebenso heiße Stirn. Es gab nichts Kühles in diesem gottverdammten Land – nicht einen auch noch so kleinen Fleck. Der Weg bog sich unter der flimmernden Hitze und der Langeweile. Die junge Frau ging weiter auf die ärmlichen Hütten zu, die auf sie in einer unrealistischen Weise behaglich wirkten. Sie versprachen Ruhe – eine Pause – endlich auf einem Stuhl sitzen – etwas zu trinken

… und schließlich noch so was wie Hoffnung auf etwas, das es allem Anschein nach gar nicht gab …

Ihre Schritte waren kurz und ohne Kraft. Hitze, Staub, Schweiß und Durst hatten ihrer Erscheinung zugesetzt und sie ihrer trostlosen Umgebung angepasst, hatten ihrer einst weißen Baumwollbluse zu einem fleckigen Grau verholfen,

die hellbraune Leinenhose zerknittert und ihr an Gesäß und Knien dunkle Stellen beigebracht. Die leicht mandelförmigen Augen und die Wölbung ihrer Wangenknochen zeugten von einem Schuss Indioblut, der irgendwann einmal durch die Adern ihrer Ahnenreihe geströmt sein musste. Es mochten die Gene eines Südeuropäers – vielleicht irgendeines Abenteurers oder Conquistadors – und die eines wilden Indiomädchens gewesen sein, die sich miteinander vermischt hatten. Vor langer Zeit, vielleicht auf einer schmutzigen Decke im Gebüsch oder auch in einem mit Satin bezogenen Himmelbett, wer weiß.

Sie strich sich mit einer müden Bewegung das strähnige Haar aus dem Gesicht und blinzelte in die schmerzende Sonne, die in diesem Moment die Hügel jenseits der Hütten berührte.

Gott sei Dank?

Die herabsinkende Nacht machte zwar alledem, was hinter ihr lag, ein gnädiges Ende, aber sie würde auch unerbittliche Fesseln um sie legen und sie zur Untätigkeit zwingen – lange, qualvolle Stunden, eine weitere Nacht, deren Maß an Leid sie nicht abzuschätzen vermochte.

Die junge Frau nahm kaum Notiz von dem holprigen Weg, der inzwischen zu einer staubigen, tristen Straße geworden war, flankiert von Behausungen aus Brettern, Steinen und Wellblech, die unter Sonne, Regen und Wind ebenso gelitten hatten wie unter der Nachlässigkeit ihrer Bewohner. Ein paar Hühner rannten auf langen Beinen vor ihr davon, schüttelten den Staub aus ihrem Gefieder und machten sich wieder auf die mehr oder meist weniger erfolgreiche Suche nach etwas Fressbarem. Einige Palmen verharrten reglos in der stehenden Luft hinter der schäbigen Kulisse der Hütten, geduldig auf die Dunkelheit wartend.

Zu anderen Jahreszeiten stürzten hier wolkenbruchartige

Regengüsse nieder und verwandelten diese Straße zuweilen in ein schlammiges, grenzenloses Etwas, auf dem trübe Fluten dahin schossen, weggeworfene Bierdosen, Plastiktüten und Unrat mit sich reißend, und manchmal auch Hühner oder anderes Kleingetier, das sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Dann roch die feuchte Luft nach Moder und Vergänglichkeit, legte sich schwer auf die Atemwege und erweckte Schwärme von Moskitos zum Leben. Aber jetzt, Anfang März, war die Trockenzeit noch nicht zu Ende, und das Land dürstete nach Wasser, dessen unbarmherzige, mit nassen Fingern nach Hab und Gut greifende Fluten längst schon wieder vergessen waren.

Die junge Frau schaute sich um. Zweifel stieg zitternd wie vom Wind bewegtes Laub in ihr auf und spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider, machte die Erschöpfung darin noch deutlicher.

Ein paar Strommasten, die trotzig müde in der Abendluft hängende Drähte stützten, Karrenspuren, ein lädiertes Coca-Cola-Schild, ein paar Männer, die ihr neugierig, aber ohne sich zu bewegen, entgegenblinzelten. Jedoch keine Tankstelle, kein Anzeichen davon, dass hier irgendjemand ein Auto besaß. Nicht einmal ein ausgeschlachtetes Wrack davon oder ein rostiger Kotflügel war unter den Schrott- und Abfallhaufen zu entdecken, die sich aus dem wild wuchernden Unkraut jenseits der Straße emporhoben. Keine Kinder liefen herum, nur hier und da ein träger, räudiger Hund. Nichts, das auf irgendeine Beschäftigungsmöglichkeit hindeutete. Nichts außer Tristesse und Langeweile. Wer hier lebte, schien auf dem Abfallhaufen der zivilen Gesellschaft gelandet, ein Platz für Gescheiterte und geborene Verlierer.

Der Zweifel mobilisierte ihren Trotz, und ihre Schritte wurden

schneller. Sie ging zielstrebig auf die Männer zu, die wie überflüssige, abgestellte Gegenstände müßig vor einer Cantina hockten, ohne sich zu unterhalten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine schwangere Frau, die mit einem Korb an die Hüfte gepresst, weiter vorn die Straße überquerte. Der Anblick einer Geschlechtsgenossin, die werdendes Leben verkörperte, brachte einen Funken Optimismus zurück. Scheinbar doch kein aussterbender Ort mit Zombies und lebenden Mumien.

Zwei Schritte vor diesen alten Männern blieb sie stehen, strich sich mit einer unsicheren Bewegung über die schweißfeuchte Stirn und fragte in fließendem Spanisch: „Gibt es hier irgendwo ein Auto? Ich brauche dringend einen Wagen.“

Einen Moment lang herrschte abtastendes Schweigen. Schwarze Augen musterten sie neugierig und leicht argwöhnisch unter zerfransten Strohhüten hervor. Eine Fremde, die aus dem Nichts kam, fragte nach einem Auto. Hier! Einer der Männer lachte mit einem heiseren Meckern.

„¿Un coche?“, fragte er mit schnarrender Stimme und lachte weiter, so als hätte die Fremde nach einem Zimmer mit Bad und Telefon gefragt. „¿De donde viene?“

Die junge Frau überging die Frage, woher sie komme, und stieß hastig hervor: „Ich werde dafür bezahlen. Ich werde gut bezahlen.“

Sie wartete, schaute irritiert von einem zum anderen dieser alten Gesichter. Das verständnislose Grinsen indessen deutete ihr an, dass es hier kein Auto gab. Gott im Himmel, sie hatte alle ihre Hoffnungen darauf gesetzt …! Wieder einmal! Wie viele Generationen von Hoffnungen hatte sie in ihrem Leben

schon kommen und gehen gesehen? Wie viele davon konnte man selbst überleben? Einer jedenfalls würde diese hier nicht …

„El gringo tiene un coche“, sagte da einer der Männer in die zitternde Stille hinein, so, als machte er einen Scherz, und das Lachen der anderen lebte wieder auf, sprang die erschöpfte junge Frau an wie eine Provokation. Die letzten Sonnenstrahlen trafen die Bartstoppeln des Sprechers und ließen sie wie Silber flirren. Seine Worte wischten diesen peinigenden Gedanken aus ihrem Kopf, ehe er bis zu seiner grausamen Konsequenz gelangen konnte, ließen das kleine Flämmchen, das irgendwo in ihrem Innern dahinzusterben drohte, noch einmal aufflackern.

„Sí“, bestätigte ein zweiter, dessen Lippen schlaff in die breiten Lücken seiner fehlenden Zähne sanken. „Sí, pero el gringo está boracho, como siempre.“

Die Frau schaute mit einem verzweifelten Aufschrei in den dunklen Augen von einem zum anderen.

„¿Qién?“, fragte sie rasch, aber nicht ganz verstehend. Die Männer sprachen da von einem Amerikaner, der ständig betrunken sei. „Wer ist dieser Mann?“, wiederholte sie schnell, als griffe sie nach einem Strohhalm, der die Rettung in letzter Not sein könnte.

Der Mann mit dem silbernen Stoppelbart schaute sie noch einmal abschätzend an, als wollte er ergründen, ob ihre Erscheinung es zuließe, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen. Ein listiges Funkeln belebte flüchtig seine kleinen, müden Augen, dann zuckte er mit seinen mageren Schultern unter dem angeschmutzten blaugrauen Baumwollhemd, als wollte er sich entschuldigen.

„Un americano“, klärte er sie schließlich auf und deutete auf die dunkle Türöffnung im Hintergrund, die in das Innere der Kneipe führte. Er sitze da drin, aber sie könne nicht mit ihm reden. Niemand könne das, wenn er betrunken ist, und das sei er um diese Zeit immer.

„Und er besitzt ein Auto?“

„Sí“, Der Mann nickte, die Frau vor sich anstarrend, als käme sie von einem anderen Stern.

Sie schlüpfte ohne ein weiteres Wort rasch zwischen den sitzenden Männern hindurch und betrat das Innere der Cantina.

Ein düsterer Eindruck, als hüte er ein Geheimnis, das er nicht preisgeben wollte, empfing sie. An der Wand neben der Tür sah sie ein großes Reklameschild in braun und rot gehalten mit einer typisch taillierten Colaflasche, deren Frische und Kühle so anschaulich dargestellt war, dass man sie direkt spüren, fast sogar schmecken konnte. Es wirkte in dieser Umgebung auf sie deplatziert, beinahe zynisch. Die gegenüber liegende Wand zierte das etwas verblichene Plakat einer Zigarettenwerbung: Ein Cowboy mit hartem Gesicht, einer ramponierten Lederweste und abgeschabten Chaps, in der rechten Hand ein aufgerolltes Lasso, die Zigarette im schmallippigen Mundwinkel und die Augenlider gegen den aufsteigenden Rauch zusammengezogen, lehnte lässig an den Stangen einer Corralfence.

Schummrige Schwüle hüllte sie ein mit ihrem schweren Geruch nach schalem Bier und Essensdunst, nach Knoblauch und getrockneten Kräutern, die von der Decke über der Theke herabhingen. Im ersten Moment bemerkte sie nur einen Tisch nahezu in der Mitte des Raumes. Nein, da war noch einer in der Nähe der linken Wand, an dem keine Stühle standen. Die hatten wohl die Männer draußen. Eine Schüssel und ein paar leere Gläser standen ohne Ordnung auf einer abgewetzten Theke, in deren Hintergrund sich einige Flaschen aus der diffusen Dämmerung eines Regals hervordrängten. Daneben verhieß eine schmale Türöffnung einen angrenzenden Raum. Und es war niemand hier. Niemand, außer ein paar Fliegen, die aufgebracht herumsummten, und einem einzelnen Mann, von dem sie nicht wusste, ob er schlief oder wach war. Er hatte die verschränkten Unterarme auf den Tisch gestützt. Sein Kopf war so weit nach vorn gesunken, dass die Stirn beinahe die haarigen Arme berührte. Die wirr herabhängenden dunkelblonden Haare erweckten den Eindruck, als stützten sie seinen Kopf ab und bewahrten ihn somit vor dem völligen Absacken. Ein intensiver Geruch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Körperausdünstung umhüllte ihn wie ein schützender Panzer, der zu signalisieren schien: komm mir nicht zu nahe! Sie konnte nicht erkennen, ob seine Augen geschlossen waren, doch vor ihm stand eine zu einem Drittel volle Whiskyflasche, aber kein Glas.

Die Frau blieb zögernd neben ihm stehen. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Aber sie musste irgendwas tun. Der Tag war zu Ende, und …

Ohne ihren Gedanken bis zum Schluss kommen zu lassen, tippte sie diesem Mann auf die Schulter. „Sind Sie wach?“, fragte sie dabei auf Englisch, das sie mit leichtem Latinoakzent sprach. Der Mann hob wie in Zeitlupe den Kopf und schaute zu ihr hoch. Der Blick seiner verwaschen wirkenden grauen Augen war nicht so benebelt wie sie es befürchtet hatte, aber er war betrunken genug, um über das Auftauchen einer fremden jungen Frau keinerlei Verwunderung zu empfinden. Jedenfalls zeigte er nichts dergleichen. Es war etwas in diesen Augen – etwas Altes, sehr Altes, so als wären seine Blicke schon mehr als hundert Jahre in dieser Welt herumgewandert, immer auf der Suche nach etwas, das sie nie gefunden hatten.

Er deutete mit einer unbeholfenen Handbewegung auf den freien Stuhl neben sich und fragte: „Willst du mit mir trinken?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten rief er laut: „He, Ruiz, ¡una copa para la chica!“ Es war jedoch niemand da, der seinem Ruf nach einem Glas hätte Folge leisten können. Nur die Fliegen, die sinnlos die zähe Luft durchpflügten, summten hektischer herum.

Die junge Frau setzte sich vorsichtig auf die vordere Kante des Stuhles. „Ich bin nur gekommen, um mit Ihnen zu reden, falls man das noch kann.“

Sie merkte sofort, dass sie ihre Unterredung kaum ungeschickter hätte beginnen können. Der leichte Vorwurf in ihrer Stimme trug ein Übriges dazu bei und veranlasste den Mann, sie genauer ins Auge zu fassen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war, trotz der entspannenden Wirkung des Alkohols, misstrauisch mit einer Spur Feindseligkeit.

Sie war dunkelhaarig und jung. Ihre Worte gefielen ihm nicht, doch ihre Stimme klang recht angenehm, anders als die der keifenden Weiber hier, mit ihren überproportional entwickelten Hinterteilen. Auch wenn sie einen erschöpften Eindruck machte, konnte das die herbe, fast rustikale Schönheit ihrer Züge nicht zerstören. Und sie stammte nicht von hier aus diesem elenden, verschlafenen Nest, das sah er auf den ersten Blick. Er kannte sich mit Gesichtern gut genug aus, um diesem hier anzusehen, dass es einer Frau mit Vergangenheit gehörte, wie ihr sündiger Mund es verriet und der Ausdruck ihrer braunen Augen. Er bemerkte ein gewisses Interesse in ihrem Blick. Ein Interesse, das aber nicht ihm galt, jedenfalls nicht dem Mann in ihm. Das erkannte er trotz des bleiernen Nebels, mit dem der Alkohol seine sonst so sensiblen Sinne zu betäuben versuchte. Sie wollte etwas von ihm. Natürlich, sonst hätte sie ihn nicht angesprochen. Aber was zum Teufel hatte er schon zu bieten? Nur Männer mit Erfolg konnten sich mit solchen Frauen umgeben. Oder glaubte sie etwa, nur weil er Amerikaner war …?

„Nun sag schon, was du willst“, forderte er sie unfreundlicher auf, als er es eigentlich wollte, wobei ihm die Ungeschicklichkeit seiner Zunge einige Schwierigkeiten bereitete, „und dann lass mich in Ruhe, wenn du schon nicht mit mir trinken willst.“

Sie musste versuchen, ihren Fehler wieder gutzumachen. Sie war nun mal auf das Wohlwollen dieses betrunkenen Kerls angewiesen. Trinker hatten ihre Eigenarten, und meistens waren sie dickköpfig und voller Selbstmitleid. Aber es musste etwas geben, um ihn zugänglich für ihr Vorhaben zu machen. Sie brauchte das Auto – koste es, was es wolle. Und sie wusste auch, wie man mit solchen Männern umging. Diese Feststellung bereitete ihr keine Genugtuung. Doch schließlich war sie nicht in einem Internat aufgewachsen, sondern durch eine härtere Schule gegangen, in der es weder Zeugnisse noch Empfehlungsschreiben gab.

