Zusammenfassung
15 Jahre später entdeckt der Journalist Eric Teubner einen entscheidenden Hinweis und macht es sich zur Aufgabe, ihr Verschwinden und ein mögliches Verbrechen aufzulösen. Fasziniert, fast besessen von der Sängerin und ihren düsteren Songtexten, beginnt er, den alten Fall neu aufzurollen.
Während seiner Recherchen trifft er auf zwielichtige und störrische Zeitzeugen wie den Privatdetektiv Frank Jensen, der Eric unverhofft unterstützt. Er hatte damals erfolglos nach Janina gesucht. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass er tiefer in die damaligen Ereignisse verstrickt war, als er zunächst zugeben möchte. Teubner realisiert, dass Janina Nossak nicht nur eine hochbegabte Sängerin war, sondern dass sie weiterhin als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und menschlichen Abgründe ihrer Umwelt dient.
Immer tiefer taucht der Journalist in die unterschiedlichen Milieus Hamburgs ein, um die damaligen Zeugen noch einmal zu befragen und löst damit eine unvorhersehbare Kette von tragischen Ereignissen aus.
Aus mehreren Perspektiven erzählt wird der mysteriöse Fall Janina Nossak genauso neu beleuchtet, wie seine Erzählenden.
Bernd Richard Knospe erzählt dicht, atmosphärisch und unvermittelt von einem Kriminalfall, der nicht gelöst werden will und dessen Ereignisse sich zu wiederholen scheinen. Er arrangiert seine Figuren um die abwesende Protagonistin im Zentrum der Erzählung und zeichnet sie durch pointierte Dialoge zu markanten und komplexen Charakteren. Knospes mehrstimmig erzählte Komposition ist außerdem eine Verbeugung vor der Macht der Musik.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Eric Teubner sah Janina Nossak im Club auf die Bühne steigen. Sie begleitete sich auf dem Klavier, sang mit geschlossenen Augen und leicht zur Seite geneigtem Kopf als lausche sie einer inneren Stimme, die ihr diese verstörenden Texte soufflierte. Winterseele hieß einer ihrer Songs, erzählte von vereisten Gefühlen und erfrorenen Herzen. Worte wie ein unterdrückter Aufschrei! Sie ließen den Journalisten schaudern. Die Melodien wirkten wie zu kurze Decken in kalter Nacht. Dennoch wehrte sich die außergewöhnliche Stimme trotzig gegen Angst und Hoffnungslosigkeit, und verlor sich doch immer wieder in ratlosem Flüstern. Dazu hämmerte Janina Töne in das Klavier wie Haken in eine Steilwand.
An den Mitschnitt ihres ersten und einzigen Soloauftritts vor fünfzehn Jahren war Eric über Umwege herangekommen. Seitdem hatte er die DVD fast täglich eingelegt, hatte sich mitreißen lassen von der jungen Musikerin, deren Worte in seinem Kopf wie Einschüsse zurückblieben.
Sie singt nicht, weil sie will, sondern weil sie muss. Irgendjemand hatte das in einem der Interviews geäußert, die Eric zum Fall Janina N. schon geführt hatte. Ihr Gesang sei stellenweise so eindringlich, dass man den letzten Ton herbeisehne und doch mehr hören wolle, sobald die Musik erst verstummte. Als singe ein Engel über die Hölle. Das hatte sich in Erics Gedanken als passendste Charakterisierung der Sängerin festgesetzt. Und dieses Bild ließ ihn nicht mehr los.
Janina Nossak hatte damals ihr erstes öffentliches Konzert im Hamburger Jazz Club Hier und Jazz gegeben. Sie hatte an diesem Abend einen bemerkenswerten Erfolg verbuchen können, hatte namhafte Kritiker und Kenner der Musikszene angelockt. Es war ein Auftritt, mit dem sie das Tor zum Musik-Business weit hätte aufstoßen können. Aber dann war sie noch in derselben Nacht spurlos verschwunden und niemand hatte auch nur eine Ahnung, was aus ihr geworden sein könnte. Bis heute war dieser Fall ein ungelöstes Rätsel geblieben.
Der Auftritt endete. Das Publikum im kleinen Jazz Club tobte. Die amateurhafte Verfilmung lieferte stellenweise verwackelte Szenen, vielleicht auch deshalb, weil der Freizeitfilmer in der dicht gedrängten Menge ständig angerempelt wurde. Nach kurzer Orientierungslosigkeit fand die Kamera die Hauptperson auf der kleinen Bühne wieder, und das Bild beruhigte sich. Janina schien es schwer zu fallen, aus der Tiefe ihrer Songs in der Wirklichkeit aufzutauchen, um an der Oberfläche Luft zu holen, sich zu erheben, hinter dem Klavier hervorzutreten und sich dem Beifall und der Begeisterung zu stellen. Ihr Lächeln wirkte angestrengt und blieb während des Jubels der Konzertbesucher eher distanziert. Eric stoppte das Bild. Er betrachtete das längst vertraute Gesicht der damals Zwanzigjährigen, fühlte eine Verbundenheit mit ihr, die im Lauf seiner Recherchen immer tiefer geworden war. Und er spürte, dass gerade dieser Moment etwas besonders Wichtiges in sich barg, Sekunden nachdem die Musik verstummt war, und Janina in das applaudierende Publikum blickte. Da war plötzlich etwas in ihren Augen, das sich nicht allein mit der Nervosität einer jungen Künstlerin erklären ließ, die gerade ihren ersten großen öffentlichen Auftritt absolviert hatte. Ebenso wenig schien es das Unbehagen einer introvertierten Persönlichkeit zu sein, für die es eine Qual war, sich vor anderen Menschen zu öffnen und Gefühle preiszugeben. Nein, in ihren Augen meinte Eric für einen kurzen Moment den Schrecken vor einer unmittelbaren Bedrohung zu erkennen. Eine Bedrohung, die damals dort gewesen sein musste. Im Club! Im Publikum mitjubelnd, Beifall klatschend und die junge Künstlerin zusammen mit den anderen Gästen feiernd. Eine Bedrohung, die schon darauf zu warten schien, Janina zu verschlingen, sie in eine Dunkelheit zu zerren, in der sie niemand mehr finden sollte.
Der Schlüssel für Janinas Verschwinden mochte auch in ihren Texten verborgen sein, die eine Fülle düsterer Metaphern boten. Aber Eric ahnte, dass etwas Wesentliches in dieser Aufzeichnung steckte, greifbar und sichtbar, etwas, das er finden wollte und finden musste, wenn er sein geplantes Buchprojekt zu Ende bringen wollte. Er ließ die Aufzeichnung weiter laufen und hielt sie erst wieder an, nachdem die Furcht aus Janinas Blick verschwunden war. Nun schien die Sängerin ihn direkt anzusehen. Sie lächelte. Eric lächelte zurück. Es war wie eine stille Übereinkunft und zugleich ein Versprechen, das er ihr hier und heute gab. Er würde herausfinden, was geschehen war. Sein Buch sollte ein letztes Kapitel haben.
1. Kapitel: Chinesische Heilkunde
Die Heilpraxis für Chinesische Medizin von Yazhen Li lag in Altona, in der Nähe des Altonaer Bahnhofs. Frank Jensen hatte sich seit Beginn der Chemotherapie das Autofahren weitgehend abgewöhnt. Die Strecke von Niendorf bis Altona konnte er mit Bus, Bahn und zu Fuß gut bewältigen und betrachtete seine regelmäßigen Besuche des Heilpraktikers als einzige sportliche Betätigung, zu der er noch in der Lage war. Viel mehr Bewegung verkraftete er nicht. Nach solchen Trips war er für den Rest des Tages völlig erledigt. Dennoch war ihm diese alternative medizinische Betreuung parallel zu der Chemotherapie von Anfang an wichtig gewesen. Sie gab ihm Kraft und half ihm dabei, besser mit den üblen Nebenwirkungen fertig zu werden.
Lis Praxis war ohne Ortskenntnisse schwer zu finden. Sie lag in einer unscheinbaren Gegend in einem nicht weniger unscheinbaren Gebäude, das man nur über einen Hinterhof erreichen konnte. Es gab keine Hinweistafel, nur ein von Hand beschriftetes Namensschild umzingelt von Graffitis:
Chinesische Heilpraxis
Yazhen Li
Termine nach Vereinbarungen
Jensen schätzte den Asiaten auf ungefähr sechzig Jahre, also fast ein Altersgenosse. Li war sportlich, und sein Gesicht wirkte auch ohne Lächeln immer freundlich. Seine Praxis war modern eingerichtet, und es gab nahezu keine Hinweise auf chinesische Traditionen. Li war stets lässig gekleidet, fast jugendlich in Jeans und Shirt und schien einen Faible für ausgefallene Brillen zu haben. Jedenfalls trug er häufig wechselnde Modelle. Heute betrachteten seine klugen Augen Jensen durch eine auffällige Hornbrille im Retro-Stil. Wie zu jeder Sitzung bereitete er zunächst für beide Tee zu. Doch auch hier gab es keine typische Zeremonie. Li hatte vor Jahren eine Weile auf Borkum gelebt und bevorzugte seitdem einen kräftigen Ostfriesentee mit Kluntjes. Jensen, der ostfriesisches Blut in den Adern hatte, fühlte sich bei Li aus vielerlei Gründen heimisch, wobei besonders ihre Teestunde eine Bereicherung seines von der schweren Erkrankung überschatteten Lebens geworden war.
„Ich habe die Chemo abgebrochen“, erzählte er dem Chinesen und versenkte zwei Kluntjes im heißen Tee. Ihr leises Klimpern vermittelte etwas Behaglichkeit. Dieses Geräusch löste einen kurzen Erinnerungsflash an seltene, glückliche Momente im Kreis der Familie in ihm aus. Zeiten großer Träume und kleiner Sorgen.
„Es hat einfach keinen Sinn mehr“, fügte er hinzu.
Li lauschte ihm aufmerksam, als habe jedes Wort eine besondere Bedeutung, bevor er seine Fragen stellte.
„Die Mediziner im Krankenhaus denken auch so?“
Jensen zuckte mit den Achseln.
„Die denken ihren Kram und ich meinen. Es ist mein Leben und mein Risiko. Die würden gern weitermachen. Chemo, dann noch mal Bestrahlung. Das hatte ich alles schon mal. Das bringt nichts mehr! Mein Körper kämpft gegen die Chemo und verliert dadurch die Kraft, sich gegen den Krebs zu wehren.“
„Das ist Ihr Empfinden?“, staunte der Asiate.
Statt einer Antwort lächelte Jensen nur müde.
Li trank Tee und schwieg. Jensen schwieg ebenfalls, weil alles gesagt schien.
„Wie lange geben sie Ihnen noch ohne Behandlung?“, wollte Li schließlich wissen.
Jensen starrte in seine Teetasse wie in eine Glaskugel.
„Keine Ahnung. Was denken Sie?“
Li lächelte ohne zu lächeln.
„Das ist nicht mein Job.“
„Was dann?“
„Ich begleite Sie. Ich bereite Sie vor. Ich gebe Ihnen Kraft. Aber ich kann Ihnen nicht mehr Leben geben, als Sie sich selbst geben wollen. Und ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie lange Sie noch leben wollen. Sie entscheiden! Sie brechen die Chemo ab. Sie rauchen immer noch. Wir hatten doch eigentlich geplant, meine Therapien begleitend zur Chemo einzusetzen. Darauf baut alles auf. Jetzt haben Sie anders entschieden. Wenn Sie einen neuen Weg gehen wollen, müssen Sie mich mitnehmen.“
„Jedenfalls keine Chemo mehr“, beharrte Jensen und kostete von seinem Tee. Er fand es amüsant, dass ein chinesischer Heilmediziner offensichtlich nur Teebecher mit Simpson-Motiven besaß. Er fand vieles von dem, was ihn bei Li umgab, amüsant. Auf eine angenehme und entspannende Weise. Es war wohltuend für den ehemaligen Detektiv, im letzten Abschnitt seines Lebens doch noch einem Menschen begegnet zu sein, dem er blind vertraute.
Li nickte.
„Keine Chemo mehr“, wiederholte er. „Ihre Entscheidung! Also müssen Sie sich auf die wesentlichen Dinge Ihres Lebens konzentrieren. Die, die Sie noch unbedingt in Ordnung bringen wollen.“
„Damit habe ich längst begonnen“, sagte Jensen.
„Es bleibt bei unseren Treffen?“
Jensen nickte entschieden. Auf Tee, Gespräche und Akupunktur wollte er nicht verzichten. Er war bereit, auch weiterhin alles zu tun, was der chinesische Mediziner von ihm verlangte, wenn er dadurch seine Lebensqualität so lange wie möglich erhalten konnte. Und, was noch viel wichtiger war: dass er genügend Kraft fand, noch ein paar Dinge bereinigen zu können, die lange Zeit geruht hatten. Fast vergessen waren. Bis plötzlich dieser neugierige Journalist aufgetaucht war, um alte Geister aufzuscheuchen, unbequeme Frage zu stellen und den Fall Janina Nossak aus der Versenkung zu holen. Jensen war hin- und hergerissen zwischen zwei Gefühlen: Der Verärgerung darüber, dass ausgerechnet jetzt diese alte Geschichte wieder ausgegraben worden war. Und der Hoffnung, noch über ausreichend Zeit und Kraft zu verfügen, das Schlimmste zu verhindern.
„Ihr Blick ist voller Sorge“, bemerkte Li und legte Jensen die Hand auf die Stirn. „Wir müssen einen Weg finden, Ihre Energie und Ihren Willen positiv zu bündeln.“
Jensen dachte an Janina Nossak und spürte eine schwere Last, die ihn fast erdrückte. Energie und ein gestärkter Wille waren jetzt genau das, was er benötigte. Morgen wollte ihn Teubner aufsuchen. Jensen wollte herausfinden, was der Journalist wusste. Er musste ihn unter Kontrolle bekommen. Im Ernstfall sogar etwas tun, dass er sein Leben lang vermieden hatte: einen Pressevertreter freundlich behandeln.
Jetzt drückte Li Jensen zufrieden den Arm.
„Sie machen Pläne. Planen heißt glauben. Und glauben heißt leben. Das ist gut für uns beide.“
Jensen sah ihn fragend an.
„Für mich wegen der laufenden Kosten“, erklärte Li augenzwinkernd. „Hauptsächlich durch Sie habe ich ein regelmäßiges Einkommen. Konnten Sie mich schon weiterempfehlen?“
„Sie sollten sich mal ein auffälligeres Schild an den Hauseingang nageln“, entgegnete Jensen. „Die meisten, denen ich von Ihnen erzählt habe, konnten Ihre Praxis nicht finden und irren vermutlich immer noch durch Altona.“
2. Kapitel: Erste Begegnung
Marie schwang ihre langen Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Sie hatte diese besondere Art sich zu bewegen, als befände sie sich auf einem Laufsteg. Aus schläfrigen Augen folgte Erics Blick ihrem makellosen Körper. Sie war klug, schön, selbstbewusst – und mit Mitte Zwanzig zu jung für ihn. Doch seit zwei Jahren hatten sie so etwas Ähnliches wie eine Beziehung, und so lange es funktionierte, verschwendete er keinen Gedanken an das Warum.
„Ich muss mich beeilen“, hörte er ihre Stimme aus dem Bad. „Um zehn ist Redaktionskonferenz.“
Über die Zeitschriftenredaktion hatten sie sich kennengelernt. Sie als Assistentin des Chefredakteurs Nils Burkhardt und er als freier Journalist. Der gut fünfzehnjährige Altersunterschied war für sie mehr Reiz als Hürde. Nach dem kläglichen Scheitern seiner Ehe war Marie das Beste, was Eric hatte passieren können, und er gab sich große Mühe, auch für sie etwas Ähnliches zu sein. Dennoch verspürte er gelegentlich das nagende Gefühl des Zweifelns, ob ihre lockere Beziehung wirklich genug Substanz besaß. Marie war der ernsthafte und kritische Teil seines Lebens geworden, ehrlich und nachdenklich. Und er hatte sich zum unbekümmerten Teil ihres Lebens entwickelt. Sie wusste ihn in Momenten allzu großen Leichtsinns zu bremsen, und ihm gelang es immer wieder, sie aus ihren Grübeleien oder von ihren Büchern wegzuholen, aus Stimmungen, für die sie viel zu jung war. Eric schlief mit einem zufriedenen Lächeln und der Erkenntnis wieder ein, dass es ihm so gut ging wie schon lange nicht mehr, weil Marie all das war, was er längst hätte sein müssen – was ihren Altersunterschied in seinen Augen auf angenehme Weise egalisierte.
Später kam Marie noch einmal ins Schlafzimmer, küsste ihn wieder wach und strich ihm sanft über die Wange.
„Hast du wieder von ihr geträumt?“, fragte sie.
„Von wem?“, fragte er benommen.
„Dieser verschwundenen Sängerin.“
„Nein.“ Er reckte sich. „Ich träume nur von dir.“
Marie tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.
„Ich wette, die hat da drinnen längst einen kleinen Thron.“
Statt einer Antwort versuchte er, sie zu sich ins Bett zu ziehen, sich an ihrem Duft zu berauschen, an ihrer Stärke und Zuversicht. Sie wand sich lächelnd aus seiner Umklammerung, so elegant gekleidet, als wäre sie bereits Chefredakteurin.
Wie immer sagte sie zum Abschied „Ich liebe dich!“ und wie immer fiel ihm darauf keine passende Erwiderung ein. Nur wer es zuerst sagte, klang glaubwürdig. Dass er sie liebte, stand außer Frage. Doch nach dem Scheitern seiner Ehe löste die Vorstellung, wieder eine feste Bindung einzugehen, bei ihm eher Beklemmungen aus. Mit seiner Ex-Frau Cornelia war es in getrennten Wohnungen viele Jahre gut gegangen. Die Heirat hatte sie direkt in eine Sackgasse geführt. Dabei waren sie weder an großen Konflikten noch an kleinen Alltagsreibereien gescheitert, sondern am Verlust von Nähe und Spannung. Conny, die Zahnärztin werden wollte. Conny, die ihr Leben plante, Entscheidungen traf und deren Umsetzung konsequent vorantrieb. Ihre Liebe für Kino, Geselligkeit und Spontanität. Und Eric, der aus seinen künstlerischen Talenten lange viel zu wenig machte, der zeichnen, malen und schreiben konnte, der viele Romane begann und keinen zu Ende brachte, der stets große Ideen hatte, ohne die Energie, für sie zu kämpfen. Diese Energie entwickelte er erst als Journalist, aber nur dann, wenn ihn ein Stoff wirklich packte. Sobald sein Interesse erst einmal erwacht war, verwandelte er sich in einen Bluthund. Mit dem Geruch einer guten Story in der Nase war er von einer Fährte nicht mehr abzubringen. Dann wurde das Privatleben schnell zur Nebensache. Gespräche störend, Nähe ablenkend und Kultur und Geselligkeit nutzlose Zeitverschwendung. Er erinnerte sich daran, was Conny ihm zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. Eher traurig als verbittert. Sobald er sich erst in eine Aufgabe verbissen hätte, würde er sich von Dr. Jekyll in Mister Hyde verwandeln. Dann wurde das Leben an seiner Seite unerträglich.
