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X-Mas Shorties

©2016 63 Seiten

Zusammenfassung

Rührend, spritzig und immer ohne Umschweife erzählt Bestsellerautorin Susanne von Loessel von wunderschönen Anekdoten, die nur zum gemütlichsten aller Feste passieren können: zu Weihnachten.
In ihren Geschichten knüpfen kleine Strolche mit großem Herz ungewöhnliche Freundschaften, Workaholics und alleinstehende Nikoläuse finden neue Familien, schicksalhafte Begegnungen sorgen für zarte Liebesbande.
Die Xmas Shorties erhellen die dunklen Wintertage mit einem Weihnachtskonfekt voll Herzlichkeit und Nächstenliebe, voll Leidenschaft und Courage.
Susanne von Loessel erzählt mit ihrem Spürsinn für die kleinen Details im Alltag von ganz großen Gesten und lädt den Leser ein, sich von den Wundern der Feiertage verzaubern zu lassen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Justus knackt einen Banker
oder
Das Weihnachtsfest des Bodo Störhase

Schneetreiben seit eineinhalb Stunden, Störhase sah aus seinem Büro, alles Mahagoni und very brithish – man ist Hanseat – auf die Straße.

Gedankenverloren putzte er seine Brille, als ob dadurch die Sicht besser würde. Tzz … Na denn wird die Fahrt aus der Innenstadt bestimmt doppelt so lange dauern. Herrjeh! Und sein Magen, Übersäuerung, meldete sich auch.

Sitzungen, Netzkonferenzen, Kundentermine, Stress, unruhiger Schlaf, Magenpiepen und jeden Morgen ein hastiges, langweiliges Schonkost-Frühstück. Das war der vierundzwanzig Stundenablauf des Bodo Störhase. Die Bank war sein Alltag, sein Leben. Mit Kursgewinnen und -verlusten angefüllt, fast wie im richtigen Leben.

Frauen? Wozu und warum. Die Bank war sein Leben, sein Alltag.

Sonntage? Feiertage? Wozu und warum.

Bodo legte noch einige Vorgänge, die keinerlei Aufschub duldeten, in seinen Aktenkoffer – Sattelleder, Hermés, strapazierfähig – ging aus seinem Office, verabschiedete sich von Frau Claasen mit zwei „a“, in jeder Hinsicht eine Vorzimmerdame, mit Betonung auf der vierten Silbe.

Sie schirmte ab, machte zugänglich, vermittelte. Und das schon seit einem Vierteljahrhundert. Sie war der Chanel gewordene Zerberus des Bodo Störhase.

„Auf Morgen, Herr Direktor.“

Wenn es in Hamburg schneit, dann massenweise im Voraus, oder massenweise im Nachhinein.

Bodo fuhr mit seinem Mercedes aus der Tiefgarage. Der Wagen sah fabrikneu aus.

Alles bei Bodo sah so aus. Bodo schonte.

,Sauwetter, mistiges‘, stand auf dem Regenschirm einer vorbei eilenden Dame.

Die Menschen, die durch das Schneetreiben hasteten, machten Bodo nervös.

Und überall Lichterketten, Weihnachtsbäume mit Glitzer und Glitter, was soll das?! Allenfalls für Kinder … wenn überhaupt, oder …?

Sein Magen fing auch schon wieder an zu piepen und fiepen.

Er bog nach kurzem Ampelstopp links ab auf die Brücke, die über die Alster führte … rumms … bumms …

Die Fußgängerampel strahlte leuchtend rot für Bodo. Halb unter seinem rechten Vorderreifen krümmte sich das Vorderrad eines Fahrrades.

Ach Du liebe Zeit!!! Aussteigen!!!

Bodos Schuhe krallten sich in den frischen Schnee, die Brille wurde blickdicht und Schneeflocken setzten sich zwischen Nacken und Cashmereschal.

Neben dem Rad rappelte sich etwas Rotes hoch.

Bodos Magen zog sich auf Zweieurogröße zusammen.

„Keine Panik. Es ist nichts passiert, nur das Vorderrad ist vereiert … Noch mal Schwein gehabt, junger Mann …“, hörte Störhase jemanden sagen.

Wie redet der denn mit … ach so … Bodos Magen dehnte sich auf Entenei.

Da stand ein Kind: Roter Wollschal. Rote Pudelmütze. Rote Fäustlinge. Rote Gummistiefel.

