
Der Wind inmitten wilder Schwäne
von
Bettina Reiter
Seiten: (ca.) 337
Erscheinungsform: Originalausgabe
Erscheinungsdatum: 1.11.2016
ISBN: eBook 9783956070365
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Kingstown/Irland 1910: Catherine wächst mit ihren Geschwistern auf dem beschaulichen Landsitz „Wild Swan“ auf. Doch der Frieden ist trügerisch und als eine Revolution ausbricht, schlägt das Schicksal erbarmungslos zu. Aber es ist nicht Catherines einziger Gegner. Bald muss sie um ihr geliebtes Land kämpfen und ausgerechnet der Sohn ihrer Widersacherin steht ihr zur Seite. Ein Mann, mit dem sie mehr verbindet als sie ahnt …
Details
- Titel
- Der Wind inmitten wilder Schwäne
- Autor
- Bettina Reiter
- Seiten
- 337
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Preis (eBook)
- 5,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956070365
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Bettina Reiter
Der Wind inmitten wilder Schwäne
Roman
– When You Are Old –
When you are old and grey and full of sleep,
And notting by the fire, take down this book,
And slowly read, and dream of the soft look
Your eyes had once, and of their shadows deep.
How many loved your moments of glad grace,
And loved your beauty with love false or true,
But one man loved the pilgrim soul in you,
And loved the sorrows of your changing face.
And bending down beside the glowing bars,
Murmur, a little sadly, how Love fled
And paced upon the mountains overhead
And hid this face amid a crowd of stars.
William Butler Yeats
Ich widme dieses Buch meiner Großmutter, deren Stärke ich bewundere
und deren Liebe zu ihrer Farm auch mein Leben geprägt hat.
Prolog – Kingstown, Juni 1890
Voller Dankbarkeit blickte Tatty auf die Irische See hinaus, auf ihre Muir Éireann. Von der Veranda ihres Cottage aus hatte sie einen wunderbaren Blick. Wie oft sie den Sonnenuntergang gesehen hatte, konnte sie nicht mehr zählen – und doch war jeder etwas Besonderes. Einzigartiges. Heute lag ein sattes Orange über den wilden Klippen und glitzerte über die Muir Éireann, die ruhig da lag, als würde sie – ebenso wie sie selbst – einen Moment lang ehrfürchtig den Atem anhalten. Lediglich zwei Schiffe fuhren auf den Hafen zu und trieben Wellen hinter sich her.
„Du siehst wunderschön aus“, hörte Tatty eine Stimme an ihrem Ohr und wandte sich Laurence lächelnd zu. Wie üblich saßen sie nebeneinander in den gemütlichen Rattan-Stühlen und hielten sich an den Händen. Ein warmes Gefühl durchströmte sie.
„Seit fünf Jahren liebe ich dich nun schon“, fuhr Laurence mit rauer Stimme fort, „und werde es bis ans Ende meiner Tage tun.“
Gespielt böse schaute Tatty ihn an. „Der Tod hat keinen Platz in meinem Leben. Das solltest du inzwischen wissen.“
Er lachte auf, bevor er zärtlich ihre Hand küsste. „Du bist eine ganz besondere Frau.“ Seufzend ließ er seinen Blick über ihr Land schweifen. „Genau wie Wild Swan. Ein Flecken Erde, den ich inzwischen genauso verehre, wie du es tust. Nie zuvor habe ich mich so lebendig gefühlt wie hier … wie in deiner Nähe. Im Grunde muss ich Clarice dankbar sein, dass sie so erpicht darauf gewesen ist, Wild Swan zu kaufen.“
Ein kleiner Stachel der Eifersucht bohrte sich in Tattys Herz. „Kingstown ist nicht weit entfernt von Dublin. Irgendwann kommt deine Frau hinter unsere Affäre. Es ist ohnehin ein Wunder, dass wir nicht längst aufgeflogen sind.“
„Affäre.“ Sein Gesicht zog sich zusammen. „Das klingt so abwertend. Du bist weit mehr als das. Ich hoffe, das weißt du.“
Das tat sie. Laurence hatte ihr nie das Gefühl gegeben, lediglich eine billige Geliebte zu sein. Er nahm Anteil an ihrem Leben und war da, wenn sie ihn brauchte. Nebenbei war er unglaublich attraktiv mit seinem aschblonden vollen Haar, das ihm ständig in die Stirn fiel, den strahlenden, rauchblauen Augen, dem markanten Gesicht und dem kräftigen Körperbau. „Unsere erste Begegnung werde ich nie vergessen“, schwelgte sie in ihrer Erinnerung. „Anfangs dachte ich, du wärst ein aufgeblasener Wichtigtuer. Davon abgesehen hast du ziemlich verkleidet ausgesehen in deinem Anzug. Von deinem Kaufangebot für mein Gut will ich gar nicht erst anfangen.“
„Du hast mich ausgelacht“, beschwerte er sich mit gutmütigem Blick. Tatty dachte sofort an jenen schicksalshaften schwülen Sommertag zurück. Wie versteinert hatte er vor ihr gestanden und erbost um eine Erklärung für ihre Heiterkeit gebeten. „Deine Antwort war, dass ich meine Schuhe ausziehen, die Hose bis zu den Knien aufrollen und mit dir über Wild Swan spazieren soll.“ In seinen Augenwinkeln glitzerten plötzlich Tränen. „Ich habe es getan. Mein Gott, ausgerechnet ich habe es getan. Weil dich ein Zauber umgibt, dem man sich nicht entziehen kann. In der nächsten Sekunde habe ich zum ersten Mal gespürt, was Freiheit heißt. Die Freiheit, etwas einfach zu tun. Ohne Rücksicht darauf, was sich andere denken könnten. So viele Jahre habe ich mich wie eingesperrt gefühlt. Die Brennerei war mein Lebensinhalt und natürlich bedeutet sie mir viel. Doch ich hatte keinen Blick für andere Dinge. Erst durch dich habe ich mich selbst gefunden. Das werde ich dir nie vergessen, Tatty.“
Sie küssten sich zärtlich auf den Mund. „Was du mir jedes Mal aufs Neue zeigst“, sagte sie dann dicht vor seinen Lippen. „Trotzdem musste ich dein Kaufangebot ablehnen.“
„Und das bei der Summe.“ Laurence grinste. „Wild Swan ist nicht zu verkaufen“, ahmte er sie nach, „denn wenn ein Schwan liebt, tut er es ein Leben lang. Auf dieselbe Weise liebe ich mein Land.“
„So ist es und daran wird sich nie etwas ändern.“ Tatty lehnte ihren Kopf an Laurences Schulter, umschloss seine Hand mit ihren beiden Händen, und zog sie nahe an ihr Herz. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich nach dem Tod ihres Mannes noch einmal verlieben würde, schon gar nicht in einen der reichsten Männer Irlands. Weder von seinem Wohlstand noch von seiner Frau hatte sie anfangs etwas geahnt. Laurence war in zweiter Ehe verheiratet. Seine erste Frau hatte die Geburt seines Sohnes Johann nicht überlebt. Hals über Kopf hatte er zwei Jahre später seine Schreibkraft geheiratet, die eine Tochter mit in die Ehe brachte. Nun schlug er sich mit zwei raffgierigen Frauen herum.
„Ich kann nicht verstehen, wie sich Johann auf Esther einlassen konnte.“ Laurence seufzte tief. Seit drei Jahren waren sein Sohn und die Stieftochter ein Paar. „Als würde er die Augen davor verschließen, was ich mit ihrer Mutter durchmache. Clarice ist kalt und berechnend. Sicher, sie hat Sinn für das Geschäftliche, nur kriegt sie den Hals nicht voll und lebt auf großem Fuß. Dass sie dein Land als Standort für eine weitere Brennerei haben möchte, mag naheliegen, aber ein Nein kommt für sie nicht infrage. Wenn Clarice etwas will, dann bekommt sie es auch. Ihre Tochter ist aus demselben Holz geschnitzt.“
„Da lobe ich mir meinen Sohn Chester“, bekannte Tatty. „Der Junge macht mir viel Freude, obwohl er momentan nur seine Florence im Kopf hat und fast jede Nacht bei ihr ist. Ich bin neugierig auf das Mädchen. Er will sie mir übernächste Woche vorstellen. Ich schätze, er meint es ernst.“
„Auch wir sollten endlich Nägel mit Köpfen machen.“ Laurence beugte sich vor und nahm das Glas Rotwein vom Tisch. In der Mitte stand ein Topf mit blühenden roten Geranien. „In den nächsten Tagen werde ich mit Johann über uns sprechen. Ich bin sicher, dass mich mein Junge verstehen wird und sich dein Sohn ebenso mit uns freut.“
Bisher hatte sie Chester nichts von Laurence erzählt, weil sie sich einig gewesen waren, ihre Liebe vorerst für sich zu behalten. „Esther und Clarice werden dir die Hölle heiß machen.“
„Und wenn schon. Ich bin ein mächtiger Mann und lasse mich von niemandem gängeln. Deswegen werde ich einige Dinge regeln, unter anderem mein Testament. Man weiß ja nie.“ Er trank einen Schluck.
„Mich lässt du bitte außen vor.“
„Tatty“, begann er mit weicher Stimme und stellte das Glas zurück, „neben meinem Sohn und meinem Enkel David bist du der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich möchte, dass es dir und Chester gut geht. Mich kostet es höchstens ein müdes Lächeln, wenn ich dir mit einer monatlichen Zahlung unter die Arme greife.“
„Das will ich nicht.“ Sie ließ seine Hand los, erhob sich und umschloss mit beiden Händen die Verandabrüstung. „Wir schaffen es allein.“
„Wie denn?“ Er trat hinter sie. „Über kurz oder lang werden deine finanziellen Mittel aufgebraucht sein. Im dem Fall stellt sich nicht mehr die Frage, ob du Wild Swan verkaufen willst oder nicht.“ Sanft drehte er sie zu sich um. „Lass mich euch helfen.“
„Das hast du bereits einige Male getan. Diese Durststrecke müssen wir allein bewältigen.“
„Warum machst du es dir so schwer, wenn es einfacher geht?“
„Weil ich meinen Stolz habe.“
„Den du dir nicht leisten kannst. Es sei denn, du willst Wild Swan verlieren.“
„Natürlich nicht“, entgegnete Tatty energischer als sie wollte.
„Siehst du. Außerdem werden wir ohnehin in absehbarer Zeit heiraten. Dann gehört dir ein Zehntel von der Brennerei und mir ganz Wild Swan.“ Grinsend zwinkerte er ihr zu.
„Das hättest du wohl gern.“ Ihr gemeinsames Lachen hatte etwas Befreiendes, denn die Last der Schulden drückte mit jedem Tag mehr. Auch etwas anderes, das um vieles schwerer wog. Doch wenn Laurence sie in die Arme nahm – so wie jetzt – trat alles andere in den Hintergrund.
Unendlich zärtlich küssten sie sich.
„Du gibst wohl nie auf, was?“, neckte sie ihn, als sie sich voneinander gelöst hatten. Laurence schüttelte den Kopf. „Na gut, ich werde darüber nachdenken.“ Damit schien er fürs erste zufrieden zu sein und als sie sich an ihn schmiegte, fiel ihr Blick auf das Bild, das er ihr heute geschenkt hatte. Laurence war ein leidenschaftlicher Fotograf und hatte sie vor zwei Wochen abgelichtet. Wie glücklich sie in ihrem weißen Kleid wirkte, das er so sehr an ihr mochte.
„Warte kurz.“ Tatty schlüpfte aus ihren Schuhen und eilte ins Esszimmer. Dort kurbelte sie das Grammophon an, bevor sie das Fenster sperrangelweit öffnete und als sie wieder hinausging, ertönte ihr gemeinsames Lieblingslied: ‚Molly Malone‘.
In der nächsten Sekunde tanzten sie über die Veranda, die vom Abendlicht erfasst wurde. Dabei juchzte Tatty. Weil sie voller Lebensfreude war. Weil Laurences Lachen etwas Ansteckendes hatte, wie sein Übermut. In diesem Moment gab es nur sie beide auf der Welt. So wie am Bloomsday. An diesem besonderen Tag hatten sie sich kennengelernt. Jedes Jahr taten sie, als würden sie sich zufällig über den Weg laufen, um ihn gemeinsam zu verbringen. Wenn der Abend hereinbrach, tanzten sie im Hafenlokal, bis ihre Füße wund waren. Später – im Schutz der Dunkelheit – liebten sie sich unten an der Bucht. Zwei Menschen, die sich selbst genügten. Sich alles gaben, und alles einforderten.