Sie griff entschlossen nach der Flasche und sagte dabei: „Na schön, wenn Ihnen so viel daran liegt …“ Sie nahm einen Schluck und stellte sie, ohne das Gesicht zu verziehen, fest und mit einem schwappenden Gluckser wieder hin. „Ich bin Elina Maria Ortega.“

Er legte ihr die Hand auf den Arm. „Freut mich, Mary“, sagte er mit der plumpen Vertraulichkeit, die Betrunkene meist an sich haben, und griff mit der anderen Hand seinerseits nach der Flasche. Eliana war klug genug, ihn nicht daran zu hindern, obwohl ihr die Zeit in der unrealistischen Einschätzung der Situation unter den Nägeln brannte. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass dieser Bursche ihr betrunken nicht viel nützen konnte. Ob nüchtern, wusste sie allerdings auch nicht. Als er die Flasche wieder absetzte, sagte er: „Ich bin nur el gringo.

„Haben Sie sonst keinen Namen?“

„Wer fragt schon danach, wie ein Niemand heißt.“

„Ich.“

Er wollte wieder zur Flasche greifen, aber Eliana hatte es rechtzeitig erkannt und kam ihm diesmal zuvor.

Der Whisky war billig und schmeckte ihr nicht, und er entfachte in ihrem leeren Magen ein quälendes Feuer. Doch je mehr sie von dem Zeug trank, desto weniger bekam er davon.

Seine Hand blieb verloren und leicht zitternd in der Luft hängen, die andere lag noch immer auf Elinas Arm, und sie spürte den Druck seiner Finger stärker werden. Es waren schlanke, fast zierliche Finger mit Schmutz unter den Nägeln.

„Gordon Denison“, sagte er behutsam und machte eine Pause, als lauschte er selbst dem Klang dieses Namens nach, um festzustellen, was für einen er jetzt noch hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass es kein guter Klang sein konnte, denn der Mund des Mannes verzog sich unter dem Stoppelgewirr seines mehrere Tage alten Bartes, und sie wusste nicht, ob die geröteten Augen, die sie unentwegt musterten, eine Folge des Alkohols oder irgendeines Gefühls waren, das ihn aus einer wie auch immer gearteten Erinnerung plötzlich ergriffen hatte. Dieser Gordon Denison schien am Ende eines Weges angelangt, der sicher nicht mit Rosen bestreut gewesen war.

Elina fühlte tief aus der Feuersbrust in ihrem Innern eine gewisse Sympathie für diesen Mann aufsteigen. Oft genug hatte auch sie den Wunsch verspürt, zur Flasche zu greifen und die ganze Welt um sie herum in der zerstörerischen Vergessenheit von Alkohol zu ertränken. Aber wäre dieser Mann unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen wie sie, dann wäre er jetzt stärker, dann besäße er jenen Willen zum Durchhalten und Überleben, der ihn letztlich doch an das Ziel seiner Wünsche und Vorstelllungen bringen musste. Nur die Schwachen, die einer besseren Zeit nachtrauern, versuchen die Gegenwart zu vergessen.

Sein Blick kehrte zu der Flasche auf dem Tisch zurück, und sie nahm diese rasch, aber ohne auffällige Hast in die Hand, hielt sie einen Moment prüfend in die Höhe und setzte sie dann an ihre Lippen, angewidert zwar, aber doch in der Lage, es sich nicht anmerken zu lassen. Als sie die Flasche mit vorsichtiger Bewegung wieder hinstellte, erklärte sie ihm geradeheraus: „Ich befinde mich in Schwierigkeiten.“

„Ich auch.“ Eine schwere, ungelenke Zunge jonglierte die Worte nach draußen. „Wenn du Hilfe suchst, ganz gleich, was … was es auch sein mag, hast du dir leider den Falschen ausgesucht. Siehst du das nicht?“ Sie ist in Schwierigkeiten, na und? So was gibt es, kommt immer wieder vor. Aber ich bin am Ende – einer, der seine letzte Chance vertan hat. Wie kann man vom mir Hilfe erwarten?

„Ernste Schwierigkeiten“, redete sie eindringlich auf ihn ein, „und Sie scheinen der Einzige hier zu sein, der mir helfen kann.“

„Hör mal, Herzchen, wenn du glaubst … mir schmeicheln zu … müssen, dann …“ Er machte eine Pause, holte tief Luft. „Darüber… darüber kann ich nur lachen. Ich kann mir nicht mal selbst helfen.“ Es gelang ihm nicht, einen Rülpser zu unterdrücken, aber das störte ihn nicht, er bemerkte es nicht einmal. „El gringo ist ein Niemand … Hast du das endlich verstanden?“

Sie betrachtete einen Moment lang sein Gesicht, schwankend zwischen Verachtung und Mitleid.

„Aber Gordon Denison hat ein Auto.“

Er schien aufzuhorchen. Seine Augen hatten einige Schwierigkeiten, sich auf sie zu konzentrieren. „Na und“, brachte er heraus, nahm seine Hand von ihrem Arm weg und begann damit, die Flasche auf dem Tisch spielerisch herumzudrehen. „Soll ich vielleicht mit dir ’ne … Sightseeing-Tour machen? Gibt nichts zu sehen hier …, das anzuschauen sich lohnt … lohnen würde. Außerdem bin ich dafür viel zu betrunken."

„Aber ich nicht. Können Sie mir den Wagen nicht für einen Tag leihen? Morgen Abend haben Sie ihn ganz bestimmt zurück.“

Gordon Denison schaute sie an wie jemand, der noch betrunkener sein musste als er selbst. Die Hoffnung, die in ihren Worten mitgeschwungen hatte, schien ihn nicht zu erreichen, und er lachte leise, fast geräuschlos vor sich hin.

„Du bist mir vielleicht ein Herzchen, Mary. Ich … ich bin zwar betrunken, aber nicht verrückt. Du verschwindest vielleicht mit dieser … dieser Kiste, und ich sitze dann hier in diesem verdammten Scheißnest und kann mich zu Tode s-saufen.“

Also doch noch ein Funken Überlebenswillen. Elina legte etwas warmen Schmelz in ihren Blick. „Ich habe nichts, was ich Ihnen als Pfand gegen könnte.“ Doch er sah sie nicht an. „Ich könnte versuchen, Sie zu überzeugen, wenn Sie mir Gelegenheit dazu geben.“

Es lag eine angenehme Weichheit in ihrer Stimme, die in ihm die Erinnerung an den weichen warmen Körper einer Frau wachrief. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal eine Frau gehabt hatte? Sein Gehirn war zu vernebelt, um diese Frage zu klären, und die Anstrengung des Nachdenkens ließ ihr Gesicht vor seinen Augen undeutlich auseinanderfließen. Er schüttelte etwas unwillig den Kopf, um das Bild wieder klar zu bekommen. Es half.

War sie eine Hure? Eine, die …? Nein. Er konnte weder in ihrem Verhalten noch in ihrer Ausdrucksweise diese vulgäre Note feststellen, wie sie Weiber dieser Art gewöhnlich an sich hatten. Aber dennoch … Sie kannten sich nicht, und trotzdem schien sie bereit … Während diese Gedanken in der Schwere seines Kopfes versackten, versuchte er sich wieder auf ihr Gesicht zu konzentrieren, wischte sich mit der Hand über das eigene, als wollte er die betäubende Wirkung des Schnapses beiseite schieben, und sein Blick suchte unsicher nach dem ihren.

„Du würdest wohl alles d-dafür tun, was?“

„Nahezu alles.“

„Muss ja verdammt … wichtig sein, diese S-sightseeing-Tour.“

Elina schwieg und sah ihm nur fest in die Augen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, mit ihm ins Bett zu gehen und ihm den Schlüssel zu stehlen, wenn er schlief. Aber sie wusste ja nicht einmal, wo sich dieses Auto befand.

Einen Augenblick hielt Gordon Denison ihrem Blick stand, dann sagte er beinahe unwirsch: „S-sagen wir mal, ich könnte dir trauen und du kämst … zurück, dann wäre der Tank nahezu leer, oder vielleicht wäre er auch ganz leer, verstehst du? …Und es gibt hier kein Benzin zu kaufen, um von diesem beschissenen Platz wegzukommen. Du hast dir den falschen Mann ausgesucht, Herzchen … und vor allem die falsche Gegend, um ’ne Spazierfahrt zu machen. Oder ist es etwa keine Spazierfahrt?“

Sie überging diese misstrauische Frage und sagte stattdessen: „Wenn Sie von hier weg wollen, warum haben Sie es nicht schon längst getan?“

Er schwieg nach dieser Bemerkung, und sie sah ihm an, wie es hinter seiner Stirn schwerfällig arbeitete. Er mochte jetzt darüber nachsinnen, wie berechtigt ihre Frage war. Oder er mochte sich fragen, was sie überhaupt hier in dieser gottverlassenen Gegend zu tun hatte.

Und was hatte ihn hierher getrieben? Hatte er etwas verbrochen? War er auf der Flucht vor etwas und wollte sich im entlegensten Winkel dieser Welt verstecken?

Würde er sich dann betrinken?

„Gordon“, sagte sie fast zärtlich. „Wenn es nicht sehr wichtig für mich wäre, hätte ich Sie nicht damit belästigt.“

„Warum sagst du mir dann nicht den wahren Grund?“

Ihr Blick ruhte einige Sekunden auf seiner Erscheinung, tastete prüfend und unschlüssig über seine Gestalt, sein Gesicht, die nervös mit der Flasche spielenden Hände, und sie lauschte dabei auf das Klopfen ihres Herzens.

„Weil es meine Sache ist“, hörte sie sich schließlich sagen, und sie wusste sofort, dass sie einen weiteren Fehler begangen hatte. Er lehnte sich zurück und starrte trotzig auf eine nicht näher zu bestimmende Stelle der Tischplatte.

„Und ich habe das Auto.“

Elina presste die Lippen aufeinander. Zum Teufel mit ihm. Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu sagen, dass er ja hier ganz gut aufgehoben sei, dass es hier zwar kein Benzin, dafür aber genügend Fusel gäbe, um sich jeden Tag volllaufen zu lassen. Doch so würde sie ganz bestimmt nicht weiterkommen. Und außerdem hatte er es nicht verdient, dass sie sich über ihn lustig machte. Was wusste sie denn über ihn. Nur, dass er einer wildfremden Person sein Auto nicht leihen wollte. Sie würde wohl nicht darum herumkommen, preiszugeben, was ihr streng gehütetes Geheimnis bleiben sollte. Aber die Umstände, die jetzt eingetreten waren, machten alles zunichte, was vorher gegolten hatte. Retten, was zu retten war hieß die letzte Möglichkeit, die ihr geblieben war.

„Es geht um ein Menschenleben“, musste sie schließlich nach einigem Zögern einräumen.

„So“, knurrte Gordon Denison. Dann grinste er sie trunken an. „Erzähl mir blooß keine rührselige Story, nur weil ich besoffen bin.“

So betrunken, um sein Misstrauen verloren zu haben oder nicht mehr denken zu können war er also doch nicht.

„Aber es ist die Wahrheit!“, schrie Elina ihn an. „Die wollten Sie doch hören, verdammt noch mal! Da liegt ein alter Mann mit einem zerschmetterten Bein einen Tagesmarsch von hier in der Wildnis. Er braucht dringend Hilfe …!“ Sie stoppte rasch den

Ausbruch ihrer Gefühle und versuchte, die Kontrolle über sich zurück zu gewinnen, um nicht mehr Dinge preiszugeben, als sie eigentlich musste – Dinge, die sie lieber für sich behalten sollte. Ihr argwöhnischer Blick tastete das Gesicht ihres Gegenübers ab … und gab Entwarnung.

Ruiz, der Wirt, erschien, zündete eine Petroleumlampe an und stellte sie auf den Tisch, denn es war inzwischen fast völlig dunkel geworden. Die Stromleitungen, die sie draußen gesehen hatte, schienen hierher noch keinen Zugang gefunden zu haben. Ruiz betrachtete die Frau einen Augenblick lang unschlüssig, sagte jedoch nichts und verschwand wieder, ebenso stumm, wie er gekommen war. Offenbar war er an seltsame Marotten von el gringo gewöhnt.

Ein abschätzender, nicht gerade schmeichelhafter Blick tastete sich über ihr Gesicht, ihre Gestalt, soweit sie oberhalb des Tisches sichtbar war.

„Dein Mann?“, fragte Denison knapp. Sie schüttelte den Kopf, zögerte mit der Antwort. „Ich verstehe.“ Gordon Denison hatte seinen Blick wieder gesenkt und schaute auf seine Hand mit der Flasche.

„Mein Onkel“, erklärte Elina schließlich.

„Sieh mal einer an“, sagte Gordon Denison bissig. „Der gute Alte fährt mit seiner … seiner hübschen Nichte zum Pick…nick und bricht sich beim Bockspringen das Bein, … der Arme. Und was ist denn mit s-seiner Karre passiert? Kein Benzin mehr, …wie? Siehst du, was für ’ne Scheißgegend das hier ist. Richtige Scheißgegend.“

Sein Zynismus machte sie erneut wütend und weckte das unbeherrschte Temperament in ihr.

„Sie besoffener, gemeiner Kerl!“, schrie sie ihn an. „Wir waren nicht beim Picknick …“ Sie brach ab, zögerte. Gott im Himmel, es war sowieso alles vorbei, alles gescheitert, wenigstens für dieses Mal. „Wir waren mit einem Hubschrauber unterwegs. Von Tegucigalpa her und mussten notlanden, und dabei …“ Sie hielt erneut inne, diesmal erschrocken, als sie sah, wie Denisons Kopf herumruckte und er sie anstarrte, als hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Er schüttelte seinen Kopf, als versuchte er verzweifelt, seine Trunkenheit damit loswerden zu können, was ihm nicht gelang.

„Musst entschuldigen, Mary, ich kann …“ er versuchte mit aller Anstrengung, seine Zunge unter Kontrolle zu kriegen, „kann dir nicht so schnell folgen. Du … du musst mir das noch mal langsam erklären. Hast du da was von ’nem Heli erzählt, oder hat mir der verdammte … dieses Gesöff hier ’nen Streich gespielt?“

Es sollte versöhnlich klingen, vielleicht auch seine überraschte Reaktion bemänteln, aber Elina spürte trotzdem die Gespanntheit, die plötzlich den Raum ausfüllte wie ein explosives Gas. Ein paar Fliegen stürzten sich wie Kamikazen auf die Lampe, als wollten sie sich an deren Zylinder den Schädel einschlagen.

Hatte sie einen Fehler gemacht?

Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Verdammt noch mal, sie brauchte Hilfe, und dafür musste sie alles tun, auch etwas von der Wahrheit preisgeben. Was um alles in der Welt konnte es einem betrunkenen Amerikaner hier am Ende der Zivilisation bedeuten, wenn sie mit Mase Kurvin in einem Hubschrauber unterwegs war. Kein Mensch kannte den Grund ihrer Reise, und kein Mensch würde ihn je erfahren. Und für dieses Mal waren sie ohnehin gescheitert …, für dieses Mal, nur für dieses eine Mal!