Er hatte mit Marie über diesen Vergleich gesprochen. Ob sie schon ähnliche Erfahrungen mit ihm gemacht hätte. Sie hatte entgegnet, ihn gern mal als Dr. Jekyll erleben zu wollen.
Eric duschte kalt, verzichtete auf eine Rasur, putzte akribisch wie immer die Zähne und versuchte, beim anschließenden Frühstück seine Gedanken zu ordnen. So ganz Unrecht hatte Marie nicht mit ihrer Vermutung. Weiterhin kreisten Erics Überlegungen um Janina Nossak. Heute würde er zum ersten Mal ein Gespräch mit Frank Jensen führen können. Von dem Treffen mit dem ehemaligen Privatdetektiv, der mittlerweile an Lungenkrebs erkrankt war und zurückgezogen in Niendorf lebte, erhoffte er sich entscheidende Aspekte. Jensen war damals nach Janinas Verschwinden von deren Vater mit Nachforschungen zu diesem mysteriösen Fall beauftragt worden. Er genoss zu dieser Zeit in der Ermittlungsbranche den Ruf des unermüdlichen Schnüfflers mit Instinkt, Erfahrung und besten Beziehungen. Vor seiner Zeit als Privatdetektiv hatte er bei der Polizei gearbeitet, unter anderem bei der Mordkommission. Aber auch Jensen war mit der Suche nach Janina Nossak gescheitert. Zumindest hatte Eric keine anders lautenden Hinweise finden können. In der Silvesternacht zur Jahrtausendwende war Janinas Vater mit seinem Taxi tödlich verunglückt, und Jensen hatte seine Suche kurz danach eingestellt. Die Kripo hatte den Fall nur unwesentlich später zu den Akten gelegt. Die SOKO Janina war aufgelöst worden, weil es einfach keine neuen Spuren und Hinweise mehr gab, keine Zeugen und keine Hoffnung. Wie der Sinn ihrer rätselhaften Songtexte blieb auch Janinas Schicksal ein Geheimnis.
Eric betrachtete die Aufzeichnungen, Dokumente und Fotos, die er als Dateien sorgfältig geordnet in seinem Notebook gesammelt hatte. Er besaß viel Material, aber wenig Substanzielles. Es gab Fotos, Gesprächsnotizen, es gab alte Artikel, Kopien von Protokollen, Zeugenaussagen, Untersuchungsergebnisse, und es gab den Film von Janinas Auftritt aus dem Jahr 1998 in dem Jazz-Club Hier und Jazz. Damit konnte er die zierliche Sängerin mit den großen dunklen Augen über sechzig Minuten lang zum Leben erwecken. Diese Möglichkeit hatte er wie unter einem geheimen Zwang so häufig genutzt, bis Marie ihm scherzhaft gedroht hatte, ihn zu verlassen, solange ihre Rivalin bei ihnen herumspukte. Tatsächlich fühlte sich Eric Janina Nossak so eng verbunden wie einer guten Freundin aus der eigenen Vergangenheit. Vielleicht war sie sogar schon etwas mehr geworden. Er liebte ihre Stimme, ihr Lächeln, ihre Art, sich zu bewegen, ihre Texte und Gedanken, ihre Eigenarten. Oft stoppte er bestimmte Szenen der Aufzeichnung und betrachtete sie in unterschiedlichen Standbildern. Er zerfaserte den Auftritt in Sequenzen, Momente, Augenblicke, Passagen und kurze Klangbilder. Längst war es ihm vertraut, wie sie manchmal nervös ihr nachlässig hochgestecktes Haar prüfte, an ihrem Shirt zupfte, ihre Hände in die Gesäßtaschen der Jeans steckte oder ratlos vor der Begeisterung stand, die sie auslöste. Er kannte die Unsicherheit vor und nach ihren Songs, als wäre sie nackt, und ebenso ihre souveräne Haltung, sobald sie am Klavier saß. Ein Platz, auf dem sie sicher und unangreifbar schien und offensichtlich das tat, was sie am liebsten machte. Eric liebte auch ihr zaghaft aufflackerndes Lächeln bei Applaus und Zwischenrufen am Ende ihrer Songs. Dieses widerstrebende Erwachen aus einer inneren Tiefe. Von Anfang an hatte er versucht, vom damaligen Konzert so viele Besucher wie möglich ausfindig zu machen und zu befragen, was nach der langen Zeit alles andere als einfach gewesen war. Nur wenige hatte er bisher auftreiben und sprechen können. Viel Brauchbares war bisher nicht dabei heraus gekommen. Aber alle waren sich einig gewesen: Wäre die junge Sängerin nicht verschwunden, sie hätte zweifellos eine beachtliche Karriere machen können. Ein Jahrhunderttalent, hatte einer der befragten Zeitzeugen geschwärmt. Sie hätte das gewisse Etwas gehabt, wonach andere Künstler trotz Begabung und Fleiß ein Leben lang vergeblich strebten. Jensen dagegen hatte sich selten und nie konkret zu Janina geäußert. Der Privatdetektiv hatte die Öffentlichkeit gemieden. Keiner wusste genau, ob er überhaupt brauchbare Informationen und Spuren zum Verschwinden des Mädchens hatte finden können. Natürlich hatten sich Journalisten und Reporter damals an Jensens Fersen zu heften versucht. Einigen von ihnen war das nicht gut bekommen, zumal der Detektiv durchaus mal handgreiflich werden konnte. Allein deshalb war Eric überrascht, von Jensen problemlos einen Gesprächstermin bekommen zu haben. Er war sehr gespannt, was ihn erwartete – und misstrauisch, weil die Sache nach seinem Empfinden etwas zu reibungslos lief.
Der Ordner „Jensen“, den Eric in seinem Notebook eingerichtet hatte, war noch relativ überschaubar. Insofern fieberte der Journalist einem Gespräch und möglichen neuen Fakten entgegen. Darauf hatte er sich so akribisch wie möglich vorbereitet. Vorsorglich rief er noch einmal bei Jensen an, um sich den Termin bestätigen zu lassen. Zu oft hatten Informanten und Gesprächspartner mit ihrer Unzuverlässigkeit seine Zeit vergeudet. Jensen meldete sich beim zweiten Klingelton und bestätigte das Treffen – wenn auch etwas mürrisch. Er wies auf seine Vorliebe für Pünktlichkeit hin. Seine Stimme klang reserviert, aber nicht unsympathisch. Eric packte seine Sachen zusammen und verließ die Wohnung.
Bei normalem Berufsverkehr würde er eine gute halbe Stunde bis zu Jensens Adresse benötigen. Er fuhr früh genug los, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, und war guter Dinge. Neben seiner Tätigkeit als freier Journalist hatte er vor einigen Monaten mit dem Projekt zum Fall der verschwundenen Sängerin begonnen. Erst hatte er eine allgemeine Reportage über vermisste Personen geplant. Die spektakulärsten Fälle der letzten fünfzig Jahre in Deutschland, etwas in der Art. Aber nachdem er mit Janina Nossaks Geschichte begonnen hatte, konnte er sich den Ereignissen rund um die geheimnisvolle Story nicht mehr entziehen, und aus der geplanten allgemeinen Reportage war wie von selbst ein Buchprojekt geworden.
Natürlich fragte sich Eric, warum ausgerechnet er so überraschend von dem als eigenbrötlerisch geltenden Frank Jensen zum Fall Janina empfangen wurde, zumal ihr erstes Telefonat nicht gut verlaufen war. Dabei hatte er Jensen nur um einen Gesprächstermin zum Fall Janina Nossak gebeten. Jensen hatte ihn brummig abzuwimmeln versucht. Er habe nichts Neues zu sagen. Sämtliche verfügbaren Informationen könne sich jeder Idiot beschaffen.
Da hatte Eric mit seinen aktuellen Entdeckungen geprotzt. Behauptet, nicht auf Neuigkeiten aus zu sein, sondern seine eigenen Ermittlungserfolge von Jensen beurteilen lassen zu wollen.
Jensen hatte verblüfft geschwiegen. Und Eric hatte zufrieden in sich hineingegrinst.
Der ehemalige Privatdetektiv hatte zögernd eingelenkt. Etwas weniger brummig. Also gut, etwas Zeit könne er wohl erübrigen.
Wo?
Bei ihm. In Niendorf. In seinem Haus.
Und nun war Eric auf dem Weg in den unspektakulären und grünen Hamburger Stadtteil in Flughafennähe. Im Autoradio empfahlen die Jungs von Daft Punk zusammen mit Pharrell Williams Get Lucky und Eric konnte sich keinen besseren Soundtrack für seine augenblickliche Stimmung vorstellen, erfüllt von einer kribbelnden Zuversicht und dem Gefühl, erst jetzt wirklich mit seiner Arbeit zu beginnen. Egal, in welche Richtung er bisher recherchiert hatte, irgendwann war er immer auf den Namen Frank Jensen gestoßen. Deshalb konnte die Geschichte eigentlich auch nur mit ihm beginnen.
Der ehemalige Privatdetektiv lebte in einem Klinkerbau im spießigen Stil der Sechzigerjahre. Ein schlichtes Haus, das auf dem gedrungenen Grundstück zwischen wild wuchernder Natur zu verschwinden drohte. Im Garten schien schon lange nichts mehr gemacht worden zu sein. Jensen empfing den Journalisten in verwohnten Räumen. Trotz seiner Krebserkrankung schien er noch immer zu rauchen, zumindest roch es nach frischem Zigarettenqualm. Irgendwo dudelte eine heitere Melodie vor sich hin, deren Fröhlichkeit von Knistern und Rauschen beeinträchtigt wurde – vermutlich ein Radiosender, der sich an ein zu schwaches Signal klammerte. In Jensens Arbeitszimmer dominierten Regale fast die gesamten Wandflächen, vollgestopft mit Ordnern, Büchern und Zeitschriften. Diese lieblose Zweckmäßigkeit wirkte erdrückend. Zu hoch und von allem zu viel. Einige Sonnenstrahlen hatten sich wie Bühnenlicht für tanzende Staubkörner durch ein schmutziges Fenster gequetscht, aber der erwachende Frühling blieb weitgehend ausgesperrt.
Jensen sah erschöpft aus, gezeichnet von Chemotherapie und Verfall, kahlköpfig, bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen. Nichts erinnerte mehr an den harten Burschen, der er einst gewesen sein musste, damals, als er parallel zur Polizei nach Janina Nossak suchte. Eric hatte einige Meinungen über ihn gehört und gelesen, hatte alte Fotos und Aufzeichnungen betrachtet und sich in die Strategien dieses Einzelgängers hineinzudenken versucht. Jensen galt als jemand, der Türen ignorierte, wenn Eile geboten war. Der Polizei und den Medien gegenüber hatte er sich selten kooperativ verhalten, bediente sich bei seinen Alleingängen auch gern mal rüder Methoden. Vermutlich war er deshalb nicht allzu lange bei der Polizei geblieben und hatte sich frühzeitig auf private Ermittlungen verlegt.
„Jemand, der immer dahin ging, wo es wehtat“, hatte Eric in einem Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen Jensens vermutet.
„Ich würde eher sagen, er war der, der wehtat“, war dessen Antwort darauf gewesen.
Jensen betrachtete Erics Visitenkarte, kniff die geröteten Augen ein wenig zusammen und musterte seinen Besucher dann nachdenklich über eine Halbbrille hinweg.
„Eric Teubner“, murmelte er. „Der Mann, der mich überraschen will. Ich hatte Sie mir jünger vorgestellt.“
Eric antworte nichts und Jensen schabte sich mit der Karte über sein stoppelbärtiges Kinn.
„Ich habe nichts gegen die Presse. Aber dieser Fall …“
Eric war gespannt, aber es kam nichts mehr.
„Dieser Fall …?“, griff er Jensens Stichwort auf. Der stand auf und trat ans Fenster. Es wurde noch dunkler im Raum. Jensen maß fast zwei Meter, hatte aber deutlich an Gewicht verloren. Pullover und Jeans schlotterten an seinem Körper, und von der Präsenz eines ehemaligen Kampfsportlers war nur noch eine Ahnung geblieben.
„Dieser Fall ist kein Fall mehr“, erklärte Jensen dem dreckigen Fenster. „Er wurde niemals aufgeklärt. Was erwarten Sie nach fünfzehn Jahren? Die Spuren sind kalt. Die Menschen haben vergessen. Einige sind längst tot. Aber Sie meinen, das Rätsel nach so langer Zeit lösen zu können? An dem so viele Experten gescheitert sind? Das Mädchen ist verschwunden. Man sollte es dabei belassen.“
„Es geht mir nicht unbedingt darum, ein Rätsel zu lösen“, entgegnete Eric. „Eine gute Story kann sich in verschiedene Richtungen bewegen.“
Jensen drehte sich zu ihm um.
„Ach ja?“
Eric berichtete ihm von seinem Plan, erklärte seine Entscheidung, statt einer Reportage ein Buch schreiben zu wollen. Ein Buch über eine junge Frau, die vor langer Zeit nach einem umjubelten Livekonzert nie wieder gesehen wurde. Als ob es sie nie gegeben hätte. Keine Spuren, keine Leiche, kein Anruf eines Entführers, keine Hinweise auf ihr Schicksal. Aber was hatte ihr Verschwinden im Leben der anderen ausgelöst? Jenen, die sie gekannt und geliebt hatten. Die sie vielleicht heute noch vermissten. Oder bei denen, die so lange erfolglos nach ihr gesucht hatten? Wie hatte Janinas Schicksal andere Lebenswege beeinflusst? Hatte sie bei einigen Menschen eine Lücke hinterlassen, die sich bis heute nicht geschlossen hatte? Oder heilte die Zeit am Ende doch jede Wunde? Was war von der Vermissten noch präsent? Welche Erinnerungen, Bilder und Geschichten? Und was könnte geschehen sein nach ihrem spektakulären Auftritt im Hier und Jazz? Dieser Abend, an dem viele davon überzeugt gewesen waren, die Geburt eines kommenden Stars miterlebt zu haben. Eine junge Sängerin, die mit eigenwilligen Texten und ungewöhnlichen Melodien ein erstes Ausrufungszeichen in der regionalen Musikszene gesetzt hatte – und verschwand. In Erics Augen war das ein faszinierender Stoff für ein Buch. Janina Nossaks Geschichte hatte es verdient, erzählt zu werden. Wie weit diese Geschichte erzählt werden konnte, hing davon ab, welche fehlende Puzzleteilchen noch gefunden wurden und ob sich mit Intention und Fantasie aus ihnen am Ende ein Gesamtbild erahnen ließ. Diese hoch begabte Künstlerin, die mit intensiver Stimme Abgründe besang, war zum Teil noch immer präsent. Aber die meisten Menschen, die sie gekannt haben wollten, hatten sie als unzugänglich und gebrochen beschrieben. Sie wussten letztendlich erstaunlich wenig von ihr. Die häufigste Beschreibung ihrer Persönlichkeit blieb ein Achselzucken.
Jensen äußerte sich nicht zu Erics leidenschaftlichem Vortrag. Mit angestrengter Miene verzog er sich hinter seinen Schreibtisch. Jede Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er lehnte sich in seinem leicht quietschenden Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen.
„Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?“, fragte er.
„Ich bin Nichtraucher.“
„Ich auch.“ Jensen seufzte. „Seit einer Stunde.“
Eric verdrängte jeden belehrenden Gedanken und blieb auf den Fall Janina Nossak fokussiert.
„Sie haben kurz nach Janinas Verschwinden mit Ihren Nachforschungen begonnen, ist das richtig?“
Jensen öffnete die Augen und musterte Eric argwöhnisch. Er ließ sich viel Zeit, bevor er nickte.
„Demzufolge kannten Sie Janina Nossak nicht persönlich?“
Jetzt wirkte Jensen einen Tick wachsamer, als wittere er Unheil zwischen den betont harmlosen Worten des Journalisten.
„Was soll diese Fragerei?“, brummte er. „Der Vater des Mädchens hat mich nach ihrem Verschwinden mit der Suche beauftragt. Er versprach sich von mir mehr als von der Polizei. Ich dachte, Sie hätten Ihre Hausaufgaben gemacht.“
Eric hatte sein Notebook auf Jensens zerkratztem Schreibtisch platziert und seine Daten direkt vor der Nase. Natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht! Unbequeme Fragen gehörten dazu.
„Ich weiß das, was man mir erzählt hat und was ich aus Akten und Medienarchiven zusammentragen konnte. Es sind Informationen. Fakten sind es für mich erst, wenn sie von verschiedenen Quellen bestätigt wurden.“
„Oha!“ Jensen grinste spöttisch. „Sie sind der Primus Ihrer Zunft.“
„Und Sie?“
„Ich bin Ruheständler und Krebspatient.“
Eric überlegte, ob es angebracht wäre, sich genauer nach Jensens Gesundheitszustand zu erkundigen, eingebettet in etwas Mitgefühl. Aber der Ex-Privatdetektiv schien auf Anteilnahme keinen Wert zu legen. Im Gegenteil. Vermutlich würde er Eric sofort vor die Tür setzen, sollte dieser seine Krankheit thematisieren. Eine Zigarette würde Jensen sicher gnädiger stimmen. Fast bedauerte der Journalist, vor einiger Zeit mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Er musste seinen Gesprächspartner unbedingt bei Laune halten, zumal er noch Einiges von ihm erfahren wollte.