„Wirst du mich heiraten, wenn ich von Clarice geschieden bin?“, fragte er nahe ihrem Ohr. „Obwohl du deine Freiheit liebst?“
Tatty blickte ihm tief in die Augen. „Du bist meine Freiheit, Laurence.“
In dieser Nacht liebten sie sich auf fast schmerzvolle Weise. Nie zuvor hatten sie sich bewusster wahrgenommen. Nie zuvor hatte Tatty seine Berührungen intensiver gespürt, nie hatte sie ihn intensiver berührt. Als er in der Morgendämmerung nach Hause fuhr, winkte sie ihm nach, bis sein Fahrzeug in der Kurve verschwunden war. Auch das hatte sie nie zuvor getan. Den Abschiedsschmerz nahm sie mit sich, als sie barfuß durch das hohe feuchte Gras schlenderte. Auf der Anhöhe blieb sie stehen und schaute zum Cottage hinunter. Zum Leuchtturm, der drüben auf einer Landzunge jede Nacht die Dunkelheit erhellte. Sie hörte das sanfte Rauschen der Wellen, die sich an den Felsen in der kleinen Bucht brachen. Dachte an die vielen Gewitterregen, die sie mit ihren fünfundvierzig Jahren erlebt hatte. An die unzähligen Sommertage, lau oder erfüllt mit flirrender Hitze. Oft hatte sie im Schatten der Bäume gesessen und auf Bäche geschaut, die wie blanke Spiegel geleuchtet hatten. Da waren die Berge mit ihren vergletscherten Spitzen, zerklüftete Felsen mit den unnachahmlichen Hochplateaus. Das wilde Gras, das sich in alle Richtungen neigte, als könne sich die hereinwehende Meeresbrise nicht entscheiden, wohin sie wollte. Steinmonumente, Boten vergangener Jahrhunderte, die so viel Zeit in sich trugen. Standhaft trotzten sie den Gegebenheiten, herrschten über die Hügel und thronten über den Tälern, auf denen Schafe weideten. Manchmal war die Sicht klar, manchmal verschwand alles hinter einer Nebelwand. So war Irland. Mystisch und geheimnisvoll. Wie ihr geliebtes Wild Swan. Es war der schönste Ort, um zu leben. Aber der schlimmste, wenn man den Tod vor Augen hatte.
Tränen rollten über ihre Wangen, als sie sich auf ihren Lieblingsstein nahe der Waldlichtung setzte. Seine rotbraune Farbe stach aus dem üblichen Grau heraus und er war mit unzähligen Kerben übersät.
Einige Wochen vielleicht, hatte ihr der Arzt vorgestern gesagt. Lapidar, als habe sie eine Erkältung. Nach wie vor stand sie neben sich und wusste nur, dass etwas in ihrem Körper wucherte, das nicht dorthin gehörte.
Tatty sah zum Himmel empor. „Warum tust du mir das an?“ Sie hörte selbst, wie zornig sie klang. Ja verdammt, sie war zornig! „Weshalb ich? Was habe ich dir getan? Siehst du nicht, dass mein Paradies hier ist? Genau hier?“ Sie schluchzte auf. Die Muir Éireann verschwamm vor ihren Augen. „Was wird aus meinem Sohn? Sag es mir.“ Chester zu verlassen – das eigene Kind verlassen zu müssen – brach ihr das Herz. Nie würde sie seine Hochzeit erleben, ihre Enkelkinder im Arm halten dürfen oder mit Laurence offen ihre Liebe leben können. Nein, der Tod war in ihrem Lebensplan niemals vorgekommen. Dafür hatte sie das Leben zu sehr geliebt. Jeden neuen Tag, wie er sich jetzt am Horizont ankündigte. Doch heute war es anders. Sie wollte nicht, dass der Tag kam, die Nacht ging. Weil es ihr letzter Tag sein könnte, die letzte Nacht. Um keinen Preis wollte sie loslassen. Dennoch wusste sie, dass sie es tun musste. Weil die Schmerzen wiederkamen, als wollten sie an das Unvermeidliche erinnern. Grob wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, bevor sie sich das Tuch enger um die Schultern zog. „Einige Wochen.“ Tatty ließ ihren Blick über Wild Swan schweifen, bevor sie zum blassblauen Himmel hochblickte. „Nur wenige Wochen, um Lebewohl zu sagen.“
Kapitel 1
Anfang Juni 1910 – 20 Jahre später
Jeden Tag um dieselbe Zeit saß Catherines Vater nach dem Mittagessen in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda und las die Zeitung. Danach faltete er sie sorgsam zusammen und blickte meistens gedankenverloren auf die Irische See hinab. Sobald Catherine der Mutter in der Küche geholfen hatte, lief sie zu ihm, damit sie diese Momente gemeinsam mit ihm erleben konnte. Momente, die nur ihr gehörten. Leider schafften es ihre dämlichen Brüder oft, dass dieses Vergnügen nur von kurzer Dauer war. Auch heute war es nicht anders.
„Gehst du mit uns angeln, Vater?“ Thomas faltete die Hände wie zum Gebet. Die dreckumrandeten Fingernägel schrien geradezu danach, geschnitten zu werden. Bis zum Nagelbett. Himmel, sie hätte ihn zum Mond schießen können. Besonders, da er ihr die Zunge herausstreckte, als der Vater zu George blickte, der aus dem Haus geschossen kam. Bewaffnet mit drei Fliegenruten in der prallen Hand. Die Brüder setzten wie üblich voraus, dass ihnen der Vater diesen Wunsch nicht abschlagen würde, womit sie richtig lagen. Ehe Catherine sich’s versah, schob der Vater sie von seinem Schoß, griff zur Brille auf dem Rattan-Tisch und setzte sie umständlich auf. Das silberne Gestell war verbogen, weil er sich einige Male daraufgesetzt hatte. Gottlob war das Glas nie zu Bruch gegangen, da eine Reparatur nicht billig war.
„Glaubt ihr, dass wir diesmal mehr Glück haben als letzte Woche?“, fragte der Vater augenzwinkernd und nahm die graue Anzugjacke von der abgeblätterten Sessellehne. Angeln gehörte zu seiner liebsten Beschäftigung, wozu er Sonntage wie heute nutzte.
Catherines Hand umspannte die Verandabrüstung. Sie blickte zu ihrem vierzigjährigen Vater hoch, während er die Jacke überstreifte. Liebenswürdigkeit umgab ihn. Wie einen Kamin, der Wärme verbreitete. Obwohl seine Gutmütigkeit Grenzen hatte. Ab und zu konnte man heiße Ohren bekommen, wenn er schimpfte. Im Gegensatz zur Mutter wurde er allerdings nur selten wütend und erhob niemals die Hand gegen seine Kinder. Meistens war er nachgiebig und verständnisvoll. Trotzdem forderte er einiges von ihnen ein. Jedes Kind erhielt mit zunehmendem Alter mehr Aufgaben.
„Nichts ist schlimmer als unvorbereitet ins Leben geschubst zu werden“, war einer seiner Leitsätze. Meistens sagte er dies in Gegenwart ihrer Brüder, die ziemlich faul und träge waren. Ihre Figur war das beste Indiz dafür. Beide sausten pummelig durchs Leben, hatten braune Augen, fleischige Pausbacken, Sommersprossen auf den Knollennasen und feuerrotes schulterlanges Lockenhaar. Das hatten sie vom Vater geerbt, der es allerdings über die Sommermonate hinweg kurzgeschoren trug. Ansonsten war ihr Vater von großer Statur, worin sie ihm ähnelte. Schon jetzt mit zehn war sie größer als Thomas, obwohl er um ein Jahr älter war.
„Wartet hier, Jungs. Ich ziehe mich schnell um.“ Der Vater wollte an den Brüdern vorbei, als er auf einmal inne hielt. „Oder wie wäre es mit einer Runde Hurling?“ Thomas und George maulten wie Esel, die partout nicht aus dem Stall wollten. „Beim Angeln fehlt euch die Bewegung. Ihr liegt ohnehin rum wie braches Fleisch.“
Catherine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der neunjährige George zeigte ihr die Faust. Thomas warf ihr einen grimmigen Blick zu und steckte die Hände in die Hosentaschen. Der Ausbeulung zufolge ballte auch er die Hände.
„Halt besser deinen Mund, Schwester“, zischte Thomas ihr zu, als der Vater achselzuckend im Haus verschwunden war, „du Bohnenstange.“
Energisch packte Catherine ihn beim Kragen und zog ihn nahe zu sich. Er roch nach gebratenem Speck. „Hüte deine Zunge, Thomas Griffith. Ansonsten verabreiche ich dir erneut eine Tracht Prügel, dass dir Hören und Sehen vergeht.“
„Du bist nicht besser als Mutter!“
Catherines Zorn wuchs. „Im Gegensatz zu ihr habe ich wenigstens einen triftigen Grund, dir eine runterzuhauen.“
Thomas’ Augen weiteten sich. Er nahm die Hände aus den Taschen und hob sie beschwichtigend in die Höhe. „Schon gut.“
„Schon gut … was?“
„Äh, entschuldige.“ Sie ließ ihren Bruder los, aber nicht aus den Augen. Mit finsterer Miene richtete er sich den ockerfarbenen Pullover, auf dem Flecken von mindestens zwei Wochen klebten. Man hätte locker an ihnen ablesen können, was er gegessen hatte. Mit der Sauberkeit hatte besonders er Probleme.
„Du hättest ein Junge werden sollen“, meldete sich Georgie mutig zu Wort, trat allerdings ein paar Schritte zurück. „Du ziehst dich nicht nur an wie einer, sondern haust zu wie unsereins.“
„Dass ich aussehe wie ein Junge, habe ich euch Blödmännern zu verdanken. Und was heißt: wie unsereins?“, höhnte Catherine und setzte sich in den Schaukelstuhl. „Selbst der Leprechaun ist stärker als ihr beiden zusammen, obwohl er ein Zwerg ist.“
Georgie verzog das Gesicht. „Hör auf, sonst kann ich nicht schlafen.“
Thomas’ Ellenbogen traf ihn in die Rippen. „Sie will dir nur Angst machen, Bruder.“
„Du nimmst den Mund ziemlich voll, Thomas.“ Catherines Schaukeln wurde heftiger. Ständig fühlte sie sich von ihren Brüdern provoziert. Von Kindheitstagen an machten sie sich einen Spaß daraus, ihre Schwester Johanna und sie aufzuziehen. Aber Torf in den Schuhen, Ameisen im Bett oder Regenwürmer im Essen waren nichts gegen das, was sie sich vor zwei Wochen geleistet hatten: Mitten in der Nacht hatten sie ihr das lange tizianrote Lockenhaar abgeschnitten. Sie hatte ausgesehen als habe sie ein Vogelnest auf dem Kopf, über das ein Orkan gefegt war. Zuerst hatte die Mutter selbst versucht, dem Schlachtfeld Herr zu werden. Schließlich hatte sie aufgegeben und sie zum Friseur geschleppt. Bei ihrem Anblick hatte Mr. Doodley die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ihr anschließend einen Bubikopf verpasst.
Bubikopf, der Name sagte alles!
Dass der Vater ihren Brüdern ordentlich die Leviten gelesen hatte – weil ihr Streich ein Loch in sein sauerverdientes Portemonnaie gefressen hatte – war nur ein kleiner Trost gewesen. Zum ersten Mal hatte sie sich mit Fäusten gegen die grobe Behandlung gewehrt und der Erfolg für sich gesprochen. Nach wie vor prangte ein markanter blauer Fleck auf Thomas’ Wange. Georgie hatte einen seiner strahlend weißen Milchzähne verloren. Natürlich war sie dafür vom Vater getadelt worden, doch das war ihr egal gewesen. Erstens hatte es gut getan, sich zu wehren, zweitens wussten ihre Brüder seitdem, dass sie lieber einen Mindestabstand zu ihr einhalten sollten. Die Nachbarskinder würden sich vor Lachen biegen, wenn sie von der Niederlage ihrer Brüder erfuhren.
„Äh, du wirst das nicht rumerzählen, oder?“, erkundigte sich Thomas, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Vor allem Robert nicht.“
Ein Name, der Catherine beim Schaukeln innehalten ließ und mit Vorfreude erfüllte. Während ihr Vater und die Brüder das Cottage verließen, dachte sie an ihren besten Freund. Seit sie denken konnte, kamen Robert und seine Eltern den Sommer über nach Kingstown. Sie wohnten im County Cork. Ihr Pa und Roberts Vater hatten gemeinsam in London studiert, die enge Freundschaft hielt bis heute an und Roberts Vater hatte es zu Geld und Ansehen gebracht. Er besaß sogar ein nagelneues Auto, frisch aus Amerika importiert. Zumindest hatte Robert davon in seinem letzten Brief geschrieben.
Den Wochen mit ihm blickte sie jedes Jahr voller Freude entgegen und war gleichzeitig nervös und aufgeregt. Robert war ein Spielgefährte, mit dem sie die Welt anders erlebte. Er scheute sich nicht, Verbotenes zu tun.
In einer Woche würde er endlich kommen und sie konnte es kaum erwarten. Umso mehr schob sie die Erinnerung an die letzten Monate von sich, in denen sie ihn schrecklich vermisst hatte. Obwohl sie sich oft schrieben, nichts konnte seine Gegenwart ersetzen. Wenigstens lenkten sie seine Briefe kurzzeitig ab und verdrängten sogar die Traurigkeit. In letzter Zeit stritten sich ihre Eltern immer häufiger. So laut, dass es kaum zu überhören war. Daran musste Catherine denken, als sie am späten Nachtmittag ihrer Mutter bei der Hausarbeit half.