Und trotzdem war da etwas in ihr, das Gefahr signalisierte – etwas, das wild mit den Armen wedelte, um Aufsehen heischend. Etwas, das nicht bereit war, sich ignorieren zu lassen.

Ich muss es ignorieren. Ich habe keine andere Wahl.

„Wir wollten nach El Salvador hinüber“, erklärte Elina vorsichtig, und als sie den verwunderten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers bemerkte, fuhr sie fort: „Und wir hatten uns verflogen …“

Gordon Denison unterbrach sie. Er wirkte plötzlich sehr fahrig. „Entschuldige.“ Er erhob sich etwas mühsam. „Muss erst mal nach draußen, bin aber gleich wieder da.“ Er bemühte sich mit mäßigem Erfolg gerade zu gehen und durchquerte den spärlich erleuchteten Raum zur Hintertür und verschmolz dort mit der Dunkelheit. Elina Maria Ortega schaute ihm nach und wurde das Gefühl nicht los, vielleicht doch etwas falsch gemacht zu haben.

Sie hatten sich tatsächlich verflogen. Von oben sah alles ganz anders aus, besonders nach so vielen Jahren, und Mase war überall herumgeflogen, nach markanten Punkten auszuschauen, die er kannte. Und sie hatten dazu mehrere Tage gebraucht, ehe er sicher war, auf der richtigen Route zu sein.

Die Toilette war ein kleiner muffiger Raum mit einem betonierten Fußboden, von dem sich ein ovales Klobecken mit einem runden schwarzen Loch an der hinteren Seite nur etwa zehn Zentimeter hoch abhob. Es roch nach Ammoniak, nach Kalk und irgendwelchen Desinfektionsmitteln, mit denen man die Fäkalien zu neutralisieren versuchte.

Denison erzeugte ein gurgelndes Geräusch, als er in das schwarze Loch pinkelte. Der Gestank ließ eine leichte Übelkeit in ihm hoch kriechen. Die Schmeißfliegen, die ihn mit widerlichem Gesumme umschwärmten, schienen die einzigen zu sein, die sich in solch einem Dreckloch wohl fühlten. Dann ging er rasch hinter das Haus, das wohl die letzten hundert Jahre sanitärer Entwicklung verschlafen haben musste. Aber er kannte sich mittlerweile hier gut genug aus, um nicht mehr davor zurückzuschrecken oder auf schmierigen Abfällen auszurutschen.

Draußen hockte er sich neben die primitive Pumpe und bewegte den eisernen Schwengel einige Male mit einem piepsenden Geräusch auf und ab und warf sich mit der anderen Hand das kühle, belebende Wasser ins Gesicht.

Tegucigalpa …

Hubschrauber …

Seine Gedanken stoben auf wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Die ersten Sterne funkelten am blassen Abendhimmel, an dem noch ein letzter Widerschein des dahingegangenen Tages verblieben war.

Sterne – er hatte sie schon seit langem nicht mehr wahrgenommen. Wozu auch? Weshalb sollte er sich um etwas kümmern, was so unerreichbar war wie diese verdammten Sterne, nach denen nur unerfahrene Träumer griffen.

Als Gordon Denison wieder herein kam, waren seine Haare an Stirn und Schläfen nass. Wasserperlen, die in seinen Bartstoppeln hingen, glitzerten wie Edelsteine im Licht der Petroleumlampe. Die Ärmel seines Hemdes, mit denen er sich das Gesicht notdürftig abgetrocknet hatte, zeigten dunkle Spuren von Feuchtigkeit. Das kühle Wasser musste diesen verdammten Alkohol weitgehend aus seinem Hirn verjagt haben, denn seine grauen Augen blickten sie wach und klar an. Oder rührte die Wirkung etwa davon her, dass sie den Hubschrauber erwähnt hatte? Dieses Wort schien eine magische Wendung seines Zustandes herbeigeführt zu haben.

Gordon Denison setzte sich wieder hin und stützte beide Unterarme auf den Tisch. Ein kleiner neugieriger Nachtfalter umkreiste taumelnd seinen Kopf, als wollte er ihm seine Gesellschaft aufdrängen, und er versuchte, ihm mit den Augen zu folgen, schlug dann ärgerlich mit der Hand nach ihm. Der Falter wich aus, stieß gegen den Zylinder der Lampe, geriet dann in den heißen Luftstrom an seiner oberen Öffnung, verbrannte sich die Flügel und stürzte wie ein abgeschossenes Flugzeug in die Dunkelheit jenseits des Tisches.

„Ihr wart also vom Wege abgekommen.“

„Ja.“ Elina nickte. „Dann war etwas mit der Maschine nicht in Ordnung. Mister Kurvin, das heißt mein Onkel, versuchte zu landen, aber es klappte nicht ganz. Als wir schon fast unten waren, begannen wir uns plötzlich wie ein Kreisel zu drehen, und das Hinterteil schlug gegen einen Felsen. Durch diese Erschütterung wurde er aus der Kanzel geschleudert und geriet mit dem Bein unter den Hubschrauber. Ich konnte ihn allein nicht aus seiner Lage befreien. Aber er hat starke Schmerzen. Jede Stunde ist eine Höllenqual für ihn.“

Etwas von dem eben gesagten musste ihn elektrisiert haben. Sie sah es an dem blitzartigen Aufzucken einer Erkenntnis in seinen Augen. Er nickte, plötzlich nachdenklich geworden. Elina beobachtete ihn unter schweren Lidern hervor. Er schien ihr zu glauben. Weshalb glaubte er ihr plötzlich?

Er hatte sich nach vorn gebeugt und starrte auf die Flasche vor

sich, als wäre sie eine Glaskugel, die ihm eine Antwort auf alle ungelösten Fragen geben könnte.

„In der Dunkelheit kann man es nicht riskieren“, murmelte er vor sich hin, „nicht mal mit dem Jeep.“

„Aber man kann ihn doch nicht die ganze Nacht dort liegen lassen“, begehrte Elina auf.

„Wir werden es wohl müssen. Ich nehme nicht an, dass ihr auf einer Straße gelandet seid. Wenn wir in ein Loch geraten oder gar den Wagen zu Bruch fahren, kannst du die ganze Aktion als gescheitert betrachten.“

Elina hob die Brauen. „Sie werden mir helfen?“

„Ja. Morgen früh, gleich wenn es hell genug ist, dass wir fahren können.“ Er deutete zur Flasche hin. „Und wenn das Zeug da mich aus den Klauen gelassen hat.“

In der Tat schien die Müdigkeit, die das kalte Wasser vertrieben hatte irgendwo in einem verborgenen Winkel seines Gehirns zu lauern, um beim ersten Anzeichen von Erschlaffung seiner Willenskraft wieder über ihn herzufallen. Seine Gesichtzüge wirkten kraftlos.

„Aber morgen ist es vielleicht schon zu spät.“ Sie flüsterte es fast. „Wenn er stirbt, dann …“ Sie sah ihn an, mit schweigender Tristesse in ihren dunklen Augen und schöpfte tief Luft. Schon eine Nacht lang hatte sie bei ihm ausgeharrt, weil die Dunkelheit sie dazu zwang. Erst als der nächste Tag anbrach, hatte sie sich aufgemacht, um Hilfe zu holen.

Denison legte seine Hand auf die ihre, und sie war jetzt leichter, behutsamer als vorhin. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, etwas Bedeutsames, sein Gesicht spiegelte Nachdenklichkeit wider … Aber dann sagte er nur: „Vielleicht, Mary. Aber wenn wir den Jeep verlieren oder selbst verunglücken, dann ist ihm garantiert nicht mehr zu helfen.“

Sie nickte, schwieg resignierend, und ihre verkrampfte Haltung entspannte sich. Er hatte wohl Recht. Aber dennoch verstand sie seine Reaktion nicht. Was mochte ihn dazu bewogen haben, ihr plötzlich zu helfen?

„Und was ist mit dem Benzin?“, fragte sie ihn unverhofft und beobachtete sein Gesicht dabei genau. Er zuckte nur leicht mit den Schultern und verzog keine Miene. „Spielt jetzt keine Rolle mehr“, behauptete er mit der Überzeugungskraft des erprobten Lügners. „Du hast ja gesagt, es ginge um ein Menschenleben.“

Elina beobachtete ihn noch immer. Irgendeine Veränderung war in diesem Gordon Denison vorgegangen, und sie hatte das Gefühl, dass es bestimmt nichts mit der Gefahr für das Leben des alten Mannes zu tun hatte, der da irgendwo mit seinem Bein unter dem Hubschrauber lag.

* * *

2.

Die Gier ist eine gegenstandslose Bestie, ein unsichtbarer Virus, der sich in das Blut schleicht und das Tor zu Hölle öffnet – einer Hölle, der man nicht mehr entrinnen kann.

Der Motor der alten, verbeulten Fordlimousine stotterte noch ein paar Mal röchelnd wie jemand, der im Sterben liegt, und verstummte. Der über dem zerfurchten Weg aufgewirbelte Staub zog widerwillig in einer kaum spürbaren Luftbewegung zur Seite. Stille legte sich bedrückend über die Szene.

Jesús Valdez schlug wütend mit der Hand auf das Lenkrad, stieg dann fluchend aus und drückte das magere Kreuz durch, langsam und vorsichtig, als fürchtete er, es könnte zerbrechen. Das blassrosa mexikanische Hemd, das er über der dunklen Hose aus zerknittertem Tuch trug, wies in der Mitte des Rückens dunkle Stellen auf und hing im Übrigen locker wie bei einer Vogelscheuche über seinem schmächtigen Oberkörper. Sein Blick glitt deprimiert an den heißen trockenen Hängen des Berglandes hinauf und weckte in ihm den verzweifelten Wunsch, einen Kühlschrank zu öffnen und ein kaltes Bier herauszunehmen. Doch hier gab es kein Bier und schon gar keinen Kühlschrank.

Die öde Trockenzeit näherte sich langsam ihrem Ende. Seit

Monaten war kein Tropfen Regen gefallen, und das spärliche Buschland hatte eine graubraune Farbe angenommen. Die letzten Reste von Feuchtigkeit hatten sich längst in den Dschungel des Tieflandes verzogen und das höhere Bergland seiner Dürre überlassen, in der es geduldig auf Regen wartete. Eine messingfarbene Sonne schob sich – wie anderentags auch – an einem unbarmherzig wolkenlosen Himmel hinauf und lag schwer wie eine brütende Henne auf dem Land. Der Busch raschelte, wenn der heiße Wind durch das dornige, nahezu blattlose Gezweig strich, und das Land wand sich unter der gnadenlosen Sonne. Das Gestein schien sich träge zu bewegen, in dem vergeblichen Versuch, vor ihr zu fliehen. Eine Sonne, die das Blut zum Kochen – und lebendiges menschliches Fleisch zum Schmelzen bringen konnte, saugte den letzten Rest von Feuchtigkeit aus den Körpern.

„Wir hätten uns vorher noch ’nen Reservekanister besorgen sollen“, warf er dem zweiten Mann vor, der auf der anderen Seite

das Fahrzeug verließ.

Ronald Barry winkte mit der Hand ab und blinzelte in die Gegend um sich herum. Sein heller Panamahut war nach hinten gerutscht und gab ein paar dünne, schweißnasse Haarsträhnen frei. Das grellbunte Hemd mit Palmenmuster verlieh ihm das harmlose Image eines Touristen, der für die kostbarsten Wochen eines Arbeitsjahres dem Stress irgendeines Büros entkommen war.

„Habe so das Gefühl, dass dieser Scheißweg ohnehin bald zu Ende ist.“ Er bückte sich, um in das Innere des Wagens zurückschauen zu können. „Komm raus, Dutchy! Von jetzt an wird gelaufen.“

Der Ton seiner Stimme, der nicht dazu angetan war, Widerspruch aufkommen zu lassen, wollte jedoch nicht so recht zu jenem Eindruck passen, den ein oberflächlicher Beobachter auf den ersten Blick gewinnen musste. Ebenso wenig der kompromisslos harte, mit einem scharfen Intellekt gepaarte Blick, der wie eine Messerklinge aus zwei tückisch kleinen Augen hervor blitzte.

„Und wohin, verdammt noch mal?“, brauste Jesús Valdez auf. Seine schief nach vorn stehenden Schneidezähne verliehen seinem Gesicht den Ausdruck eines wütenden Nagetiers. „Wohin willst du denn zu Fuß in dieser beschissenen Gegend kommen?“ Die stechenden dunklen Augen sprühten Ronald Barry eine aggressive Vitalität entgegen. Dieser zog die wimpernlosen Lider zusammen, als er den anderen über das staubige Blech hinweg taxierte wie eine wertlose Ware. „Du kannst von mir aus zurückgehen und dich schnappen lassen. Ich jedenfalls schlage mich hier in die Büsche, wo mich keiner findet, und dann sehe ich weiter.“

Valdez schlug mit der Faust ärgerlich auf die heiße Motorhaube. Es gab ein dumpf blechernes Geräusch. „¡Qué va! Die haben schon längst aufgegeben. Oder glaubst du, die sind wegen der paar lächerlichen Scheine noch immer hinter uns her? Ihr seid hier nicht in den Estados Unidos. Hier geht alles ein bisschen gleichgültiger zu.“

„Du gestattest doch, dass ich mich darauf lieber nicht verlasse“, gab Barry zynisch zurück. „Immerhin hat es einen Verletzten gegeben, der möglicherweise auch noch abkratzt“, erinnerte er ihn.

„Na wenn schon. Das ist hier nichts Außergewöhnliches.“

Dutchy stieg jetzt ebenfalls aus. Er war Amerikaner, dessen Eltern aus Holland eingewandert waren und der deshalb den Spitznamen Dutchy trug. Wie er wirklich hieß, wussten außer ihm wohl nur wenige. Barry und Valdez jedenfalls interessierte es nicht.

„Also dann streitet euch nicht, und lasst es uns anpacken, wenn es schon sein muss.“ Ihn schien die Aussicht auf einen Fußmarsch von ungewisser Länge und bei dieser Hitze nicht besonders aufzuregen. Er wischte sich die schwitzenden Hände an seiner verwaschenen Jeanshose ab, angelte eine kurzläufige Pumpgun aus dem Wagen und stülpte sich einen breitkrempigen Cowboyhut aus irgendeinem dünnen Strohgeflecht auf seinen ungekämmten hellblonden Haarschopf. Dann schenkte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung um sie herum und nickte ein paar Mal. „Da kocht uns nach ’n paar Stunden ganz gewiss die Scheiße in den Därmen. Aber hier bei dieser Karre sollten wir auf keinen Fall bleiben.“ Er ging zum Heck des Wagens, öffnete den Kofferraumdeckel, nahm einen gut gefüllten Rucksack heraus und warf sich mit einem Schwung das Gepäckstück auf den Rücken. Den Kofferraumdeckel ließ er offen. „Amigo Valdez trägt das Wasser.“ Damit warf er ihm drei zusammengebundene Wasserfalschen zu, die der davon überraschte Valdez nur mit Mühe auffing. „Wir beide“, er schaute zu Ronald Barry und klopfte dabei mit der Hand an den Rucksack hinter sich, „wir wechseln uns mit dem Proviant ab.“

Um seinen Frust heraus zu lassen trat Valdez noch einmal mit dem Fuß gegen den vorderen Reifen, als gäbe er ihm die Schuld an der Misere, in der sie steckten. Dann zogen die drei Männer los und verließen den Karrenweg an einer Stelle, wo der dichte Busch sie durchließ. Jesús Valdez, der Honduraner, war der einzige, der sich noch einmal umwandte und einen langen verzweifelten Blick zurück schickte, zu dem Auto, das sie bis hierher gebracht hatte und nun alt und müde mit aufklaffenden Türen wie ein abgestürzter Käfer hinter ihnen zurück blieb.