„Was? Nix passiert? Wenn DIE Zuhause rauskriegen, dass ich nich da war und mein Rad ’ne Acht iss … nix passiert … Nur weil der Iteot nich richtig Ampeln gucken kann, mannoh …“, schimpfte es unter der Pudelmütze weiter. „Ich krieg’ den dicksten Ärger … Und das zu Weihnachten … Nix passiert …“

Hupkonzert. Die Ampel hatte auf Grün geschaltet.

Bodos Magen meldete sich umgehend.

„Tja nun denn, wollen Sie hier Wurzeln schlagen oder einschneien?“ Nebenbei richtete er das Rad auf und versuchte Schiefes zu begradigen.

„Typisch“, tönte es zusammenhanglos aus einem Pelz. „Typisch!“

Was und wieso?

Bodo sah auf 145 Zentimeter Unglück mit roter, voll geschneiter Pudelmütze.

Er räusperte sich leicht verlegen.

„So, zack, zack! Kofferraum auf, Rad rein und weg von der Ampel“, sagte der junge Mann.

Bodo zögerte.

„Sie werden das Kind doch wohl Zuhause abliefern, das ist ja wohl das Mindeste“, kam es spitz und wohl artikuliert unter einem Regenschirm hervor.

Bodo bekam Magenkrämpfe. Sein schöner Kofferraum!!! Und das nasse Kind auf dem ledernen Vordersitz. Eine fürchterliche Vorstellung für Bodo Störhase, dennoch unterdrückte er jeglichen in ihm aufwallenden Protest, um der Lynchjustiz der Masse zu entgehen.

Ach du liebe Zeit!

Die Leute verfrachteten Kind und Fahrrad in Windeseile, schnell und professionell, so als ob sie täglich vierundzwanzig Stunden nichts anderes machen würden.

Bodo rang nach Luft.

Während er auf die nächste Grünphase der Ampel wartete, putzte er seine Brille und saß nun auch feucht und angeschneit auf dem Sitz.

Oh mein Gott, warum das mir?

„Ganz schön mistiges Wetter, was? “, sagte das Kind neben ihm.

„Ja“, hörte Bodo sich sagen. „Sauwetter, mistiges!“… Bodo!!!

Das Kind zog die Mütze vom Kopf und schüttelte tropfengewordene Schneeflocken aus der Pudelmütze auf das AHORNAMATURENBRETT.

Bodo bekam einen Starkstromstoß.

„Ach, ich hab’s noch gar nicht gesagt, Entschuldigung, ich bin Justus von Gherden.“ Er zog seinen Fäustling aus und reichte ihm die feuchtwarme Kinderhand.

„Wo wohnst du denn nun“, fragte Bodo irritiert und etwas zu barsch.

„Nicht weit von hier, die hoch und dann rechts in der Sackgasse.“

Gott sei Dank, das war nicht weit und in fünf Minuten hatte er das Abenteuer hinter sich. Den Rest sollte Frau Claasen erledigen.

Justus holte ihn aus seinen Gedanken.

„Wie heißt du?“

„Störhase“, knödelte Bodo.

Justus kicherte. „Und vorne?“

Seit ungefähr zehn Minuten kam Bodo aus den Irritationen nicht heraus. Schrecklich. Er hasste Konversation mit Kindern.

„Sag deinen Vornamen.“

„Bodo“, entfuhr es Störhase kurz und knapp. Und wie er meinte endgültig.

Er kannte Justus nicht.

„Du Bodo, jetzt wo wir uns bekannt gemacht haben, Bodo kann ich dich um etwas bitten? Kannst du mir helfen, Bodo?“

Er, Bodo Störhase, sollte einem Kind helfen … Justus' braune Knopfaugen fixierten Bodo.

„Hast du Kinder, Bodo? Dass ich vorhin Iteot gesagt habe, Bodo, das war nicht so gemeint, T’schuldigung. Das war der Schreck Bodo, weißt du.“

Die letzten 365 Tage hatte kein Mensch so oft Bodo zu ihm gesagt, wie das Kind in nicht einmal fünf Minuten.

„Weißt du, Bodo, Omi ist Zuhause und denkt, ich bin es auch, aber ich bin es nicht, weil ich bei Jochen war, Jochen ist mein Freund und Horsti hatte nix zu fressen …“

Bodo schwirrte der Kopf.