Sein Blick fiel auf Jensens kleine Büchersammlung, eingekeilt zwischen der Übermacht alter Aktenordner. Er studierte die Buchrücken und versuchte einige Titel zu entziffern. Herrigels Die Kunst des Bogenschießens neben Gödel, Escher, Bach von Douglas R. Hofstadter, Salingers Fänger im Roggen. Viele Amerikaner wie Roth, Updike, Irvin und T. C. Boyle, einige Engländer, einige Deutsche, wenige Klassiker und auch einige Eric unbekannte Autoren.
„Ohne Arbeit bleibt nicht viel mehr als Lesen“, erklärte Jensen, der Erics Interesse registrierte. „Und hin und wieder mal ein guter Film.“
„Der Malteser Falke?“, scherzte Eric.
„Der Schwarze Falke“, entgegnete Jensen. „Ich mag es, wenn am Ende das Gute siegt.“
„Wer mag das nicht?“
„Das Böse.“
„Im Fall Janina Nossak scheint das Gute jedenfalls nicht gewonnen zu haben.“
Jensen begann statt einer Antwort von seinem Schreibtisch eine Schublade nach der anderen aufzureißen und nach kurzem Herumwühlen wieder zuzuknallen. Es war offensichtlich, wonach er suchte.
„Was meinen Sie?“, bohrte Eric weiter. „Oder haben Sie gerade Wichtigeres zu tun?“
Jensen unterbrach seine Suche. Sein Gesicht rötete sich leicht. Er knallte die letzte Schublade etwas lauter zu, richtete sich wieder auf und tippte mit hoch konzentrierter Miene seine Fingerspitzen gegeneinander. Seine Haltung strahlte einen Hauch von Zen aus. Eric wusste, dass sich Jensen seit einigen Jahren mit Buddhismus beschäftigte. Jetzt schien er sich zu bemühen, seinen Zorn zu kontrollieren. Als Jensen sprach, klang seine Stimme beherrscht und sanft: „Sie haben sich vermutlich durch viele Akten gewühlt, mit einigen Leuten gesprochen, viel Material gesichtet. Sie haben bestimmt die Aufzeichnung des damaligen Konzerts studiert, kennen zweifellos Janina Nossaks Musik und ihre sonderbaren Texte. Was wollen Sie jetzt eigentlich noch von mir?“
„Ihre Sicht der Dinge.“
„Meine Sicht der Dinge ist das Jetzt. Sie haben behauptet, auf Neuigkeiten im Fall Janina Nossak gestoßen zu sein. Welche? Ich habe keine Lust, mit Ihnen meine Zeit zu vergeuden.“
„Nur noch ein paar Fragen“, bat Eric. „Es ist zum Beispiel nie bekannt geworden, wie weit Sie damals bei Ihren Ermittlungen kamen. Hatten Sie irgendeine Theorie?“
„Nein.“
„Ist das nicht ungewöhnlich?“
„So lange es keine brauchbaren Spuren gibt, sollte man sich jede Theorie verkneifen.“
„Arbeiteten Sie mit der Polizei zusammen?“
Jensen schnaufte.
„Mit Markwart und seinem Team? Nein. Das war nichts für mich.“
„Und Janinas Vater? Was hielten Sie von dem?“
„Er bezahlte mich für den Job. Ich habe mir nie allzu viel Gedanken über Auftraggeber gemacht. Wegen meiner Finanzen konnte ich nicht wählerisch sein. Hören Sie, Ihre Fragen in allen Ehren, aber ich spüre jetzt einen übermenschlichen Drang, mir Zigaretten zu kaufen.“
Eric hob beschwichtigend die Hand.
„Warten Sie.“
3. Kapitel: Nahaufnahmen
Eric hatte die Aufzeichnung an einer bestimmten Stelle auf seinem Notebook gestoppt und spielte Jensen die Szene mehrmals vor, um seine Entdeckung zu verdeutlichen. Janina Nossak hatte ihren letzten Song beendet. Der letzte Ton war verklungen. Es folgten Sekunden gebannten Schweigens. Dann brach ein Orkan der Begeisterung los, der den kleinen Jazz Club erbeben ließ. Janina erhob sich, kam scheu nach vorn zum Rand der Bühne, kontrollierte den Sitz ihres Haars, lächelte und verbeugte sich, schlicht gekleidet in Jeans, Sweatshirt und Sportschuhe.
„Da ist sie noch überwältigt“, erklärte Eric die Bildfolge. „Sie schaut, ohne wirklich etwas zu sehen. So, und nun passen Sie auf, es geht ziemlich schnell. Achtung, jetzt!“
Er stoppte das Bild und vergrößerte es, bis man deutlich Janinas Gesicht sah. Triumphierend blickte er Jensen an.
Der ehemalige Privatdetektiv schien unentschlossen, ob er durch oder über seine Lesebrille hinwegsehen sollte. Er starrte auf Janinas zum Standbild eingefrorenes Gesicht. Auf ihre Augen, die etwas geweitet wirkten, den Mund, der nicht mehr lächelte.
„Ja und?“
Eric seufzte.
„Also noch mal von vorn. Bitte schauen Sie diesmal genau hin.“
Er ließ die Szene in Einzelbildschaltung erneut loslaufen und führte die aus seiner Sicht wichtigste Szene in einer Endlosschleife vor. Seiner Auffassung nach war es eindeutig. Allerdings hatte er sich damit auch schon sehr intensiv beschäftigt. Jensen zeigte keine Reaktion, obwohl er fast in den Monitor kroch.
Lächeln-Erstarrung-Panik-Beherrschung-Lächeln. Eine Sache von Sekunden.
Eric wurde ungeduldig.
„Janina sieht jemanden im Publikum, vor dem sie Angst hat. Das ist doch deutlich zu sehen. Erkennen Sie das nicht? Diese Veränderung in ihrem Gesicht? Es geht sehr schnell. Und dann hat sie sich auch schon wieder im Griff. Es folgen die Zugaben. Und gegen elf Uhr, als die Aftershow-Party startet und die Champagnerkorken knallen, verabschiedet sich Janina Nossak überstürzt von ihrer damals besten Freundin Alexandra Weichert. Ende der Geschichte.“
Jensen starrte weiter nachdenklich auf die rotierenden Einzelbilder und quälte sich zögernd zu etwas ähnlichem wie einem Nicken.
„Es könnte Furcht sein“, gab er zu. „Es könnte aber auch etwas völlig Banales dahinter stecken. Nach meinen Recherchen war Janina Nossak eine verschlossene junge Frau. Der ganze Rummel muss sie sehr belastet haben, vor einem derart tobenden Publikum zu stehen. Vielleicht erschrickt sie nur über diesen plötzlichen Erfolg. Was weiß ich? Ich dachte, Sie hätten eine echte Spur gefunden. Was wollen Sie mit dieser vagen Vermutung anfangen?“
In Eric stiegen Zweifel auf, ob Jensen wirklich noch über jenes Gespür verfügte, das ihn früher ausgezeichnet haben sollte. Seine heutigen Fragen ließen kaum noch Rückschlüsse auf derartige Fähigkeiten zu. Auf der anderen Seite wurde er das Gefühl nicht los, von dem Ex-Privatdetektiv eher provoziert und ausgehorcht zu werden, mit Fragen, die immer nur darauf abzielten, ihn aus der Reserve zu locken und weitere Erkenntnisse und Pläne preiszugeben. Andererseits wollte Eric seinen Gesprächspartner beeindrucken, wollte ihm die heiße Spur unter die Nase reiben, auf die er gestoßen war. Er, der Pressefuzzi, und nicht der einst so hochgelobte Detektiv, dem man wahre Wunderdinge nachsagte.
Eric stoppte die Szene auf dem Notebook und ließ sie in ihrem Ordner verschwinden.
„Ich bin davon überzeugt, dass beim Konzert jemand im Publikum saß, vor dem sich Janina fürchtete. Jemand, der für ihr Verschwinden verantwortlich ist. Der sie vielleicht sogar entführte und umbrachte.“
Jensen gelang eine Kombination aus Nicken und Kopfschütteln.
„Es ist eine Möglichkeit. Eine von vielen.“
„Es ist eine verdammte Spur!“ Eric sprang auf. „Und der werde ich nachgehen. Ich will mit so vielen Konzertbesuchern wie möglich reden …“
„Es gab eine Liste“, warf Jensen ein. „Die SOKO hatte die Personalien sämtlicher Besucher aufgenommen. Eine Garantie für Vollständigkeit gab es natürlich nicht.“
„Die Liste hab’ ich“, sagte Eric. „Sogar einen aktuellen Stand. Einige sind mittlerweile verstorben. Aber es gibt bestimmt Kandidaten, die man etwas genauer unter die Lupe nehmen sollte.“
„Sie wurden damals alle befragt“, sagte Jensen.
Eric machte eine abfällige Handbewegung.
„Ich kenne die Protokolle. Und ich habe mit dem Chef der SOKO gesprochen. Ist längst pensioniert. Carsten Markwart. Der hat noch Unterlagen von diesem Fall bei sich zu Hause. Die Konzertbesucher wurden nur sehr oberflächlich befragt. Aufnahme der Personalien, drei, vier Routinefragen. Ist Ihnen an diesem Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Wann sind Sie gekommen? Wann sind Sie gegangen? Vielen Dank, auf Wiedersehen. Haben Sie während Ihrer Ermittlungen auch Gäste befragt?“
„Einige“, sagte Jensen.
„Haben Sie sich Aufzeichnungen gemacht?“
Er nickte.
„Darf ich die mir ansehen?“
„Ich müsste sie suchen.“
Eric ließ seinen Blick über die Ordner in den Regalen schweifen. Mit schnellen Ergebnissen war nicht unbedingt zu rechnen.
„Werden Sie die Unterlagen auch finden?“, fragte er, immer noch nicht sicher, was er von seinem Gesprächspartner halten sollte.
„Aber klar!“ Jensen erhob sich erstaunlich schwungvoll und lächelte sogar. „Vielleicht haben Sie da ja wirklich etwas Wichtiges entdeckt. Ich werde Sie unterstützen, so gut ich kann. Wen haben Sie als nächstes im Visier?“
„Alexandra Weichert, die jetzt übrigens Reimers heißt.“
Jensen grinste.
„Die gibt’s noch?“
„Ich habe gestern mit ihr telefoniert. Wir werden uns demnächst treffen. Sie war Janinas beste Freundin. Die beiden haben damals zusammen gewohnt …“ Als er Jensens spöttische Miene bemerkte, winkte er ärgerlich ab. „Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?“
„Vor allen Dingen war Alexandra eine ausgebuffte Edelnutte“, ergänzte Jensen. „Eine verdammt attraktive noch dazu. Was macht die denn heute?“
„Verheiratet. Mit einem Reeder.“
„Also immer noch dasselbe.“
„Wann werden Sie die Unterlagen gefunden haben?“ Eric sah den unentschlossen neben dem Schreibtisch stehenden Mann erwartungsvoll an.
„Nun …“ Jensen ließ seinen Blick über die Lesebrille skeptisch an den Regalen mit den Ordnern entlang schweifen.
„Ich melde mich. Dann tauschen wir uns wieder aus.“
Hatte Eric das gerade richtig verstanden? Bot ihm Jensen da so etwas Ähnliches wie eine Zusammenarbeit an? Der Journalist klappte das Notebook zu.
„Okay“, stimmte er zu und erhob sich. Das Gespräch hätte weitaus schlimmer laufen können. Er war zufrieden. Auch wenn Jensen genau genommen konkrete Äußerungen zu diesem Fall vermieden hatte.
Jensen brachte ihn zur Haustür und entließ seinen Besucher in einen der ersten wärmeren Frühlingstage.
Er schien noch etwas sagen zu wollen, blickte dann aber nur grübelnd in seinen verwilderten Garten hinaus. Eine Amsel hatte gerade eine Melodie angestimmt, als ein Flugzeug ziemlich dicht über das Haus donnerte. Beide Männer blickten nach oben.
„Gibt’s noch was, worauf ich achten müsste?“, wollte Eric wissen, nachdem man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte.
Jensen richtete seinen Blick auf ihn und bewegte etwas unschlüssig den Kopf hin und her.
„Wenn sich Janina Nossak tatsächlich vor jemandem fürchtete, dann könne dieser Jemand heute immer noch aktiv sein. Und immer noch gefährlich. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“
„Hätten Sie davor Angst?“, fragte Eric.
Jensen schien die Frage zu amüsieren.
„Ich? Davor, dass jemand mein Leben bedrohen könnte? Das wird schon durch meine eigenen Körperzellen erledigt. Aber Sie sollten sich genau überlegen, was Sie da lostreten. Wenn Sie anfangen, alte Steine umzudrehen, könnte etwas Hässliches drunter hervorkriechen, meinen Sie nicht?“
„Als Journalist lebt man vom Umdrehen solcher Steine. Wir verwandeln hässliche Dinge in Nachrichten.“
„Freut mich, das zu hören.“
„Was kroch denn unter den Steinen hervor, die Sie damals umgedreht haben?“, wollte Eric wissen.
Doch statt einer Antwort ergriff Jensen Erics Hand und leitete endgültig den Abschied ein.
„Reden wir nächstes Mal weiter. Ich bin jetzt doch etwas erschöpft. Viel Spaß mit der Weichert oder wie die jetzt heißt. Ich hoffe für Sie, dass die immer noch so scharf ist. Und lassen Sie sich von der bloß nicht einwickeln.“
Jensen schloss schneller die Tür, als Eric „Tschüss“ sagen konnte.
***
Marie ernährte sich ausschließlich vegetarisch. Marie bevorzugte zum Essen einen guten Rotwein. Und Marie konnte fantastisch kochen. Heute gab es Spaghetti mit ihrem selbsterfundenen Chili-Pesto und vorweg einen gemischten Salat, in dem Blüten und rote Pfefferkörner für bunte Exotik sorgten und geröstete Pinienkerne einen würzigen Duft verbreiteten. Marie hatte einen anspruchsvollen Musikgeschmack, der nach Erics Meinung für ihr Alter viel zu ernst und viel zu streng war. Kein fröhliches Mitsummen aktueller Hits. Kein Pfeifen irgendeines Evergreens. Kein Tanz auf dem Vulkan. Eric hatte sich schon oft gefragt, was in ihrer Erziehung wohl dazu geführt haben mochte, sie schon in jungen Jahren zu einem solch ernsthaften Charakter heranreifen zu lassen, mit hohem Anspruch an sich und ihre Mitmenschen. Ob Job oder Freizeit, sie erarbeitete sich ihr Leben, und da war immer diese kleine entzückende Falte der Skepsis über ihrer Nasenwurzel. Ihre Begeisterung für die alten Klassiker, die feierliche Andacht, mit der sie Bachs Goldberg –Variationen oder Beethovens Diabelli-Variationen zu lauschen vermochte, ihre spezielle Liebe zu Aufnahmen von Karajan oder der Callas, ihre erstaunlich zurückhaltende Meinung zu Mozart, um stattdessen lieber von Schuberts Großer C-Dur-Symphonie zu schwärmen – all das waren Dinge, die Eric von seiner jüngeren Lebensgefährtin gelernt und verinnerlicht hatte. Er fühlte sich wohl in ihrer klugen und fordernden Nähe und spürte, wie gut sie ihm tat. Natürlich gefiel es ihr, ihn mitzunehmen und sein Leben mit Dingen zu bereichern, die ihr wichtig waren und ihm wichtig wurden. Es gab ihm nach ereignisreichen Tagen wie heute Frieden und Sicherheit, mit ihr über eine vegetarische Pasta hinweg Gläser erlesenen Weines zu erheben, dessen Namen er sich nie merken konnte. Das Gefühl, ein echtes Zuhause zu haben. Dabei konnte er sich entspannt Gedanken machen, welchen musikalischen Hintergrund Marie heute ausgewählt hatte.
„Debussy?“, riet er über das erhobene Glas hinweg, weil er meinte, den Impressionismus deutlich heraushören zu können, von dem er vor Marie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte.
Sie lächelte mit einer gewissen Güte.
„Ravel.“
Sie tranken. Der Wein war zum Niederknien. Marie war zum Niederknien. Und Ravel hatte offensichtlich noch andere Stücke außer dem Bolero komponiert. Eric versuchte erfolglos etwas Markantes herauszuhören, was Ravel und Debussy unterschied. Er musste noch viel lernen!
„Wie lief das denn heute mit diesem Jensen?“, unterbrach Marie seine Überlegungen. „War das ein moderner Humphrey Bogart?“
Eric stellte sein Weinglas ab und wischte sich mit der Serviette über den Mund, sich im selben Moment daran erinnernd, dass Marie ihn immer zum Tupfen ermahnte.
„Nun, Jensen hat ungefähr die doppelte Größe von Bogart.“ Er griff nach der Gabel und vermisste den Löffel. Marie deckte nie Löffel zur Pasta. Selbst wenn es Spaghetti gab. Sie hatten zu diesem kleinen Thema bereits große Diskussionen geführt mit dem Ergebnis, dass es weiterhin keine Löffel zu Spaghetti gab.
„Es sind nicht meine Regeln“, hatte Marie erklärt. „Es sind die Regeln des Lebens.“
„Aber wir reden hier immer noch über Nudeln, oder?“
„Nein, wir reden über Lebensart.“
Etwas ungeschickt versuchte Eric, seine Spaghetti gegen den Tellerrand gedrückt auf die Gabel zu drehen, wobei sich ein zu großes Knäuel bildete, was dazu führte, dass er aufgab, sich die Nudeln einfach in den Mund zu schaufeln begann und mit der Gabel nacharbeitete. Marie erhob sich, verschwand in der Küche und brachte ihm einen Löffel.
„Ich nehme dich erst mit nach Venedig, wenn du das ohne Löffel schaffst“. Sie sprach mit ihm wie mit einem kleinen Jungen und manchmal fühlte er sich in ihrer Gegenwart auch wie einer. Dabei hatten ihm Freunde zu Beginn seiner Beziehung mit Marie das Gegenteil prophezeit, nämlich, dass er sich neben ihrer Jugend bald verdammt alt fühlen würde. Doch dieser Fall war bis jetzt noch nicht eingetreten. In Maries wohl geformtem, jungem Körper wohnte eine feine, gut erzogene und kultivierte Dame, während in seinem immer noch ganz gut trainierten Körper ein Junge hauste. Ein Junge, der nicht gern aufräumte, mit Vorliebe bei McDonalds Fritten mit der Hand verspeiste, während er sich auf einen fettigen Hamburger freute. Ein Junge, der dreckigen lauten Rock liebte und das gelegentliche Kiffen vermisste.