Das Gelände stieg an, und die drückende Hitze saugte ihnen die Energie aus den Knochen. Immerzu mussten sie dornigem Gestrüpp oder unwegsamen Stellen ausweichen, so dass sie nur mühsam vorankamen und immer wieder kleinere Erholungspausen einlegen mussten.

Sie waren etwa drei Stunden unterwegs, und der Stoff ihrer Hemden hatte sich zwischen den Schulterblättern und vorn auf der Brust dunkel gefärbt. Der große, bullig wirkende Dutchy ging an der Spitze und bestimmte das Tempo, was den am Schluss hinterher stolpernden Valdez immer wieder heftige Flüche entlockte. Frivole Gedanken wie an Bier oder andere kühle Sachen waren schon längst unter einer dumpf lastenden Lethargie verkümmert.

Dutchy blieb plötzlich stehen, als sie den Kamm eines Felsrückens erreichten, der sich kahl aus dem Buschland heraushob und den Blick in ein weites Tal freigab, das von niederem Gesträuch, spärlichem Kiefernbestand und einzelnen Felsklippen geprägt war. Der Wald, der es einmal bedeckt hatte, war offensichtlich abgeholzt worden, wie die zahlreichen, zum großen Teil bereits überwucherten Baumstümpfe bezeugten.

Ronald Barry, der während des anstrengenden Aufstieges zu dieser Höhe nur auf den Boden vor seinen Füßen geblickt hatte, hob erst den Kopf, als er den Arm spürte, mit dem Dutchy ihn aufhielt.

„Was ist denn?“, fragte er ungehalten darüber, aus seinem gleichmäßig lethargischen Trott gerissen zu werden. Aber sein Kumpan brauchte ihm darauf nicht zu antworten, denn jetzt sah auch er das gleißende Blinken, das vom Grund dieses Tales zu ihnen heraufflammte und in die Augen stach. Die rötlichen Strahlen der tief stehenden Sonne wurden von irgend etwas reflektiert, das eine Glasscheibe sein konnte, die zweifellos dort nicht hin gehörte, wo es weder ein Gehöft noch sonst einen Hinweis für das Vorhandensein von Menschen gab.

„Was ist das?“ Jesús Valdez, der eine Weile später schnaufend hinter ihnen ankam und wie ein schnüffelndes Tier in das weite Tal hinunter sicherte. „Blendet zu sehr. Man kann nicht erkennen, was dahinter ist.“

„Wir sollten auf jeden Fall mal nachsehen“, schlug Dutchy vor und schaute Barry von der Seite an, dessen Zustimmung erwartend.

„Jetzt nicht“, entschied dieser. Er setzte sich auf die heiße Steinplatte, die etwas über den Rand hinausragte, der in das Tal abfiel. Dutchy folgte missmutig seinem Beispiel und legte das Gewehr über seine Oberschenkel, die den Stoff der Hose spannten. Barry starrte wortlos auf den blinkenden Lichtstrahl hinunter, von dem etwas Beunruhigendes ausging, das ihm auf die Nerven fiel. Besonders weil er nicht ergründen konnte, was genau dessen Ursprung sein mochte. Unveränderlich und starr wie ein Signal, das Gefahr bedeuten konnte, gleichzeitig aber auch Neugier erzeugte.

Er sog tief die heiße Luft ein. Der Geruch von Schweiß, schmutziger Wäsche und Tabak stieg ihm in die Nase, eine Ausdünstung, die ihn bereits seit langem begleitete. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, dessen Blässe von Schmutz und Bartstoppeln kaschiert wurde, und sah flüchtig zur Seite. Dutchy sah nicht besser aus. Er war genauso verdreckt und machte einen ziemlich verkommenen Eindruck.

Barry streckte Valdez seine Hand entgegen. „Meine Flasche.“

Der Honduraner warf ihm eine der Wasserflaschen zu. Barry schraubte den Verschluss ab und trank, schüttelte sie danach abschätzend und schraubte den Verschluss wieder zu. Dann kramte er eine Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie hinter vorgehaltener Hand an, obwohl diese Vorsichtsmaßnahme in anbetracht der Helligkeit, die sie umgab überflüssig war.

„Auto?“, fragte Dutchy.

Ronald Barry stieß den Rauch aus. „Weiß der Teufel“, gab er mürrisch zurück, „’ne Straße scheint es jedenfalls da unten nicht zu geben.“

Dutchy legte sein Gewehr beiseite und rieb sich mit dem Handrücken das Kinn. Das Jucken, das Bartstoppeln, Schweiß und Schmutz verursachten, wurde immer lästiger. „Vielleicht gibt’s da unten Wasser.“

„Nein“, antwortete Ronald Barry gereizt.

Dutchy rollte sich flach auf den Bauch und legte die Stirn auf die Unterarme, das Gesicht der heißen Steinplatte zugewandt. „Von mir aus“, murmelte er, „schließlich treibt uns ja keiner, und das da unten läuft uns nicht weg.“ Die Sonne musste bald hinter den Rändern des Tales verschwinden und diesen Lichtreflex beenden. Dann konnten sie sehen, was sich dort unten für ein Geheimnis befand.

Jesús Valdez hatte sich in den Schatten gesetzt und sagte nichts zu alledem. Mochten diese beiden gringos sich ruhig die Köpfe zerbrechen, ihm war es scheißegal, was sie dort unten vorfinden würden. Die Ruhepause kam ihm sehr gelegen, und wenn es erst dunkel war, konnte man ohnehin nicht mehr viel unternehmen. Diese Aussicht versöhnte ihn wieder etwas mit seinem Schicksal. Denn er hatte keinen Bock drauf, nach El Salvador zu gehen und sich bei irgendwelchen Todesschwadronen als Söldner zu verdingen. Das war Dutchy’s Idee gewesen, nachdem die Sache mit der Bank in die Hose gegangen war.

Auf der anderen Seite des Tales schwebte ein einsamer Geier im Türkis des Himmels, ging etwas tiefer und schien sich ebenfalls für das zu interessieren, was sich da auf der Talsohle befand. Er zog einige Kreise, dann schien ihm die Sache doch nicht geheuer zu sein. Er ließ sich von der Thermik wieder nach oben tragen und verschwand langsam in der Ferne.

Als die Sonne so viel weiter gewandert war, dass sich der Reflektionswinkel vergrößerte und das abgestrahlte Licht auf eine andere Stelle traf, wurde etwas sichtbar, was nach längerem Hinschauen wie ein Helikopter aussah. Aber er schien schief und fast auf die Seite gekippt in dem unwegsamen Gelände zu stehen. Ob und wie weit er beschädigt war, ließ sich auf diese Entfernung nicht beurteilen.

„Scheint wohl zu Bruch gegangen zu sein“, vermutete Ronald Barry unsicher.

„Weiß der Geier, was das zu bedeuten hat“, knurrte Dutchy. „Meinst du, die haben nach uns gesucht?“

Barry blinzelte in das Tal hinab und schüttelte leicht den Kopf. „Dann hätten wir doch zumindest mal was hören müssen.“

„Im Auto und auf diesem holprigen Weg hätte uns das leicht entgehen können.“

„Alles Quatsch“, meinte Valdez wegwerfend. „Die Bullen haben hier keine Hubschrauber. Nach ’nem Armeehelikopter sieht es auch nicht aus. Viel zu klein dafür. Ihr nehmt euch wieder mal viel zu wichtig. Auf jeden Fall hat das nichts mit uns zu tun.“

Dutchy spuckte auf die Steinplatte, auf der er noch vorhin gelegen hatte. „Dann möchte ich wissen, wer sonst das Ding da hingesetzt hat.“ Er warf einen missbilligenden Blick auf seine rasch verdampfende Spucke.

„Vielleicht sehen wir es, wenn wir runter gehen“, meinte Barry.

„Aber wir sollten noch etwas warten. Wir müssen damit rechnen, dass sich irgend so ein Arsch da unten rumtreibt, und ich möchte nicht unbedingt derjenige sein, der zuerst gesehen wird. Noch wissen wir nicht, was das alles zu bedeuten hat.“

Valdez setzte sich wieder hin. „Ich bin der Ansicht, diese Kiste steht schon länger da unten, und es ist niemand mehr da. Sonst hätten wir irgendeine Bewegung sehen müssen. Vielleicht ist er von El Salvador rüber gekommen und hier notgelandet.“

„Dann kann es doch nicht mehr allzu weit sein bis zur Grenze“, sagte Dutchy. Er gähnte dabei und reckte seinen mächtigen Oberkörper.

Valdez ließ ein ärgerliches Schnaufen hören. „Zu Fuß schaffen wir das nie“, nörgelte er. „Wenn wir den Wagen noch hätten und ’ne Straße …“

„Haben wir aber nicht“, fauchte Barry ihn an.

Blaue Schatten krochen allmählich an den nackten Hängen und trockenem Gestein empor, saugten die weiter unten stehenden Bäume und Büsche auf und ließen sie zu einem undeutlichen, schwarzen Brei verschwimmen. Aber die Hitze hing noch wie eine Dunstglocke über dem abgeholzten Land aus verrotteten Baumstümpfen, Gestrüpp und Felsen. Sie trieb den Schweiß aus den Poren und ließ die Kleidung am Körper kleben. Das Tal versank in einem Meer aus Dämmerung, das aus den Schlünden der Erde hervorzuquellen schien. Die Luft stand still. Unheimliches Schweigen lag über dem Tal zwischen den Berghängen. Es schien kein Leben da unten zu geben. Das Land wirkte ausgestorben und abweisend wie die tote Landschaft eines unbewohnten Planeten.

Ronald Barry nahm seinen Panamahut ab, fuhr sich mit einem angeschmutzten Taschentuch über die Stirn und wischte ein paar dünne Haarsträhnen beiseite. Dann machten sie sich auf den abschüssigen Weg nach unten und rutschten streckenweise den steilen Hang hinunter. Manchmal hatte Ronald Barry den Eindruck, dass man das Klappern des Gerölls meilenweit hören müsste. Staub hüllte sie ein, setzte sich auf die schweißnassen Körper und reizte die keuchenden Lungen. Der Weg war weiter und beschwerlicher, als es von oben ausgesehen hatte, und als sie endlich unten angelangt waren, blieb Dutchy nach einer kurzen Strecke stehen. Das Gewehr schussbereit unter den Arm geklemmt, blickte er sich nach Barry um. Beide lauschten. Die Nacht schwieg, aber es war ein unheimliches, hörbares Schweigen, das böse Überraschungen für sie bereithalten konnte.

Sie gingen vorsichtig weiter, zwängten sich durch Gestrüpp, das ihnen Gesicht und Hände zerkratzte, und ehe sie noch den geheimnisvollen Helikopter erreichten, schob sich der Mond über die Zinnen der Berge im Osten, goss sein bleiches Licht über dem Tal aus und gaukelte Bewegungen vor, die es gar nicht gab. Ihre Schatten fielen lang auf den harten Boden und huschten mit geisterhafter Geräuschlosigkeit hinter ihnen her.

Irgendwann blieben sie stehen und sahen sich um. Hier unten zwischen all diesem Gestrüpp und den einzelnen Bäumen, die das Mondlicht aus der Dunkelheit schälte, verlor man leicht die Orientierung.

„Muss doch hier irgendwo sein, verdammt“, beschwerte sich Ronald Barry.

Dutchy, der etwas größer war, reckte den Hals und ließ seinen Blick über die Gegend schweifen. „Da drüben“, sagte er dann und deutete nach links.

Neben dem schwarzen Schatten einer Felsspitze lag ein dunkles Etwas, das sich bei ihrer Annäherung als der Hubschrauber entpuppte, den sie von oben aus gesehen hatten. Er lag fast auf der Seite, und seine Rotorblätter ragten verbogen wie die Fänge eines auf dem Rücken liegenden Raubvogels in die Luft.

Dutchy, Barry und Jesús Valdez starrten ihn zunächst fast ungläubig an, sahen sich dann weiterhin suchend um, der Stille, die sie umgab, nicht trauend. Männern wie ihnen war Vorsicht und Misstrauen in Fleisch und Blut übergegangen. Das Gewehr lag schussbereit in Dutchys glitschigen Händen. Ronald Barry nahm seinen Smith & Wesson Revolver in die Rechte und hielt ihn in angespannter Haltung vor sich.

„Der kann doch nicht allein vom Himmel gefallen sein“, flüsterte Dutchy. Er schaute suchend herum, in der Erwartung, zumindest irgendeine Leiche zu finden, aber da lagen nur der Helikopter, Blech, Glas und Kunststoff, und drum herum Steine. Hier und da fristeten irgendwelche Sträucher und spärliches, dürres Gras ihr Dasein, dessen Halme im bleichen Mondlicht seltsam unwirklich aussahen, wie Gräten, die aus dem Leib eines toten Fisches ragten.

Plötzlich hielt er in der Bewegung inne und sein Blick blieb starr auf eine bestimmte Stelle gerichtet. Regte sich da gerade etwas, unmittelbar neben dem dunklen Koloss des Hubschraubers? Oder hielt nur ein Spiel der Schatten seine überreizten Nerven zum Narren?

Langsam ging er auf die Stelle zu und erkannte die undeutliche Gestalt eines Menschen. Die linke Landekufe des Helikopters war beim Aufprall auf den Boden zerbrochen und das Gerät dadurch auf das Bein eines Mannes gekippt, der vermutlich herausgeschleudert worden war, und jetzt eingeklemmt dalag. Der hintere Teil sah ziemlich ramponiert aus, und der Heckrotor total verbogen, wie eine erstarrte Kralle, die nach irgendetwas in der Luft haschen wollte.

„Kommt mal her“, sagte Dutchy halblaut über die Schulter und blieb vor dem Unglücklichen stehen. Das Licht der silbernen Himmelslaterne fiel jetzt voll auf dessen Gesicht. Ein gequältes Gesicht, das Schmerzen bleich und spitz gemacht hatten. Der fahle Schimmer unterstützte diesen Eindruck noch. Der Mann mochte bereits die Sechzig oder vielleicht schon die Siebzig überschritten haben. So genau konnte das bei diesem Licht und dem Zustand, in dem er sich befand, niemand sagen. Seine Augen hielt er geschlossen und den Mund wie zu einem schmerzvollen Stöhnen halb geöffnet.

„Glaubst du, dass er allein da drin war?“, fragte Dutchy.

Ronald Barry versuchte im lauernden Dunkel der Kabine etwas zu erkennen, überprüfte dann mit einem schnellen Blick die nähere Umgebung und zuckte schließlich mit den Schultern. „Ich sehe jedenfalls sonst niemand.“

Der Arm des Verletzten bewegte sich leicht, ohne dass der Mann das Bewusstsein erlangte.