„Ich hab’ Jochen für Horsti Hamsterfutter gebracht. Verstehst du? … Jochen ist nämlich krank, Grippe, ziemlich schlimm.“

Auch das noch! Bazillen. Ein Bazillenträger in seinem Auto …

„Da hab’ ich ihm von mir, also nicht von mir, von Ernie, das ist mein Hamsterweibchen, schnell Futter gebracht …“

Bodo atmete laut durch die Nase.

„Huch, Bodo, wir sind an der Abbiege vorbei gefahren, kannst du zurücksetzen?“

„Nein“, sagte Bodo. „Ich parke hier und wir laufen.“ Er war am Ende seiner Kraft.

„Iss vielleicht auch besser so, sonst hätte Omi geguckt, wer da kommt. Bodo, ich glaub’ du bist ganz schön schlau, glaub’ ich.“

Das Schneetreiben war noch. Es schneite stärker, es schneite Bodo kräftig auf den schönen Velour im Kofferraum, während er das Fahrrad umständlich herausholte.

„Bodo, kannst du es bitte tragen, es kann ja sein, dass es mit einem Mal nicht mehr schneit und dann: Spuren!“, stellte er wichtig fest.

„Und noch was, Bodo: Leise hinter das Haus gehen und das Rad hinter die grüne Schuppentür stellen, und dann Bodo gehst du rückwärts zurück, in denselben Spuren, Bodo, und ich gehe auf deinen Spuren ins Haus rein. Omi denkt dann, die sind vom Hausmeister. Und Bodo, wenn wir Glück haben, sind die Fußspuren in ’ner halben Stunde sowieso zugeschneit … Du Bodo, das mit dem Rad kriege ich schon wieder hin, alles klar?“ Justus lächelte.

Bodos Mundwinkel zuckten, sollte sich ein Lächeln in ihnen verirrt haben?

Bodo ging in die Hocke und sagte Justus, wenn noch irgend etwas sei, solle er sich bei Frau Claasen in der Hamburger Bank am Ballindamm melden.

„Geht klar, Bodo.“ Justus klopfte ihm freundschaftlich auf den Oberarm.

In den nächsten Minuten war Bankdirektor Dr. Bodo Störhase per pedes auf Indianerfährte mit einem leicht verbeulten Kinderfahrrad unter dem Arm unterwegs. Vorwärts und dann, man glaubt es kaum, rückwärts!

Gott sei Dank hat das und ihn niemand gesehen!

An der Gartenpforte drehte er sich noch einmal um, da stand Justus im Schneetreiben, tippte sich an seine Pudelmütze und stellte seinen roten Fäustlingsdaumen hoch.

„Tschüss, Bodo. Und vielen Dank“, flüsterte er.

Zehn Minuten später betätigte Bodo den elektronischen Garagenöffner.

Endlich Zuhause!

In seiner Wohnung auch englisches, hanseatisches Männlichkeitsambiente.

Bodo schlüpfte in seine bequemen Morlands Lammfellpantoffeln, seine Füße und er atmeten aus. Endlich Ruhe.

Frau Tiemann, der gute Geist seines Hauses, hatte alles gerichtet, das Licht gedämpft, den Tee auf dem Stövchen, den Imbiss unter einer Silber Cloche, daneben eine frische Leinenserviette.

Sie hielt es auch schon zwanzig Jahre mit Dr. Bodo Störhase aus, wahrscheinlich, weil sie ging, bevor er kam.

Der Rest des Abends verlief wie immer, nur dass Bodo heute keine Magenschmerzen hatte, aber das hatte er noch gar nicht bemerkt.

Der nächste Morgen bescherte Alpenpanorama. Frau Holle schien eine Schneeorgie gefeiert zu haben.

„Großartig“, dachte Bodo, „dann hat es keine Spuren gegeben.“

Herr Direktor Dr. Störhase, ist bei Ihnen alles in Ordnung???

Acht Tage später. Im Marmorentree des Bankhauses blitzte eine rote Pudelmütze auf.

Wohlerzogen zog Justus sie vom Kopf und hielt sie in der Hand, verlor dabei einen Fäustling, der nun herrlich rot und einsam auf den Marmorquadern lag – wie vom Nikolaus verloren.

Justus reckte sich zur Portiersloge hoch.