Sie bezogen die Betten neu und wuschen Wäsche am nahen Bach. Emma und Johanna halfen mit. Neidisch schaute Catherine auf die langen blonden Haare ihrer Schwestern, die bei jeder Bewegung mit der Sonne spielten, oder umgekehrt. Bis ihre Mutter ein Volkslied anstimmte, in das zumindest die Schwestern fröhlich einfielen. ‚Down by the Salley Gardens‘ erschallte es alsbald, wobei Catherine verstohlen ihre Mutter musterte. Sie lachte zunehmend seltener, schlich still und gebeugt durch das Haus. Eine strenge Protestantin mit deutschen Wurzeln, die ihnen viele Verbote erteilte. Zart und klein, dafür umso energischer, mit weizenblondem Haar und blauen Augen. Umarmungen oder Nähe schien sie in den letzten Jahren nicht mehr ertragen zu können. Nur die vierjährige Emma durfte manchmal auf ihren Schoß. Wenngleich kurz.
Was hatte ihre Mutter so verändert? Früher war sie warmherzig gewesen, hatte ihnen Geschichten vorgelesen oder mit ihnen gespielt. Aber das hatte sich von einem Tag auf den anderen geändert. Jegliche Wärme war aus ihren Augen gewichen und oft musterte sie den Vater mit einer unbeschreiblichen Kälte. Als würde sie ihm die Schuld für etwas geben, worunter sie litt. Womit sie grollte, was sie quälte. Mit demselben Blick wurden auch ihre Geschwister und sie bestraft. Ob es an den vier Freundinnen lag, die ihre Mutter seit Jahren regelmäßig besuchten oder zu sich einluden? Reiche Frauen, die sich alles leisten konnten. Jedes Mal kehrte die Mutter verstimmt zurück und schwärmte tagelang von den feudalen Häusern der Frauen. Nein, eigentlich hatte ihre Stimme etwas vorwurfsvolles, besonders in Gegenwart des Vaters. Es tat weh, wenn er nach jedem ihrer Monologe mit hängenden Schultern den Raum verließ.
Das Lied verklang.
„Hast du den Text vergessen oder warum singst du nicht mit?“, fragte Johanna und wrang das nasse Laken aus.
„Du weißt, dass ich eine miserable Stimme habe, Hannie.“ Catherine nahm das Laken entgegen und legte es in den geflochtenen Korb neben sich. „Außerdem mag ich das Lied nicht sonderlich.“
„William Butler Yeats hat es geschrieben“, fuhr die Mutter sie an. „Ein Mann wie er verdient Respekt, junge Dame. Immerhin hat er es weit gebracht und führt ein Leben, von dem wir nur träumen können. Außerdem ist er ein enger Vertrauter meiner Freundinnen.“
„Entschuldige bitte, Mama.“ Catherine hob schnell den Korb auf. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Yeats mit den Frauen bekannt war. Gleichzeitig wusste sie, dass sie mit ihrer Aussage den Zorn der Mutter herausgefordert hatte. Niemand durfte die Freundinnen beleidigen – sei es auch nur im Entferntesten – ansonsten fuhr sie die Krallen aus. Ein Einsatz, den sie ihrer Familie vorenthielt. „Ich werde die Wäsche aufhängen.“
„Ach ja? Seit wann bestimmst du, wann unser Gespräch zu Ende ist?“ Mit funkelnden Augen baute sich die Mutter vor ihr auf. Catherine fixierte ihre rechte Hand. Eine Hand, die ihr oft genug auf schmerzhafte Weise klarmachte, dass sie ständig alles falsch machte. „Du bist eine undankbare kleine Kröte.“ Der Schlag traf Catherine trotz ihrer Ahnung unvermittelt. Sie taumelte zurück, der Korb entglitt ihr. Emma schrie auf und drängte sich an Hannie, als habe sie soeben selbst eine Ohrfeige bekommen. „Wag es ja nicht zu weinen“, brüllte die Mutter, deren Stimme über das Hochplateau hallte. „Du weißt, wie sehr ich Menschen verabscheue, die sich nicht beherrschen können. Tränen widern mich an.“ Wutschnaubend schritt sie davon. Catherine starrte ihr mit brennenden Augen hinterher und spürte das schmerzvolle Pulsieren auf ihrer linken Wange.
„Das habe ich nicht gewollt, Cat“, hörte sie Hannies dünne Stimme. „Und Mutter hat es bestimmt nicht so gemeint.“
„Doch, das hat sie.“ Catherine sammelte die Laken ein, die um sie herum verstreut waren und stopfte sie wütend in den Korb. Dann hob sie ihn auf und presste ihn an sich. So fest, dass er in ihr Fleisch drückte. Es schmerzte, aber nichts auf der Welt würde mehr wehtun als die Ohrfeige der Mutter. Ihr zorniger Blick. Die Ungerührtheit. Die Abscheu. „Sie wird es immer wieder tun.“ Hannie löste sich von Emma und kam auf Catherine zu.
„Bitte, lass es“, wies sie ihre Schwester zurück. Eine Umarmung hätte sie in Tränen ausbrechen lassen. Allein Hannies Blick genügte, um sie beinahe die Beherrschung verlieren zu lassen. Darum eilte Catherine zum Cottage hinunter und hängte die Wäsche auf. Danach zog sie sich in ihr Zimmer im ersten Stock zurück, das sie mit ihren Schwestern teilte, und führte ein Zwiegespräch mit Gott.
Nein, sie dachte nicht im Traum daran, ihn um Hilfe zu bitten, sondern wandte sich mit geballter Wut gegen ihn. Wie konnte er zulassen, dass sich die Mutter auf diese Weise veränderte? Die eigene Mutter! Zwar ging es den Geschwistern nicht besser, doch sie bekam am meisten ab. Vielleicht deswegen, weil sie sich oft schützend vor alle stellte, ungeachtet dessen, was sich ihre Brüder geleistet hatten. Inzwischen dachte die Mutter wohl, sie wäre ein willkommener Prellbock. Eines Tages würde sie jedoch kräftig genug sein, um sich gegen die Schläge zu wehren.
„Ach Granny, du wüsstest sicher einen Ausweg“, entfuhr es Catherine, als sie an ihre Großmutter dachte. Sie kannte Tatty nur aus den Erzählungen ihres Vaters. Trotzdem war sie ihr näher als die eigene Mutter.
Auf einmal spürte Catherine einen Luftzug. Erschrocken wandte sie sich zur Tür und entspannte sich wieder, als sie ihren Vater erblickte.
„Hannie meinte, dir geht es nicht gut“, sagte er mit besorgter Miene und ließ sich neben ihr auf die Bettkante sinken. Seine Wangen waren gerötet, auf der Stirn standen Schweißperlen. Vorsichtig umfasste er Catherines Kinn und betrachtete ihr Gesicht. „Was ist das für ein Fleck an deiner Wange? Bist du wieder auf einen Baum geklettert?“ In jeder Silbe schwang Hoffnung mit, obwohl er seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen die Antwort kannte. „Mutter?“, fuhr er zögernd fort. Catherine nickte. „Hast du etwas angestellt?“
„Ich habe gesagt, dass mir das Lied ‚Down by the Salley Gardens‘ nicht gefällt.“
Sein trauriger Blick streifte sie. „Das ist alles?“
„Ja, Pa. Das ist alles.“
Seine von blauen Adern durchfurchte Hand sank auf seinen Schoß. „So kann es nicht weitergehen. Ich muss ein ernstes Wort mit deiner Mutter reden.“
„Bitte nicht, sonst streitet ihr euch wieder.“
„Na und?“, fragte er zornig. „Ich kann mich wehren. Ihr nicht. Eine Ohrfeige mag gerechtfertigt sein, sofern ihr euch etwas Grundlegendes zuschulden kommen lasst. Aber ein Lied, das man nicht mag …“ Er schüttelte den Kopf. „Schlimme Kindheit hin oder her. Es kann nicht angehen, dass ihr unter Florences Vergangenheit leiden müsst.“
Die Mutter war ein Waisenkind gewesen, das von einem kinderlosen irländischen Paar aus einem Heim in Deutschland adoptiert worden war. Nach einem Jahr war ihre Ziehmutter überraschend schwanger und ihrer überdrüssig geworden. Kurzerhand war sie in ein Heim für schwererziehbare Kinder nahe Dublin gesteckt worden. Nur einmal hatte die Mutter weinend davon erzählt, wie viel Angst sie gehabt hatte unter den vielen Kindern, die sich gegenseitig gebissen, geschlagen und sogar mit Messern verletzt hatten. Die Nonnen seien nicht weniger grausam gewesen.
„Ich muss hinunter“, sagte Catherine, „und Mutter beim Kochen helfen.“
„Du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst.“
„Die Ohrfeige habe ich verdient, Pa“, beschönigte sie die Sache, weil sie nicht wollte, dass es ihm ihretwegen schlecht ging.
Er musterte sie stirnrunzelnd. Dann glätteten sich seine Züge. „Geh hinaus an die frische Luft. Hannie kann in der Küche helfen, die Jungs ebenso. Ich werde Florence sagen, dass ich es dir erlaubt habe.“ Er streichelte über Catherines Wange. „Du bist groß geworden, so erwachsen. Ich frage mich, wo mein kleines Mädchen geblieben ist? Jenes, das früher so viel gelacht hat. Du bist erst zehn Jahre alt und trägst eine beängstigende Ernsthaftigkeit mit dir herum. Etwas, wofür ich auch mir die Schuld gebe. Leider schaffe ich es nicht, eurer Mutter aus ihrer Lebenskrise herauszuhelfen.“ Ein Ruck ging durch seinen Körper. „Womit ich dich nicht belasten will, und nun geh …“
Das ließ sich Catherine nicht zweimal sagen und floh regelrecht aus dem Cottage. Umgehend schlug sie den Weg zur Waldlichtung ein. Ihr Lieblingsstein leuchtete von weitem und sie atmete tief durch, als sie sich hingesetzt hatte und mit den Handflächen über die vielen Kerben glitt. Dabei blickte sie zum Elternhaus hinunter.
Fast majestätisch thronte das zweistöckige Cottage auf dem Hochplateau und bot einen wundervollen Ausblick auf die Irische See und die Stadt. Kingstown galt als vornehmer Vorort Dublins. Viele gut situierte Familien hatten sich hier niedergelassen, deren imposante Villen die Küste schmückten. Auch die Buchten zogen die Menschen förmlich an. Das war nicht immer so gewesen, aber inzwischen wimmelte es den Sommer über vor Badegästen, die zudem stetig in das örtliche Kaffeehaus strömten. Außerdem sicherte sich Kingstown – das früher Dún Laoghaire geheißen hatte – zunehmend einen guten Namen als Hafenstadt.
Trotz der florierenden Wirtschaft und des Zustroms äußerte sich der Vater besorgt. Geld lockte Macht an und gegen viele andere Einwohner der Stadt waren sie kleine Fische. Nie hätten sie sich einen Besitz wie Wild Swan leisten können, schon gar nicht in der jetzigen Zeit. Umso häufiger betonte der Vater, wie dankbar er ihrer Großmutter sei, die das Familienanwesen erhalten hatte.
Catherines Blick schweifte zum schlichten Holzkreuz, das unweit von ihr aus der Erde ragte. Von hier oben hatte man einen freien Blick auf die Muir Éireann. Ihr Vater war davon überzeugt, dass Granny nirgends lieber ihre letzte Ruhe gefunden hätte.
Catherine seufzte. Das hellblau getünchte Cottage mit der weißen Veranda unter dem Vordach war seit zweihundert Jahren in Familienbesitz. Früher hatten dreißig Hektar Land dazugehört. Inzwischen hatte ihr Vater einige Wälder verkauft, um die Familie über Wasser zu halten. Vor einigen Jahren hatte er seine Arbeit im nah gelegenen Salzwerk aufgegeben und nun bauten sie Gerste an. Zu Beginn ein waghalsiger Schritt. Vor allem die Mutter hatte ihm vorgeworfen, ein zu großes Risiko einzugehen. Sogar einfältig hatte sie ihn genannt, weil er auf das sichere Einkommen verzichtete. Nun schien die Saat ihres Vaters jedoch aufzugehen. Vor einem Jahr hatten sie die erste große Ernte eingefahren. Gleichzeitig hatte er lukrative Verträge mit zwei großen Brennereien abgeschlossen – Trusts und Wolfe Mitchel –, die Whiskey herstellten. Gutes Geld, das sie zum ersten Mal seit langem ohne große Geldsorgen über die Wintermonate gebracht hatte. Die Investitionen lohnten sich, obwohl die Mutter nach wie vor nicht mit Häme sparte. Vor allem als der Vater die Holzhalle gebaut hatte, die einige Fußlängen von ihr entfernt über dem Gerstenfeld thronte.