„¡Madre de Dios!“, stieß Jesús Valdez erschocken hervor und beugte sich über die Gestalt am Boden. „Der lebt ja noch. Habt ihr es auch gesehen? Der lebt.“

„Aber bestimmt nicht mehr lange“, versetzte Dutchy ungerührt. „Hier gibt es keinen Doc und schon gar keine Transportmöglichkeit, um ihn zu einem zu bringen. Er wird verrecken wie’n Hund, und wir könnten ihm ’ne Menge Qualen ersparen, wenn wir die Sache beschleunigen.“ Er richtete das kurzläufige Gewehr auf den Mann, und diese Geste ließ seine Absicht klar erkennen.

„Lass das!“, fuhr Ronald Barry dazwischen.

Dutchy drehte sich zu ihm um. „Willst du etwa den Samariter spielen?“, fragte er ungehalten. „Du weißt, dass wir keine Zeit zu vertrödeln haben. In El Salvador wartet vielleicht ein lukrativer Job auf uns.“

„Lass mich doch erst mal überlegen. Dieses Gesicht … dieses Gesicht, ich kenne es von irgendwoher.“ Barrys Stimme war anzuhören, dass er scharf nachsann und sich an etwas zu erinnern versuchte. „Wo, zum Henker, habe ich dieses Gesicht schon mal gesehen?“, sagte er langsam, aber offenbar wollte es ihm nicht einfallen.

„Ein Dutzendgesicht“, brummte Dutchy vor sich hin, der unnötige Schwierigkeiten witterte, „man glaubt manchmal, so eins schon gesehen zu haben.“

Ronald Barry kramte in seinem Gedächtnis nach irgendwelchen Erinnerungsrückständen, konnte jedoch nichts Vernünftiges ausgraben. Valdez lief neben dem Verletzten unruhig hin und her.

„Ronaldo hat recht“, mischte er sich ein. „Wenn er verrecken muss, ist es besser, er tut es von allein. Wir müssen immerhin damit rechnen, dass noch jemand mit ihm geflogen ist und jetzt Hilfe holt. Es wäre uns bestimmt nicht von Nutzen, wenn man dann einen Erschossenen hier unter diesem Hubschrauber vorfindet.“

Dutchy starrte in die Dunkelheit. „Wo sollte denn hier in dieser beschissenen Gegend jemand Hilfe holen?“, grollte er ungehalten. „Alles Geschwätz!“

Ronald Barry steckte seinen Revolver ein. „Wir beide sollten versuchen, diesen verdammten Kasten zu bewegen“, wandte er sich dabei unbeirrt an Dutchy, „dann kann Valdez versuchen, sein Bein herauszuziehen.“

Valdez’ Augen wanderten von Ronald Barry zu Dutchy. Letzterer nahm seinen Hut ab und schaute zu Barry hin, und seinem Gesicht stand im blassen Mondlicht deutlich geschrieben, was er darüber dachte. Doch er sagte es nicht. „Na schön“, brummte er nur kurz und legte Hut und Gewehr unsanft auf einen Stein. „Wie du meinst.“

Sie gingen schweigend ans Werk und stemmten ihre Rücken unter den schief stehenden Hughes-Helikopter und drückten keuchend nach oben.

„Er bewegt sich!“, rief Valdez aufmunternd. „Noch ein bisschen höher, dann klappt es.“

Der bullige Dutchy presste die Lippen fest zusammen und strengte sich an, dass die Adern an seinem kräftigen Hals hervorquollen wie Regenwürmer. Ein tiefes Ächzen quälte sich aus dem Innern seines Brustkorbes.

„Jetzt“, kommentierte Valdez die leichte Aufwärtsbewegung des Fluggerätes. „Ein Stück habe ich ihn schon“, sagte er mit hastiger Stimme. „Nicht nachlassen, sonst brecht ihr seinen Knochen noch einmal.“

„Na wenn schon“, keuchte Dutchy gepresst unter der Anstrengung, aber er hielt verbissen aus.

„Geschafft!“, verkündete der Honduraner, und es knirschte hart, als die Maschine in ihre alte Lage zurücksackte.

„Gott im Himmel“, stöhnte Ronald Barry, richtete sich langsam auf und atmete tief durch. „Hoffentlich war das nicht alles umsonst.“

Dutchys Nasenflügel blähten sich auf, und er schickte ihm einen wütenden Blick, hielt es aber aus Mangel an Atemluft für besser, nichts zu sagen.

Der Alte lag bewusstlos im spärlichen, harten Gras und atmete unregelmäßig. Tagealte Bartstoppeln schimmerten silbrig im Mondlicht, konnten die tiefen Runen, die sich seitlich an seinen Mundwinkeln vorbeizogen, jedoch nicht verbergen. Barry schaute auf ihn herab, aber seine Gedanken kehrten immer wieder in die Vergangenheit zurück, versuchten, sich an irgendetwas zu erinnern. Er bemühte seine Fantasie, sich dieses Gesicht ohne den Stoppelbart vorzustellen, aber erfolglos.

„So, und was jetzt?“ Dutchys Worte kamen infolge der Anstrengung noch immer keuchend heraus. Doch Barry schien ihn gar nicht zu hören. Valdez kniete nieder und durchsuchte die Taschen des Mannes, ohne etwas Brauchbares zu finden, das über dessen Identität hätte Aufschluss geben können. Dann erst schaute er sich das verletzte Bein an und murmelte: „Sieht ziemlich böse aus.“

Dutchy wischte sich die Hände an der Hose ab und nahm sein Gewehr wieder auf. „Krepieren wird er auf jeden Fall.“

„Das Gesicht“, sinnierte Barry leise. „Wo, zum Teufel, habe ich es schon mal gesehen?“

„Vielleicht prangte es im selben Verbrecheralbum wie deines“, antwortete Dutchy gehässig. Ronald Barry sah ihn an, aber seine Gedanken kreisten noch immer um etwas anders, und so entging ihm die bösartige Aggressivität, die in dessen Worten lag. „Ja“, sagte er dabei, in den Tiefen seiner Erinnerung forschend, „du bringst mich da auf den richtigen Weg. Ein Bild war es, irgendein Bild …“

Valdez hob lauschend den Kopf. Es war windstill, kein Rascheln, kein Seufzen … Kein ferner Ruf einer Eule oder irgendeines Nachttieres. Und doch glaubte er, da etwas gehört zu haben… Nur was?

Dutchy schaute zu ihm hin. Der Honduraner besaß das feinste Gehör von ihnen allen, das wusste er.

„Ist was?“

Valdez lauschte noch einen winzigen Augenblick weiter und schüttelte dann resignierend den Kopf. Dutchy sah sich unbehaglich um, so weit die Nacht es zuließ.

„Der Mond ist hier so verdammt hell. Mir wäre wohler, ich würde irgendwo zwischen den Büschen da drüben sitzen.“

Niemand sagte etwas dazu. Jesús Valdez hatte inzwischen das Hosenbein des Verletzten aufgeschlitzt und sagte: „Ein paar Knochenspitzen haben die Haut durchstoßen.“

„Kannst du nicht endlich damit aufhören!“, herrschte Dutchy ihn an. „Der kneift spätestens morgen sowieso den Arsch zu.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Ronald Barry bestimmt. „Du versuchst dich wohl neuerdings als Hellseher, wie?“

„Und du weißt immer alles besser.“

„Weil wir nämlich bei ihm bleiben und uns um ihn kümmern werden“, fuhr Barry unbeirrt fort.

„Du vielleicht, aber nicht ich.“ Dutchy blieb vor seinem Gefährten stehen. „Du warst doch vorhin noch ganz normal.“

„Mir ist jetzt eingefallen, woher ich sein Gesicht kenne.“

„Da bin ich aber mächtig gespannt.“

„Habe es in den Zeitungen gesehen, und das nicht nur einmal, damals ohne diesen Scheißstoppelbart. Ist vielleicht zehn Jahre her, oder auch mehr, das weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich bin mir fast sicher, dass es irgendwann in den Sechzigern war.“

„Dacht’ ich mir’s doch fast“, bemerkte Dutchy mit nachsichtigem Zynismus. Aber Ronald Barry war von einem plötzlichen Eifer ergriffen, der einen seltsamen Glanz in seine Augen brachte.

„Die Geschichte hat damals ’ne Menge Staub aufgewirbelt und ging durch alle Zeitungen …“

„Na, dann erzähl doch mal“, unterbrach Dutchy ihn.

„Bin ja dabei. Und wenn du für ’ne Weile den Mund hältst, kann ich ja weiter machen. Drei Männer hatten da irgendwo ein Flugzeug in ihre Gewalt gebracht und haben fünf Millionen Dollar kassiert. Sie hatten auf irgendeine Weise Fallschirme an Bord geschmuggelt, und hier, über Honduras sind sie abgesprungen.“

„Über Honduras“, kommentierte Dutchy Barrys Äußerung mit mitleidiger Nachsicht. „Prächtig. Dann schaut euch mal um, vielleicht liegen ihre Fallschirme hier noch irgendwo rum. Die könnten wir dann als Souvenirs verhökern. Mann, Ron, weißt du, wie groß Honduras ist?“

„Über den Bergen jedenfalls“, legte Barry nach.

„Stimmt, ich kann mich auch noch dunkel daran erinnern“, bestätigte Valdez nachdenklich. Ronald Barry fuhr indessen unbeirrt fort: „Zwei von ihnen sollen dabei umgekommen sein. Den dritten hat man erwischt. Aber“, Barry hob den Zeigefinger bedeutsam in die Höhe, „jetzt kommt der Clou der Geschichte: Das Geld ist bis heute nie gefunden worden.“ Er deutete auf den alten Mann am Boden. „Und er ist der Mann, dessen Bild damals in den Zeitungen war.“

„Hör auf mit dem Quatsch!“ Dutchy winkte ab. „Nach so langer Zeit verändert sich ein Gesicht. Du kannst dir unmöglich sicher sein, und vielleicht schmort der Richtige schon längst in der Hölle.“

„Wie nun, wenn ich recht hätte, und dieser Mann wüsste, wo das Geld ist? Würdest du dann hier bleiben?“

„Wenn!“, schnaufte Dutchy. „Du kennst doch diesen Spruch von dem Hund, der den Hasen nicht kriegen konnte, weil er gerade scheißen musste.“ Er wandte sich ab, blieb jedoch nach zwei Schritten wieder stehen und drehte sich um. Das Gewehr pendelte locker in seiner Rechten. „Du scheinst einiges vergessen zu haben“, antwortete er auffallend geduldig. „Wir haben versucht, eine Bank zu plündern und dabei einen Mann angeschossen, der möglicherweise inzwischen das Zeitliche gesegnet hat. Die Bullen dort haben das bestimmt nicht vergessen. Und wenn sie doch noch hinter uns her sein sollten, dann kannst du eine Weile hinter Gittern von deinem blöden Geld träumen.“

Ronald Barry entblößte seine Zähne zu einem bösartigen Lächeln. Dutchy war noch nie ein Mann von schnellem Denken gewesen, und diesmal schien es, als könnte er nicht mal zwei und zwei zusammenzählen.

„Jetzt will ich dir mal was sagen, Freundchen: Dieser Mann da“, er deutete auf den am Boden Liegenden, „fliegt hier mutterseelenallein in einer Gegend ’rum, in der es nichts weiter gibt als Steine, Urwald, Busch und Schlangen. Findest du das nicht merkwürdig?“

Dutchy bedachte Barry mit einem Blick, dem man ansehen konnte, wie sich seine Gedanken schwerfällig mit dessen Worten beschäftigen.

„Ich würde es noch merkwürdiger finden, wenn du recht hättest und in diesem Fall die Bullen nicht hinter ihm her wären.“

„Wer sagte dir, dass dieses Geld überhaupt noch existiert?“,

fragte Jesús Valdez nüchtern.

„Weil sich Geld nun mal nicht einfach in Nichts auflöst. Die haben sich das Geld damals in Plastik einschweißen lassen …“

„So stand es in der Zeitung“, unterbrach Dutchy ihn mit deutlicher Ironie. „Mann Gottes, was so alles in den Zeitungen steht.“

„Du kannst es glauben oder nicht, es war jedenfalls so. Zuerst dachte man, sie wollten das Geld über dem Meer abwerfen, wo es dann von irgendwelchen Komplicen aufgefischt würde. Ziemlich clever, was? Das haben sie jedoch nicht getan. Wozu aber die Plastikbeutel? Sie haben es irgendwo vergraben. Und der da hat geschwiegen wie ein Grab.“

„Weil er es wahrscheinlich selbst nicht mehr weiß. Wie sollte er in dieser Wildnis nach so langer Zeit noch eine einzige bestimmte Stelle wiederfinden …?“

„Möglicherweise hat er einen Plan angefertigt.“

„Valdez hat nichts in seinen Taschen gefunden.“

„Wir haben den Hubschrauber noch nicht gefilzt. Aber das werden wir bei Tageslicht nachholen.“

„Hm“, nickte Dutchy, „und du glaubst, sie haben ihn einfach so laufen lassen, damit er seine fünf Millionen holen kann?“

Ronald Barry zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Wir können ihn ja danach fragen, wenn er wieder zu sich kommt. Aber ein Kerl, der solch ein Ding dreht, der wird auch auf irgendeine Weise seine Schatten los, ganz gleich, wer sie sind.“

Dutchy kam die paar Schritte wieder zurück. „Selbst wenn alles so ist wie du sagst“, er deutete auf den Bewusstlosen, „meinst du, er wird es dir sagen? Der sieht aus, als ließe er sich lieber umbringen als das Maul aufzumachen.“

Ronald Barry grinste hinterhältig. „Er wird schon reden, darauf kannst du dich verlassen. Aber erst sollten wir mal von hier verschwinden. Dieses verdammte Mondlicht geht mir auf die Nerven.“

Sie hatten den Verletzten über den harten Boden geschleift, bis sie zwischen einigen Büschen genügend Deckung fanden und auf einer kleinen Lichtung im Buschwerk Halt machten. Ronald Barry betrachtete jetzt das von Erschöpfung gezeichnete Gesicht von neuem. Vielleicht bedeutete dieser alte Mann für sie der Schlüssel zu unermesslichem Reichtum. Dieser Gedanke war zu verlockend, um ihn wieder los zu werden. Fünf Millionen Dollar – eine Schwindel erregende Summe für jemand, der sich sein Lebtag lang mit Taten zufrieden geben musste, die nur lächerlich kleine Beträge eingebrachten. Eine gewisse Bewunderung für diesen alten Mann schlich sich in sein Empfinden. Jemand der solch ein Ding durchgezogen hatte, musste schon was drauf haben, auch wenn er jetzt alt und hilflos war.

„Und wenn er so was wie ’ne Karte nicht bei sich hat?“

Ronald Barry hörte die Enttäuschung aus Valdez’ Stimme heraus, und ohne den Blick vom Gesicht des Alten zu nehmen, antwortete er: „Für so dumm würde ich ihn eigentlich auch nicht halten. Trotzdem werden wir morgen danach suchen. Wir sollten nichts unversucht lassen.“

Dutchy setzte sich auf den Boden und drehte sich eine Zigarette. „Bis jetzt ist noch nicht klar, ob er derjenige ist, für den du ihn hältst. Und wenn, ob er überhaupt was weiß“

„Wozu wäre er sonst wohl hier, wie?“

„Sentimentalität eines alten Narren vielleicht, oder eine vage Hoffnung oder was weiß ich.“

„Ja“, sagte Ronald Barry geringschätzig, „was weißt du schon?“

„Jedenfalls kann man nach so langer Zeit vieles vergessen.“

„Nicht wo fünf Millionen liegen.“

Valdez legte erneut das gebrochene Bein des alten Mannes frei. „Kommt, helft mir! Wir müssen da was tun.“

„Jetzt in der Nacht?“, wandte Dutchy ein.