„Ich möchte bitte zu Frau Claasen, ich bin angemeldet.“

Gewiss einer der Neffen, schlussfolgerte Portier Hinrichs und erklärte Justus den Weg in die Direktionsetage.

Justus' rechte Hand umklammerte einen Zellophanbeutel, aus dem ein Tannenzweig herausragte, festgezurrt mit einer roten, nicht mehr ganz glatten Schleife.

Auf der Treppe machte Justus noch einmal kehrt, um Mütze und Handschuh bei Herrn Hinrichs zu deponieren, es war zu viel Masse für seine kleinen Hände. Bei dieser Gelegenheit sammelte er auch den verloren gegangenen Handschuh wieder ein.

„Das einzig Doofe am Winter ist nur, dass man so viel anziehen muss“, sagte er und schob Überflüssiges in Richtung Hinrichs.

Oben angekommen, klopfte er an die Eichentür des Vorzimmers, sein Klopfen wurde aber nicht gehört, denn erstens war die Tür viel zu dick und zweitens sein Klopffinger viel zu klein.

Nach kurzer Zeit öffnete er, so zaghaft es für ihn möglich war, die Tür, grüßte Frau Claasen und fragte: „Iss Bodo da?“

Frau Claasen zog die linke Augenbraue leicht, ganz leicht in die Höhe und sah den kleinen Kerl an.

„Bodo?“

„Ja, Bodo Störhase, mein Freund!“

„Wenn das so ist, dann werde ich dich gleich anmelden, gedulde dich noch einen Augenblick.“ „Bodo“, flüsterte sie, „telefoniert gerade, nimm doch drüben einen Augenblick Platz.“

„Warten will ich gerne, aber sitzen lieber nicht, die Sessel sind zu groß für mich, ich häng' dann immer so auf dem glitschigen Leder.“

Frau Claasen lächelte.

Justus drehte seine Warteschleifen um ihren Schreibtisch, dabei erfuhr sie von Justus, dass Bodo irre nett ist – und überhaupt nicht so ein Iteot – und dass Justus Iteot gesagt hatte, das war ja nur der Schreck. Ehrlich. Und heute haben sie im Kindergarten gebacken. Weihnachtsherzen …

„Bodo kriegt welche ab, wegen Iteot und so. Außerdem waren es sowieso so viele.“

Justus nahm alles grundsätzlich nur im Sturm, auch Frau Claasen.

Direktor Bodo Störhase und Weihnachtsherzen mit bunten Streuseln!

Wunder der Weihnacht …

„So jetzt hat er das Gespräch beendet, sagst du mir deinen Namen, damit ich dich anmelden kann?“

„Klar, Justus von Gherden.“

„Herr von Gherden ist hier.“

„Ich lasse bitten“, ertönte es ahnungslos aus der Gegensprechanlage.

Frau Claasen deutete auf die Tür. Justus rannte los und riss die Tür auf.

„Tach Bodo, da bin ich!“

Bodo erschien in der Türöffnung …

„Herr von Gherden, Herr Direktor“, lächelte Frau Claasen.

Bodo schloss die Tür.

„Na Bodo, da staunst du, was? ’Ne echte Überraschung, was? Hier für dich zum Nikolaus.“ Er reichte ihm den Zellophanbeutel mit den Keksen.

„Selbst gemacht, Bodo, los probierʼ ma, den Streusel hab’ ich auch selber drauf gestreut. Die sind richtig gut, hat Omi auch gesagt, und auch nicht zu hart, wegen Zähne und so. Kannst ruhig essen, Bodo, passiert nix.“

Bodo fiel in seinen Sessel, die Lawine Justus hatte ihn überrollt.

„Was machst du Weihnachten, Bodo? Wir fahren in die Heide zu Papis Eltern, Omi und Opa zwei, aber ich mag Omi eins lieber … und du weißt, Bodo, die kriegt auch alles nicht mehr so mit …“ Dabei grinste er Bodo verschwörerisch an.

Bodo hüstelte verlegen. „Nun ja …“

„Ach Bodo muss dir nich peinlich sein, bleibt doch unter uns, okay? Jetzt muss ich aber wieder los, bevor’s dunkel wird … Tschüss Bodo … und einen schönen Nikolaus.“ Weg war er.

Bodo starrte auf die geschlossene Tür, überrannt, erschlagen, sprachlos.

Frau Claasen erschien.