Die Halle diente zum Mälzen der Gerste und hatte ein schmales Turmdach. Der Boden war aus gestampftem Lehm. Penibel lagerte ihr Vater die Gerste und sorgte mittels Befeuchtung für die Keimung. Das entstandene Grünmalz stand unter seiner persönlichen Betreuung. Niemand durfte ihm diese Arbeit abnehmen. Sogar das ständige Umschichten aufgrund der Wärmeentwicklung blieb ihm vorbehalten, weil das richtige Klima wichtig war. Lediglich beim Darren mit Torf durften sie helfen, um das Getreide lagerfähig zu machen. Besonders Thomas mochte das Hantieren mit dem heißen Rauch, der das Grünmalz durchzog.
Neben ihrem Elternhaus war im Laufe der Jahre eine kleine Werkshütte entstanden, in der ihr Vater Eichenfässer baute. In zwei Wochen hatte er ein Treffen mit der einflussreichen Familie Wolfe Mitchel, deren Brennerei in Dublin war und zu den größten in ganz Irland zählte. Er wollte die Fässer gewinnbringend verkaufen und betonte ständig, dass erst ein gutes Holzfass sowie die richtige Lagerung und Reife, einen Whiskey zu einem richtigen Whiskey machten.
Erneut seufzte Catherine.
Egal woran sie dachte, die Gedanken an die Mutter ließen sich nicht verdrängen. Ihr Kopf war plötzlich wie leergefegt. Nichts fiel ihr ein, womit sie sich ablenken konnte. Nichts, was dem Schlag die Wucht hätte nehmen können. Wäre der Vater nicht gewesen, sie wäre längst fortgelaufen.
***
„Eine gute Idee bedeutet noch lange kein Geld“, erklärte die Mutter einige Tage später am Frühstückstisch. Catherine mied tunlichst jeden Blickkontakt zu ihr. Als sie nach ihrem Spaziergang zurückgekommen war, hatten sich ihre Eltern so heftig gestritten, dass sich alle in ihre Zimmer verkrochen hatten. Einmal war ein klatschendes Geräusch zu hören gewesen. Der Abdruck im Gesicht des Vaters hatte Bände gesprochen, als er gekommen war, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen.
Am nächsten Morgen hatte sie befürchtet, die Mutter könnte ihre Wut erneut gegen sie richten, doch es war nichts geschehen. In den letzten Tagen war sie sogar etwas zugänglicher geworden. Trotzdem konnte es nicht schaden, ihr keinen Anlass zum Tadel zu geben.
„Aber ich werde dafür beten, Chester. Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich Werte im Leben.“
Der Vater verzog kurz die Mundwinkel, bevor er sein Wort wie üblich nachsichtig an sie richtete: „Auch ich glaube an Gott, Florence, und bin ebenso Protestant, bloß gehe ich deswegen nicht ständig in die Kirche. Außerdem bin ich ohnehin davon überzeugt, dass in jeder Religion ein Körnchen Wahrheit steckt. Würde man daraus die Bibel machen, gäbe es keine vortrefflichere.“
„Mit deiner saloppen Einstellung zu Gott bist du kein gutes Vorbild für die Kinder.“
„Das ausgerechnet aus dem Mund einer Frau, die eine saloppe Einstellung zu Gewalt hat“, rutschte es aus ihm heraus. Es musste ihn unendlich viel Geduld kosten, sie ständig mit Samthandschuhen anzufassen. Wie es aussah, kam er allmählich an seine Grenzen.
Das Gesicht der Mutter war versteinert. Ängstlich schaute Catherine zu Hannie, die den Kopf einzog. Sogar die Brüder pressten ihre vorlauten Münder zusammen.
„Wann kommen eigentlich deine Freundinnen heute?“, wechselte der Vater das Thema, goss etwas Milch in seinen Schwarztee und stellte das Kännchen zurück. Catherine tauschte einen schnellen Blick mit Hannie, die mit den Augen rollte. Auch ihre Schwester schien zu ahnen, wessen Besuch bevorstand. „Wisst ihr noch, Kinder? Früher hatten wir nur Butter und Marmelade auf dem Tisch. Nun seht, welche Annehmlichkeiten mein Geschäft mit sich bringt.“
Fast jeden dritten Tag gab es gebratene Speckscheiben und Blut- oder Leberwurst. Gebratene Tomaten, gebackene Bohnen und Rührei beinahe täglich. Am liebsten hatte Catherine jedoch Scones mit Honig, aber ihre Mutter buk sie leider selten.
„Du kannst dir die Spitzen sparen, Chester“, erwiderte die Mutter.
„Weshalb fühlst du dich ständig angegriffen? Ich bin einfach nur stolz, euch etwas bieten zu können. Das ist alles.“
„Wie dem auch sei, ich nehme an, du bist den Tag über in der Werkstatt?“ Mit gezwungenem Lächeln schälte sie das hartgekochte Ei. Die einzige Mahlzeit, die sie am frühen Morgen zu sich nahm.
„So ist es. Die Damen haben dich ganz für sich allein. Ich weiß ja, dass du während des Besuches niemanden um dich haben willst.
„Missgönnst du mir diese Treffen etwa?“
„Keineswegs, im Gegenteil. Genieße die Stunden mit deinen Freundinnen.“ Der Vater nippte an seiner Tasse. Stets bog er dabei den kleinen Finger weg.
Missmutig nahm sich Catherine einen Sodatoast.
Annie Hornimam, Countess Constance Markiewicz, Lady Gregory und Maud Gonne MacBride waren eine Zumutung, die unter den Geschwistern insgeheim ‚die Alten‘ genannt wurden. Die sauertöpfische Maud mochte Catherine am wenigsten. Wie einen kalten Teller Suppe wärmte diese Frau ständig dieselbe Floskel auf, die sie angeblich einige Tage nach ihrer Geburt ausgerufen hatte: „Catherine. Was für ein schöner Name für ein so hässliches Kind.“
Erbost biss Catherine in ihren Sodatoast. Obwohl sie Maud nicht ernstnahm, fühlte sie sich verletzt. Hässlich inmitten ihrer Schwestern. Hannie war eine Schönheit, aber Emma glich mit ihrem gelockten Haar einem Engel. Fehlten nur der Heiligenschein und die Flügel. Außerdem hatte sie ein großes Zeichentalent. Beide Schwestern inspirierten die Alten stets zu einem entzückten Ausruf. Manchmal mussten sie sogar die Münder öffnen und die blendend weißen, geraden Zähne zeigen. Sie hingegen hatte eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Noch etwas, das ihr zusetzte. Da half es wenig, dass der Vater oft sagte, sie sei damit unverwechselbar.
„Kinder, seht zu, dass ihr fertig werdet“, forderte die Mutter. „Ihr solltet euch umziehen, bevor meine Freundinnen kommen.“
„Das gilt sicher nur für uns vier, oder?“ Thomas beugte sich über seinen Teller, sodass er ihn fast mit der Nasenspitze berührte. Dabei schaufelte er die Bohnen regelrecht in sich hinein. Nicht, dass er sie besonders mochte, ihm gefiel das Furzen danach. Vom Gestank ganz zu schweigen. „Weil unsere Cat“, fügte er kauend hinzu, „schaut sowieso keine an.“
Am liebsten hätte ihm Catherine die Kanne Tee über den Kopf gegossen.
„Cat ist hübsch mit der neuen Frisur“, ergriff die Mutter ungewohnter Weise Partei für sie. „Ein Haarschnitt, wie ihn Coco Chanel hat. Europaweit ahmt man ihn nach. Deine Schwester geht eben mit der Mode.“
Thomas hob den knallroten Kopf. „Na ja, wem’s steht …“
Catherine hätte ihn erwürgen können. „Du bist ja nur neidisch mit deiner Mädchenfrisur und hast mehr Locken als Emma.“
Ihre kleine Schwester begann zu kichern. Auch der Vater schmunzelte.
Thomas schob den leeren Teller von sich und öffnete die obersten Knöpfe seiner knielangen braunen Leinenhose. „Vater, darf ich zu Mister Doodley?“, erkundigte er sich.
„Dafür haben wir kein Geld“, sagte der Vater und sah Thomas missbilligend an. „Deine Mutter könnte jedoch dein Haar kürzen, wie ihr es bei Catherine getan habt.“
„Haben wir überhaupt einen Topf, der auf seinen Wasserkopf passt?“, mischte sich Hannie ein und grinste Catherine an.
„Halt die Klappe.“ Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Kinn glänzte fettig. „In deinen geblümten Kleidchen siehst du lächerlich aus. Du machst dich ja nicht einmal bei der Feldarbeit schmutzig.“ Wie zum Hohn wischte er sich mit den Fingern über die Hose.
„Schluss jetzt, Kinder!“ Die Mutter hieb ihre Faust auf den Tisch. Sofort war es mucksmäuschenstill. Als wäre nichts gewesen, erhob sie sich lächelnd und rückte den schmalen schwarzen Gürtel an der Taille zurecht, den sie sich um das einfache dunkelblaue Hemdkleid gebunden hatte. „Helft mir das Geschirr in die Küche zu bringen. Mädchen, ihr übernehmt den Abwasch. George, du hilfst deinem Vater. Thomas, der vorlauten Zunge wegen bleibst du den ganzen Tag in deinem Zimmer. Es braucht ohnehin einen neuen Anstrich. Farbe steht in der Werkstatt.“
Thomas öffnete den Mund, doch dann klappte er ihn zu, weil er den warnenden Blick der Mutter auffing. Kurz danach widmete sich jeder seiner Arbeit.
Catherine tauchte ihre Hände in das seifige Wasser in der silbernen Blechschüssel. Die Mutter war nach oben gegangen, um sich umzuziehen. Hannie trocknete ab. Emma plapperte wie üblich die ganze Zeit über. Eigentlich waren es nur Laute und wenige Wortfetzen. Sie hatte Schwierigkeiten zu sprechen. Dennoch verfügte sie über ein ziemlich großes Lungenvolumen. Doch ihre helle klare Stimme brachte Farbe in den tristen Tag.
Regentropfen trommelten wie Schüsse gegen die Fensterscheiben. Graue Wolken bedeckten den Himmel. Nicht der kleinste Fetzen Blau war zu sehen. Aus der Ferne hörte man das Blöken der Schafe. Es hatte etwas Leidvolles. Catherine fühlte mit ihnen, weil sie an den bevorstehenden Besuch dachte. Zwar blieben die Alten meistens nur einen Nachmittag lang, doch das war genug.
Als die Mutter herunterkam, wirkte sie wie ein neuer Mensch. Sie trug ein enges schwarzes Kleid, das knapp unter ihre Knie reichte. Hals und Handgelenk waren mit einer Perlenkette geschmückt. Das schulterlange Haar fiel in weichen Wellen herab. Die hohen schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert und ihre Augen funkelten. Der Vater kam aus seiner kleinen Bibliothek und pfiff leise durch die Zähne. Wie ein junges Mädchen drehte sie sich ein paar Mal im Kreis und sonnte sich in seiner Bewunderung.
„Für mich machst du dich nie so hübsch“, stellte er fest, wobei er sein Lächeln nicht verlor. Ihre Mutter hingegen schon. Als habe er etwas Beleidigendes gesagt, funkelte sie ihn zornig an und eilte ins Esszimmer. Mit Nachdruck schloss sie die Fensterläden, um den Raum abzudunkeln.
Achselzuckend schaute der Vater zu Catherine, dabei rollte er die Hemdsärmel hoch. „War das unangebracht?“, erkundigte er sich leise.
Emma schüttelte heftig den Kopf, umschlang seinen Fuß und schmiegte sich an ihn. Er lachte und nahm sie auf die Arme. „Du wirst auch einmal groß“, neckte er sie, „und zu einer Spezies gehören, die wir Männer selten verstehen.“ Abermals nickte sie und gab ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. Seine Augen schimmerten wässrig, als er sie an sich drückte und abwechselnd zu Catherine und Hannie sah. „Versprecht mir, immer aufeinander aufzupassen, Mädchen“, bat er mit belegter Stimme.
Beinahe wäre Catherine der Teller entglitten, den sie gerade abspülte. „Weshalb sagst du das, Pa? Fehlt dir etwas?“
„Keine Angst, Liebling. Manchmal überrollt mich eben die Liebe zu euch. Und wer kann heute wissen, was morgen ist? Aber ihr alle seid eine Griffith! Wie pflegte schon eure Großmutter zu sagen?“
„Dass die Griffith-Frauen wie wilde Schwäne sind“, antworteten Catherine und Hannie wie aus einem Mund. Emma klatschte begeistert in die kleinen Hände.
„So ist es. Schön und anmutig, unbezähmbar wie unser Vaterland, trotzen sie jedem Gegenwind. Nicht umsonst heißt dieser besondere Flecken Erde Wild Swan. Früher gab es unzählige Schwäne, die hier ein Zuhause gefunden haben. Vergesst also nie, Mädchen, dass ihr einer von diesen wilden Schwänen seid. Aber auch nie, wem euer Herz gehört. Nichts geht über die Familie … der Wind inmitten wilder Schwäne. Lasst nie zu, dass er euch auseinandertreibt.“
Catherine reinigte den Teller mit dem alten Lappen. Dann reichte sie ihn Hannie. Wasser tropfte auf den Holzboden. „Niemals, Pa, großes Ehrenwort.“
„Gut. Sagt eurer Mutter, dass ich Emma mit in die Werkstatt nehme. Georgie badet noch und kommt nach.“ Im gleichen Augenblick ertönte Georgies schiefer Gesang aus dem Badezimmer im ersten Stock, das sich zwischen den Kinderzimmern befand. Im Gegensatz zu Thomas nahm es Georgie mit der Sauberkeit sehr genau und ließ sich Zeit dafür. Dasselbe galt, wenn er das Plumpsklo aufsuchte, das sich am hinteren Teil des Cottages befand. Wenn Georgie einmal saß, dann saß er. Nicht selten waren sie gezwungen, sich andernorts Erleichterung zu verschaffen.