„Nun ja, das Licht ist schlecht, aber wir können damit nicht bis morgen warten. Jetzt ist er wenigstens noch bewusstlos.“

Der alte Mann schrie trotz seiner Bewusstlosigkeit hin und wieder vor Schmerzen auf, als sie auf völlig unqualifizierte Weise den gebrochenen Knochen zu richten versuchten. Ronald Barry und Jesús Valdez hielten Körper und Oberschenkel des Bewusstlosen fest und Dutchy zog kräftig am unteren Ende des Beines, bis es wieder einigermaßen gerade aussah. Dann schlug Dutchy von den nahen Büschen einige gerade Äste ab. Mit deren Hilfe und einigen Streifen Stoff aus dem Hosenbein schienten sie den Knochen. Der Mann musste lange dort unter dem Hubschrauber gelegen und unvorstellbare Qualen erlitten haben. Er lag noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit, und das war gut so. Bis zum Morgen konnten sie sich also Zeit lassen.

Als es hell um ihn wurde, schlug er zum ersten Mal die Augen auf – das erste Mal seit … seit wann? Er konnte es nicht sagen, aber er stellte fest, dass er nicht mehr eingeklemmt unter diesem Hubschrauber lag. Seine Sinne waren noch nicht so weit in die Wirklichkeit zurückgekehrt, dass er diese Tatsache mit irgendeiner Empfindung, weder mit Erleichterung, noch mit Verwunderung, verband. Es dauerte eine Weile, bis er die Gegend um sich herum und die drei Männer in ihrer verschmutzten, abgerissenen Kleidung wahrnahm. Die Sonne hatte sich noch nicht über die Berge gewagt, und Schatten füllten das graue Tal aus, hatten seine Farben noch nicht erwachen lassen.

Sein Bein schmerzte. Aber es war nicht mehr so schlimm wie unter diesem grässlichen Hubschrauber. Die drei Männer mussten ihn da hervorgeholt haben.

Elina … Er sah sich suchend um. Elina schien sie nicht geholt zu haben. Wer waren sie? Sollte er sie nach Elina fragen? Nein. sie befand sich nicht hier unter ihnen, und ein unbestimmtes Gefühl, dass sich langsam in ihm zu regen begann, sagte ihm, lieber zu schweigen, solange er nicht wusste, wer diese Männer waren und was sie vorhatten.

„Wer bist du?“, fragte der mit dem bunten Palmenhemd. Es klang fordernd und so, als wäre es gar nicht als Frage gemeint. „Kannst du uns verstehen?“

Kurvins Blick suchte das Gesicht des Sprechers, dessen Gestalt vor ihm emporwuchs. Vom heraufdämmernden Licht abgewandt wirkte es finster und barg irgendeine namenlose Drohung in sich.

„Mein Name … ist Kurvin.“ Als er zu sprechen versuchte, merkte er wie trocken sich sein Hals anfühlte, durch den sich die Worte hindurchquälten. „Mase Kurvin“, brachte er mühsam heraus und fuhr sich mit der Zunge über die ebenso trockenen Lippen, die auch verschorft und blutig waren. Vermutlich hatte er sie im Schmerz zerbissen. Seine Stimme klang spröde und erschöpft, als er fortfuhr: „Ihr habt mir das Leben gerettet, so wie es aussieht.“

„Vergiss es nur nicht“, bemerkte einer aus dem Hintergrund, „könnte sein, dass wir dich mal brauchen.“

Kurvins Aufmerksamkeit wandte sich dem großen Blonden zu, der ihn mit kalten, hellen Augen betrachtete, etwa so, wie ein Metzger ein totes Schwein ansieht, während er sein Messer schärft. Was mochte seine Bemerkung zu bedeuten haben? Sie klang nicht wie einfach so dahergesagt.

Der Blick des Mannes mit dem Panamahut forschte noch immer im Gesicht der Gestalt am Boden. Kurvin … Nein, so hieß der Kerl von damals nicht. Aber jetzt bei Tageslicht war er sich noch sicherer. Gewiss, auf dem Bild war er jünger gewesen – viel jünger. Doch diese Augen … der Blick. Der hatte sich nicht verändert.

„Der Hubschrauber ist im Arsch“, sagte er.

Mase Kurvin schwieg einen Moment. Verdammt, ja, der Hubschrauber …! Alles schien wieder einmal beim Teufel. Aber wo war Elina geblieben? Als letztes erinnerte er sich, dass sie verzweifelt versucht hatte, ihn frei zu bekommen, ehe er das Bewusstsein verlor. Sie hatte ihm noch etwas erklären wollen, aber davon wusste er schon nichts mehr. Er konnte sich nur noch an quälende Schmerzen erinnern – zwischen Bewusstlosigkeit und Wachzuständen. Aber immerhin lebte er noch.

„Ist nicht mehr zu ändern“, krächzte er nach einer Pause. „Habt ihr Wasser?“

Ronald Barry drehte sich zu Dutchy um. „Du hattest doch noch was in der Flasche.“

Dutchy zögerte. „Das habe ich nicht für den da aufgehoben.“

Barry winkte ungeduldig mit der Hand. „Nun gib schon her!“ Er reichte die bauchige, filzbezogene Feldflasche, die Dutchy ihm gab, an Kurvin weiter. Dieser richtete sich etwas hoch, setzte sie an seine rissigen Lippen und nahm ein paar glucksende Schlucke, die es nur mühsam durch seine ausgetrocknete Kehle schafften, schüttelte die Flasche und gab sie zurück. Mein Gott, dachte er dabei, Wasser kann was Herrliches sein.

Hatte Elina sich einfach davongemacht? Nein, sähe ihr nicht ähnlich. Ihre Pläne waren mit den seinen zu eng verknüpft. Aber das war nicht der einzige Grund. Nein, sie hatte ihn ganz bestimmt nicht im Stich gelassen. Sie befanden sich hier in einem unwegsamen, wilden Land. Was konnte sie da wohl tun …?

Aber wo, zum Teufel, war sie?

„Hattest du keinen Piloten dabei?“ Die Frage riss Kurvin

aus seinen Gedanken. Ein wenig verwirrt sah er den Mann im bunten Hemd an.

„Einen Piloten?“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich fliege selbst.“

„Ziemlich öde Gegend, und dann so ganz allein.“

Sollte er diesen Männern doch von Elina erzählen? Vielleicht war ihr etwas passiert und sie brauchte Hilfe? Man müsste nach ihr suchen!

Nein. Diese Männer sahen nicht so aus, als machten sie sich deswegen große Mühe. Vielleicht tat er ihnen unrecht, immerhin hatten sie ihn gerettet. Doch in ihren Gesichtern las er etwas, das ihn veranlasste, erst einmal zu schweigen, abzuwarten. Er schaute an sich hinunter, dorthin, woher die Schmerzen kamen. Sie hatten sein Bein geschient. Sie wollten etwas von ihm. Glaubten sie, dass er reich sei und waren auf ein Lösegeld aus? Natürlich. Wer mit einem Hubschrauber herumflog, musste Geld haben.

„Habe mich verflogen“, ächzte er mühsam. Diese Schmerzen! Sie brachten ihn noch um den Verstand. Warum musste ihm das auch passieren. Ausgerechnet jetzt! „Irgendwas war an der Maschine defekt … Ließ sich plötzlich nicht mehr steuern … Geschäfte. Hatte Geschäfte in El Salvador, wo ich dringend hin musste.“ Was sollte er ihnen sonst sagen? Verdammt, er wusste es nicht – konnte kaum klar denken. Und auf so etwas war er nicht vorbereitet. Er war in eine Situation geraten, die ihn völlig überrascht hatte.

Ronald Barry begann zu grinsen. „Dann hast du bestimmt noch irgendwelche Papiere in der Kiste, die wir bergen müssen.“

In Mase Kurvins Blick stahl sich eine Unsicherheit, die er nicht verhindern konnte.

„Papiere …?“ Ihm wurde übel. Er merkte selbst, dass er sich immer tiefer in Ungereimtheiten verstrickte. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten, und er hatte schon lange nichts mehr im Magen. „Was für Papiere …?“, hörte er sich sagen. Er konnte sich nicht konzentrieren, wusste nicht, was er sagen sollte und was nicht.

„Na, als Geschäftsmann hat man doch irgendwelche Unterlagen, die man braucht.“

Das Gesicht des Sprechers verschwamm vor Kurvins Augen zu einer teigigen Masse, die ihn hämisch anzugrinsen schien.

„Nein … nein …, da sind keine Papiere …“ Geschäftsmann … was für ein Geschäftsmann…? Die Stimmen der Männer um ihn herum wurden zu grollenden Lauten, von denen er kaum noch etwas verstand …

„Das kannst du mit uns nicht machen, du alter Narr!“ Dutchy packte Kurvin am Hemd.

„Er kann dich nicht mehr hören“, sagte Ronald Barry neben ihm eindringlich. „Wir müssen warten, bis er wieder zu sich kommt.“

„Warten, warten!“, schnauzte Dutchy. „Der spielt uns nur Theater vor.“ Er schüttelte ihn, aber Kurvins Kopf pendelte leblos hin und her, und seine Augen blieben geschlossen.

Die Sonne stieg langsam höher und vertrieb die angenehme Kühle des Morgens. Dutchy hatte sich in den Schatten eines Baumes gesetzt und rauchte. Geduldig warteten sie darauf, dass der Mann mit dem geschienten Bein wieder erwachte.

Als Kurvin endlich die Augen aufschlug, glitt sein Blick nach oben, und er prüfte den Stand der Sonne. Muss schon bald Mittag sein. Seine Zunge fühlte sich dick an. Elina war bis jetzt offensichtlich noch nicht aufgetaucht. War ihr etwas zugestoßen? Wenn es so wäre, hätte er nicht die geringste Möglichkeit, ihr zu helfen. Aber sie käme schon irgendwie zurecht. Elina konnte sich im Leben behaupten, doch das hatte er von sich selbst auch geglaubt – bis jetzt. Jetzt war ihm klar geworden, dass man sehr schnell in Situationen kommen konnte, mit denen man vorher nicht im Traum gerechnet hatte.

„Hast dir ’ne Menge Zeit gelassen“, schnarrte Jesús Valdez mit seiner unangenehm scharfen Stimme. „Wir können nicht ewig hier herumsitzen.“

Kurvins Augen glitten von einem zu anderen.

„Lag nicht in meiner Absicht. Aber wie soll’s denn nun weitergehen?“ Er versuchte, die Unsicherheit aus seiner Stimme herauszuhalten. Diese Burschen hatten irgendwas Unangenehmes mit ihm vor, das spürte er. Sie kümmerten sich ganz bestimmt nicht aus reiner Nächstenliebe so um ihn. Aber was konnten sie von ihm wollen?

Was wohl…?

Geld.

Er hatte so gut wie nichts bei sich. Die Sache wurde ihm immer unheimlicher.

„Ich will dir mal ’ne Geschichte erzählen“, sagte Ronald Barry in diesem Moment. „Vielleicht kennst du sie.“ Er hockte sich neben Kurvin auf seine Absätze und schaute prüfend in dessen zerfurchtes Gesicht. „Ich bin überzeugt, dass du sie kennst.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, wohl um Kurvin auf die Folter zu spannen. „Es war vor etwa zehn Jahren oder mehr, das weiß ich nicht so gut wie du. Clevere Burschen hatten da eine Passagiermaschine in ihre Gewalt gebracht. Handelte sich um ’ne Pan Am, oder sage ich da was Falsches?“

Kurvin sagte nichts, fühlte nur sein Herz in der Brust rebellieren, während Barry fortfuhr: „Fünf Millionen haben sie dabei erpresst. Ein Superding, muss ich sagen.“

Kurvin schluckte trocken und sah wie der Mann neben ihm zufrieden grinste.

„Nicht wahr, du kennst die Geschichte?“

Verdammt, es kam schlimmer, als er geglaubt hatte. Er konnte sich nicht erklären, wie diese Kerle von der Sache Wind bekommen hatten, und noch weniger, weshalb sie ihn damit in Verbindung brachten – nach so vielen Jahren. In der Öffentlichkeit war doch längst schon Gras über die ganze Sache gewachsen.

„Ich habe davon gehört“, gab Kurvin leise zu.

„Nur gehört?“ Barrys Stimme klang lauernd und, so wie es ihm vorkam, siegessicher. „Ich glaube, du weißt mehr darüber als wir. Und ich glaube weiter, dass du gar nicht nach El Salvador wolltest, sondern, dass du hier ein ganz bestimmtes Ziel hattest.“

Kurvin versuchte, sich etwas hoch zu richten. Angst packte ihn mit einem Mal.

„Was soll das alles? Was wollt ihr von mir?“

„Wir möchten etwas mehr über das Geld hören, das damals verschwunden ist.“ Barrys Worte hätten beinahe freundlich geklungen, wäre nicht eine tödliche Bedrohung in ihnen verborgen gewesen.

Der miauende Schrei eines Bussards wehte zu ihnen herunter. Kurvins Blick irrte kurz nach oben, als erwartete er, von dort Hilfe zu erhalten. Aber auch keine höhere Macht konnte ihn aus dieser vertrackten, fast unwirklichen Lage befreien.

„Was redet ihr da? Ich … ich weiß nichts von irgendwelchem Geld. „Kurvins Augäpfel ruckten hin und her wie die eines Gehetzten. Das, was sich hier abspielte, erschien ihm grotesk – ein Alptraum. Sein zermartertes Gehirn, von Schmerzen und Enttäuschungen halb betäubt, konnte das alles noch nicht als Realität hinnehmen. Wenn er wenigstens eine Zigarette bekommen könnte. Seine hatten irgendwo im Helikopter gelegen. Und wo war Elina? Verdammt, wo war Elina geblieben …?

Hatten sie Elina vielleicht abgefangen, und sie hatte etwas ausgeplaudert und war dann von ihnen umgebracht worden?

O Gott!

Nein, warum hätte Elina was ausplaudern sollen, wovon diese Männer nichts wissen konnten? Sie mussten es aus einer anderen Quelle haben. Dieser letzte Gedanke beruhigte ihn seltsamerweise etwas, obwohl er seine Situation keinesfalls verbesserte.

Der große blonde Kerl da hielt eine halbgerauchte Zigarette in seinen klobigen Fingern.

Dutchy bemerkte den gierigen Blick und kam langsam näher. Er beugte sich zu Kurvin hinunter und blies ihm den Rauch ins Gesicht.

„Hör mal zu, Alter, so kannst du nicht mit uns umspringen. Wir haben dir aus der Klemme geholfen und dich unter diesem dämlichen Ding da vorgezerrt und dein verdammtes Bein geschient. Dafür bist du uns was schuldig. Was meinst du wohl, wie lange du es hier aushältst, ohne Proviant und mit einem zerschmetterten Bein?“

Mase Kurvin atmete flach, blickte in Dutchys kalte, helle Augen, und ein Schauer ergriff ihn. Er hatte noch Proviant im Helikopter, aber das war nur theoretisch, denn ohne fremde Hilfe hatte er wohl kaum eine Chance, da ranzukommen.