„Jensen ist am Ende“, erzählte er Marie und gestand sich die ernüchternde Erkenntnis auch gleich selbst ein. „Ein Wrack. Der Krebs scheint ihn aufzufressen. Es war ein echt komisches Gespräch. Wie beim Pokern. Jeder hielt sein Blatt in der Hand und versuchte zu bluffen. Nur hat er das besser gemacht. Denn ich hatte ein Fullhouse auf der Hand, und er hatte praktisch nichts. Ich habe die guten Informationen geliefert, und er hat nur herum orakelt und mich gewarnt.“
„Dich gewarnt?“
„Vor irgendwelchen dunklen Mächten, die wegen meiner Recherchen unter Steinen hervorkriechen könnten. Die Geister der Vergangenheit und dieser Kram.“
Er lachte und leerte, trotz Maries mahnendem Blick, sein Weinglas wie einen Bierhumpen, um sich dann noch einmal randvoll nachzuschenken.
Marie lächelte etwas gequält.
„Ich verstehe. Das alte Wrack hat dich also ausgetrickst und zur Vorsicht gemahnt. Immerhin ist damals eine junge Frau verschwunden. Und wenn ich das richtig verstanden habe, weiß bis heute keiner warum und was aus ihr geworden ist.“
Eric stellte die Rotweinflasche ab und eine kleine dunkle Wolke zog durch seine gute Laune.
„Weißt du“, sagte er und drehte die Spaghetti an dem Löffel deutlich geschickter zu einer mundgerechten Portion auf. „Ich denke, ich habe dem alten Wrack mal gezeigt, was gute Ermittlungen sind. Die alte Spürnase scheint doch ziemlich verstopft zu sein.“
„Er hat dich also herausgefordert, und dann hast du es ihm mal so richtig gezeigt“, stellte Marie fest. „Und deine ganzen Karten auf den Tisch gelegt.“
„Aus deinem Mund klingt meine Rolle ziemlich dämlich.“ Eric leerte erneut das Glas und schenkte sich gleich nach. „Aber so lief das nicht. Glaub mir, das ist meine verdammte Story. Ich weiß es. Und ich kann nur hoffen, dass Jensen lang genug durchhält, um meinen Triumph mitzuerleben.“
Marie stand auf und verließ wortlos das Esszimmer. Sie kehrte – immer noch schweigend – zurück und platzierte vor Erics Nase – direkt neben dem Schälchen mit dem groben Parmesan – einen gefalteten Zettel.
Unsicher starrte Eric den Zettel an.
„Was soll das?“
„Den hatten wir heute im Briefkasten.“
„Ja und?“
„Lies!“
Er faltete den Zettel auseinander. In sauberen großen Buchstaben stand dort:
ERSTE WARNUNG!
Eric starrte lange auf diese beiden Worte, als würde er deren Sinn nicht begreifen.
„Was ist das?“, fragte er mehr in den Raum als Marie. Sie antwortete trotzdem.
„Eine erste Warnung, würde ich sagen.“
Eine Weile lauschte Eric Ravels traurigen Pianoklängen und fragte sich, ob fröhlichere Musik zum Essen nach Maries Meinung unanständig war. Er aß eine Weile schweigend weiter und starrte auf die Botschaft. Erste Warnung!
„Weißt du, was das bedeutet?“, wandte er sich dann an seine Freundin, die ihn während seiner Grübeleien erwartungsvoll beobachtet hatte.
„Dass du bedroht wirst?“
Er schüttelte grinsend den Kopf.
„Dass ich auf der richtigen Spur bin – und jemanden jetzt schon aus seinem Loch getrieben habe.“
„Na, großartig!“, sagte Marie. So, wie sie es sagte, klang es eher nicht begeistert.
Später räumte Eric das Geschirr in die Spüle. Wer gekocht hatte, war von der Küchenarbeit befreit. Das war die Regel. Marie saß am Frühstückstresen mit einem Rest Wein in ihrem Glas. Zufrieden schaute sie Eric beim Arbeiten zu und reflektierte ihren Tag. Sie wurde in der Redaktion zunehmend unzufriedener, was Eric nachvollziehen konnte. Ein Job als Assistentin widersprach ihrem Naturell. Nicht, dass ihr die Fähigkeit fehlte, sich unterzuordnen oder die Autorität von Vorgesetzten zu akzeptieren. Doch sie wusste und konnte so viel mehr als viele andere und sehnte sich nach Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Eric kannte ihren Vorgesetzten Nils Burkhardt ganz gut und hatte schon öfter angeboten, für sie ein gutes Wort einzulegen. Keine gute Idee! Solche Vorschläge machten sie nur noch verdrossener.
„Ich will einfach eine faire Chance“, sagte sie. „Stattdessen buche ich Reisen, führe in Meetings die Protokolle, arbeite meinem Chef zu, plane seine Termine, mache Telefonrecherche, ertrage Vicky Fabians hohles Gequatsche und sage Nils vor jeder Besprechung, wie cool er aussieht.“
Eric verharrte in der gebückten Haltung vor der Geschirrspülmaschine, richtete sich langsam auf und drehte sich um.
„Nils sieht cool aus?“
Marie runzelte die Stirn und spitzte den Mund.
„Ziemlich.“
„Cooler als ich?“
Er nahm eine übertrieben bedrohliche Haltung an.
Sie lachte und hob abwehrend die Hände.
„Das ist natürlich unmöglich.“
Er nickte befriedigt und sortierte pfeifend das restliche Geschirr ein.
„Eine faire Chance“, wiederholte Marie.
„Sag es ihm doch einfach.“
„Hab’ ich schon.“
„Und was hat dieser nicht ganz so coole Typ wie ich gesagt?“
„Geduld, Geduld, Geduld.“
„Oder du musst kündigen“, schlug Eric vor und kam zu ihr und seinem Weinglas. Sie stießen kurz an.
Marie nickte.
„Hab’ ich auch schon überlegt. Vielleicht lenkt er dann ein. Und wenn nicht, suche ich mir tatsächlich was Neues. Leben heißt Veränderung, stimmt’s?“
„Beruflich ja, privat nein“, entgegnete Eric und betrachtete sie mit einem Gefühl tiefer Liebe. Aber sie war viel zu sehr mit ihrem Problem beschäftigt, um das zu bemerken. Das war egal. Sie war bei ihm, und das machte ihn glücklich.
„Ich liebe dich“, sagte er, froh darüber, es dieses Mal zuerst gesagt zu haben. Sie konnte mit den Augen lächeln. Und genau das tat sie jetzt.
4. Kapitel: Gute alte Feinde
Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Carsten Markwart stand in seiner geöffneten Haustür, musterte Jensen wie eine Erscheinung und zeigte sich wenig erfreut über dessen Besuch. Zögernd trat er zur Seite und ließ den ehemaligen Privatdetektiv in seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Seit dem Tod seiner Frau Nicole vor zwei Jahren hatte er nur selten jemandem Zugang gewährt. Mit ihr war die Wohnung ein Heim gewesen. Danach hatte sie sich in eine Gruft verwandelt, der er nur noch gelegentlich entkommen konnte. Seine Einsamkeit bekämpfte er mit dumpfem Fernsehkonsum. Seine Trauer mit Alkohol. Die einzige Tochter lebte glücklich verheiratet in Toronto und bewies ihre Existenz höchstens mal durch hastig gekritzelte Postkarten oder Anrufe, bei denen sie immer klang, als komme sie gerade von einem Marathonlauf. Eine Zeitlang hatte Markwart noch die ehemaligen Kollegen besucht, sich mit dem einen oder anderen auf einen Kaffee oder ein Bier verabredet. Bald hatte er einsehen müssen, dass ein Ruheständler nicht mehr dazu gehörte, auch wenn sich die Jungs Mühe gaben, ihn weiterhin in ihre Welt einzubeziehen. Es funktioniere einfach nicht, und so ließ er es schließlich. Natürlich dachte er oft an Thea Dreyer. Sie hatte damals zu seinem Team gehört. Sie war für ihn etwas ganz Besonderes gewesen und möglicherweise wäre einiges in seinem Leben anders gelaufen, wenn es vor fast zehn Jahren nicht diese verhängnisvolle Schießerei gegeben hätte. Eigentlich war es reine Routine gewesen, im Zusammenhang mit einer Fahndung. Thea hatte zwei Beamte einer Zivilstreife begleitet. Ein verdächtiger Wagen wurde kontrolliert. Zwei junge Burschen – zugedröhnt bis unter die Haarwurzeln – hatten sofort das Feuer eröffnet. Die beiden Zivilfahnder waren auf der Stelle tot. Thea überlebte schwer verletzt. Als Markwart sie später besuchte, von ihrer Lähmung erfuhr, erschüttert von ihrem Leid und ihren Tränen, bedrängt von ihrem Flehen … da war er geflüchtet. Hatte versucht, ihr Elend fortan aus seinem Leben zu verbannen. Um nicht wieder mit ihrem Betteln konfrontiert zu werden, dass er sie von ihrem Leid erlöse. Das verlangte sie ausgerechnet von ihm! Auf seiner Flucht aus dieser unerträglichen Lage fand Markwart zurück zu seiner unerschütterlichen Frau und klammerte sich wieder an das Leben, das er für Thea eigentlich hatte aufgeben wollen. Er wäre auch zu der anderen Thea gegangen, die im Rollstuhl saß, wenn sie ihn nur gelassen und noch einen Hauch Lebensmut gezeigt hätte. Denn er allein war für sie beide zu schwach. Ein guter und harter Bulle, das war er immer gewesen, aber außerhalb seines Jobs brauchte er eine starke Partnerin. Nicoles Stärke hatte schon immer für zwei gereicht. Sie hatte den Glauben an ihn nie aufgegeben, hatte ihm vieles verziehen. Ihr eiserner Wille hatte bis zu ihrem Tod eine zuletzt bröckelnde Ehe getragen. Danach war nichts mehr geblieben. Seitdem hatte sich Markwart mit der Frage gequält, was er mit diesem verdammten Rest seines Daseins anfangen sollte. Freunde hatte er nicht. Nicht mal gute Bekannte. Sein Job hatte sich zusätzlich von Freizeit ernährt, und den kostbaren Rest Privatlebens hatte er mit Nicole verbracht, nachdem er mit seiner unbeholfenen Schwärmerei für Thea gescheitert war. Nicht wegen Theas Unglück, sondern weil sie ihn ausgrenzte. Nicht, weil seine heimliche Liebe im Rollstuhl landete, sondern weil Markwarts Dienstwaffe für sie wichtiger wurde als seine Nähe. Ohne Frau, ohne Freundin und ohne Job war es in seinem Leben eng und still geworden. Sein Sarg hatte zwei Zimmer, Küche und Bad.
Markwart hatte das bittere Gefühl, dass Jensen sein Elend auf den ersten Blick erfasste. Das Einzige, was ihn mit diesem demütigenden Moment versöhnte, war der Zustand des einst so unbezwingbaren Mannes, der ihm während seiner Polizeiarbeit so oft in die Quere gekommen war. Auch Jensen war nur noch ein Schatten seiner selbst und von schwerer Krankheit gezeichnet. Das beruhigte Markwart auf perfide Weise. So schienen sie beide am Ende ihres Weges angekommen zu sein und begegneten sich selbst im Niedergang auf Augenhöhe.
„Du siehst erbärmlich aus“, stellte Markwart fest, während er seinen Besucher ins Wohnzimmer führte.
„Danke, gleichfalls“, erwiderte Jensen.
Markwart machte eine vage Geste, um Jensen einen Platz anzubieten, doch der hatte sich bereits für Markwarts Lieblingssessel entschieden. Der ehemalige Kriminalhauptkommissar blieb unschlüssig stehen und betrachtete den Eindringling aus schmalen Augen.
„Was trinken?“
„Bier.“
Markwart blickte stirnrunzelnd auf seine Uhr, was Jensen mit einem ironischen Lächeln quittierte.
„Zu früh?“
Markwart holte statt einer Antwort zwei Dosen Bier aus der Küche. Natürlich war es für ihn nicht ungewöhnlich, vormittags mit dem Trinken zu beginnen, aber in Gesellschaft hatte er das schon lange nicht mehr gemacht. Zu seiner Überraschung empfand er es nicht als unangenehm, obwohl er für Jensen keine Sympathien hegte.
„Es geht mir scheiße“, stellte Jensen nach dem ersten tiefen Zug aus der Dose klar.
Markwart nickte.
„Ich hörte davon.“ Um dann bekümmert hinzuzufügen: „Nicole starb vor zwei Jahren. Gehirnblutung. Seitdem …“
Jensen nickte. Das Seitdem kannte er aus eigener Erfahrung. Er selbst war nie verheiratet gewesen. Seine wichtigste Beziehung hatte außerhalb üblicher Regeln stattgefunden. Das Verlustgefühl, das die Trennung damals in ihm hervorgerufen hatte, war nicht minder schmerzlich gewesen. Aber das war eine andere Geschichte. Markwarts Frau hatte er vor vielen Jahren auf einem Empfang kennengelernt. Sie hatte an Markwarts Seite wie die Sonne neben einer Regenwolke ausgesehen.
„Sie war eine fantastische Frau“, sagte Jensen. „Ich frage mich bis heute, wie sie auf einen Typen wie dich reinfallen konnte.“
Markwart lächelte dankbar. Es tat gut, das zu hören. Er litt noch immer unter dem Schuldgefühl, Nicoles Treue nie richtig gewürdigt zu haben. Beklagt hatte sie sich nie. Ihr war es immer nur um Haltung und Außenwirkung gegangen. Vorsichtig nippte Markwart an seinem Bier. Es sollte nicht routiniert wirken. Wäre er allein, hätte er die erste Dose in wenigen Sekunden geleert und noch bevor er sie abstellte gleich zur nächsten gegriffen.
„Wie lange bleibt dir noch?“ Er sah Jensen mehr interessiert als mitfühlend an.
Der zuckte mit den Schultern.
„Ärzte legen sich nicht so gern fest. Zumal ich mich aus der empfohlenen Therapie ausgeklinkt habe. Mein Heilpraktiker meint, ich werde die Zeit haben, die ich brauche.“
„Aha. Und wie viel Zeit ist das?“
Jensen sah an ihm vorbei.
„Stört es dich, wenn ich rauche?“
Markwart starrte ihn entgeistert an.
Jensen hob beide Hände.
„Ich sterbe so oder so, okay?“
Markwart verschwand und kehrte mit einem Aschenbecher und dem Rest des Sixpacks zurück.
„Was willst du hier? Soll ich dir beim Sterben zusehen?“
Jensen zündete sich eine Zigarette an und rauchte ohne zu inhalieren.
„Es gibt da einen Journalisten. Eric Teubner.“
Markwart nickte.
„Kenne ich. Der war hier.“
„Bei mir auch.“
„Na und?“
„Was hältst du davon?“
Markwart machte endlich mit seiner Bierdose kurzen Prozess und öffnete die nächste. Das kurze Zischen stimmte ihn froh. Er hatte keine Lust mehr, sich vor einem Mann zu verstellen, der trotz Lungenkrebs seine Bude vollqualmte.
„Was soll ich schon davon halten? Der wühlt in diesem verfluchten alten Fall herum und wird sich daran die Zähne ausbeißen wie wir alle. Ich habe nichts erreicht. Du hast nichts erreicht. Wir haben alle versagt. Das sind diese Fälle, die sich unseren Regeln entziehen. Es sind die Fälle, die einem den Schlaf rauben, die wahrscheinlich zu den letzten qualvollen Gedanken gehören werden, bevor man endgültig den Arsch zukneift.“
„Bist du dir sicher, damals wirklich alles getan zu haben?“
Markwart stierte Jensen nach dieser Frage missmutig an und wusste wieder, warum er ihn nicht mochte.
„Ich hatte schon fast vergessen, was für ein arrogantes Arschloch du bist. Schön, dass du mich daran erinnerst!“
Jensen winkte beschwichtigend ab.
„So war das nicht gemeint. Ich will nur wissen …, ich meine, ihr hattet Verdächtige. Ihr hattet Theorien. Ihr wart eine gute Truppe.“
„Erzähle mir mal Sachen, die ich noch nicht weiß. Wo hast du denn damals herumgeschnüffelt? Und warum hat auch der große Sherlock Holmes keine Spur gefunden? Immerhin konntest du Wege gehen, die uns verschlossen blieben. Du hattest Kontakte, von denen wir nichts wussten. Konntest Methoden anwenden, die für uns nicht in Frage kamen. Hast du damals wirklich alles getan, Klugscheißer?“
„Ich habe getan, was ich konnte.“
„Viel war das nicht.“
„Hast du tatsächlich Akten des Falls mit nach Hause geschleppt?“, fragte Jensen. „Teubner erzählte mir davon.“
Markwart gab keine Antwort. Er betrachtete seine Bierdose, als fände er darauf wichtige Informationen für das Gespräch.
„Ich will mir ein paar eurer Verhörprotokolle ansehen“, drängte Jensen.
„Wofür soll das gut sein? Willst du die alte Spur wiederaufnehmen?“ Markwart lachte verächtlich. „Die paar Stufen bis zu meiner Wohnung haben dich doch schon geschafft. Du solltest die Finger von anstrengenden Sachen lassen.“
„Ich will die verdammten Akten sehen“, beharrte Jensen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und sah den ehemaligen Kriminalbeamten beschwörend an. „Du hast sie einem verdammten Presseheini gezeigt! Ich habe mehr Recht darauf, sie zu sehen!“
Markwart seufzte. „Ein paar Unterlagen. Keine offiziellen Akten, damit das klar ist. Ich hab’ mir damals nur einige Informationen aus dem Computer ausgedruckt. Damit ich sie mir in Ruhe zu Hause ansehen konnte. Hatte immer das Gefühl, irgendwas Wichtiges zu übersehen.“
„Ihr hattet den Vater von Janina mehrfach im Verhör“, erinnerte Jensen. „Der Typ war verschlagen. Seine Vernehmungsprotokolle würde ich gern sehen. Möglichst alle.“
Markwart nickte.