„Es wird dauern, bis er in die Werkstatt kommt“, vermutete der Vater mit leisem Lachen. „Tut mir den Gefallen und treibt ihn nicht zur Eile an. Mit seinen zwei linken Händen ist er ohnehin keine große Hilfe. Auf Thomas hingegen, werft bitte ein Auge. Nicht, dass er ausbüchst.“
„Ach Pa, wir sind nicht seine Kindermädchen.“ Hannie hängte das Trockentuch auf den Haken neben dem blitzblanken Fenster. Daneben baumelten sieben Tassen an ihren Henkeln – jede in einer anderen Farbe. Hannie gehörte die gelbe, Emma die blaue und ihr selbst die grüne.
„In diesem Fall schon. Eure Mutter ist zur Abwechslung umgänglich. Ich möchte nicht, dass sie sich wieder aufregt. Wir hatten genug Sorgen in den letzten Monaten.“
„Keine Angst, wir kümmern uns um Thomas.“ Catherine knuffte Emma mit der nassen Hand in die rosige Wange. „Und du, Winzling, malst etwas Schönes für unser Zimmer.“
„Jaaa! Papier … Farben … Mr. Doodley.“ Alle lachten. Emma hatte die Strohpuppe, die ihr der Vater letztes Jahr gebastelt hatte, nach dem Friseur benannt. Die beiden waren unzertrennlich.
„Wir holen schnell deinen Mr. Doodley.“ Ein letztes Lächeln des Vaters, dann verschwand er. Catherine beneidete sowohl ihn als auch die anderen um diese Möglichkeit. Am liebsten hätte sie Thomas beim Streichen oder in der Werkstatt geholfen. Der anstehende Besuch hieß nämlich auch, dass sie sich in ein Kleid zwängen musste. Dabei hasste sie das. Lieber trug sie Hosen und Hemden wie ihre Brüder. Damit konnte man leichter auf Bäume klettern oder im Notfall davonlaufen.
„Wir sollten uns sputen.“ Hannie verstaute die letzten Teller im hellen Holzschrank und zog sie an der Hand mit sich. „Die vier werden bald da sein.“
Einträchtig liefen sie in ihr Zimmer. Catherine setzte sich auf das Bett und spürte die kühle Luft im Rücken, die durch das gekippte Fenster hereinströmte. Die roten Vorhänge blähten sich auf. Hannies Bett stand an der gegenüberliegenden Wandseite, auf die ihr Vater eine Tapete in hellem rosa angebracht hatte. Zwischen ihren Betten stand ein schwerer Kirschholzschreibtisch aus grauer Vorzeit. Emmas Bett war neben der Tür. Der Vater hatte einige ihrer Zeichnungen gerahmt und sie an der Wand aufgehängt. Hannie schob mit dem Fuß den roten Teppich gerade, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Großmutter hatte ihn von einer ihrer zahlreichen Reisen in jungen Jahren aus dem Orient mitgebracht.
„Du solltest den Wäscheberg auf dem Bett wegräumen“, mahnte Hannie und öffnete den schmalen Kasten, der am Kopfende von Emmas Bett stand. „Wie du weißt, inspizieren die Freundinnen gern unsere Zimmer. Mutter würde sich schämen.“
„Was schert es mich?“, gab sich Catherine mutiger, als sie war. Angesichts der Abwesenheit ihrer Mutter war es ein Leichtes, sich über sie hinwegzusetzen und verdammt, es tat gut! „Außerdem stinkt das Zimmer danach immer tagelang nach diesem Kraut, das sie in der Pfanne umhertragen, als würden sie betteln gehen.“ Lustlos wühlte Catherine in der Kleidung. „Manchmal wünschte ich, unsere Granny würde noch leben.“
„Das wäre schön.“ Hannie holte ein leichtes Sommerkleid heraus. Pastellfarbene Orchideen wüteten darauf, als habe jemand zunehmend an Gedächtnisschwund gelitten und wollte sie um jeden Preis in Erinnerung behalten.
Catherine seufzte. So viele Geschichten rankten sich um Granny. Vom Vater wussten sie, wie glücklich die Ehe seiner Eltern gewesen war. Ihr Großvater hatte sich als Tabakhändler einen guten Namen gemacht und das Cottage liebevoll ausgebaut, sofern die beiden nicht gerade das Ausland erkundeten. Leider war der Krieg ausgebrochen und er an der Front gefallen. Nie wieder hatte die Großmutter geheiratet, jedoch die Geschäfte übernommen. Über kurz oder lang hatte sie allerdings aufgeben müssen, weil niemand eine Frau an der Spitze eines Unternehmens akzeptierte. Alles war verkauft worden, weit unter Wert, wie sich später herausgestellt hatte. Einzig das Cottage hatte sie behalten. Wie sie es geschafft hatte, sowohl die Unruhen im Land als auch die große Hungersnot in Irland ohne Mann oder Einkommen zu überstehen, wusste nicht einmal der Vater. Anscheinend hatte es einen ominösen Verehrer gegeben, der ihr finanziell unter die Arme gegriffen hatte. Doch weder war seine Identität bekannt noch gab es einen Beweis, der dieses Gerücht untermauert hätte.
Motorengeräusch näherte sich. Catherine warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Ein rostbraunes Fahrzeug kämpfte sich über die holprige Straße herauf. Wasser spritzte zu allen Seiten, überall hatten sich tiefe Lachen gebildet. Die Alten! Hoffentlich wurden sie ordentlich durchgeschüttelt und knallten mit den Köpfen hart gegen das Dach.
„Kommen sie?“ Hannie schlüpfte in ihr Kleid. Mit flinken Fingern schloss sie die unzähligen Knöpfe, die vom Rundhalsausschnitt bis zur Taille gingen. „Ich habe mich nicht einmal gekämmt.“
„Sieh mich an und dann beklag dich noch einmal.“
„Komm schon, Cat. Du weißt, wie Mutter reagiert, wenn sie sich blamiert fühlt.“
„Von mir?“
„Nicht nur von dir. Wir alle sollen uns von der besten Seite zeigen.“
„Du könntest einen Kartoffelsack tragen und trotzdem wäre ich als Mutter stolz auf dich. Das sollte sie auch sein.“
„Meine Güte, sie kommt ohnehin kaum unter Leute. Lass sie ein bisschen mit uns angeben.“ Hannie war die Realistin in der Familie, die Bedachte, die Vernünftige. „Davon abgesehen sind die Frauen im Grunde ganz nett. Was hast du eigentlich gegen sie?“
„Ist diese Frage ernst gemeint?“ Catherine stemmte die Hände in die Hüften. „Im Übrigen warst du bisher auch keine glühende Verehrerin der Alten und wenn ich mich recht entsinne, hast du vorhin am Frühstückstisch die Augen verdreht.“
„Mag sein, aber so anstrengend wie sie sind, wir bekommen sie ohnehin kaum zu Gesicht.“
„Und was ist mit Mutter? Diese Frauen setzen ihr Flausen in den Kopf. Seitdem sie sie kennt, hat sie sich verändert.“
„Mutters Wandlung begann schon vorher.“
„Wie kannst du das behaupten? Du warst erst ein Jahr alt, als Mutter sie kennenlernte. Außerdem leidet Vater unter Mutters Unzufriedenheit, die mit jedem Treffen zunimmt. Es kann nur damit zusammenhängen, dass sie sich zu sehr von den Frauen blenden lässt. Wer weiß, was die ihr alles einreden. Hinzu kommen die Séancen, die sie abhalten. Es macht mir höllische Angst, wenn Lebende mit Toten reden.“
„Du hast ja recht, trotzdem kannst du den Frauen nicht die Schuld an allem geben.“
„Weshalb nicht? Ein anderer Grund für Mutters Verhalten fällt mir nicht ein. Vergiss nicht, wie sehr mich die Alten missachten. Besonders Maud. Und nun halte dir vor Augen, wer von uns die meisten Schläge abbekommt. Tatsache ist, dass die Frauen keinen guten Einfluss auf Mutter haben, deshalb mag ich sie nicht. Dass du anderer Meinung bist, leuchtet mir ein. Immerhin schieben dir die Alten ein Kompliment nach dem anderen in den Hintern, von Emma ganz zu schweigen.“
„Bist du eifersüchtig?“, fragte Hannie mit verblüffter Miene.
„Hast du einen Vogel?“ Catherine tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Insgeheim gestand sie sich jedoch ein, dass es ihr nicht passte, ständig bemäkelt zu werden. Sie wollte gebildet sein wie Hannie. Talentiert und schön sein wie Emma. Selbst die Brüder schnitten bei den Alten um Längen besser ab als sie. „Sag mir lieber, was ich anziehen soll.“
Der letzte Knopf, schnell die weißen Socken bis zu den Knien hochgeschoben, dann kramte Hannie im Kasten. „Das dunkelblaue mit den Punkten.“ Der Entgegnung folgte das Kleid, das auf Catherines Kopf landete. Widerwillig zog sie es herunter und hielt es sich vor den Körper. Es reichte bis knapp über ihre aufgeschlagenen Knie. Scheinbar war sie gewachsen, dabei hatte ihr die Mutter das Kleid erst kürzlich gekauft. Nun würde sie mit der unchristlichen Länge erstrecht für Aufregung unter den Damen sorgen. Vielleicht sogar einen Herzanfall bei der einen oder anderen Lady auslösen. In dem Fall war das Kleid gar nicht schlecht gewählt …
Wenig später gingen Hannie und sie nach unten und wurden, wie erwartet, eingehend gemustert. Catherine mit hochgezogenen Augenbrauen, kurz und bündig. Auf Hannie lagen die faltigen Augen länger, und ein wohlwollendes Lächeln stahl sich in die Gesichter der Damen.
Die fünfzigjährige Annie Hornimam, eine reiche Tee-Erbin, strich Hannie mit entzücktem Ausruf über das Haar. Catherine nannte sie insgeheim ‚The Hornibag‘, wie es viele taten. Ihr Großvater hatte eine Art Papier-Teebeutel erfunden, woher vermutlich die Bezeichnung stammte. Eine sehr exzentrische Frau, was sich auch in ihrem Stil fand. Das dunkle Kraushaar stand wirr vom Kopf ab, unzählige Holzketten hingen um ihren Hals, das Kleid glich einer weiten Soutane. Eine dicke Nase und weit auseinanderliegende Augen ließen ihr Gesicht ungleichmäßig erscheinen. Sie liebte das Theater, war eine Frauenrechtlerin, rebellierte gerne und rauchte sogar in der Öffentlichkeit. Zugegeben, es gab ein paar Dinge an ihr, die gar nicht schlecht waren.
Die dürre Countess Constance Markiewicz war seit Jahren die Busenfreundin von Maud und Schauspielerin am Abbey Theatre. Sie hatte ein strenges Gesicht und wenn sie lächelte, zeigten sich große Lücken zwischen den Zähnen. Ihr Haar trug sie wie üblich am Hinterkopf zusammengesteckt, mit einer großen Seitenwelle über der linken Stirnhälfte. Ihr Kleidungsstil wurde mit jedem Jahr maskuliner. Der Hosenanzug ähnelte einer Männeruniform. In diesem Punkt musste Catherine der Countess ebenfalls ein paar Sympathiepunkte zugestehen.
„Hannie wird immer hübscher“, ließ die achtundfünfzigjährige Lady Gregory verlauten und drängte sich an Constance vorbei. Meistens war ihr Blick abwesend, als denke sie die ganze Zeit über nach. Genauso betrachtete sie Hannie. Lady Gregorys Mittelscheitel war nachlässig gezogen. Mit einem Rundreif bändigte sie das graue Haar am Hinterkopf, das sich jedoch zum größten Teil wieder gelöst hatte. Vermutlich waren die Frauen im Kraftfahrzeug tatsächlich enorm durchgeschüttelt worden. Meistens trug sie wie jetzt hochgeschlossene schwarze lange Seidenkleider mit Puffärmeln und verspielter Spitze am Brustansatz. Diesmal hatte sie auf den Chiffonschleier verzichtet. Auch Schmuck trug sie selten, mit Ausnahme der feinen Silberkette, an der ein großer keltischer Kreuzanhänger baumelte.