„Woher … woher sollte gerade ich was über dieses Geld wissen?“, fragte er stockend, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte. Diese Kerle – wer immer sie auch waren – hatten irgendwas in die Nase bekommen – etwas ganz Konkretes.

Woher, verdammt, … woher?

Es hatte doch bis zu diesem Missgeschick hier alles bestens geklappt. Er verfluchte im Stillen den Verleiher dieses verdammten Schrott-Hubschraubers.

Dutchy trat ihm ohne Vorwarnung gegen das verletzte Bein, und Kurvin schrie vor Schmerz. Er fiel nach hinten und bäumte sich keuchend auf. Schweiß trat ihm in kleinen kitzelnden Perlen auf die Stirn. Dutchy packte ihn am Hemd und riss Kurvins Oberkörper wieder hoch.

„Jetzt haben wir genug Zeit mit dir vertrödelt!“, fauchte er ihn an. „Wir haben dich in der Hand, du Narr, vergiss das nicht! Entweder du zeigst uns, wo das Geld versteckt ist, oder du verreckst hier!“

„Ich weiß nichts von Geld“, murmelte Kurvin in hilfloser Verzweiflung. Sein Unterbewusstsein weigerte sich noch immer, die Tatsache zu akzeptieren, dass er diesen Männern ausgeliefert war, konnte einfach nicht loslassen, von seinem Traum von fünf Millionen.

Dutchy schlug zu. Wut verzerrte sein Gesicht. „Ich werde dich schon zum Sprechen bringen, du sturer Hund!“ Er schlug abermals zu, und Blut rann aus Kurvins Mundwinkel. Ronald Barry fuhr hoch und packte seinen Gefährten am Arm. „Lass ihn in Ruhe, verdammt noch mal!“

Dutchy trat noch einmal gegen das verletzte Bein, ehe Ronald Barry ihn fortziehen konnte.

„Willst du ihn umbringen?“

„Wir haben keine Zeit, hier herumzusitzen, bis er von selbst redet“, schnauzte Dutchy. Er starrte Barry an, ein gefährliches Funkeln in seinen blassen Augen. Er gehörte zweifellos zu jener Gattung von Männern, denen im Laufe ihrer Entwicklung jede Spur von Gewissen und Mitgefühl abhanden gekommen war.

„Da ist was“, sagte Jesús Valdez in diesem Moment lauschend, und seine Miene hatte einen bedeutungsvollen Ausdruck angenommen. „Ich höre irgendwo einen Motor.“

Die Köpfe der beiden Streitenden ruckten zu ihm herum, forschten eine Sekunde lang im Gesicht des Honduraners. Ihre Aktivität erstarrte schlagartig zu lauernder Gespanntheit.

* * *

3.

Wenn man nach langen, geduldigen Mühen einen Teilerfolg erzielt, glaubt sich mancher schon am Ziel, selbst wenn sich dasselbe noch weit hinter dem Nebel der Ferne verbirgt.

Der junge Mann konnte die Männer da unten im Mondlicht nur noch als dunkle Schatten erkennen. Sie bewegten sich mal hier und mal dort hin, aber nie mehr, als ein paar Schritte in die eine oder andere Richtung. Dann verließen sie schließlich diese Stelle, schienen etwas durch die zwielichtige Dunkelheit zu schleifen, was vermutlich der Mann war, der beim Hubschrauber gelegen hatte. Sie verschwanden in dem Buschdickicht, um auf einer lichten Stelle wieder in sein Blickfeld zu geraten. Sie hatten offenbar vor, die Nacht über dort zu bleiben.

Humphrey setzte das Glas ab, durch das er die ganze Zeit über beobachtet hatte. Nun denn, er würde auch hier bleiben. Er war jetzt endlich nach so langem geduldigem Warten und Suchen auf das gestoßen, an das er immer geglaubt hatte – auf seine große Chance. Und, hol’s der Teufel, er ließ sich jetzt nicht mehr abschütteln.

Er hatte den zu Bruch gegangenen Hubschrauber zuerst entdeckt. Schon in der Luft hatte er ihn in seiner Nähe vorüber fliegen sehen und war neugierig geworden, wohin er unterwegs war. Und dann hatte er ihn dort unten im Tal wiedergesehen. Sein Misstrauen war erwacht wie der Instinkt eines Jägers. Lange hatte er ihn durch das Glas beobachtet, aber er schien verlassen zu sein, zur Seite gekippt. Wo waren seine Insassen geblieben? Was sich dahinter befand, ließ sich allerdings von seinem Standort aus nicht einsehen. Er war ein Stück weiter gegangen, so weit, wie der Höhenzug, auf dem er sich befand, es zuließ.

Dann sah er es.

Eine Gestalt. Er konnte nicht ausmachen, ob sie noch lebte oder nicht. Nur der Kopf und ein Stück vom Oberkörper waren für ihn sichtbar geworden.

Dieser Kopf – dieses Gesicht …!

Mit zitternden Fingern fokussierte er sein Glas nach und hielt den Atem an.

Er war es! Er musste es sein! Wenn ihn nicht alles täuschte oder seine Fantasie ihm einen Streich spielte. Zu oft hatte er das Bild betrachtet, das seine Mutter aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. Zu oft eigentlich, um sich zu täuschen. Ein Zufall, ein gnädiger Glücksfall, den das Leben ihm zuspielte?

Oder die Belohnung unendlicher Geduld und Ausdauer und der vielen Mühen und Entbehrungen, die er lange Zeit über auf sich genommen hatte?

Gab es so etwas wie den gerechten Lohn?

Nun, er war entschlossen, dafür zu sorgen, das, was ihm zustand, auch zu bekommen. Und dann könnte er mit Emmylou endlich das Leben führen, das ihnen beiden vorschwebte.

Gerade als er den Weg nach unten antreten wollte, bemerkte er auf der anderen Seite des Tales diese drei Männer, die den Hubschrauber wohl ebenfalls gesehen haben mussten, wohl aber auf die Dunkelheit warteten.

Er hielt es für ratsam, Leuten, die das Tageslicht scheuten, aus dem Wege zu gehen und abzuwarten, was sie zu tun beabsichtigten.

Vorerst unternahmen sie nichts und warteten. Während er sie beobachtete, schirmte er mit der Hand die Linsen seines Glases ab, um eine verräterische Reflektion des Sonnenlichtes zu verhindern. Doch bald wurde es ihm zu müßig, untätige Gestalten zu beobachten. Er legte sich auf den Rücken und versuchte, sich zu entspannen.

Erst bei fortschreitender Dämmerung nahm er seine Observation wieder auf, und bemerkte, wie die Männer sich dem Hubschrauber näherten, vorsichtig und offensichtlich misstrauisch. Und Waffen trugen sie ebenfalls bei sich.

Jetzt lag er wieder da, in einer sandigen Mulde, lose mit seiner Decke zugedeckt, weil er die kühlen Nächte in den höheren Regionen bereits zur Genüge kannte. Über ihm wölbte sich der nachtschwarze Himmel, von dem schlaftrunken ein paar Sterne herunterblinzelten. Aber bei ihm wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Gedanken und Erinnerungen, die weit zurück lagen, drängten sich ihm auf und ließen seine Sinne nicht zur Ruhe kommen.

Emmylou wartete auf ihn. Gedulde dich noch eine Weile, Emmylou. Ich bin dran.

Erinnerungen – gänsehautträchtige Erinnerungen und all die abgenutzten Träume von einst. Sie konnten quälen oder glücklich machen. Glückliche Stunden, als Dad ihn mit zum Angeln genommen hatte. Die Erinnerung an seinen Vater war nur undeutlich. Zu lange her. Aber da waren noch der Picknick-Korb im Kofferraum des Wagens, die Cola aus der Kühlbox, die Sonne, die sich durch die lockeren Wolken drängte und das silbrige Glitzern eines Baches mit den schnell vorbeihuschenden Fischen. Dahinrauschendes Wasser über glatte Steine, sich murmelnd vor irgendwelchen Barrieren stauend, tiefere Löcher füllend, die von einer gläsernen Klarheit waren. Man konnte bis auf ihren Grund sehen, wo die großen, fleischigen Forellen gegen die Strömung standen. Da waren Reste von Morgennebeln über dem Wasser, weite Angelwürfe, das helle Surren der Rute und das leise Klatschen, wenn Haken und Fliege in das Wasser schlugen …

Da war noch etwas.

Noch früher als Emmylou.

Susan?

Klar, Susan.

Er lächelte in der Stille seiner Gedanken in sich hinein, während ihm ein Spruch von Jean Paul einfiel: Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man uns nicht vertreiben kann.

Eines seiner geheimen Paradiese war Susan, seine erste Liebe. Die Zeit mit Susan, als Dad schon längst nicht mehr da war – gestorben in einem fremden Land, wie es damals hieß. Fünfzehn war er damals gewesen, sich erwachsen fühlend und doch noch ein halbes Kind. Wenn er an Susan zurückdachte, überzog sich sein Körper jedes Mal mit einer Gänsehaut – Erinnerung an ein längst vergangenes Glück. Sie war ein Jahr jünger gewesen – damals.

Da waren der weite, glatte Strand und das noch weitere Meer gewesen, und sie schauten beide auf die Masse des Wassers, die sich in ständiger Bewegung hob und senkte, Berge auftürmte, um sie im nächsten Moment zu Tälern zusammensinken zu lassen. Sie spürten das Streicheln des Windes in ihren Gesichtern und den salzigen Geruch der Ferne …

Und plötzlich, während er so in der Dunkelheit dalag, erinnerte er sich wieder mit einer Deutlichkeit, die ihn fast erschreckte, wie sie beim Sprechen ihre Lippen zu bewegen pflegte, wie sie sie bisweilen schürzte oder sich ihr Mund in die Breite zog, wenn sie über etwas Lustiges redete, und ihre Zähne strahlend hervorblitzten. Er erinnerte sich an ihre Augen, wie sie sich hier- und dorthin bewegten, mal traurig und mal belustigt, die Gestik ihrer Hände, wenn sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, an das leichte Schwingen ihrer Hüften, wenn sie vor ihm her lief … An alles das, so als wäre es erst kürzlich gewesen.

Doch damals hatte er nicht genau gewusst, wie Susan empfand. Wäre es das gleiche wie beim ihm gewesen, wenn, ja, dann wäre seinerzeit etwas Wunderbares geschehen.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange es gedauert hatte, aber irgendwann war alles plötzlich vorbei gewesen. Er erinnerte sich noch an ihr langes strohblondes Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte, den sie auf dem Rücken trug, an ein paar ungebändigte Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten und in der Sonne gleißten. Er erinnerte sich an einen heißen Sommertag und an winzige Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Aber es war eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen gewesen, die er nicht einreißen konnte, eine Distanz, der er sich sogar bewusst war, wenn er sie in den Armen hielt und die seine Empfindungen verletzte. Manchmal, wenn sie am Strand nebeneinander lagen, lauschten sie dem Auf- und Abschwellen der Brandung, während sich ein bedrückendes Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, das stärker war, als dass Worte es zu vertreiben mochten.

Und die Wochen vergingen und die Monate, und das Schweigen wurde immer größer und mächtiger, und seine Liebe starb darunter, und niemand konnte sagen warum…

Er hatte sich eine Zukunft ausgemalt, in den naiven Farben seiner Jugend, ohne ein einziges Mal in Betracht zu ziehen, dass alles ganz anders kommen könnte.

Dann – viel später – trat Emmylou in sein Leben, und eine neue große Liebe hatte die Erinnerungen der Vergangenheit abgelöst.

An einem brütendheißen Sommertag hatte er sich durch die mit bangem Erwarten herangerückte Prüfung gequält. Mehrere Tage hintereinander hatte er unter Aufsicht in mündlicher und schriftlicher Form sein über Jahre angesammeltes Wissen wieder von sich gegeben, um dann mit einem Gefühl unsäglicher Erleichterung aus dem tristen Schulgebäude in die lichte Freiheit entlassen zu werden.

Und da war Emmylou gewesen. Emmylou, die ihm mit ihrer stillen, unaufdringlichen Präsenz alles hatte leichter überstehen lassen.

„Die Prüfung hast du hinter dir. Und was wirst du jetzt tun?“

„Ausspannen – ein paar Tage – und dann … dann werde ich mir einen Job suchen, damit wir endlich heiraten können.“

Er schaute zu dem dunklen Himmel hinauf, und sein Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln, als er daran zurückdachte.

Mit dem Job hatte es nicht so recht klappen wollen. Vielleicht hätte er seine Ausbildung noch vervollständigen sollen. Aber da war noch immer Emmylou. Und sie war trotz allem voller Optimismus – die schöne blonde Emmylou, mit ihren langen Beinen und den vollen Brüsten, mit ihrem lächelnden Mund und den strahlenden Augen.

Er wollte sie haben. Diesmal sollte es kein solches Ende nehmen. Es gab da noch eine andere Möglichkeit, sich Geld, viel Geld zu verschaffen. Etwas unsicher zwar und vielleicht auch gefährlich. Aber nicht viel unsicherer, als ergebnislos nach einem geeigneten Job zu suchen.

Seine Mutter war dabei ein Quell von Informationen. Sie, und die vielen Zeitungsausschnitte, die sie gesammelt hatte und in einer Mappe aufbewahrte.

Und dann war Fowler aus dem Gefängnis entlassen worden, und er, Humphrey, hatte sich auf den Weg gemacht …

Irgendwann waren seine Erinnerungen in unkontrollierbare Träume übergegangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Und als endlich der neue Tag, grau noch und zögernd, über die Bergrücken kam, erwachte er und fand sich plötzlich fernab von den Erinnerungen und Träumen der Nacht in der nüchternen Realität wieder. Von seinen wirren Traumgespinsten in den sich herauftastenden Morgen entlassen, öffnete er die Augen. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, blinzelte verständnislos zum blassen Himmel hinauf und tastete dann mit der linken Hand nach seinem Fernglas, das neben ihm lag, und schlich auf seinen Beobachtungsposten zurück.

Da wartete noch immer der Hubschrauber, einsam und leblos im tristen Morgengrau, und da hielten sich noch immer diese Männer in der Buschlichtung auf. Er konnte erkennen, dass sie das Bein des alten Mannes mit etwas umwickelt hatten. Sie hockten um ihn herum, und es sah aus, als redeten sie auf ihn ein. Zu dumm, das er nicht verstehen konnte, um was es ging. Er setzte das Glas ab und blickte nachdenklich geworden in die Luft – irgendwohin. Aber es dauerte nicht lange, bis er das Glas wieder hob und hindurchschaute.

Sie misshandelten den alten Mann, der am Boden lag. Alles lief wie ein Stummfilm ab, doch aus den deutlichen Gesten konnte er entnehmen, dass sie etwas aus dem alten Mann herausholen wollten, was dieser offenbar nicht preisgab. Sie mussten Wind von der ganzen Sache bekommen haben. Auf welche Weise, das konnte er sich nicht erklären. Aber es setzte seine eigenen Pläne in eine ganz andere Dimension.