„Also, der Typ war echt speziell. Klar hat der uns verarscht. Aber wir konnten ihm nichts nachweisen. Diese Freundin von der kleinen Nossak, wie hieß die noch gleich …?“
„… Weichert. Alexandra Weichert.“
„Genau. Diese Edelnutte. Die hatte Nossak wiederholt schwer belastet. Missbrauch. Aber es gab keine Beweise dafür. Nichts. Und Janina Nossak konnten wir nicht mehr dazu befragen. Wir sollten uns ihre Texte anhören, hat die Weichert gesagt. Ich habe sie mir tausend Mal angehört. Mir kamen die Tränen, verstehst du! Nur kannst du auf dieser Basis niemanden festnehmen.“
„Aber ihr habt Nossak richtig durch die Mangel gedreht.“
„Was willst du hören? Folter war auch damals nicht erlaubt. Ich habe ihn verdammt zum Schwitzen gebracht!“
„Der Typ hat grundsätzlich geschwitzt.“
„Auf jeden Fall sind wir bis an die Grenzen gegangen. Er hatte einen cleveren Anwalt. Kann mich nicht mehr erinnern wie der hieß. Clever war der Bursche!“
Markwart war schon bei der dritten Bierdose und Namen spielten keine Rolle mehr. Aber etwas von dem alten Jagdfieber brach durch das Gespräch mit Jensen wieder aus. Man blieb Bulle. Auch im Ruhestand!
Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine winzige Lücke.
„So dicht stand ich manches Mal davor, Nossak die Scheiße aus dem Leib zu prügeln, ehrlich! Dieser schmierige Taxifahrer.“
„Er war Taxiunternehmer.“
„Er war ein verdammtes Arschloch. Und du hast für ihn gearbeitet. Hat dich das nicht gestört, für einen solchen Mistkerl zu arbeiten?“
„Ich brauchte die Kohle.“
„Und dafür hast du deine Berufsehre verhökert?“
„So hast du das damals gesehen?“
„Wir alle haben das so gesehen. Damals wie heute!“
Jensen lachte.
„Ganz ehrlich, was ihr gedacht habt, war mir scheißegal. Letztendlich hat jeder von uns nach dem Mädchen gesucht. Und ob nun mit oder ohne Berufsehre, wir sind alle nicht weit gekommen.“
Markwart trank Bier und stieß unterdrückt auf.
„Hast du Nossak nie misstraut?“, wollte er wissen. „Nie das Gefühl gehabt, dass er da irgendwie mit drin hängt? Und dann dieser merkwürdige Unfalltod in der Silvesternacht. Ich hab’ auf eine genauere Untersuchung gedrängt, aber die zuständigen Stellen haben den Bericht als Unfall ohne Fremdverschulden abgeschlossen.“
Jensen gähnte.
„Wen interessiert das heute noch? Ein Schwein weniger.“
„Ein Schwein, das uns vielleicht hätte weiterhelfen können.“
Jensen schüttelte den Kopf.
„Den habt ihr doch nun wirklich oft genug befragt und absolut nichts erreicht. Also vergiss es. Wo sind jetzt die verdammten Unterlagen?“
Markwart stemmte sich ächzend hoch.
„Werd sie holen. Noch ein Bier? Nimm ruhig. Ist genug da.“
Jensen griff sich die nächste Dose und suchte nach seiner Zigarettenpackung. Er schien es kaum erwarten zu können, endlich die alten Unterlagen prüfen zu dürfen. Gern hätte er welche mitgenommen, aber Markwart lehnte das entschieden ab. Keine davon durfte seine Wohnung verlassen. So bot er Jensen nur Einblick in die Akten, während er daneben saß, wachsam wie ein Kaufhausdetektiv. Der nutzte Markwarts Angebot sehr intensiv und las viele Protokolle mit höchster Aufmerksamkeit durch. Gelegentlich brummte er vor sich hin, ab und zu schüttelte er auch den Kopf. Nachdem er fertig war, schien er irgendwie erleichtert zu sein.
„Und? Zufrieden?“, Markwart musterte ihn misstrauisch.
„Solide Verhörtechnik“, entgegnete Jensen.
„Hast du was gesucht?“
„Nichts Spezielles.“ Jensen leerte hastig seine Bierdose und strahlte plötzlich Aufbruchsstimmung aus.
Eine Antwort, die Markwart verärgerte.
„Du warst nie ein Teamplayer“, beschwerte er sich. „Geben und nehmen. Davon hast du wohl noch nie was gehört.“
„Hör zu, Markwart. Danke für die Akteneinsicht. Ich wollte einfach nur wissen, was Nossak euch gesagt hat. Ob er euch andere Dinge erzählt hat als mir. Dass er ein Arschloch war, wusste ich sowieso. Aber es ging um seine Tochter.“
Markwart schwieg. Er hatte keine Lust, sich mit Jensen weiter zu unterhalten. Freunde würden sie in diesem Leben nicht mehr werden. Als sein Besucher gehen wollte, brachte er ihn bis zur Tür. Die beiden Männer gaben sich eher widerwillig die Hand, als würden sie mit dieser Geste eine Grenze überschreiten.
„Alles Gute“, sagte Jensen.
Markwart brummte eine kaum verständliche Antwort, die mehr wie „Leck mich am Arsch“ klang.
Später saß er in der Stille seiner Wohnung und malte sich aus, Thea anzurufen. Einfach so. Er kannte ihre Telefonnummer und Adresse und wusste, dass sie mittlerweile bei ihrer verwitweten Schwester lebte. Die konnte sie als gelernte Krankenschwester im schwierigen Alltag einer Behinderten unterstützen.
Markwart hatte ein altes Fotoalbum hervorgekramt. Erinnerungen an gute und meist erfolgreiche Dienstjahre. Das Team, ein verschworener Haufen, den er für besondere Fälle immer wieder zusammenzog. Es hatte lange gut gepasst.
Er erinnerte sich an eine Dienstreise mit Thea. Sie hatten sich in Wiesbaden abends in der Hotelbar in Stimmung geredet und getrunken. Thea hatte offen mit ihm geflirtet, ihn herausgefordert und gereizt. Er hatte ganz kurz davorgestanden, alle Prinzipien über Bord zu werfen und mit einer Kollegin eine Affäre zu beginnen. Das sollte der Anfang für etwas Großes werden. Der Beginn seines neuen Lebens. Aber ihm fehlte am Ende die Übung, erst einmal den ersten Schritt in dieses neue Leben zu machen. Er war nicht charmant und redegewandt. Vor allen Dingen nicht entscheidungsfreudig. Nach einem wilden Kuss mit Thea im Fahrstuhl verließ ihn vor ihrer Hotelzimmertür der Mut. Da war ihre Bluse schon offen. Er hätte seine heimliche Liebe in dieser Nacht haben können, doch er murmelte stattdessen etwas von „müde“ und „früh aufstehen“ und flüchtete vor der Gelegenheit und den damit verbundenen Konsequenzen in sein Hotelzimmer.
Auch wenn mit Thea nichts gewesen war, hatte Nicole trotzdem sofort die Veränderung bei ihrem Mann gespürt. Er konnte ihr nicht mehr in die Augen schauen. Wich ihren Liebkosungen aus. Versuchte es einfach auf einen aktuellen Fall zu schieben. Sie steckten ja immer in irgendeinem Schlamassel. Es war vier Wochen vor dem tragischen Zwischenfall, der Theas Leben so grundlegend verändern sollte.
Dass er ein Verhältnis habe, sagte ihm Nicole eines Abends auf den Kopf zu. Und er widersprach nicht, denn in Gedanken hatte er seine Frau mit Thea schon oft betrogen. Keine Tränen! Sie tobte und klagte nicht. Sie war die Frau eines Bullen. Haltung war alles. Wie immer studierte sie aufmerksam seine Reaktion, um ihren nächsten Schritt zu setzen. Sie gab nie auf.
„Du musst abwägen“, sagte sie zu ihrem Mann. „Was du gewinnst und was du verlierst. Aber warte nicht zu lange. Eines Tages werde ich nicht mehr da sein.“
Vermutlich hatte sie keine Ahnung, wie weit seine Entscheidung, sie zu verlassen, in diesem Moment schon gereift war. Es musste nur noch ein letzter Rest an Zweifel überwunden werden. Doch wie so oft im Leben war gerade dieser Rest äußerst schwerwiegend.
Als Thea kurze Zeit später mit schweren Schussverletzungen im Krankenhaus im Koma lag, blieb er jede freie Minute neben ihrem Krankenbett, und es war ihm egal, was Nicole oder die Kollegen dachten. Als sie wach wurde, war er für sie da. Nachdem sie erfahren hatte, dass sie nie wieder würde laufen können, tröstete er sie. Aber als sie ihn um Erlösung anflehte, gab er sehr schnell auf.
Nicole war eine kluge Frau. Sie wusste genau, ab wann sie gewonnen hatte. Es war der Abend, an dem Markwart erschöpft aus dem Krankenhaus heimkehrte und mit Enttäuschung und Tränen kämpfte. Der Abend, an dem ihm Thea endgültig entglitten war, mit ihrer Sehnsucht nach dem Tod. Da hatte Nicole ihren Mann nach langer Zeit zum ersten Mal wieder umarmt und festgehalten. Sie hatte ihn weinen lassen in ihren Armen und alles gesagt, was er hören wollte. Er hatte sich an ihr festgeklammert wie ein Ertrinkender. Sie kochte ihm wieder sein Essen, bügelte wieder seine Hemden, und sie gaben sich wieder den üblichen Abschiedskuss. Wenn er abends heimkam, fragte Nicole ihn, wie sein Tag gewesen sei, und er sagte „Gut“, obwohl alle Tage öde verliefen.
Und so erreichte er seinen Vorruhestand, plante mit Nicole den Rest ihres gemeinsamen Lebens. Doch bevor sie damit beginnen konnten, machte ihnen das Schicksal einen Strich durch die Rechnung.
Nach zahlreichen Dosen Bier, die er abends intus hatte, vermischten sich in Markwarts Kopfkino wieder die Erinnerungsfilme.
Da küsste er zum Abschied eine verständnisvolle Nicole und ging dann mit Thea ins Happy End. Die Bilder waren in Schwarz-weiß. Er war ein Bulle. Er sorgte dafür, dass das Gute am Ende siegte. Alle Fälle gelöst, alle Mörder gefasst, alle Vermissten gefunden. Jensen ein letztes Mal in den Arsch getreten. Er warf eine halbvolle Bierdose nach den Gespenstern und traf die Glastür des Wohnzimmerschranks, die mit lautem Knall zersplitterte. Träge betrachtete er die offenen Aktenordner auf dem Wohnzimmertisch, in denen Jensen vorhin so aufmerksam geschnüffelt und geblättert hatte. Ganz sicher hatte der etwas Spezielles gesucht! Vielleicht sogar gefunden. Irgendetwas stimmte da nicht.
5. Kapitel: Alexandra
Bisher hatte Eric mit Blankenese nur wenig Berührung gehabt. Dieser weitgehend dörflich anmutende Stadtteil mit seiner für eine Großstadt eher untypisch verwinkelten Beschaulichkeit hatte selten zu seinem Hamburger Alltag gepasst. Im Kern weitgehend ohne störenden Verkehr bot das vornehme Treppenviertel mit seinen pittoresken Häusern in gepflegten Gärten viele Gelegenheiten zum Innehalten, um die malerischen Ausblicke auf die Elbe zu genießen. Nach Blankenese brachte man bevorzugt Besucher von außerhalb, damit sie mal etwas anderes zu sehen bekamen als Reeperbahn, Alster oder Hafen. Umgeben von viel Grün schmiegten sich gepflegte Häuser und Villen an den Süllberg und seine Umgebung und die Postkarten-Idylle hielt sogar bei näherer Betrachtung das, was sie – besonders vom Wasser aus gesehen – versprach: eine der schönsten Gegenden Hamburgs, in der das Wohnen noch „unbezahlbarer“ war, als im Rest der ohnehin schon teuren Hafenstadt. Es war ein geradezu unvermeidliches Klischee, sich ausgerechnet hier mit der Frau eines honorigen Geschäftsmannes zu treffen. Wo sonst sollte ein millionenschwerer alteingesessener Hamburger Reeder mit seiner Gattin wohnen?
Mit ihr hatte sich Eric vor dem S-Bahnhof Blankenese verabredet. Mittlerweile hieß sie Reimers und war seit acht Jahren verheiratet. Ihr Ehemann Christian, so hatte Eric herausgefunden, hatte sich gegen erbitterte Widerstände innerhalb der Familie für sie entschieden, und es hatte Jahre gedauert, bis bei den weit verzweigten Reimers wieder Ruhe eingekehrt war. Die Frau, die den Journalisten am S-Bahnhof mit einem großen Hund empfing, erinnerte kaum noch an die aufregende Blondine, die Eric auf den alten Fotos und in einigen Aufzeichnungen aus den neunziger Jahren hatte bewundern können. Am Bahnhof traf er auf eine ungeschminkte rundliche Frau mit kurzem Haar, die in salopper Kleidung überflüssige Pfunde zu kaschieren versuchte und deren natürliches Lächeln sofort sein Vertrauen weckte. Mit einem ehemaligen Partygirl oder einer mondänen Luxusprostituierten war ihre heutige Erscheinung nicht mehr in Einklang zu bringen. Dennoch handelte es sich zweifellos um Janina Nossaks frühere Freundin und Mitbewohnerin aus der Studienzeit. Die Frau, die damals lieber anschaffen gegangen war, als ein begonnenes Musikstudium zu beenden. Die Frau, die um ihre verschwundene Freundin vor laufenden Kameras bittere Tränen vergossen und die vor allen Dingen Janinas Vater bis zuletzt schwer belastet hatte. Sogar noch nach dessen Unfalltod.
„Das ist Sammy“, stellte Alexandra Eric gutgelaunt ihren Hund vor. „Sammy, sag schön guten Tag.“
Sammy kläffte kurz, und es klang tatsächlich wie eine Begrüßung.
„Rottweiler“, vermutete Eric einigermaßen fachkundig und blieb auf Distanz. „Aber nicht nur, stimmt’s?“
„Ein bisschen Schäferhund, viel Rottweiler und das Gemüt vom Berner Sennenhund“, erklärte Alexandra stolz. „Von allem nur das Beste.“
Sie kraulte Sammys breiten Schädel, der sofort wohlig die Augen zukniff und den Kopf zu Seite drehte.
„Okay!“ Alexandra Reimers strahlte den Journalisten unternehmungslustig an. „Sie dürfen Sammy und mich auf unserer täglichen Vormittagstour begleiten. Während dieser Zeit können wir reden. Und dann ist auch mal gut. Mir blutet jetzt schon wieder das Herz. Die Erinnerungen an Janni kommen hoch und ich könnte sofort losheulen. Ich ertrage das einfach nicht mehr!“
Eric nickte.
Sie schlenderten Richtung Markt und später über die Blankeneser Hauptstraße immer weiter bis zur ersten Treppe, die zum Strandweg hinunter an die Elbe führte.
„Treppensteigen macht Ihnen hoffentlich nichts aus“, sagte Alexandra und zwinkerte dem Journalisten zu.
Sie erwies sich als mitteilsame Gesprächspartnerin, die allerdings sehr sprunghaft und wenig chronologisch erzählte. Von Fragen ließ sie sich kaum beirren. Meistens redete sie einfach weiter an ihnen vorbei und wich auf diese Weise beharrlich Themen aus, die Eric besonders interessierten. Ab und zu gelang es ihm, den unsortierten Redefluss der Frau zu unterbrechen und in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Erschwert wurde das Ganze allerdings durch Sammy, der selten auf Kommandos hörte, was dazu führte, dass Alexandra das Gespräch oft mitten im Satz abbrach, um ihren eigensinnigen Hund zur Ordnung zu rufen.
Sammy sitz! Sammy steh! Sammy bleib’! Sammy komm her! Sammy ruhig! Sammy pfui!
Trotz einer augenfälligen Disziplinlosigkeit besaß Sammy die angenehme Eigenschaft, auf kläffende Hunde, die ihnen ab und zu begegneten, nicht zu reagieren. So trabte er an rüpelhaft bellenden Artgenossen ebenso erhaben vorbei wie an den meisten Befehlen seiner Besitzerin. Ihr schien es nicht viel auszumachen. Und trotz allem kamen sie gut voran, die Reeders-Gattin, der Journalist und der kernige Mischlingshund.
„Ich sprach gestern übrigens mit Frank Jensen“, erzählte Eric.
„Dieser verdammte Schnüffler!“, rief Alexandra aus. „Den hatte Jannis Vater damals mit der Suche nach ihr beauftragt. Der hat sich aufgeführt wie einer von der Stasi. Jedenfalls habe ich mir diese Typen immer so vorgestellt. Egal was er fragte, man fühlte sich sofort schuldig. Okay, sagte ich mir damals, so ein Typ findet Janina noch am ehesten, weil der bestimmt auch Leute verprügelt, um an Informationen zu kommen. Mich hat er wie Dreck behandelt. Mein damaliger Lebensstil schien ihm nicht zu gefallen. Ständig wollte er wissen, was ich über Janni wisse. Aber er fragte ohne jeden Respekt. So von oben herab. Na ja, bei seiner Größe war das eh nicht so schwer, auf Leute herabzusehen. Ehrlich, der Kerl war grässlich, der kam andauernd wieder und fiel mir mehr auf den Wecker als die Bullen. Am Ende hat er Janni trotzdem nicht gefunden. Dabei war er bis zuletzt meine große Hoffnung. Der hat ja immer so getan, als stünde er ganz kurz vor der Auflösung. Wie geht’s diesem Dreckskerl heute? Hab’ ja ewig nix mehr von dem gehört.“
„Er hat Krebs und wird vermutlich niemandem mehr lange auf den Wecker fallen“, sagte Eric.
Alexandra seufzte.
„Mein Mann hat auch Krebs“, entgegnete sie fast trotzig, offensichtlich nicht bereit, für Jensen auch nur einen Hauch Mitleid zu empfinden.
Natürlich wusste Eric auch von Reimers Krebserkrankung. Wie immer hatte er sich auf seinen Termin sorgfältig vorbereitet. Aber der Reeder war kürzlich mit einer guten Prognose aus der Klinik entlassen worden. Wobei er einem lokalen Fernsehsender gegenüber geäußert hatte, dass man den Krebs nie wirklich loswurde. Man musste sich mit ihm arrangieren. Und das habe er gemeinsam mit seinen Ärzten getan.
Eric und Alexandra hatten eine schmale Treppe erreicht, und Sammy hechelte vor ihnen aufgeregt die Stufen nach unten. Er kannte seinen Weg und schien sich nebenbei über jede Spur zu freuen, die ihm in die Nase stieg.