„Kaffee oder einen Cognac, Herr Direktor …?“, fragte sie, öffnete aber schon das Mahagonischränkchen.

An diesem Abend legte Direktor Dr. Bodo Störhase einen Zellophanbeutel mit roter Schleife in seinen Aktenkoffer.

Übrigens, er hat sie alle gegessen – und seit Januar spielt er regelmäßig mit Omi eins Bridge … Wunder der Weihnacht … Immer donnerstags. Das ist der Tag, an dem Justus alle Verabredungen absagen muss.

Denn DIE kriegen ALLES mit!

Anna und der Weihnachtsmann

Der Frühling machte sich breit in der Stadt. Frisch poliertes Grün.

Frisch polierte Menschen.

Damals war es kalt. Dezember.

Vorweihnachtliche Hektik in der ganzen Stadt.

Anna raste um die Straßenecke, abends kurz vor sechs.

Platsch! Bumm! Sie prallte mit ihren Tüten und Paketen in einen Mann, sagte: „Mist, verdammter“, bückte sich, um aufzusammeln.

„Wenn Sie meinen“, sagte der Mann, lächelte und sah Anna an. – Oh –

Anna war durch leichte Schneeschauer und Temperaturen um den Gefrierpunkt ein bisschen gezeichnet. Eine Haarsträhne pendelte ihr wie ein ausgeleierter Scheibenwischer vor den Augen, hielt sich hartnäckig, weil klatschnass (leichte Schneeschauer).

Er sagte: „Entschuldigung …“

Anna sammelte auf.

„Erotik auf Eis“, las der Mann die Headline, die auf dem Cover der Zeitschrift stand, las die etwas kleinere Zeile darunter: „Wer liebt, lebt länger … so so …“

„Geben Sie her, das ist eine uralte Zeitschrift, die ich auf dem Weihnachtsflohmarkt im Vorbeigehen für meinen Mann mitgenommen habe. Esquire. Uns hatte damals das freche Cover gefallen.“

„Ja, die Uralt-Dezemberausgabe aus den Achtzigern, oder?“, fragte er.

„So, so, man kennt sich aus …“, sagte Anna und sammelte zusammen, was durch den Zusammenprall aus den Tüten gefallen war. Der Mann ging in die Hocke und sammelte mit.

Über Mozarella di Buffalo, aus der Tüte gerollten Tomaten, Krabbenfleisch und Weintrauben sahen sie sich an. Für den Bruchteil einer Ewigkeit.

Er sagte noch einmal „Verzeihung.“ Und sie sagte: „Halb so schlimm.“

„Kann ich Sie irgendwie …“

„Nein. Das können Sie nicht … danke.“

Sie nahm ihre diversen Tüten und jagte zur Ampel.

Grün im letzten Moment …

Ich hätte doch … warum habe ich nicht … ich werde ihn wohl nie wiedersehen … Ach zum Teufel!

Er stand immer noch der Ecke … sah ihr hinterher …

Zwanzig Jahre meines Lebens habe ich gesucht, gewartet und nun … sie wäre … Warum habe ich nicht ein vernünftiges Wort gesagt …

Warum laufe ich ihr nicht …

Er war gut erzogen, und Anna hatte die ,Erotik auf Eis‘ unter dem Arm und eilte zum Bus.

Da saß sie nun, im Bus. Eingekeilt zwischen den Menschen und deren mehr oder weniger handlichen und unhandlichen Paketen, Päckchen und Tüten.

Rechts und links von der Busspur glitzerte totale Weihnachtsstimmung aus den Geschäften und an den beleuchteten Außenfassaden an ihr vorüber.

Leise rieselte alles Mögliche in ihr Gemüt … Schnee oder … oder Erotik auf Eis und dazu bitte ein Glas Champagner. Anna!!!

Er hatte wunderschöne Augen und eine Stimme … barfuß übern Rollsplitt, hätte Freundin Helga gesagt …

Einen Tag vor Heiligabend ging Anna noch einmal in die Innenstadt, um in letzter Minute Vergessenes und absolut Wichtiges für die anstehenden Feiertage zu besorgen.

Sie schloss sich der Flutwelle der Last Minute Shopper, die durch Kaufhäuser und Passagen schwabten, an.

Nach zwei Stunden Geknuffe, Gedrängel und Geschiebe wurde sie an ein Bistro in einer der Einkaufspassagen gespült. War reif für die Insel, für einen doppelten Espresso.