Verdammt!

Doch während der Morgen langsam dahin zog, formte sich in seinen Gedanken eine neue, eine aussichtsreiche Strategie. Wenn der Helikopter weitergeflogen wäre, hätte es das Ende seiner Pläne bedeutet. Sein Absturz war also ein Glücksfall, nicht aber diese Männer, die ihn gefunden hatten.

Was also sollte er tun? Einfach hinunter gehen?

Nein. Käme wohl einem Selbstmord gleich. Nach allem, was er beobachtet hatte, waren die Männer dort unten zu allem entschlossen.

Es gab eine bessere Möglichkeit.

Die Männer waren zu Fuß, seltsam zwar, aber eine offensichtliche Tatsache. Der Hubschrauber war erledigt. Selbst wenn sie ein Auto besessen hätten … damit wäre ein Weiterkommen in der weglosen Wildnis nicht möglich. Was sie brauchten, waren Mulis. Und er wusste, wo es welche gab. Ob die Männer da unten es auch wussten? Keine Ahnung. Aber er würde sich diese Mulis verschaffen … dann weiter sehen. Schließlich konnten diese Männer mit dem Verletzten nicht davonfliegen – nicht mehr.

Es wurde also Zeit, sich auf den Weg zu machen. Aber gerade als er diesen Gedanken in die Tat umsetzen wollte, hörte er das Grummeln eines Motors von irgendwo näher kommen. Er lauschte eine Weile, um herauszufinden, von wo das Geräusch kam, dann sah er nicht allzu weit entfernt einen Jeep auf der Höhe auftauchen und anhalten, und es sah aus, als beobachteten dessen Insassen den Hubschrauber da unten. Dann fuhren sie plötzlich, als ob sie es eilig hätten, in halsbrecherischer Fahrt abwärts, eine zementfarbene Staubwolke hinter sich hoch wirbelnd.

Jemand musste die Notlandung wohl besser überstanden- und Hilfe geholt haben, kombinierte Humphrey auf dem Berg und beobachtete weiter.

Aber auch mit dem Jeep konnten sie es nicht schaffen, und es sah nicht so aus, als wollten sie mit dem Verletzten zurückfahren.

Was hatten sie vor?

Was wohl …? Vielleicht war der Mann nicht allzu schwer verletzt, und sie wollten es alle zusammen versuchen. Er kniff die Lippen zusammen. Noch mehr Leute. Das passte ihm gar nicht, aber aufgeben kam für ihn dennoch nicht infrage. Doch jetzt wurde es wirklich Zeit für ihn. Vor der Dunkelheit konnte er es nicht mehr bis zu diesem Indio schaffen, bei dem er während seiner Suche schon einige Male gewesen war. aber bis morgen warten war nicht drin, sonst könnten die anderen ihm ins Gehege kommen.

Sein alter, klappriger Landrover, mit dem er unterwegs war, stand ein paar Meilen entfernt, dort, wo der Weg aufgehört hatte, und bis zum Einbruch der Dunkelheit konnte er noch eine gute Strecke zurücklegen.

* * *

4.

Die Jagd nach Erfolg und Selbstbestätigung ist ein schmaler Pfad in schwindelnder Höhe und bietet manche Überraschung, die man nicht einkalkulieren kann.

Das starke Profil der Reifen wirbelte Staub hoch, der wie ein hauchzarter Schleier hinter dem Jeep zurückblieb, während sich das Fahrzeug über Steine, herausgespülte Wurzeln und zahlreiche Rinnen einen weglosen Hang hinauf quälte. Unzählige Regengüsse hatten im Laufe der Zeit den Boden zerfressen, ihn holprig und schwer passierbar gemacht, und sie würden ihn weiterhin auf ihre eigenwillige Weise ständig verändern, den Erhalt irgendwelcher Straßen und Wege erschweren.

Noch vor dem ersten Tageslicht waren sie aufgebrochen, angetrieben von Elinas Ungeduld, die Gordon Denison angesteckt hatte wie ein Virus. Gangbare Wege, die es vielleicht gab, waren längst hinter ihnen geblieben. Sie hatten den geraden, kürzeren Weg genommen, den Elina schon zu Fuß zurückgelegt hatte.

„Bist du sicher, dass wir hier in der richtigen Gegend sind?“, fragte Denison zweifelnd. Er war verschwitzt und müde – noch immer oder schon wieder? Der Alkohol, der ihm sonst dieses Scheißleben scheinbar erträglicher gemacht hatte, hielt sich jetzt hartnäckig in seinem Körper und machte ihm zu schaffen. Seine Zunge schien mit einem pelzartigen Belag überzogen, der den gesamten Mund ausfüllte, und eine hohle Schwäche war in seinen Gliedern, als hätte man ihm das Mark aus den Knochen gesogen. Die brütende Hitze streckte bereits wieder ihre klebrigen Finger nach dem noch jungen Tag aus.

„Ja“, sagte sie leicht ungeduldig, „ich erkenne die Gegend wieder. Ich bin hier lang gekommen.“

„Na schön.“ Denison resignierte vor ihrer überzeugenden Art, und der Jeep rumpelte weiter. Eine gehässige Sonne machte ihm das Leben schwer, aber er ertrug es. Was blieb ihm weiter übrig?

In der kleinen Siedlungen am Rande des Hochlandes, versengte sie das Holz der ärmlichen Hütten und ließ die faulenden Abfälle in den Mülltonnen stinken, auf denen sich Fliegen und Maden tummelten – die einzigen Lebewesen, die an der Hitze Freude zu haben schienen. Rotznäsige Kinder spielten im Schatten abseits der Straße mit zerbrochenen Spielsachen. Die Erwachsenen hatten nichts weiter zu tun, als herumzulungern oder sich in dumpfen Schlafkammern zu paaren und weitere rotznäsige Kinder zu zeugen. Man kniff die Augen vor der grellen Helligkeit, die auf die Wellblechdächer prallte, zusammen, wenn man nach draußen ging, und man hütete sich davor, mit bloßen Füßen auf einen flachen Stein zu treten.

Aber hier oben im Hochland ging niemand mit bloßen Füßen. Skorpione und Giftschlangen bevölkerten die Spalten zwischen den Steinen, und das dornige Gesträuch wehrte sich mit spitzen Krallen gegen jede Berührung.

Das lag jetzt hinter ihnen. Hoffentlich für immer. Er sah es Elina an; auch sie hatte die Nacht in jener halb verfallenen unbewohnten Hütte, in der er in den letzten Tagen gehaust hatte, noch nicht ganz verdaut.

Auch das war vorbei.

„Hier muss es sein“, verkündete Elina irgendwann, als sie einen dieser öden, unebenen Hänge hinaufschaukelten, und Denison schon fast in eine lähmende Apathie abzurutschen drohte. „Wenn wir da oben sind, müssen wir ihn sehen können.“

„Wie du meinst.“ Er war müde und wenig überzeugt von ihrer Ankündigung. Sie schaute vorwurfsvoll zu ihm herüber und rümpfte die Nase. Verdammt, er hatte ganz bestimmt keinen fahren lassen, dessen war er sich sicher. Aber irgendwie musste sein Geruch nicht so recht zu ihrem feinfühligen Riechorgan passen. Er hatte sich zwar am frühen Morgen ausgiebig an der Pumpe hinter der Cantina gewaschen, doch die Mengen an Fusel, die ihm in den letzten Tagen über den Knorpel geflossen waren, suchten jetzt, da er schwitzte, durch alle Poren ihren Weg nach draußen und überzogen seinen Körper wahrlich nicht mit Duftstoffen, die eine weibliche Nase erfreuen könnten. Doch was half’s. Da musste diese kleine energische Person neben ihm eben durch.

Er lenkte den Wagen um einige Holzstümpfe herum. Harte Zweige schabten an den Seitenflächen des Jeeps entlang, versuchten mit ihren dornigen Krallen die Insassen zu erhaschen, die von harten Stößen hin und her geschüttelt wurden. Mit dumpf dröhnendem Motor erreichte das staubige Fahrzeug einem keuchenden Ackergaul gleich die Anhöhe und blieb stehen.

Er musste ihren Orientierungssinn bewundern, während sie aufgeregt in das weite Tal hinabdeutete, zu einem Helikopter hin, der aus dieser Entfernung irgendwie an ein verendetes Wild erinnerte. Die Rotorblätter ragten verrenkten Gliedmaßen gleich starr und unbeweglich in die heiße Luft, umgeben von Steinen und Büschen – und einer tödlichen Stille.

„Er liegt dort unter dem Hubschrauber.“ In ihrer Stimme schwang eine zittrige Angst mit, und Gordon Denison dachte, natürlich, wo soll er denn sonst liegen.

„Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“ Ihr Kopf ruckte urplötzlich zu ihm herum. „Mein Gott, so fahr doch endlich!“

Diese ängstliche Ungewissheit sprang auf Denison über, und er ließ hastig die Kupplung kommen. Der Wagen sprang aus dem Stand heraus wie eine flüchtige Antilope nach vorn und suchte sich, Elinas erschreckten Ausruf ignorierend, zwischen Geröll und Buschwerk einen halsbrecherischen Weg nach unten.

Wenn dieser Mann inzwischen seinen Verletzungen erlegen war … Denison wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Immer konnte er einfach nicht Pech haben, auch wenn sein bisheriges Leben ihn eines anderen belehrt hatte. Er klammerte sich genauso an diesem Gedanken fest, wie seine Hände am Lenkrad. Sein Gesicht war angespannt, die Augen gerötet. Die kräftigen Hände bewegten das Steuer mit äußerster Konzentration einmal links herum, dann wieder nach rechts, einmal hastig wie im letzten Augenblick, dann wieder behutsam und geschmeidig, wenn das Gelände eine gangbare Stelle bot.

Sie verloren an Höhe, der Helikopter rückte näher, beunruhigend in seiner Reglosigkeit, die irgendetwas Endgültiges, Unwiderrufliches an sich hatte. Ein einsamer Geier schwebte im blassen Blau des Himmel ohne einen einzigen Flügelschlag, nur von der Thermik getragen.

Als Gordon Denison endlich den Jeep neben dem Wrack des Hubschraubers stoppte, sprang Elina sofort heraus und umrundete die notgelandete Maschine. Denison stellte den Motor ab und folgte ihr. Jetzt, wo der Fahrtwind ausblieb, legte sich die Hitze wie ein drückender Mantel um ihn. Er fand Elina auf der anderen Seite des Helikopters stumm und reglos dastehend und fassungslos vor sich hin starrend. Ihre Miene drückte Erschrecken, Angst und Ratlosigkeit aus. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus dem heißen Gesicht.

„Oh, Gott im Himmel, was ist geschehen?“, stammelte sie völlig durcheinander.

Gordon Denison folgte mit den Augen ihrer permanenten Blickrichtung, irgendeine Erklärung erwartend. Da war der Hubschrauber, der fast auf der Seite lag, weil die eine Landekufe abgebrochen war – sonst nichts.

„Er hätte sich auf keinen Fall selbst befreien können“, murmelte Elina wie im Selbstgespräch. Dann, als wäre ihr ein anderer Gedanke gekommen, schaute sie sich plötzlich hastig um.

Der heisere Schrei des Geiers hallte wie eine schrille Klage über ihren Köpfen. Elina hob den Blick und ließ ihn dem Vogel folgen, der an den mit Busch bewachsenen Hängen hinauf strich und verschwand.

„Der hat ihn jedenfalls nicht geholt“, erklärte Denison und betrachtete dann aufmerksam den Boden um sie herum. Elinas Blick irrte haltlos zwischen Denison und dem Hubschrauber hin und her.

„Aber … aber was …?“

„Hier ist ’ne Schleifspur zu sehen“, unterbrach er sie halblaut, nachdem er sich einige Schritte entfernt hatte. Er verfolgte diese Spur mit den Augen, und seine Gedanken purzelten durcheinander wie Kleidungsstücke in einer Waschmaschine.

Irgendjemand war hier gewesen, war vielleicht noch da … musste noch da sein. Aber wer? Und warum gab er sich nicht zu erkennen? Der oder diejenigen mussten sie doch bemerkt haben. Er kam zu keinem Schluss, tappte nur wie ein Blinder im Niemandsland unbeantworteter Fragen herum.

Schließlich wies er mit der Hand die Spur entlang. „Sie führt dort auf die Büsche zu.“

Elina wollte an ihm vorbeirennen, doch Gordon Denison grapschte nach ihrem Arm und hielt sie fest.

„So wie die Dinge im Augenblick zu liegen scheinen, kann zu große Eile nur schaden.“

Sie schaute ihn verständnislos an, dann erwachte irgendein Trotz in ihr.

„Und wie liegen die Dinge?“

„Wir wissen nichts, nicht, wer sich dort aufhält und warum. Wir wissen nicht mal, ob nicht schon längst jemand mit einer Waffe auf uns zielt.“

Er sah das Erschrecken in ihren Augen. Ihr entsetzter Blick sprang zu jenen Büschen hin. „Aber sie haben … Ich muss doch …“

„Warte hier einen Moment“, riet Denison, „und geh um Gottes willen nicht allein da hinüber.“

Sie schien noch immer nicht zu begreifen, blieb jedoch stehen wie ein verängstigtes Kind, so wie er es von ihr verlangt hatte, während Denison zum Jeep zurückeilte, um seine Luger aus dem Handschuhfach zu holen, die er vorsichtshalber entsicherte. Er wusste, dass es nicht viel Sinn hatte, falls man sie beobachtete, und damit musste er rechnen. Was konnte er mit einer Pistole ausrichten, falls jemand aus dem Hinterhalt auf ihn schoss? Aber sie gab ihm wenigstens ein, wenn auch trügerisches, Gefühl der Sicherheit und Wehrhaftigkeit.

Elina starrte auf die Waffe in seiner Hand. „Was willst du denn damit? Wer auch immer ihm geholfen haben mag, wir haben keinen Grund, auf ihn zu schießen.“

„Wer immer ihm geholfen haben mag“, wiederholte er ihre Worte, „der wäre normalerweise an Ort und Stelle im Schatten des Hubschraubers geblieben und würde sich nicht verstecken. Es sei denn, er hätte ein Fahrzeug gehabt, um ihn abzutranspotieren. Die Schleifspur beweist aber das Gegenteil, und schon allein dieser Umstand macht mich misstrauisch.“

„Na schön, sie sind nun aber nicht hier geblieben. Macht sie das in deinen Augen schon zu Verbrechern?“ Wie immer, wenn sie englisch sprach, drückte sie sich in einer sorgfältig artikulierten Sprechweise aus, wie eben jemand redet, der es nicht in seiner angestammten Muttersprache tut.

„Ich will es mal so erklären: Es ist jemand, der offenbar nicht gern gesehen werden will. Und solche Leute reagieren mitunter recht unfreundlich, wenn man sie doch aufstöbert. In El Salvador ist Bürgerkrieg, und in Nicaragua geht es auch nicht sehr friedlich zu. Als Außenstehender weiß man nie genau, was in einem solchen Zipfel dieses Landes vorgeht, und es ist auch besser, man steckt seine Nase nicht unnötig da rein.“

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783956070273
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Entführung Geiselnahme Flugzeug Lösegeld Flugzeugentführung Gangster
Zurück

Titel: Stunde der Verlierer