„Erzählen Sie mir von Janina“, bat Eric. „Ich habe die Aufzeichnung ihres einzigen Konzertes im Hier und Jazz gesehen. Schon mehrfach. Es ist faszinierend, sie auf der Bühne zu erleben. Wer aber war sie außerhalb der Bühne?“
Entgegen ihrer sonstigen Art, ungeduldig in Fragen hinein zu plappern, ließ sich Alexandra diesmal Zeit mit ihrer Antwort. Während sie schwieg, erfreute sich Eric an den traumhaften Panoramablicken und an vielen schmucken Häusern. Ein beharrlicher Nieselregen hatte eingesetzt, aber Blankenese gehörte zu den Gegenden, in denen sich selbst das typische Hamburger Schmuddelwetter leichter ertragen ließ.
„Sie war nicht geschaffen für das echte Leben“, sagte Alexandra schließlich und seufzte. „Immer auf der Hut. Die Musik war ihre wahre Sprache, ihr Gesang und die Texte drückten am ehesten das aus, was sie fühlte und dachte. Ansonsten konnte sie stundenlang schweigen. Es war ein Wunder, dass wir es zusammen in der WG miteinander aushielten. Aber ich liebte sie. Sie war eine echte Freundin, trotz ihrer Unnahbarkeit. Janni war jemand, den man immer beschützen wollte. Ich habe sie beschützt, so gut ich konnte. Wenn ich damals auch nur geahnt hätte, dass sie nach dem Konzert einfach so …“
Eric geriet auf einer Stufe aus dem Tritt, stolperte kurz und fing sich gerade noch. Sammy verharrte und musterte den Journalisten irritiert, um sich dann wieder seinen Interessen am Wegesrand zu widmen, die Nase am Boden und der kraftvolle Körper in ständiger Bereitschaft.
„Hoppla!“ Alexandra packte Eric kurz am Arm. „Sie müssen schon auf Ihren Weg achten. Was hat Ihnen Frank Jensen eigentlich über mich erzählt?“
„Wir haben nicht über Sie gesprochen. Ich hoffe, das enttäuscht Sie jetzt nicht. Jensen scheint überhaupt nicht so gern über diesen Fall reden zu wollen.“
„Der gab nie gern Antworten. Der fragte nur. Vor dem müssen Sie sich in Acht nehmen.“
„Ich weiß. Sie wollten mir mehr über Janina erzählen. Was geschah an diesem Abend, an dem Sie Ihre Freundin das letzte Mal sahen – nach dem Konzert?“
Erneut nahm sich Alexandra Zeit zum Nachdenken. Sie waren unten am Strandweg angekommen. Vor ihnen öffnete sich der freie Blick auf die Elbe. Am liebsten hätte Eric vor Freude über den Anblick die Arme ausgebreitet. Begeistert nahm er sich vor, hier so bald wie möglich mit Marie herzukommen. Sie könnten einen Spaziergang machen, unbeschwert reden und vielleicht auch mal darüber nachdenken, ob sie nicht heiraten und eine Familie gründen wollten, mit Kindern und einem Hund, der in seiner Fantasie dem zufriedenen Sammy gar nicht so unähnlich war. Diese Umgebung strahlte etwas Paradiesisches aus – weit entfernt von Erics realem Leben. Alexandras Stimme holte ihn in die Wirklichkeit. Sie begann, von Janina zu erzählen, und Eric lauschte hoch konzentriert ihren Erinnerungen. Dabei tat sich Alexandra hörbar schwer mit der Vergangenheit.
„Janni kam zu mir, ein paar Minuten, bevor sie das Hier und Jazz verließ. Kurz nach diesem grandiosen Auftritt. Im Club wurde wild gefeiert. Viele Gäste waren geblieben. Irgendjemand hat Schampus für alle spendiert. Die Stimmung war echt toll. Janni war vor dem Konzert richtig gut drauf gewesen, für ihre Verhältnisse total positiv und zuversichtlich. Aber danach wollte sie plötzlich nur noch weg.“
„Warum?“, fragte Eric. „Ist da was vorgefallen?“
„Keine Ahnung. So war sie eben. Ihre Stimmungen konnten schnell umschlagen. Sie wollte weg, also ging sie. Wir haben uns gedrückt und geküsst und … weg war sie.“
„Wirkte sie beunruhigt?“
„Sie wirkte immer beunruhigt.“
„Danach haben Sie Janina nie wiedergesehen? Nicht gesprochen und auch keine Nachricht mehr von ihr erhalten?“
„Konnten Sie denn nicht die alten Protokolle der Polizei einsehen?“, fragte Alexandra. „Denen hatte ich damals alles erzählt. Immer wieder. Bis zum Erbrechen. Heute ist es schwer, sich an die Einzelheiten zu erinnern.“
Eric hielt an, um ein riesiges Containerschiff zu beobachten, das sich über die Elbe durch die Idylle schob. Ein beeindruckender Kontrast. Alexandra rief nach Sammy, der achtlos weiter rannte. Sie blieb neben dem Journalisten stehen und bemerkte seinen interessierten Blick.
„Solche Pötte kommen hier immer öfter durch. Deshalb soll die Elbe vertieft werden, damit noch größere Schiffe mit noch mehr Containern folgen können. Drüben im Alten Land fürchten die Obstbauern um ihre Existenz. Die Elbvertiefung wird dort Auswirkungen haben. Die Menschen sind stinksauer auf den Hamburger Senat. Alle Pläne drehen sich nur noch um den Hafen. Das Hamburger Umland ist den Politikern scheißegal.“
Eric lächelte über ihre Mitteilsamkeit zu einem Thema, das den meisten Hamburgern bekannt war, und vor allen Dingen ihn in seinem journalistischen Schaffen schon häufig beschäftigt hatte.
„Ich habe einige Artikel darüber verfasst“, verriet er und konnte seine Belustigung nicht gänzlich unterdrücken. „Die wirtschaftlichen Interessen einer Hafenstadt wiegen eben deutlich mehr als die Existenz von ein paar Apfelhöfen. Wollen wir lieber weiter über Janina sprechen? Mich interessieren vor allem die Dinge, die nicht in den Polizeiprotokollen stehen. Die Nebengeräusche in Janinas Leben. Sie waren ihre beste Freundin. Wenn Sie es nicht wissen, wer dann?“
„Was meinen Sie mit Nebengeräuschen?“
„Zwischentöne.“
„Hören Sie, fragen Sie mich doch einfach. Dieses Drumherumgerede nervt. Wissen Sie, warum mein Mann mich geheiratet hat? Aus drei Gründen!“
Eric riss sich vom Anblick des Containerschiffes los und blickte Alexandra gespannt in die leuchtenden Augen.
„Zum einen wegen meiner direkten Art“, erzählte sie ihm. „Ich sage immer, was ich denke!“
„Und die beiden anderen Gründe?“
„Meine Titten.“ Sie lachte unbekümmert. „Er weiß übrigens, womit ich damals mein Geld verdient habe. Aber als wir uns kennenlernten, war ich nicht mehr im Geschäft. Ich habe ihm trotzdem alles erzählt. Man weiß ja nie. Vor ihm war ich wirklich nackt, wenn Sie verstehen.“
Dann zog sie Eric weiter.
„Ich will Sammy nicht aus den Augen verlieren. Und Sie fragen jetzt einfach, okay?“
Jetzt schien sie das Gespräch über die Vergangenheit nur noch hinter sich bringen zu wollen. Eric hatte nichts dagegen. Fragen waren sein Kerngeschäft. Der Nieselregen hatte aufgehört. Dennoch schien in der Luft eine kühle Restfeuchtigkeit zurückgeblieben zu sein und ab und zu frischte der Wind auf. Eric stellte die Frage, die ihn besonders beschäftigte.
„Ist Janina Nossak mit Ihrem damaligen … Job … irgendwie in Berührung gekommen? Hat sie eventuell selbst …“
Alexandra Reimers lachte, als hätte er etwas ausgesprochen Dummes gefragt.
„Janni? Die war eine Heilige. Abgründe gab es nur in ihrer Musik. Klar habe ich ihr mal vorgeschlagen, mit mir zusammenzuarbeiten. Die Hure und die Heilige. Das hätte schon gut gepasst. Zusammen hätten wir die Männerwelt gerockt. Ich kannte genügend Typen, die auf so etwas standen. Aber das war natürlich nicht ernst gemeint. Hätten Sie Janni gekannt, hätten Sie diese Frage niemals gestellt.“
„Diese Frage ist naheliegend“, beharrte Eric.
„Für Reporter und Bullen vielleicht.“
„Na ja, in Janina Nossak Texten geht es jedenfalls oft um Sex, wenn man genau hinhört.“
„Das meinen Sie!“ Alexandra blieb stehen und erwartete mit in die Hüften gestemmten Fäusten ihren Hund, der gerade in wildem Tempo zu ihr zurückkehrte. Die Frau tätschelte ihm lobend den massigen Schädel, als hätte er eine besondere Leistung vollbracht, und er verhielt sich entsprechend stolz, um dann wieder in den Schnüffelmodus zu verfallen und sich von ihnen in entgegengesetzter Richtung zu entfernen. Eric blickte ihm hinterher und bemerkte nicht zum ersten Mal, wie schwierig es war, konzentrierte Gespräche mit Eltern oder Hundebesitzern zu führen, wenn ihre Schützlinge in der Nähe waren.
„Wie ging Janina damit um, dass Sie …“
„… dass ich anschaffen ging? Sie wollte alles wissen. Daraus bastelte sie auch einige ihrer Songtexte. Käufliche Liebe. Sex ohne Gefühl. Aber sie schrieb hauptsächlich dieses andere schlimme Zeug. Das waren gruselige Sachen, bei denen ich echt Gänsehaut bekam. Okay, in jedem Leben gibt es mal beschissene Phasen, aber was Janni schrieb, war extrem. Da konnte man nur hoffen, dass es sich lediglich um düstere Fantasien handelte. Aber sicher war ich mir da nicht.“
Eric wusste genau, was sie meinte. Er kannte die Texte und hatte sich selbst schon viele Gedanken gemacht. Selten war ihm der tiefere Sinn von abgründig greifbarer geworden als bei Janinas Songs. Als singe ein Engel über die Hölle.
„Und sie lebten bis zu Janinas Verschwinden in dieser Wohnung in Eppendorf?“
Alexandra nickte ein wenig abwesend.
„Gutes altes Eppendorf“, murmelte sie wehmütig. „War ‘ne geile Zeit. Wenn man jung ist, fühlt sich alles richtig an, was man macht. Aufbruchsstimmung! Und Janni und ich passten nicht trotz, sondern wegen unserer Unterschiede so gut zusammen. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätten wir wahrscheinlich geheiratet und wären glücklich geworden bis ans Ende unserer Tage. Aber dann … kam alles anders. Sie hat nichts mitgenommen. Nicht mal ihre unheimlichen Texte.“
„Wie ist es überhaupt zu dieser Wohngemeinschaft gekommen?“
„Wir lernten uns an der Musikhochschule als Neulinge kennen. Janni war dort, weil Musik ihr Leben war. Ich war eher orientierungslos. Hatte eine ganz ordentliche Stimme. Konnte passabel Gitarre spielen. Country und Rock. Musik war für mich eine angenehme Nebenbeschäftigung, aber ziemlich brotlose Kunst. Hab’ damit die Zeit überbrückt, bis mir endlich klar wurde, was ich wirklich wollte. Anschaffen ging ich zunächst nur nebenbei. Damit ich finanziell irgendwie über die Runden kam. Eine Wohnung in Eppendorf war schon damals nicht gerade billig. Aber genau dieser Teil meines Lebens hatte sich dann immer mehr verselbständigt. War halt einfacher, als täglich im Hörsaal gegen die Langeweile anzukämpfen. Und ich hab’ das gern gemacht, ganz ehrlich. So bin ich das schlechte Mädchen in der Geschichte geworden.“
„Und Janina?“
„Raten Sie mal.“
„Hatten Sie jemals einen Freier in Ihre gemeinsame Wohnung gebracht?“
„Scheiße, nein, das war tabu. Die Bullen haben mich das tausend Mal gefragt. Nein, wenn, dann habe ich nur Haus- und Hotelbesuche gemacht. Das Ganze lief über eine Agentur, mit einem exklusiven Kundenkreis auf sehr hohem Niveau, verstehen Sie? Da gab es Typen, die man nur zum Essen oder ins Theater begleitete oder zu irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen. Und die anderen gab es natürlich auch, die das Übliche wollten. Oder etwas Unübliches. Gegen Aufpreis. Manchmal musste ich …“
„Es konnte also niemand aus Ihrem damaligen … Kundenkreis auf Janina scharf gewesen sein“, unterbrach Eric Alexandra. „Und auch aus Ihrer Agentur kannte sie niemand?“
„Ja und ja“, antwortete Alexandra Reimers entschieden. „Das konnten mir die Bullen schon nicht anhängen. Unsere Bude blieb clean, wenn Sie so wollen. Job und Privatleben fein säuberlich getrennt, okay? Es gab keinen Teufel aus meinem Leben, der sich Jannis reine Seele holte. Und wenn ich an ihre Songtexte denke, bin ich mir nicht mal sicher, wer von uns beiden damals tatsächlich auf der dunklen Seite lebte.“
„Hatte Janina einen Freund?"
Alexandra lachte kurz auf, doch bevor sie antworten konnte, wurde sie wieder von Sammy abgelenkt. Der kam mit einem sperrigen Ast auf sie zu, den er mehr schleifte als trug, wobei einige Passanten seiner übermütigen Aktion nur mühsam ausweichen konnten. Es dauerte eine Weile, bis Alexandra ihren Hund davon überzeugt hatte, sein Interesse auf kleinere Dinge zu richten. Und als ihr das gelungen war, musste Eric sie wieder an den augenblicklichen Stand des Gespräches erinnern.
„Janina hatte wohl keinen festen Freund, wenn ich Ihr Lachen richtig deute.“
„Eine solche Nähe ließ sie nie zu“, bestätigte Alexandra. „Dabei war sie ein echt bezauberndes Wesen, das sogar mich auf eigentümliche Weise erregte. Aber kommen Sie jetzt nicht auf falsche Gedanken. Da war nichts zwischen uns. Bei jeder Umarmung erstarrte sie zu Eis. Selbst vor Wangenküssen wich sie zurück. Als wären Berührungen etwas Schmutziges.“
Eric folgte weiter seinem Fragenschema, froh darüber, dass Alexandra einigermaßen bei der Sache blieb.
„Gab es trotzdem Männer, die ihr besonders wichtig waren? Oder fällt Ihnen jemand ein, der sich ihr gegenüber irgendwie auffällig benahm?“
Eric lächelte. Im Grunde genommen kannte er die Antworten selbst, weil er den Fall ausgiebig studiert hatte. Er wollte Alexandra dazu zwingen, ihre eigene Sicht der Dinge zu schildern. Über jene Männer zu reden, die im Fall Janina Nossak zu den Verdächtigen gezählt hatten.
Alexandra blieb stehen und schaute auf die Elbe hinaus. Eine über Lautsprecher verstärkte Männerstimme hallte zu ihnen herüber. Sie machte Touristen an Bord einer Barkasse mit Wissenswertem über Hamburg vertraut. Eine Tour, die Eric auch schon mit auswärtigen Freunden und viel Stolz auf seine Heimat unternommen hatte, wenn alle begeistert ihre Kameras zückten, um die Fülle schöner Eindrücke Hamburgs festzuhalten. Die ansehnlichen Seiten einer Metropole, die auch düstere Ecken hatte, in denen sich schlimme Dinge ereigneten. Wo Menschen von einem Tag auf den anderen verschwanden und unauffindbar blieben. Wo Eltern ihre Kinder zu Tode prügelten oder verhungern ließen. Und das alles geschah, während Politiker sich mit teuren Prestigeprojekten schmückten, zum Beispiel aktuell mit dem Bau einer an Größenwahn grenzenden Konzerthalle, die wie eine gläserne Krone auf einen alten Backsteinspeicher gesetzt wurde. Hamburg war und blieb eine Stadt der Gegensätze, die nicht immer mit einer hanseatisch zurückhaltenden Einstellung vereinbar waren. Eric versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Alexandra Reimers Blick hatte sich in einer inneren Ferne verloren. Erics Fragen trieben sie immer tiefer in die Vergangenheit. Es war ihr anzumerken, wie wenig ihr das behagte.
„Hallo?“ Der Journalist trat neben sie und schnippte vor ihrem starren Blick mit den Fingern. Sie schaute ihn so erstaunt an, als habe sie seine Anwesenheit kurzzeitig völlig vergessen. In ihren blauen Augen schimmerte es feucht und für einen Moment ließen sich für Eric in dem runden Gesicht Reste jener strahlenden Schönheit erahnen, mit der diese Frau die Männerwelt einst um den Verstand gebracht haben musste. Ihm wurde klar, dass sie sich in ihrem neuen Leben hinter Übergewicht und salopper Kleidung versteckt hielt. Sich ganz bewusst mit Alltäglichkeit maskierte, sich mit kurzgeschnittenem Haar und dem Verzicht auf jegliche Kosmetik von all dem distanzierte, was ihr früher mal wichtig gewesen war: Partys, Drogen, Sex und Alkohol und gut situierte Herren, deren Fantasie sie beherrschte und von deren Geld sie sich ein gutes Leben leisten konnte. Mit dieser Art von Leben hatte sie abgeschlossen, wollte nichts mehr mit der aufregenden Frau zu tun haben, die Ende der Neunzigerjahre von der Presse gejagt, von der Polizei immer wieder verhört und von Frank Jensen offensichtlich bedrängt worden war. Sie hatte ihre Freundin auf mysteriöse Weise verloren, und je länger sie darüber sprachen, desto mehr Schatten aus der Vergangenheit fielen auf ihr heutiges Versteck. Eric empfand plötzlich großes Mitleid mit ihr. Aber er musste weiter fragen. Musste sie mit den alten Erinnerungen und Bildern konfrontieren und ihre Verletzlichkeit und Trauer ignorieren.