Hangelte sich, so gut es Edelparka und Tüten zuließen auf einen soeben freigewordenen Hocker.

Was denken sich Designer eigentlich bei solchen Möbeln?!

Sie fühlte sich wie eine überladene Landschildkröte, atmete aus und bestellte sich …

„Ein Glas Champagner.“

Ließ anderer Leute weihnachtliche Betriebsamkeit an sich vorüber fließen, dachte nicht an die ins Haus stehende Verwandtschaft, besonders nicht an Schwiegermutter Grethe, fühlte sich wohl.

Anna dachte schon, dachte an den Mann, in den sie vor zwei Wochen hinein gerauscht war.

Mein Gott, in diesen Augen hätte ich tauchen, schwimmen gelernt … Mit ihm wäre ich um die ganze Welt … Anna! … Na, aber bis Paris …

„Gehört das wieder einmal Ihnen?“

„Wie bitte?“ Anna sah auf ein flaches Päckchen in schwarzem Lackpapier.

Himmel, Grethes Seidentuch. „Danke ja.“

Wieso, wieder einmal?

Anna wurde am 23.12. um 16.30 Uhr vom Blitz getroffen.

„Wir treffen uns wohl immer, wenn Ihnen etwas hinfällt …“

Annas Lackpäckchen kam schon wieder ins Rutschen …

„It’s still the same“, sang Bob Seeger aus irgendeiner Anlage in der Passage.

Es ist immer dasselbe … Nur manchmal besonders schön … YES!

„Mami, Mami, wo bleibst du denn? Oma und Opa sind auch schon da. Und August ist mit seinen dreckigen Pfoten auf das Sofa gesprungen. Und Papi kommt erst in zwanzig Minuten, er hat von der Autobahn angerufen, Stau.“

Und, und, und.

Anna begrüßte, delegierte, reinigte, telefonierte und war durch nichts und niemanden aus ihrer guten Laune zu kicken.

„Deine Frau sieht blendend aus“, stellte Schwiegermutter Grethe fest.

„Findest du nicht auch, Claus?“

„Tut sie das nicht immer, oder war was Besonderes?“

„Ich habe nur den Weihnachtsmann getroffen“, lächelte Anna in die Familienrunde und nahm ihr Glas: „Auf schöne Weihnachten.“

Auf dem Rücksitz vom 34iger Bus fuhr Grethes Seidenschal um Mitternacht ins Depot.

Die Stimme – Traumhaft

Hanna Calvi hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Hitze, Stau, lauwarmes, geschmacksfreies Essen in der Betriebskantine. Sie war müde.

Siebzig Kilo Müdigkeit, oder ein paar mehr, sahen sie aus dem Spiegel an.

Mein Gott Hanna!

Eine Strähne kroch unter ihren Haarnadeln hervor und schickte eine graue Strähne ins Freie, sie lockerte die Strenge ihrer Frisur ein bisschen auf.

Hanna, Hanna, was ist aus dir geworden?

Einem müden Elefanten gleich stieg sie unter die Dusche. Sie drückte die Taste des kleinen Badezimmer-Radios, um Nachrichten zu hören, duschte sich den Alltagsstaub mit politischen Meldungen von der Haut, bückte sich schwerfällig nach der ausgeglitschten Seife. Sechzigjährige Schwerfälligkeit.

„Ratsch“, sagte entschlossen der Duschvorhang.

Ausstieg aus der Wanne. Da sagte eine Männerstimme in ihrem sieben Quadratmeter großen Badezimmer: „Guten Abend, schön dass Sie eingeschaltet haben, Sie hören – Traumhaft.“

Hanna grapschte verlegen nach zwei Meter Frottee, oder waren es drei?

Nackt, oder halbnackt vor dieser Stimme? Niemals!

„A love so beautiful“, erklang es aus dem kleinen Transistor. „A love so beautiful.“

Hanna ging näher zum Spiegel, um sich mutig ins Gesicht zu sehen. „Du bist eine fette alte Wachtel!“

A love so beautiful … Ach ja. Wie viele Jahre waren vergangen … damals … da hatte sie mit Tonio zu der Musik getanzt, war in seine Seele getaucht, hatte umgekehrt tauchen lassen. Die Wände ihrer Herzkammern trugen Blümchentapete.