Und dann war da noch die, wie Constance Anfang vierzigjährige, Maud Gonne, deren abschätziger Blick wie ein aufgezogenes Uhrwerk über Catherines Gestalt glitt. „Kinder, ich habe es von Anfang an gewusst. Wisst ihr noch, was ich damals bei Catherines Geburt gesagt habe?“ Alle nickten einträchtig, inklusive der Mutter! „Das war nett ausgedrückt, wenn ich es recht bedenke. Gott, herrjeh, was ist mit deinen Haaren geschehen, Catherine Griffith? Sie waren das einzig Kleidsame an dir. Nun siehst du aus wie ein Bursche in Mädchenkleidern.“
Catherine zog in Gedanken gewaltsam an Mauds fülligem dunkelgelocktem Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte. Rammte ihr die Fingernägel in die großen Augen und zupfte mit Wonne jede einzelne der buschigen Brauen aus. Die leicht herabhängenden Mundwinkel hätte sie ihr gern bis an den zerknitterten Hals gezogen. Vermutlich war sie mit sich selbst unglücklich – kein Wunder mit einer stattlichen Größe von eins achtzig – und erniedrigte deshalb die Menschen um sich herum. Ihr nachtblaues Kleid war offenherzig und zeigte milchig blasse Haut an den Schultern. Am Dekolleté wurde der edle Stoff mit einer großen Brosche gerafft. Der schwarze Stein funkelte. Catherine funkelte zurück.
„Ihr habt sicherlich Hunger“, wandte sich die Mutter an ihre Freundinnen. „Kinder, geht nach oben und spielt. Wir möchten in den nächsten Stunden nicht gestört werden.“ Kaum ausgesprochen, schob sie die Tür zum Esszimmer auf. Eine große Kerze mitten auf dem Palisandertisch war die einzige Lichtquelle. Karten mit bizarren Zeichen lagen ausgebreitet. Ein merkwürdiger Duft drang aus dem Raum. Wie es aussah, wollten sie sofort mit einer Séance beginnen.
„Mir knurrt der Magen.“ Constance rieb sich den flachen Bauch und marschierte an der Mutter vorbei. „Wie schön du alles arrangiert hast.“ Ihr Lob klang wie ein einstudierter Bühnentext. Lady Gregory folgte ihr.
Annie spielte mit ihren Ketten, was ein hölzernes Geräusch erzeugte. „Es wäre gut, vorher die Zimmer auszuräuchern. Ich spüre viel negative Energie, Florence. Habt ihr Schwierigkeiten?“
Die Mutter schüttelte verneinend den Kopf. „Chesters Geschäft befindet sich im Aufwind.“
„Dennoch wirkst du unglücklich.“
„Weil mir nicht aus dem Kopf geht, was bei unserer letzten Séance ans Licht kam.“
„Du nimmst das zu ernst. Tote sprechen viel, wenn der Tag lang ist. Sie haben ja selten die Gelegenheit dazu.“
Hannie machte einen tiefen Atemzug. „Sprecht … sprecht ihr tatsächlich mit Toten?“, flüsterte sie und griff nach Catherines Hand. Fast schmerzhaft drückte sie zu. „Mutter, ich …“
„Geht nach oben!“ Die Mutter schob Maud und Annie in den Raum. Dann verschloss sie mit Nachdruck die Tür. Catherine brauchte Hannie nicht einmal anzusehen, um zu wissen, dass auch sie eine Gänsehaut hatte.
***
Eine Stunde später horchten Hannie und sie an der weißgetünchten Tür. Zuerst hatten sie die Anweisung der Mutter befolgt und waren auf ihr Zimmer gegangen. Doch die Neugierde hatte sie wieder heruntergetrieben. Nun knieten sie zitternd wie Espenlaub vor der sperrigen Holztür und spitzten die Ohren. Manchmal waren die Frauen kaum zu verstehen. Monotones Murmeln ertönte. Dann wiederum laute Rufe.
„Wer ist hier?“ Das war Annie. „Zeig dich, wir haben Fragen an dich. Besser gesagt, Florence hat einige auf dem Herzen. Jesus, ich brauche dringend eine Zigarette.“
Stille. Die Haare an Catherines Armen richteten sich auf. Hannie presste die Augen zusammen, als könne sie sich dadurch besser konzentrieren oder unsichtbar machen. Vermutlich beides zusammen. Ihr selbst war ja auch angst und bange, dennoch konnte sie sich nicht von der Stelle bewegen.
„Wer bist du? Ich spüre dich ganz deutlich.“ Die Mutter klang anders als sonst. Sanfter. Zugleich hatte ihre Stimme etwas Beängstigendes. „Ihr habt mir gesagt, dass ich zu Höherem geboren bin. Ist dem tatsächlich so?“
„Beim letzten Mal“, ertönte Mauds Stimme abgehakt, als lausche sie zwischendurch, „habe ich dir … gesagt, dass du kein Leben … führst, wie es dir beschieden ist. Darum mach dich nicht kleiner, als du bist. Wertloser.“
„Ich bin ein Heimkind, der letzte Dreck.“
„Hör auf mit dieser Selbsterniedrigung. Auch du darfst mehr vom Leben erwarten als das, womit du dich begnügst.“
„Meinst du Chester? Oh, ich möchte frei sein, ohne diese Fesseln …“
„Himmel, Florence, du solltest zu rauchen anfangen“, warf Annie ein, „das hilft manchmal. Chester ist doch kein übler Kerl. Und du, Maud, solltest die beiden nicht trennen, bloß weil du selbst Probleme mit Männern hast.“
„Was soll die Unterstellung? Ich gebe nur das wider, was ich aus dem Jenseits höre.“
„Sicher. Die Geister haben ja nichts Besseres zu tun, als sich mit einer alten Schachtel wie dir zu unterhalten.“
„Wenn du nicht daran glaubst, weshalb machst du dann mit?“
„Wer sagt denn, dass ich nicht daran glaube? Allerdings bezweifle ich, dass ausgerechnet du Stimmen hören kannst bei all dem Unsinn, den du von dir gibst.“
„Sei still, Annie!“ Der unbeherrschte Ausruf der Mutter fuhr Catherine durch und durch. „Lass Maud aussprechen. Ich habe das Gefühl, dass ich endlich einen Ausweg aus diesem ärmlichen Leben finde.“
„Hast du das gehört?“, wisperte Catherine und spürte Hitze in ihren Wangen. „Glaubst du mir jetzt, dass die Alten schuld sind an Mutters Veränderung? Allen voran Maud?“
Langsam hoben sich Hannies Lider mit den langen hellen Wimpern. Punkte tanzten in ihrer Iris. Sie griff sich an den Hals. „Oder es sind tatsächlich böse Geister im Spiel.“
Im selben Moment flog die Haustür auf und prallte gegen die Mauer. Mit einem Aufschrei sprangen Hannie und Catherine auf und starrten nach draußen. Die Zeitung des Vaters fegte über die Veranda. Als würde der Wind den Atem anhalten, blieb sie vor den Stufen liegen, um im nächsten Moment wie von Geisterhand über die Treppe hinabzuwehen. Raschelnd flatterte sie über die Wiese und verschwand über dem Plateau in der Tiefe.
Als sich Hände auf Catherines Schultern legten, schrie sie erneut auf und schlug um sich.
„Catherine, was soll das?“, fuhr die Mutter sie an und rieb sich den Arm. „Ihr brüllt herum, als hättet ihr einen Geist gesehen. Und warum steht die Haustür sperrangelweit offen? Habe ich euch nicht befohlen, auf euer Zimmer zu gehen?“
Ein Befehl, dem sie umgehend nachkamen.
In dieser Nacht schliefen Hannie und Catherine kaum. Erst als der Motor aufheulte und die Frauen davonfuhren, fiel die Furcht ein wenig von ihnen ab. Dennoch beschlossen sie kurz vor Mitternacht, in einem Bett zu schlafen und holten sogar Emma kurzerhand zu sich. Leise unterhielten sie sich über das Erlebte, zaudernd ob es tatsächlich eine Verbindung ins Jenseits gab. Im Morgengrauen kamen sie jedoch überein, dass es lediglich Hirngespinste waren und die Sache mit der Zeitung reiner Zufall. Vielleicht war die Pforte nicht richtig geschlossen gewesen und der Wind hatte sein Übriges getan.
Erklärungsversuche, die sich bei Tageslicht logisch anhörten. Trotzdem war die Distanz zur Mutter noch größer geworden. Dass sie sich mit Toten unterhielt, war verwirrend. Dass sie dabei einen freundlicheren Ton anschlug als bei ihren eigenen Kindern, verletzend. Wie gut, dass sie den Vater hatten. Immer häufiger hielten sie sich in seiner Nähe auf. Entgegen ihrer sonstigen Art folgte ihm auch Hannie auf dem Fuß. Eigentlich lernte sie meistens, sofern nichts im Haushalt zu tun war. Selten kam sie nach draußen oder kümmerte sich um Handwerkliches. Das war bisher nur Catherine vorbehalten gewesen. Diesmal halfen sie beide beim Reparieren des Zauns, den Lady Gregory beim Wenden des Fahrzeugs versehentlich gerammt hatte.
Leise pfiff der Vater sein Lieblingslied: ‚Molly Malone‘. Angeblich hatte Granny es sich jeden Tag ein paar Mal angehört. „Wo sind eigentlich eure Brüder?“, unterbrach er sich kurz und sah von seiner Arbeit auf.
„Im Haus. Sie lernen“, antwortete Catherine.
„Ach ja, stimmt.“
Georgie und Thomas drückten in ihrem Zimmer die Schulbank. Eigentlich wurde ihr Privatlehrer jedes Jahr nur bis Ende Mai bezahlt, doch Mister Long machte eine Ausnahme und das sogar unentgeltlich. Ein geduldiger Lehrer mit großem Herz und einer noch größeren Statur. Er war ein Koloss. Als wäre er inmitten einer riesigen Steinformation zum Leben erwacht. Hannie war seine Musterschülerin, während alle anderen Geschwister sich eher schlecht als recht durch die Aufgaben quälten – sie selbst mit eingeschlossen. Obwohl Mister Long stets behauptete, sie habe eine schnelle Auffassungsgabe, sei aber zu faul um ihren Verstand entsprechend zu nutzen.
Nun gab er zumindest den Jungs ein wenig Nachhilfe. Es hätte ihr ebenso nicht geschadet, doch da sie ein Mädchen war, sah es der Vater als nicht erforderlich an. Zum ersten Mal war Catherine froh darüber, kein Junge zu sein. Sie hasste Rechnen und Schreiben. Außerdem wäre das viele Lernen lästig gewesen, jetzt da Roberts Ankunft bevorstand. Morgen um diese Zeit würden sie sich endlich wiedersehen. Leider krochen die Stunden nur langsam dahin.
Am späten Vormittag spielten Hannie und sie eine Weile mit ihren Porzellanpuppen am Bach. Dann folgten sie dem Lauf bis zur Quelle, die hinter der Lichtung im Laubwald entsprang. Sauberes klares Wasser, mit dem sie sich gegenseitig bespritzten, bis sie klatschnass waren. Nach einer Stunde kehrten ihre Schwester und sie nach Hause zurück und räumten nach dem Mittagessen auf Anweisung der Mutter ihr Zimmer auf. Streng schaute ihnen die Mutter von der Tür aus zu. Blass war sie, als habe auch sie keinen Schlaf gefunden. Hinter ihr eilte Mister Long vorbei und rief ihnen einen fröhlichen Gruß zu. Thomas und Georgie folgten ihm mit schadenfrohem Grinsen.
Catherine wurde von Minute zu Minute wütender. Ihre Mutter wusste genau, dass sie wie üblich bei ihrem Vater auf der Veranda sein wollte. Das schien sie allerdings nicht zu interessieren. Vielmehr schimpfte sie leise vor sich hin, als sein Hämmern nach einer Weile aus der Werkstatt erklang. Dabei bemühte er sich, voranzukommen und das Cottage zu erhalten.
Als der Abend hereinbrach, war Catherines Zorn längst verraucht. Stattdessen tanzten tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch. Der morgige Tag rückte näher, mit jeder Stunde. Als sie in ihrem Bett lag, dachte sie an die vielen Abenteuer zurück, die sie mit Robert erlebt hatte, bis die laute Stimme der Mutter in ihr Bewusstsein drang.
„Hörst du das?“ Hannie schlug die karierte Steppdecke zurück, stieg aus dem Bett und schlüpfte zu ihr unter den bunten Quilt, den ihre Granny genäht hatte. Emma schlief tief und fest. „Sie streiten sich schon wieder.“
Etwas klirrte, als sei Geschirr auf den Boden gefallen. Sogar die Stimme des Vaters wurde jetzt immer lauter. Irgendwann schlichen sich Georgie und Thomas ins Zimmer herein. Stumm setzten sie sich zu ihnen auf das Bett.
„Ma ist so anders geworden“, murmelte Georgie nach einer Weile, und eine dicke Träne kullerte ihm über die Wange. Thomas legte den Arm um ihn, Catherine ergriff seine Hand.