„Janni und ich haben mal eine Hafenrundfahrt gemacht“, erinnerte sich Alexandra, den Blick immer noch auf die Barkasse gerichtet, und schluckte schwer. „An diesem Tag waren wir sehr albern, haben viel gelacht und das ganze Schiff zum Singen gebracht. Janni hat sogar mit einem alten Seebären getanzt und war ausgelassen wie ein Kind. Später haben wir uns an den Landungsbrücken bei Fischbrötchen und Bier zu den Leuten, die vorbei liefen, Geschichten ausgedacht. Wir haben ihnen absurde Schicksale angedichtet und Affären und Abenteuer für sie erfunden. Ich glaube, das war der beste Tag unserer Freundschaft. Wir haben von einer geilen Zukunft geträumt, sogar überlegt, als Gesangsduo aufzutreten. Erst mal auf Jubiläen, Hochzeiten und Konfirmationen, bis wir entdeckt und große Stars werden. Ich habe zu Janni gesagt, sie solle mal lustige Texte schreiben, und Melodien zum Mitklatschen. Von mir aus hätten wir die weibliche Antwort auf Modern Talking werden können, egal! Janni sollte das Leben endlich mal nehmen, wie es ist, und einfach so lustig bleiben, wie sie gerade war. Ehrlich, wir hätten zusammen was erreichen können. Wenn sie lachte, war sie besonders süß und sexy. Aber genau das wollte sie nie sein.“
„Und was hat sie geantwortet?“
Mit viel Aufwand kramte Alexandra ein Taschentuch aus ihrem Beutel hervor und heulte und schnupfte sich eine Weile aus.
„Das ist ja gerade die verdammte Scheiße“, stieß sie schließlich kläglich hervor. „Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass wir uns an diesem Tag besonders nahe waren. Der schönste Tag unserer Freundschaft.“
Eric wartete, bis sie ihre Fassung wieder zurückgewonnen hatte.
„All diese Fragen“, murmelte Alexandra. „Ich will das nicht mehr. Sind wir damit bald mal durch?“
„Fast. Gab es in Janinas Leben Menschen, die ein, sagen wir mal, auffälliges Interesse an ihr hatten?“
Sammy kehrte zurück und platzte in diesen nach Erics Empfinden so wichtigen Moment des Gespräches, indem er an Alexandra hoch sprang und kläffend um ihre Aufmerksamkeit buhlte. Fortan blieb er in ihrer Nähe, während sie den Spaziergang fortsetzten.
Alexandra nahm den Gesprächsfaden ohne einen weiteren Anstoß durch Eric wieder auf, ein Zeichen, dass auch sie das Thema besonders beschäftigte.
„Die Kripo hatte damals drei Männer im Visier, deren Verhältnis zu Janni auf die eine oder andere Art enger war. Oder, wie Sie sagen, auffälliger. Jannis Vater war ein krankes Arschloch. Das habe ich den Bullen immer wieder gesagt. Und die hatten mich verdammt oft am Wickel, das können Sie mir glauben. Der alte Nossak war mir von Anfang an unheimlich. Vor dem hatte ich Angst. Aber die ließen ihn ja nach jedem Verhör wieder laufen. Und sogar Jensen schien sich für Nossak kaum zu interessieren. Klar, der hat ihn bezahlt, aber trotzdem! Okay, oft gesehen habe ich Nossak nicht. Wenn er Janni mal besuchte, wurde es finster und kalt in der Bude. Der Typ sagte kaum was und glotzte seine Tochter an wie ein … wie ein verdammtes Schwein eben.“
„Hatte Janina ihnen jemals was über das Verhältnis zu ihrem Vater erzählt?“
„Nein. Über so was hat sie nicht geredet.“
„Wie kamen Sie dann zu der Meinung, dass ihr Vater …?“
„Kerle waren mein Job. Ein Blick und ich wusste, wie die ticken. Ich war für Nossak Luft, ich hätte nackt vor ihm durch die Wohnung hüpfen können. Aber wenn er sein Töchterchen anglotzte, verwandelten sich seine Augen in Schwänze. Er hat sie ständig irgendwie angefasst, wenn er mit ihr redete. In seiner ekeligen Nähe war Janni immer extrem angespannt und unruhig, wich ständig seinen Pranken aus und sah ihn kaum an. Gott sei Dank war er nicht oft da. Aber wenn, dann war Janni … noch mehr durch den Wind als sonst. Scheiße, das war so was von eindeutig! Sie brauchte mir nichts zu erzählen. Die Besuche ihres Alten waren für sie der reinste Horror.“
„Der sie immerhin allein großgezogen hat“, sagte Eric.
Alexandra nickte.
„Die Mutter starb während ihrer Geburt. Eine üble Geschichte! Janni hatte deswegen große Schuldgefühle. Es gibt einen Text von ihr, da beschreibt sie sich als Krankheit der Mutter. Ein bösartiges Geschwür, das aus einem Mutterleib herausblutet, ein Wesen, das sich von der sterbenden Mutter ernährt, ihr den Atem und die Seele raubt, sie mit der Nabelschnur erdrosselt, um sich in eine Tochter zu verwandeln. Und am Ende sitzt sie als Ebenbild der Mutter am Klavier und beschmiert mit blutigen Händen die Tastatur.“
„Ich kenne den Song“, sagte Eric. „Auf bedrückende Weise genial, nicht wahr? Die perfekte Symbiose zwischen Text und Musik.“
Alexandra warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
„Für mich war das echt krank, wenn ich ehrlich sein soll. Ich mag lieber Sachen von Joni Mitchell oder KT Tunstall.“
„Und Janinas Vater war Taxiunternehmer", fuhr Eric unbeirrt fort, jetzt ähnlich intensiv auf Spurensuche wie kurz zuvor Sammy.
„Ja, irgendwas in der Art. Aber ich bin mir sicher, dass der nebenbei viele krumme Dinger gedreht hat. Und nein, ich bin nicht objektiv! Ich mochte den Kerl einfach nicht. Und er mochte mich nicht.“
„Dennoch hat sich seine Tochter nie negativ über ihn geäußert.“
„Möglicherweise in ihren Songs.“
„Spekulationen bringen mich leider nicht weiter.“
„Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen. Geredet hat sie darüber nicht. Sobald ich das Thema ansprach, machte sie sofort dicht. Da musste sie auch nichts sagen. Dass sie seelisch kaputt war, merkte man so deutlich, als wäre es ihr auf die Stirn tätowiert worden. Ihre Songtexte sagen doch wohl alles! Wenn man mal die Genialität außer Acht lässt und einfach nur richtig hinhört.“
Eric grinste. „Was müsste man nach dieser Theorie über Frank Zappa denken?“
„Frank wer?“
„Schon gut. Und wen finden Sie noch erwähnenswert?“
Alexandra nannte einen für Eric nicht unbekannten Namen, den Namen eines Mannes, den er selbst noch in Kürze befragen wollte. „Clemens Jäger.“ Sie sprach den Namen mit deutlich mehr Sympathie in der Stimme aus. „Musikprofessor. Spielte damals Klavier in einer Jazzband. Freigeist. Sah toll aus. Der liebte Jannis Songs, bewunderte ihre Begabung. Plante große Dinge mit ihr, hielt sie für eine Art Jahrhunderttalent und wurde eine Weile so eine Art Mentor für sie. Seine Absichten waren aufrichtig.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“
„Weil er es mir erzählt hat.“
„Wie gut kannten Sie ihn?“
„Er hatte es mir im Bett erzählt. So gut kannte ich ihn. Das werden Sie in keinem Protokoll finden, weil ich es damals niemandem erzählt habe.“
„Er war einer Ihrer Kunden?“ Eric war erstaunt. Das war mal eine echte Neuigkeit!
„Oh, nein. Er war mein … nun, wir waren eine Weile zusammen. Das hielten wir streng geheim, denn er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Und das ist bis heute so. Er ist immer noch ein glücklicher Familienvater. Ich habe es erst kürzlich mal gegoogelt. Und ich freue mich für ihn.“
„Warum haben Sie sich getrennt?“
„Das geht Sie nichts an. Clemens hatte mit Jannis Verschwinden nichts zu tun. Er mochte sie als seine Schülerin. Er wollte ihr Talent fördern. Nicht mehr und nicht weniger. Bitte behalten Sie diesen Teil der Geschichte für sich. Er ist nicht wesentlich. Clemens war ein lieber und korrekter Mensch, und ich bin mir sicher, dass er es heute noch ist. Wir haben uns geliebt. Aber manche Beziehungen haben eben keine Zukunft, und je rechtzeitiger man das erkennt, desto besser. Vielleicht hätte er für mich Frau und Kinder verlassen. Aber es hätte uns beide nur ins Unglück gestürzt. Deshalb habe ich Schluss gemacht.“
„Wie können Sie sich so sicher sein, dass er sich nicht auch in Janina verliebt hatte?“
„Jetzt hören Sie doch auf, solchen Quatsch zu reden!“ Alexandra blieb stehen, schaute nervös auf ihre Uhr und blickte sich suchend um.
„Wir gehen zurück“, entschied sie und pfiff nach Sammy, der überraschenderweise sofort gehorchte. Alexandra bemerkte Erics erstaunten Blick.
„Der Fressnapf ruft von zu Hause. Jetzt werden Sie den diszipliniertesten Hund der Welt erleben.“
Und nach einer Weile fragte sie.
„Werden Sie auch noch mit Clemens reden?“
„Wir haben nächste Woche einen Termin.“
„Sein Sie bitte nett zu ihm. Er stand auf Jannis Musik. Das war alles. Unsere Affäre hat sich dann eher zufällig ergeben, so nebenbei. Janni hat ihn eines Tages mal mitgebracht, und ich kannte ihn natürlich durch mein Gastspiel an der Musikhochschule. Janni und er konnten stundenlang über Musik quatschen. Das war schon heftig. Einmal hatte sie ihn versetzt. Da war er zu uns gekommen, um sich mit ihr zu treffen, und blieb dann bei mir. Wir haben an diesem Abend allerdings nicht ein Wort über Musik geredet.“
„Und er war die große Liebe Ihres Lebens?“ Eric musterte sie lauernd.
Alexandra warf ihm einen gequälten Blick zu. „Müsst ihr Typen von der Presse wirklich jede verdammte Frage stellen, die euch in den Sinn kommt?“
„Wir suchen nach Wahrheit“, entgegnete Eric.
Sie antwortete nicht. Und für den Rest ihres gemeinsamen Weges ließen sie das Thema fallen.
6. Kapitel: Der Stalker
Nach dem Gespräch mit Alexandra Reimers erstellte Eric zu Hause ein Gedächtnisprotokoll. Dank seines ausgezeichneten Erinnerungsvermögens konnte er sich Fakten und Details eines Gesprächs für lange Zeit merken und bei Bedarf wieder abrufen. Die Begegnung mit der ehemaligen Prostituierten, die heute ein geordnetes Leben mit Mann und Hund in Blankenese führte, hatte Eric motiviert. Es war inspirierend gewesen, endlich Persönliches über Janina Nossak zu erfahren. Bisher war sie ihm eher wie ein künstliches Wesen erschienen. Alexandras Blickwinkel hatte sie menschlich werden lassen, greifbar und verletzlich. Mit seinem geplanten Buchprojekt wollte Eric hautnah an seine Hauptfigur herankommen, an ihre Gedanken und Gefühle. An Träume, Hoffnungen und Ängste. Darüber wollte er mit möglichst vielen Bekannten und Zeitzeugen Janinas sprechen, um ein authentisches Porträt der jungen Frau erstellen zu können. So konnte er nach der Begegnung mit Alexandra manch loses Ende der Geschichte besser verknüpfen und Abläufe neu einordnen. Wobei er über die Rolle von Janinas Vater Jacob Nossak nichts wirklich Neues erfahren hatte. Alexandras Verachtung für diesen Mann war ihm schon aus den alten Protokollen und Berichten bekannt, und die hatte sich wieder bestätigt. Direkt ausgesprochen erzielte eine ungeschminkte Meinung allerdings noch mehr Wirkung als auf dem Papier.
Besonders interessant gewesen war Alexandras Eingeständnis ihrer kurzen Liaison mit Professor Clemens Jäger. Sie hatte darüber erstaunlich offen geredet. Angeblich habe Janina davon nichts mitbekommen. Die Lovestory eines Musikprofessors und einer Hure hätte eher Potenzial für einen kitschigen Roman gehabt, aber kaum eine echte Chance im wirklichen Leben. Unabhängig davon musste Alexandra Clemens Jäger sehr geliebt haben, das war Eric in ihrem Gespräch klar geworden. Der Professor hatte in alten Berichten gut abgeschnitten, war nett und sympathisch rübergekommen, ohne eine entscheidende Rolle im Fall Janina Nossak gespielt zu haben. Er galt als nette Nebenfigur, ein untadeliger Professor, der seine begabte Lieblingsschülerin verloren hatte. Von dem Verhältnis mit ihrer besten Freundin war nie etwas an die Öffentlichkeit gedrungen. Erst jetzt hatte Alexandra dieses Geheimnis preisgegeben und Eric zum Abschied noch einmal ausdrücklich um Diskretion gebeten. Er hatte es ihr spontan zugesichert. Aber während er seine Erinnerungen und Unterlagen sortierte, fragte er sich, wie ihm der Spagat zwischen dem Versprechen und seinem erklärten Ziel, die ganze Wahrheit über den Fall Janina Nossak zu schreiben, am Ende gelingen sollte.
Bei der Erwähnung aller relevanten Personen aus Janinas Vergangenheit kam in Alexandra Reimers Erinnerungen besonders dem dritten Mann große Bedeutung zu. Es ging um einen jungen Burschen, der damals neben Janinas Vater sehr nachhaltig im Fokus der polizeilichen Ermittlungen gestanden hatte. Daniel Bieler! Der Hauptverdächtige. Der Stalker. Ein undurchschaubarer Außenseiter, der wie ein Virus in das Leben einer jungen Frau eingedrungen war. In einem Kriminalroman hätte Eric ihn genau wegen dieser Eindeutigkeit sofort von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Bieler hatte zeitweise so schuldig gewirkt, dass er vorübergehend sogar in Untersuchungshaft landete. Am Ende aber hatten die Ermittler ihm nichts nachweisen können außer einer geradezu krankhaften Fixierung auf die junge Musikerin. Im Roman hätte es Eric gefallen, wenn sich zum Beispiel ein mit dem Fall beauftragter Privatdetektiv diesen Typen mal gnadenlos vorgeknöpft hätte, um die Wahrheit notfalls aus seinem schmächtigen Körper herauszuprügeln. Im wirklichen Leben hatte Frank Jensen nichts dergleichen versucht. Es war nicht mal bekannt, ob er Daniel Bieler überhaupt jemals befragt hatte. Es war überhaupt viel zu wenig von Jensens Aktivitäten bekannt. Seine Wege waren weitgehend geheimnisvoll geblieben.
Trotz vieler Verdachtsmomente war es den ermittelnden Beamten nie gelungen, einen wirklichen Bezug zwischen Janinas Verschwinden und Daniel Bieler herzustellen. Er war am Tag ihres Konzertes nachweislich nicht in Hamburg gewesen, sondern weilte auf einer Feier seines Vaters Rene Bieler in Zürich. Das war von vielen glaubwürdigen Zeugen bestätigt worden. Zwar hätte er jemand anderen mit Janinas Entführung oder gar Ermordung und Beseitigung ihrer Leiche beauftragen können, aber Theorien in diese Richtung ließen sich nicht lange aufrecht halten. Am Ende galt Bieler – trotz zeitweise angeordneter Untersuchungshaft und einigen Verdachtsmomenten – als rehabilitiert. Die Strategie der von seinem Vater beauftragten Anwälte ließ alle Indizien zweifelhaft erscheinen, bis man den jungen Mann wieder frei lassen musste. Heute war es nahezu unmöglich, an diesen in München lebenden, in seiner Branche recht erfolgreichen Komponisten und Produzenten von Melodien für Werbespots und Dokumentarfilme heranzukommen. Der Schutzwall um ihn herum schien auch nach fünfzehn Jahren unüberwindlich zu sein. Deshalb konnte Eric es kaum erwarten, wenigstens Frank Jensen bei ihrem nächsten Treffen über diesen Burschen auszufragen.
„Was machte den denn damals überhaupt so verdächtig?“, wollte Marie wissen, als sie am Abend zusammen im Wohnzimmer den Tag reflektierten. Gerade hatte sie Eric einige Turbulenzen aus ihrem täglichen Redaktionsbetrieb zu schildern versucht. Sein Interesse für ihre Sorgen war allerdings dürftig, seine unkonzentrierten Antworten einsilbig. Da Marie klar war, wo er mit seinen Gedanken in Wirklichkeit war, wechselte sie genervt das Thema. Sie machte ihm die Freude, ihn nach seiner Begegnung mit Alexandra Reimers zu fragen. Es war ihm anzusehen, dass ihn dazu noch eine Menge Gedanken beschäftigten, die er unbedingt mit ihr teilen wollte. Was waren Maries „banale Alltagsproblemchen“ gegen die gewaltige Geschichte, die er in seinem Kopf bewegte!
Sie hatten es sich mit ihren trockenen Martinis auf dem großen Sofa bequem gemacht. Im Hintergrund war leise Melody Gardots wehmütiger Gesang ihres neuesten Albums The Absence zu hören, einer der wenigen Zugeständnisse an die aktuelle Unterhaltungsmusik, zu denen Marie sich gelegentlich bereit erklärte – aber immer noch weit entfernt von dem, was Eric musikalisch bevorzugte.