Jetzt balsamierte sie ihre Seele mit Cremetörtchen, Vanilleschnecken und Nougat.

„Haben Sie Lust auf weitere Schmusemusik? Hier ist Shirley Bassey: ,How Do You Keep the Music Playing‘ …“

Hanna war es sehr unangenehm so … so vor dieser Stimme auf dem Wannenrand zu sitzen.

Gott sei Dank fuhr eine Verkehrsfunkstimme mit Gegenständen, die in Büdelsdorf auf der Fahrbahn lagen, dazwischen.

Vor dem sachlichen Verkehrsfunk stört Unattraktivität nicht so.

Hanna griff zur Haarbürste und strich sich ihre nassen Haare nach hinten. Besser das Badelaken mit Faltenwurf geschlagen, noch besser und nicht mehr so linkisch. Eau de Cologne auf die Schulterpartie, so konnte sie der Stimme entgegen treten, besser entgegentreten.

Sie sah sich erneut im Spiegel an. Genau, nein genauer.

Wie viele Jahre waren vergangen? Neun? Nein, es sind schon zehn lange Jahre – a love so beautiful …

Am Anfang hatte sie sich verkrochen, sie wollte niemanden sehen. Oliver, ihr Sohn, hatte am Tag seiner Rückreise gesagt: „Wenn du mich brauchst und mit allem hier nicht allein fertig wirst, komm einfach rüber nach L. A.“

„L.A.“, hatte er gesagt, vor der Sicherheitsschleuse noch gewinkt und war nach Hause geflogen. Nach Hause, Zuhause, waren das nicht immer Tonio, sein Vater, und sie für ihn gewesen? Früher schon, Hanna. Jetzt ist er erwachsen …

L. A. – Sie hatte nicht bemerkt, dass inzwischen zehnmal Sommer gewesen war. Zehnmal! Hanna, der Hamster im Laufrad.

Die Stimme war Hannas Dornröschenkuss. Und das im Badezimmer!

Sie hockte sich wieder auf den Wannenrad, dachte nach über Erlebtes, Versäumtes.

Zehn Sommer, zehn Winter lang war sie Tonio begießen gefahren, die ersten Jahre sonntags mit dem Fahrrad, jeden Sonntag.

Heute, als die Wunden verschorft waren, alle vier bis sechs Wochen mit dem Auto.

In L. A. waren sie seit zwei Jahren zu dritt.

Hanna Calvi, du bist eine Großmutter. Das Schlimme daran ist: Du siehst auch so aus.

Hanna holte sich ein Glas Weißwein, ging zurück ins Bad, hockte sich wieder auf den Wannenrad zu der Stimme.

Sie hätte jederzeit in einem der anderen Räume mit der Stimme zusammen sein können, aber der relativ kleine Raum, die Enge waren wichtig, nichts lenkte sie ab.

Sie stellte das Glas auf den Rand des Waschbeckens, um sich erneut, mutig sich selbst zu stellen, einen Blick auch auf ihr Profil zu werfen.

Das, was sie sah, konnte kein noch so freundlicher Dimmer ins rechte Licht rücken. Schokolade, der Stoff, der zerschundene Seelen glaciert.

Hanna hatte an diesem Abend bis zum Schluss der Sendung im Badezimmer gesessen, sich noch zwei Gläser geholt, war der Stimme, die sie aus ihrer Trance geholt hatte, dankbar, wurde mit ihr vertraut, hörte dreimal die Woche „TRAUMHAFT“ – immer, wenn DIE Stimme, die Stimme vom Dienst war –, speckte ab.

Am ersten Advent hatte Hanna wieder nur ein Kinn, eine richtige Taille und eine neue Frisur.

Was hatte der Herr gestern im Supermarkt gesagt?

„Junge Frau, darf ich schnell vor, ich parke im Halteverbot.“

Junge Frau!!! Drei Waggonladungen hätte er auf das Band legen können.

Junge Frau!

Am 20. Dezember startete sie nach L. A.

Ihr Nachbar zur Linken fragte: „Auch Weihnachtsurlaub?“

„Ja“, antwortete eine glückliche Hanna. „Ich sehe zum ersten Mal meinen

Enkel.“

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783956071300
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Weihnachten Shorties Familie Humor Familien Kurzgeschichten Anekdoten
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Titel: X-Mas Shorties