„Das wird sich legen“, beruhigte sie ihn. „Eltern streiten eben manchmal.“
„Sie reden kaum noch miteinander.“ Thomas fuhr sich durch das Haar, dann rieb er sich die Augen. Der Bund seiner Nachthose spannte sich nach unten. Man konnte den Ansatz seines Pos sehen. Immerhin trug er ein halbwegs sauberes Hemd. Georgie zog die nackten Beine an und glitt mit der freien Hand ordnend über die kurze rote Hose mit Schottenmuster. „Glaubt ihr, sie trennen sich?“
Ruckartig richtete sich Hannie auf. „Bestimmt nicht. Cat hat recht. Die raufen sich schon zusammen. Wir streiten ja auch ständig, trotzdem lieben wir uns.“
Thomas kommentierte ihre Aussage mit einem schiefen Lächeln, dennoch war ihm die Freude anzusehen. Aber so kostbar dieser Moment war, die Umstände waren es weniger. Der Streit zog sich. Bis hier oben konnten sie hören, wie unglücklich die Mutter war. Einsam, traurig. Wie viel sie sich erhofft hatte, welch ein Leben sie führen wollte. Eines wie Coco Chanel. Dieselben Kleider hätte sie gern getragen, das viele Geld gehabt.
Nach geraumer Zeit hörten sie die müden Schritte des Vaters die Treppe heraufkommen, die im gegenüberliegenden Elternschlafzimmer verstummten. Hannie kuschelte sich unter die Decke. Georgie gähnte, entzog Catherine die Hand und kauerte sich am unteren Ende des Bettes zusammen. Thomas legte sich neben ihn und schob Catherine die Füße ins Gesicht, denen ein säuerlicher Geruch entströmte. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihn ermahnt, diesmal unterließ sie es.
Jegliche Vorfreude auf den kommenden Tag war Catherine abhandengekommen. Am liebsten hätte sie der Mutter die Meinung gesagt. Doch sie hätte eine Einmischung nicht geduldet, der Vater erst recht nicht und ihr fehlte ohnehin der Mut dazu. Sie war ein Kind. Auch wenn sie sich im Augenblick erwachsener fühlte als ihre Mutter.
Ohne große Lust gingen sie am nächsten Morgen geschlossen ins Esszimmer hinunter. Es war geräumig, mit einem großen Kachelofen in der Ecke, vor dem eine Holzbank stand. Der Tisch bildete den Mittelpunkt des Raumes. Azurblaue lange Vorhänge brachten die See ins Haus, ein schmuckloser Leuchter hing von der Decke. Dank eines Stromgenerators im Keller verfügten sie über Licht. Dennoch pochte der Vater darauf, die alten Petroleumleuchten zu verwenden.
Der weiche blaue Teppich nahm fast das ganze Zimmer ein und schluckte jeden Schritt. Ihr Vater las die Zeitung und hatte nur kurz hochgeblickt, als sie eingetreten waren. Blassblaue Schatten unter den Augen verrieten seine Schlaflosigkeit.
Die Laune der Mutter stand im völligen Gegensatz dazu. Alles hatte Catherine erwartet, nur nicht, dass sie fröhlich lächelnd hereinkommen würde, als sie sich gerade gesetzt hatten. „Guten Morgen, meine Lieben“, flötete sie und stellte ein Tablett mit Scones in die Mitte des Tisches. Verwundert wechselte Catherine einen Blick mit ihren Geschwistern. Die Jungs zuckten nur die Achseln und schnappten sich jeweils zwei Scones. Georgie schob das Honigglas zu sich heran und öffnete den Tegel. „Habt ihr gut geschlafen?“
Diese Frage hatte sie lange nicht mehr gestellt. Ob sie ein schlechtes Gewissen hatte? Oder freute sie sich auf den bevorstehenden Besuch von Robert und seinen Eltern?
„Du bist ziemlich gut gelaunt“, stellte der Vater mit ungewohntem Vorwurf in der Stimme fest und faltete die Zeitung zusammen, die er neben den Frühstücksteller legte.
„Darf ich mich nicht über diesen neuen Morgen freuen?“ Ihre Mutter zog den veilchenblau gepolsterten Stuhl zurück und setzte sich. Sie trug noch das Kleid und den Schmuck von gestern, als habe sie gar nicht geschlafen. „Ich war eine Weile spazieren. Außerdem habe ich neue Tabletten gekauft. Sie helfen mir.“
„Was nimmst du diesmal?“
Vorsichtig tastete Catherine nach dem Tablett. Irgendwie hatte sie Angst, dass ihr jemand auf die Finger klopfen würde, wenn sie zu laut war. Hannie schenkte sich Tee ein. Erst da fiel Catherine auf, dass ihre eigene Tasse fehlte. Stattdessen stand die Porzellantasse mit dem Zwiebelmuster vor ihr, aus dem fünfzigteiligen Bestand der Großmutter.
„Wo ist meine Tasse?“, fragte Catherine gedämpft.
„Zerbrochen.“ Die Mutter lächelte gezwungen. „Leider habe ich sie gestern fallengelassen.“
„Fallengelassen“, wiederholte der Vater spöttisch, bevor er sich auf Catherine konzentrierte. „Du bekommst eine neue. Und nun iss. Die Collins’ werden bald hier sein.“
Schweigen breitete sich aus. Nur das Ticken der Wanduhr und das Rauschen des Meeres, das durch das halbgeöffnete Fenster drang, waren zu hören. Mitunter das Klappern von Besteck. Jeder schien darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Sogar die Brüder verzichteten auf die übliche Plänkelei. Emma hielt ebenfalls den Mund. Als sie sich einen Scone nehmen wollte, stieß sie mit dem Ellbogen gegen ihre Tasse, die umkippte. Wie von der Tarantel gestochen fuhr die Mutter hoch. Der Stuhl kippte nach hinten. Im Nu ergoss sich die Milch über den Tisch und tropfte über die Kante.
„Kannst du nicht aufpassen, du dummes Gör?“, herrschte die Mutter Emma an, zog sie grob an den Haaren und wischte sich fast hysterisch mit der Serviette über das Kleid. Catherine war wie vom Donner gerührt. Emma begann nach dem anfänglichen Schreck lautstark zu weinen. Hannie tätschelte ihre Hand und lächelte sie mit Tränen in den Augen an. Dabei legte sie die Serviette auf die Milchlache, die sofort durchnässte. Georgie schluckte hart. Sein Löffel sank in den Honig. Thomas ging um den Tisch herum, kniete sich zu Emma und fuchtelte mit den Fingern vor ihrem Gesicht herum. Sie griff zwar danach, doch ihr Weinen versiegte nicht.
„So geht es nicht weiter“, hörte Catherine ihren Vater sagen, konnte jedoch den Blick nicht von der Mutter wenden. Wie böse sie aussah, so abgrundtief böse. Wie konnte ihre Stimmung binnen Sekunden umschlagen? Und das nur wegen verschütteter Milch. „Du hast dich nicht mehr im Griff, Florence. Diese Tabletten tun dir nicht gut. Du solltest den Arzt wechseln.“
„Sag du mir nicht, was ich zu tun habe.“ Sie schleuderte die Serviette auf den Tisch und verließ den Raum.
Seufzend lehnte sich der Vater zurück. „Wenn ihr fertig seid, sollten wir zum Hafen aufbrechen. Das Schiff müsste“, er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, „in der nächsten halben Stunde anlegen.“
Ein Satz, der bisher jedes Jahr Jubelschreie ausgelöst hatte. Auch wenn Robert vor allem ihr Freund war, die Aussicht zum Hafen zu fahren, brachte eine willkommene Abwechslung für sie alle. Außerdem durften sie die Familie immer ins Hotel begleiten und staunten jedes Mal aufs Neue, wie feudal es eingerichtet war. Doch heute blieb es ruhig. Instinktiv spürte Catherine, dass die Ehe ihrer Eltern über dem Abgrund stand. Weit über dem Abgrund.
***
Eine Viertelstunde später lenkte der Vater das klapprige Auto zum Hafen. Hinten gab es eine Tragefläche, auf der Hannie, Georgie und Thomas saßen. Catherine hatte vorne Platz nehmen dürfen und hielt Emma auf dem Schoß. Ihre kleine Schwester hatte rote Flecken im Gesicht, wie immer, wenn sie geweint hatte. Das drückende Schweigen von zuhause hielt weiter an. Bis Catherine Robert entdeckte, der seinen Eltern mit den Koffern half. Kaum hatte der Vater das Fahrzeug zum Stehen gebracht, hüpfte sie mit Emma auf dem Arm hinaus. Als habe Robert ihre Gegenwart gespürt, wanderte sein Blick suchend umher, bis er sie unter den vielen Menschen entdeckte. Lachend hob er den Arm und winkte ihr zu. Auch seine Eltern wurden auf sie aufmerksam und kurz danach schnatterten alle durcheinander. Plötzlich war die drückende Stimmung wie weggeblasen. Heiterkeit schwebte über dem Hafen. Eine ansteckende Heiterkeit. Es gab so viel zu erzählen, auch so viel zu verschweigen, doch das war im Augenblick unwichtig. Vor allem, da sie von den Collins’ in der Hotellobby zu einem Glas Orangensaft eingeladen wurden. Riesige Kronleuchter hingen von der Decke und glänzten wie Diamanten. Auf den edlen Sitzbänken mit den niedrigen Edelholztischchen davor saßen Männer im edlen Zwirn und rauchten Zigarren. Frauen in Pelzcapes genossen süßes Gebäck oder eine Tasse Tee. Manche hielten Glaskelche mit perlendem Champagner in den gepflegten Händen.
Catherine kam sich vor wie ein Mädchen aus gutem Hause, obwohl sie nur eine einfache Hose und ein legeres Hemd trug. Bis einige Mädchen durch das Foyer schlenderten. In hübschen Seidenkleidchen, mit großen Schleifen im Haar, manche sogar mit Lippenstift. Mondäne Frauen in Hosenanzügen aus weichem Jersey, riesigen Hüten und großen Federn traten ein. Hinter ihnen mühten sich Kofferträger in roter Hoteluniform mit dem sperrigen Gepäck ab. Männer im Nadelstreif gaben Anweisungen, mit akkurat sitzenden Krawatten oder einer Fliege am Kragen. Fast alle trugen einen Hut, meistens eine Melone.
Robert, ebenfalls im feinen Anzug, saß neben ihr und berichtete über die letzten Monate. Darüber, dass er mit dem Fahrzeug seines Vaters auf ihrem riesigen Grundstück einige Male hatte fahren dürfen. Stolz behauptete er, das neue Vehikel sicherer lenken zu können als sein Vater. Kurz erzählte er auch von der Schule. Über seine Erfolge, die guten Noten und dass er einer Hurling-Mannschaft beigetreten war. Fasziniert hörte Catherine ihm zu, noch faszinierter betrachtete sie ihn. Robert war ein schlaksiger Bursche. Tintenschwarzes Haar, seeblaue Augen, fünf Sommersprossen auf der vorwitzigen Nase, ansonsten bleich wie Käse. Umso dunkler hoben sich die roten Ohren ab. Wenn er schwärmte, schien alles Blut dorthin gepumpt zu werden. Am Ringfinger trug er den Siegelring der Familie. Er hatte ihn zum zwölften Geburtstag bekommen, wie jeder seiner Vorfahren in diesem Alter. Schon letztes Jahr hatte er es kaum abwarten können. Fast wirkte er ein wenig erwachsen, zumal er in die Höhe geschossen war.
Die Ähnlichkeit zu seinem Vater Jeffrey war verblüffend, an dessen Gesicht kein Härchen zu sehen war. Auch er trug einen Ring an der sehnigen Hand, hatte ein Genick wie ein Stier und wirkte genauso siegessicher. Jeffrey war ein gewiefter Geschäftsmann und betrieb ein florierendes Handelsunternehmen. Roberts Mutter Liane klebte förmlich an seinen Lippen. Unter dem knielangen sonnengelben Seidenmantel trug sie ein Kostüm in derselben Farbe sowie eine Seidenbluse. Tropfenförmige Ohrringe baumelten von ihren Ohren herab. Sie redete wie ein Wasserfall und unterstrich jedes Wort mit ausdrucksstarken Gesten. Laufend legte sie ihren Arm um Robert, der das Gesicht zusammenkniff. Er hatte keine Ahnung, wie gut er es hatte.
Die Zeit verging wie im Flug. Einige Male spürte Catherine, wie ihre Gedanken zum Cottage schweiften. Zu ihrer Mutter, und der vorausgegangenen Situation. Aber vehement schob sie die dunklen Wolken beiseite. Die nächsten Wochen wollte sie genießen und mit diesem Vorsatz begann die gemeinsame Zeit mit der Familie Collins, vor allem mit Robert.
Wie üblich trafen sie sich meistens nachmittags. Um nicht zu spät zu kommen, erledigte Catherine ihre Aufgaben im Eiltempo, was ihr Vater mit gutmütigem Lächeln kommentierte. „Wenn Robert da ist, bist du fleißiger als sonst das ganze Jahr über“, pflegte er zu sagen, da sie sogar einige Aufgaben von ihren Geschwistern übernahm. Damit schuf sie sich mehr Freiraum. Wer durch Fleiß auffiel, durfte mehr. Sogar die Mutter behielt diesen Standpunkt bei, obwohl sie zwischen Höhen und Tiefen schwankte, wie ein Seiltänzer, der lachend balancierte, bevor er hinunterstürzte.