Eric versuchte, Daniel Bieler für Marie so zum Leben zu erwecken, wie er in alten Unterlagen und Berichten beschrieben worden war, ergänzt durch das Porträt, das Alexandra Reimers von ihm geliefert hatte: ein unscheinbarer Kommilitone Janinas, der sich nebenbei etwas als Straßenmusiker dazu verdient und bei allen als harmloser Spinner gegolten hatte. Keiner aus seinem Umfeld wusste von dem reichen Vater in der Schweiz. Aber alle wussten von seiner Obsession für Janina Nossak. Anfangs schien sie noch Mitleid für ihn empfunden zu haben. Obwohl sie ihn nie ermuntert hatte, nutzte er jede Gelegenheit, in ihrer Nähe zu sein, und sie war unfähig, sich dagegen zu wehren. Er schrieb ihr Briefe oder E-Mails oder lungerte mit einer Kamera vor dem Mietshaus in Eppendorf herum, in dem sie sich eine Wohnung mit Alexandra teilte. Bieler rief Janina täglich an und brachte am Ende außer Gestammel nichts zustande. Laut Alexandra ließ die Freundin den verklemmten Verehrer viel zu lange gewähren, und eines Tages eskalierte die Sache. Da hatte Bieler abends wieder mal an der Tür geklingelt und Janina hatte ihn ahnungslos in die Wohnung gelassen. Alexandra war an diesem Abend geschäftlich unterwegs gewesen und Bieler war aufdringlich geworden. Er hatte Janina gepackt und sie bedrängt, hatte ihr seine verzweifelte Liebe ins Gesicht gebrüllt und seine aufgestaute Leidenschaft war außer Kontrolle geraten. Janinas Schreie hatten viele Nachbarn des altehrwürdigen Eppendorfer Mietshauses alarmiert, und auch Alexandra war glücklicherweise vorzeitig von ihrem Termin zurückgekehrt. Rechtzeitig genug, um das Schlimmste zusammen mit einem Mieter aus der Nebenwohnung gerade noch zu verhindern. Bieler hatte schon die Hosen runtergelassen. Janina hatte sich mit einem Küchenmesser in der Hand in die äußerste Ecke der Wohnung verkrochen. Hielt sich den durchgedrehten jungen Mann irgendwie vom Leib. Schrie die ganze Zeit wie von Sinnen. Und konnte sich trotz des beherzten Eingreifens des Nachbarn und Alexandras sanfter Worte lange Zeit nicht beruhigen.
Polizei und Notarzt wurden verständigt, weil zum einen von einem schweren Übergriff auszugehen war und zum anderen Daniel Bieler eine tiefe Stichverletzung in der Schulter erlitten hatte. Später verzichtete Janina auf eine offizielle Anzeige. Es hatte sich heraus gestellt, dass Bieler bei seiner Tat unter Drogeneinfluss gestanden hatte. Der alte Bieler konnte mit seinen Juristen den missratenen Sprössling vor einer größeren Bestrafung bewahren.
Bieler verließ freiwillig die Musikhochschule, schrieb an Janina eine seitenlange Entschuldigung (die laut Alexandra Reimers ungelesen von Janina verbrannt wurde) und tauchte unter. Erst durch Janinas Verschwinden knapp ein Jahr nach diesem Vorfall geriet der junge Außenseiter wieder in den Fokus der Kripo. Man ermittelte ziemlich schnell seinen neuen Aufenthalt in Hamburg Volksdorf, wo er zurückgezogen ein kleines Fachwerkhaus bewohnte, das er mit einem hochmodernen Tonstudio ausgestattet hatte. Aber es war nicht die anspruchsvolle Studiotechnik gewesen, die bei einer Hausdurchsuchung das Sonderkommando verblüffte. Vielmehr entdeckten die Beamten eine kleine Kammer, deren Wände lückenlos mit Fotos von Janina Nossak tapeziert worden waren. Heimlich aufgenommen in fast allen Lebenslagen. Teilweise auf die Größe von Postern hochgezogen. Porträts und Schnappschüsse aus den verschiedensten Situationen eines schonungslos ausspionierten Lebens. Bieler hatte Janina über längere Zeiträume bespitzelt, gefilmt und fotografiert. Er hatte ihr auf mysteriösen Wegen Gegenstände und Kleidungsstücke entwendet, unter anderem einen Slip, der voll von seinen Spermaspuren gewesen sein sollte. Doch trotz dieser offensichtlichen Beweise seiner krankhaften Fixierung auf ein Mädchen, das spurlos verschwunden war, fand man nichts, was ihn als möglichen Täter hätte belasten können. Während einer vorübergehenden Untersuchungshaft stellten Kriminalbeamte und Spezialisten der Spurensicherung das von seinem Vater finanzierte Haus und Grundstück auf den Kopf. Ohne Erfolg. Danach wurde der Einzelgänger wieder freigelassen. Es gab nicht einmal mehr Einwände der ermittelnden Beamten, als Bieler kurze Zeit später seinen Wohnsitz nach München verlegte. Das Haus in Volksdorf wurde von einer Entrümpelungsfirma leergeräumt. Bieler hatte fast nichts aus seinem alten Leben mitgenommen. Es blieb unklar, was aus den Fotos und persönlichen Sachen von Janina Nossak geworden war. Von der Spurensicherung frei gegeben, waren sie vermutlich vernichtet worden.
Angeblich sollte Bieler die düstere Phase seines Lebens überwunden haben. Zumindest wurde später über ihn berichtet, er habe sich auf Druck seines Vaters in therapeutische Behandlung begeben. Daran schlossen sich erste Arbeiten als Komponist und Musikproduzent in München an. Kreativität und Erfolg als Ausweg aus einer krankhaften Obsession. Ein Mann, der nach überstandener Drogensucht und einer versuchten Vergewaltigung nur noch für seine Musik lebte. Das war der Tenor weiterer Berichte.
Aus Sicht der Polizei war Bielers Rolle im Fall Janina Nossak nie über das Stadium eines potenziell Verdächtigen hinausgegangen. Nach menschlichem Ermessen und auf Basis der damaligen kriminaltechnischen Ergebnisse konnte er nichts mit Janinas Verschwinden zu tun gehabt haben. Es sei denn als abgebrühter Strippenzieher im Hintergrund einer von ihm geplanten Entführung.
Das allerdings widersprach seinem damals erstellten Profil in jeder Beziehung. Der leicht autistische junge Mann besaß laut übereinstimmendem Urteil mehrerer Experten weder die Fähigkeit, komplexe Pläne zu schmieden noch war es denkbar, dass er andere Menschen für derartige Pläne hätte gewinnen können. Die Juristen seines Vaters konnten jede von Bielers Kontobewegungen nachvollziehbar machen, was zusätzlich die mögliche Theorie entkräftete, er habe jemanden für viel Geld mit der Entführung Janinas oder noch Schlimmerem beauftragt.
„Und so lebt er noch heute glücklich und zufrieden als Komponist und Musikproduzent in München und scheint dort mit seinem Schaffen sehr erfolgreich zu sein“, schloss Eric seinen Bericht. „Er ist immer Junggeselle geblieben, meidet die Öffentlichkeit und ist nie wieder auffällig geworden. Viel mehr ist über ihn nicht bekannt. Angeblich ist er momentan, neben seinem Job als Komponist und Produzent von Gebrauchsmusik, mit einer Oper beschäftigt.“
Marie wurde hellhörig.
„Eine Oper?“
Eric nickte.
„Ich bin im Internet auf ein kleines Interview mit ihm gestoßen. Da hat ihn ein Münchner Kollege anlässlich einer Preisverleihung vor drei Jahren zu seinen weiteren Plänen befragt. Und da hat er erwähnt, mit einer Oper begonnen zu haben.“
Marie lächelte.
„Darüber würdest du gern mehr wissen, stimmt’s?“
„Klar. Aber man kommt nicht so leicht an ihn ran. Leider ist mein Name mit Janina Nossak verbunden. Einmal googeln, und Bieler würde vor meiner Nase sofort die Zugbrücke hochziehen.“
„Aber mein Name ist sauber“, entgegnete Marie. „Hoffe ich jedenfalls.“
Eric sah seine Freundin irritiert an.
„Damit eins klar ist: Ich will dich nicht mit in den Fall hineinziehen. Du wirst Bieler auf keinen Fall in München besuchen, egal, ob er unschuldig und therapiert ist oder nicht. Der Typ hat vor fünfzehn Jahren eine junge Frau gestalkt. Der wollte sie vergewaltigen. Hat ständig in ihr Höschen gewichst in einem Raum, der mit ihren Fotos tapeziert war.“
„Klingt nach einem spannenden Gesprächspartner“, sagte Marie trotzig. „Warum wollen wir es nicht wenigstens versuchen? Ich könnte dir da wirklich helfen. Ich nehme ein paar Tage frei, fliege nach München und spreche mit Herrn Bieler über Musik. Ich kann sehr gut über Musik sprechen, findest du nicht? Und dann schauen wir mal, was dabei heraus kommt.“
Eric fühlte sich von ihr überrumpelt und war über ihr plötzliches Interesse erstaunt. Er erinnerte sie an die anonyme Warnung, die sie bekommen hatten.
„Du hast eine anonyme Warnung bekommen“, widersprach Marie. „Die du ja sowieso nicht ernst nimmst.“
„Ich hatte bisher das Gefühl, dich mit dem Fall genervt zu haben“, wählte Eric eine andere Taktik. „Als ich dich mal fragte, wie du Janina Nossaks Konzert findest, warst du ziemlich … distanziert. Warum bist du jetzt auf einmal so interessiert?“
Marie zuckte mit den Achseln. „Ich will dir nur helfen, sonst nichts, okay? Das Konzert, na ja, die Musik von der Nossak, nun, die gefällt mir halt nicht. Warum soll ich dir da etwas vormachen? Ja, die hat eine gute Stimme, und das, was sie da macht, hat sicher eine gewisse Qualität. Aber musikalisch bedient sie sich weitgehend aus der Jazz- und Bluesecke. Das war noch nie so mein Ding.“
„Was stört dich daran?“
„Wollen wir jetzt eine Grundsatzdiskussion führen? Nur weil ich dir meine Hilfe angeboten habe?“
„Es interessiert mich eben.“
„Was genau?“
„Was dich an Janina Nossaks Musik stört.“
„Die Musik macht mir keine Freude.“
„Aber sechs Stunden Wagner schon.“
„Was ist los mit dir, Eric? Muss ich mich für meinen Musikgeschmack entschuldigen? Ich. Mag. Eben. Klassik. Punkt! Diese Musik ist für mich wie ein wertvolles Gemälde, mit einem wundervoll dazu passenden Rahmen. Alles perfekt arrangiert. Ein anspruchsvolles Motiv, exzellent komponierte Farben, alles sehr geschmackvoll aufeinander abgestimmt und in sich geschlossen. Ein Kunstwerk eben. Da bin ich äußerst puristisch, wie du weißt. Ich mag keine Improvisation. Jazz ignoriert meistens den Rahmen. Wenn auch gekonnt, so werden klare Melodien in flüchtige Skizzen verwandelt. Jazz zerpflückt sie, spielt mit ihnen und bläst sie auseinander wie die Blüte einer Pusteblume. Er greift sich ein Gemälde, treibt es aus dem Rahmen und breitet es auf den Wänden aus, wie Graffitis. Alles verliert seine Struktur und Ordnung, und manchmal wird selbst das Hauptmotiv so stark verfremdet, bis es in seinem eigenen Tonstrudel verschwindet.“
Eric hatte Maries Analyse staunend gelauscht. Das, was sie ihm gerade leidenschaftlich wie immer beschrieben hatte, klang nach viel mehr als nur Musik. Irgendwie hatte er sogar das Gefühl, ihm wäre auf treffende Weise Janina Nossaks Schicksal beschrieben worden. Eine junge Frau, die sich – wie eine zarte Melodie – im Strudel sich selbst verfremdender Töne verlor. Ein Leben, das aus seinem Rahmen gezerrt worden war. Was war daraus geworden?
Marie verstand es, klug und feinfühlig über Musik zu sprechen. Allein deshalb war es Eric wichtig gewesen, von ihr eine Einschätzung zur Qualität Janina Nossaks Konzert zu bekommen, Maries Urteil über Janinas Kompositionen zu erfahren, zu ihren Texten und ihrer Stimme. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich bisher dagegen gesperrt. Es konnte nicht nur daran liegen, dass ihr Jazz als Musikrichtung generell nicht lag. Sie wirkte immer leicht aggressiv, sobald die Sprache auf Erics Buchprojekt kam.
„Du magst Janina Nossak nicht“, stellte er aus seinen Gedanken heraus fest. Es war eine naheliegende Erkenntnis. Sie musste einfach nur mal ausgesprochen werden.
Marie runzelte die Stirn.
„Was soll das denn jetzt heißen?“
Sie saß in der äußersten Ecke des Sofas, hatte die Beine angezogen und ihr Martiniglas in der Hand, über dessen Rand ihre Augen Eric kämpferisch anfunkelten. In den meisten Fällen gab sie schnell nach. Heute aber schien ihr ein Streit gerade recht zu kommen.
Eric gab keine Antwort, weil er keine Lust auf eine Auseinandersetzung verspürte. Ihm ging zu viel im Kopf herum, um sich auf einen Streit mit seiner Freundin einzulassen.
Marie stellte ihr Glas ziemlich heftig auf dem Wohnzimmertisch ab. Dass es überschwappte, war ihr egal.
„Der Herr will nicht mehr mit mir reden“, fuhr sie ihn ärgerlich an. „Zu dumm, dass ich jetzt reden will! Ich verrate dir mal, was ich an Janina Nossaks Musik überhaupt nicht mag! Ich mag nicht die Art, wie du dir fast täglich das Konzert von dieser rehäugigen Prinzessin anglotzt. Du bist von ihr ja schon fast so besessen wie dieser Daniel Bieler. Hättest du ein Höschen von ihr …“
„Vorsicht!“ Eric erhob abwehrend eine Hand, als würde sie ihn mit Gegenständen bewerfen. „Überleg dir genau, was du jetzt sagen willst!“
„Das tue ich immer“, entgegnete sie kühl. „Du ziehst dir nächtelang das verdammte Konzert dieser kleinen Sängerin mit ihren hässlichen Liedern rein. Hörst dir an, wie die sich selbst zerfleischt. Danach kriechst du zu mir ins Bett und willst Liebe. Aber meinst du wirklich noch mich, wenn du mit mir schläfst? Fehlt nur noch, dass du ihren Namen stöhnst, wenn du kommst. Und musst du dich eigentlich jeden Abend betrinken? Als ob du immer mehr den Kontakt zur Realität verlierst. Merkst du das denn gar nicht? Eigentlich dürfte dir das Verhalten von diesem Bieler gar nicht so pervers vorkommen. Ihr könntet zusammen den ersten Janina-Nossak-Fan-Club gründen.“
Eric starrte Marie fassungslos an. Dass sein erhöhter Alkoholkonsum zur Sprache gekommen war, überraschte ihn nicht. Ihm war seit einiger Zeit selbst klar, dass er es mit dem Wein und Martinis am Abend eindeutig übertrieb. Aber Marie ritt ihre Attacken auf breiter Front. Ihre Angriffe waren verletzend. Und einmal in Fahrt war sie nicht gewillt, sich von Eric aufhalten zu lassen.
„Erst letztens hast du mir gesagt, wie toll du es findest, wenn ich mein Haar hochstecke“, fuhr sie verbittert fort. „Ich bin nicht bescheuert, Eric! Sie sitzt mit hoch gestecktem Haar am Klavier oder etwa nicht? Was soll ich noch tun, um ihr ähnlicher zu werden? Kaufst du mir demnächst die Klamotten, die sie bei Ihrem Konzert trägt? Oder wollen wir es mal auf einem Klavier treiben, während ihre Musik im Hintergrund läuft?“
Ärgerlich sprang sie vom Sofa auf und verließ mit ihrem Martiniglas das Zimmer. Eric hörte, wie sie in der Küche den Kühlschrank aufriss und sich offenbar nachschenkte. Ihr Gefühlsausbruch war für ihn überraschend gekommen. Solche Überreaktionen waren sonst überhaupt nicht ihre Art. Insofern traf ihn ihr Verhalten völlig unvorbereitet. Sie kehrte mit einem normalen Wasserglas zurück – randvoll mit Martini. Eric wollte etwas sagen, aber sie hob gebieterisch die Hand, setzte sich in den Sessel ihm gegenüber und nahm einen großen Schluck. Dann versuchte sie zu lächeln, immer noch warnend die Hand erhoben.
„Ich hoffe, du verstehst, was ich meine“, sagte sie wieder etwas sanfter. „Du hast dich verändert, seit du dich mit dieser Sängerin beschäftigst. Manchmal denke ich, die ist längst bei uns eingezogen. Ich lese im Bett, während du dich im Wohnzimmer mit ihr vergnügst. Sie singt und du säufst. Ja, vielleicht bin ich auch ungerecht. Aber irgendwas geschieht doch gerade mit uns. Merkst du das denn nicht? Du bist kaum noch ansprechbar. Was bei mir läuft, interessiert dich eh nicht mehr. Das macht mich echt wütend, Eric. Dir scheint nur noch Janina Nossak wichtig zu sein. Aber ich kann diese traurige Stimme einfach nicht mehr ertragen. Diese furchtbaren Texte! Alles nur hoffnungslos und schmutzig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass aus der ein großer Star geworden wäre. Diese Musik und die Texte hätten die Selbstmordrate in der Stadt deutlich nach oben getrieben, meinst du nicht? Nach diesem Konzert möchte man doch am liebsten aus dem Fenster springen. Und du willst wissen, was ich davon halte? Nichts! Ich will das einfach nicht mehr hören.“
Eric wirkte ratlos.
„Vielleicht ist es im Moment tatsächlich etwas sehr extrem“, gab er zu. „Die Recherchen binden viel Zeit. Da bleibt für uns nicht viel übrig. Neben meinem Buchprojekt muss ich halt auch noch Auftragsarbeiten erledigen, um Geld zu verdienen.“
Sie nickte und trank. Trank und nickte wieder.
„Genau. Ich muss auch Geld verdienen. Aber mich nervt dieser Mist in der Redaktion. Ich komme einfach nicht voran. Nur, sobald ich mit dir darüber reden will, blockst du ab. Mein Leben ist für dich wohl nicht mehr interessant genug. Wahrscheinlich müsste ich spurlos verschwinden, damit du mich wieder zur Kenntnis nimmst.“
„Das ist Quatsch!“, widersprach er, wohl wissend, wie Recht sie hatte.
„Ich könnte natürlich mal mit meinem Chefredakteur ins Bett steigen“, fuhr sie fort, während sie ihr Glas schon zur Hälfte ausgetrunken hatte. „Das könnte meiner Karriere den nötigen Schub geben. Nils hat den Ruf, im Bett etwas härter zur Sache zu gehen. Aber wenn es meinem Job nützt, warum nicht? Und Handschellen im Bett – das wäre doch mal was anderes.“
Marie formulierte bereits etwas schwerfällig.
„Vielleicht solltest du noch mehr trinken“, schlug Eric ärgerlich vor. „Da scheinen dir ja wirklich die besten Ideen zu kommen.“
Sie lachte bitter.
„Beim Trinken passt es wenigstens noch mit uns. Doch mit dir kann ich kaum mithalten.“