Nur wenn die Familie Collins zu Besuch war, riss sie sich zusammen. Man hätte meinen können, ihre Eltern wären das glücklichste Paar unter der Sonne. Ein Wunsch, dem sich Catherine im Stillen manchmal hingab und den sie in verwegenen Momenten sogar für bare Münze nahm. Nehmen wollte. Bis ihr auffiel, wie Liane die Mutter öfter nachdenklich anblickte. Mit wachsendem Misstrauen in den Augen. Das brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.
Dank Robert war sie jedoch zu selten daheim, um die vielen Dispute hautnah miterleben zu müssen. Sicherlich, am Abend schüttete ihr Hannie das Herz aus, sogar die Brüder. Aber Catherine konnte dem mit Abstand begegnen, erfüllt von den Erlebnissen untertags. Es war egoistisch, das wusste sie. Nie zuvor hatte sie Georgie und Thomas derart am Boden zerstört gesehen. Obwohl Thomas stets versuchte sich nichts anmerken zu lassen, verrieten ihn seine feucht schimmernden Augen. Alles, was sie tun konnte, war zuhören und zu trösten, eine Lösung konnte auch sie sich nicht aus den Ärmeln schütteln.
Oft schlenderte sie mit Robert am breiten sonnendurchfluteten Pier entlang. Plaudernd beobachteten sie, wie Schiffe beladen wurden oder ablegten. Freuten sich auf neue, die in den Hafen einfuhren. Besonders die Passagierschiffe hatten es Catherine angetan. Es war spannend, so viele fremde Menschen zu sehen. Ihre Kleider, die Art sich zu geben. Manche waren stiller als andere, einige spielten sich ziemlich auf. Lachend zählten sie die Schiffe und machten sich ein Spiel daraus, zu erraten, wohin sie fuhren. Ab und zu kaufte ihr Robert auf der Hafenpromenade beim Ost-Pier ein Bonbon am Stiel beim kleinen Stand. Dann setzten sie sich auf eine Bank, ließen sich die Sonne auf die Bäuche scheinen und beobachteten das hektische Treiben ringsum.
Mit derselben Leidenschaft konkurrierten sie, wenn es darum ging, auf die höchsten Bäume zu klettern. Nach wie vor hatte sie die Nase vorne. Bis heuer war das Robert nicht wichtig gewesen. Mit dem Siegelring schien allerdings sein Ehrgeiz geweckt und er wurde nicht müde, sie übertreffen zu wollen.
„Bis ich abreise, werde ich besser sein“, behauptete er großspurig und hätte sich wohl am liebsten selbst auf die Schultern geklopft. Catherine lachte und hütete sich davor, ihm Tipps zu geben. Es waren unbeschwerte Stunden, in denen nichts anderes Platz hatte, als Robert und sie. Umso schneller verging der Juni und ließ den Juli ins Land.
Die Gerste gewann an Höhe und leuchtete golden aus der Ferne. Stolz durchstreifte der Vater die Felder, manchmal nahm er Robert und sie mit. Später stärkten sie sich auf der Veranda mit einem Glas Saft, danach mit Obst aus fremden Gärten. Robert liebte das Risiko, und sie traute sich in seinem Beisein mehr zu. Aber manchmal saßen sie einfach nur am Bach und schwiegen stundenlang. Dann wiederum streunten sie wie Wölfe durch den nebligen Laubwald und sammelten Pilze. Bei einer Eiche blieb Robert stehen und schnitzte ihre Initialen ein.
Gern spielten sie auch beim James Joyce Tower Fangen, doch am liebsten hielten sie sich am Badestrand Forty Food auf. Versteckt hinter Dünen und Steinen, beobachteten sie die Badegäste. Allerdings war dort der Bereich für Herren, wie Robert säuerlich feststellte. Überall nackte Männer, wohin das Auge reichte. Catherine starrte fasziniert auf das winzige Stück Fleisch, das ihnen zwischen den Beinen baumelte. Manche fielen durch eine regelrechte Lockenpracht auf, die sich um den Anwuchs gebildet hatte. Ständig tasteten die Männer dahin, zogen daran oder kratzten sich. Andere ließen sich in der Sonne rösten, oder blätterten gähnend in Zeitungen. Sogar in Romanen, wie Catherine aus der Ferne feststellen konnte.
„Hast du jemals einen Liebesroman gelesen?“, wollte sie von Robert wissen und bemühte sich leise zu sprechen.
„Bist du verrückt? Ich bin doch kein Mädchen.“ Mit den Händen fuhr er durch den warmen Sand und ließ ihn durch seine Finger rieseln.
„Mutter liest andauernd welche. Uns hingegen verbietet sie es.“ Die Sonne brannte auf Catherines Unterschenkel. Sie trug eine Knickerbocker.
„Dann musst du eben einen klauen.“
„Sie würde mich erschlagen. Stehlen ist eine Todsünde.“
„Du könntest dir einen leihen. Ist immer eine Sache der Auslegung.“
Am Abend setzte sie seinen Rat in die Tat um und holte sich einen Roman aus der Schublade der Mutter. Den untersten, damit es nicht auffiel. Mit klopfendem Herzen verzog sie sich früher als sonst auf ihr Zimmer und begann zu lesen. Sofort tauchte sie in das Leben der verarmten Adeligen Rose ein, die um eine unglückliche Liebe trauerte und war so gefangen in der Geschichte, dass sie Hannies Eintreten nicht bemerkte.
„Leg den Roman sofort zurück, ehe Mutter dahinterkommt.“ Hannie war mit einem Satz bei ihr und wollte nach dem Buch greifen, aber Catherine steckte es unter den Quilt. Emma schmatzte und drehte sich auf den Rücken.
„Sie hat eine Unmenge an Romanen“, wisperte Catherine, „es fällt sicher nicht weiter auf. Außerdem ist er ungemein spannend.“
„Wenn du meinst …“ Murrend verzog sich Hannie ins Bett und hielt dicht. Bald jedoch war ihre Schwester ebenfalls Feuer und Flamme für diese romantische Geschichte, weil ihr Catherine jeden Abend leise daraus vorlas. Am Ende weinten sie beide Rotz und Wasser, weil sich die Liebenden nach vielen Hürden endlich gefunden hatten. Als sie nach einer Weile ihre Gefühle wieder unter Kontrolle bekamen, holte Catherine klammheimlich den nächsten Roman. Gespannt schlug sie ihn auf. Ein Bild fiel heraus und flatterte auf ihren Quilt. Ängstlich starrte sie auf das unheimliche Portrait der Frau. Wässrige Augen, aschfahles Antlitz. Fast wie eine balsamierte Leiche. Mit zitternder Hand drehte sie das Bild um. ‚Helena Petrovna Blavatsky († 1891)‘ stand auf der Rückseite. Eine eiskalte Hand schien über ihren Nacken zu fahren und sie dachte an die Séance. Auch Hannie schaute nicht minder erschrocken auf das Bild.
„Das ist ein Zeichen.“ Hannie bekreuzigte sich.
Ein paar Minuten später legte Catherine den Roman in die Schublade zurück, mitsamt dem Bild. Zukünftig wollte sie auf neue Lektüre verzichten, obwohl sie auf den Geschmack des Lesens gekommen war. Deswegen beschäftigte sie sich mit der Zeitung ihres Vaters, die sie freiwillig von ihm bekam. Eigentlich war es interessant zu erfahren, was auf der Welt geschah. Erfindungen, Entdeckungen, Expeditionen, leider auch schreckliches Unheil. Bisher war der Zwist ihrer Eltern die größte Katastrophe gewesen, die sie erschüttert hatte. Nun wurde sie eines Besseren belehrt. Unzählige Menschen mussten in diesem Jahr ihr Leben lassen. Ein britisches Passagierschiff namens ‚Loodiana‘ hatte den Hafen auf Mauritius verlassen und war irgendwo im Indischen Ozean verschwunden. Fast zweihundert Menschen waren an Bord gewesen. Ein französisches Schiff war einem Sturm zum Opfer gefallen und mit einem Riff kollidiert. Dieses Unglück hatte ebenso unzählige Menschenleben gekostet. Hochwasser, die Pest, die Cholera, viele Erdteile waren von Katastrophen heimgesucht worden. Sogar ein Luftschiff war explodiert. Darüber sprach sie mit Robert, als sie bei dem Druidenaltar saßen, der sich mitten im Wald befand, welcher zum Besitz des Vaters gehörte.
„Seereisen können ziemlich gefährlich sein“, sagte Catherine und kaute auf einem Grashalm herum. Dabei starrte sie zur hohen Eiche hinüber, in deren Borke ihre Initialen prangten. Es roch nach feuchter Erde und Harz. Trockenes Laub lag auf dem Boden. Kein Windhauch rührte sich. Nur das friedliche Zwitschern der Vögel durchdrang die Stille.
„Aber aufregend.“ Hinter Robert erhoben sich zwei aufrecht stehende Steinkolosse, darüber lag horizontal ein Deckstein mit seltsamer Inschrift. Der Druidenalter wirkte wie das Tor in eine andere Welt. „Wenn ich groß bin, möchte ich Kapitän werden.“
„Auf einem Passagierdampfer?“ Sie hatte Angst um ihn, was sie aber unmöglich sagen konnte. Er würde sie auslachen.
„Nein, das ist etwas für Tattergreise. Ein U-Boot würde mir gefallen. Oder in einem Flugzeug zu sitzen und Bomben abzuwerfen. Tssschch“, ahmte er das Geräusch einer Bombe nach.
„Das ist nicht witzig.“
„Wir Jungs sind da nicht zimperlich.“ Im Gewebe seiner Socken hatten sich Erdklümpchen und Tannennadeln verfangen. Die Lackschuhe waren voller Staub. Am rechten hatte sich die Schlaufe gelöst. Er trug ein himmelblaues Hemd, eine Knabenkrawatte und schwarze Kniebundhosen. „Ihr Frauen seid Jammerliesen.“ Robert rückte seine schwarze Filzkappe gerade. „Bisher dachte ich, du wärst einer von uns.“
„Das bin ich. Trotzdem muss ich nicht ins Schwärmen geraten, wenn Menschen miteinander kämpfen.“
„Ach, darum hast du deine Brüder windelweich geprügelt, dass sie tagelang nicht aus ihren Betten kamen.“
„So schlimm war es auch wieder nicht.“ Das hatte sie nun von ihrer Angeberei. „Außerdem war das etwas anderes.“
„Kann sein.“ Robert räusperte sich. „Übrigens … ich finde … ähm, dich toll.“ Seine Ohren glühten. „Du bist mein bester Freund, Cat.“
„Du meiner auch“, freute sie sich und als er ihr mannhaft auf die Schulter klopfte, fühlte sie sich wie ein ganzer Kerl.
„Ich würde … gern mehr von dir wissen“, gestand er plötzlich.
„Was denn? Du weißt ja sogar mehr von mir als Hannie.“
„Mutter meint, du siehst traurig aus. Ihr alle.“ Robert nahm ihre Hand. Seine Gestalt war ihr vertraut, wie sein Gesicht und sein Lächeln. Selbst sein Duft. Neuerdings trug er jedoch ein herbes Parfum, das ihr ebenso fremd war wie seine Berührung auf diese Art. Sie hatte nichts Jungenhaftes an sich. „Wir sind beste Freunde, trotzdem kenne ich dich kaum. Du erzählst nie von dir und schreibst nur über das Wetter oder die Stadt. Was möchtest du später werden? Welche Musik gefällt dir? Möchtest du irgendwann heiraten? Kinder?“
Catherine entzog ihm ihre Hand. „Hast du Fieber? Ich bin zehn Jahre alt. Was soll ich mich jetzt darum scheren, ob ich eines Tages heirate?“
„Vater sagt, darüber sollte man sich früh genug im Klaren sein.“
„Und? Bist du das?“ Tief in sich spürte Catherine einen seltsamen Schmerz, ohne ihn deuten zu können. „Gibt es ein Mädchen, das dir gefällt?“
„Darum geht es nicht, Cat. Meine Zukünftige sollte Ansehen haben, reich und im besten Fall schön sein. Genau in dieser Reihenfolge. Sagt zumindest mein …“
„Vater“, ergänzte sie und fügte hinzu: „In diesem Fall wird aus uns nie ein Paar werden.“ Hatte sie das eben laut gesagt? Oh nein!
Robert machte ein angewidertes Gesicht. „Gott bewahre. Du bist mein Blutsbruder.“
Catherine zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, ich bin dein Blutsbruder.“
Als Robert Kingstown verließ, brachten sie die Ernte ein. Eisern legte der Vater jeden Penny zur Seite, weil er einen Lebenstraum hatte: Er wollte zur Weltausstellung nach San Francisco, die 1915 stattfinden sollte. Doch gegen Ende des Jahres brodelte es im Land, und die Frauenbewegung wurde immer aufrührerischer. Im November traten sie einer Rede von Premierminister Asquith entgegen, ihr Widerstand wurde blutig niedergeschlagen. Achtzig Frauen wurden ins Gefängnis gesteckt. Ein Jahr später kam es vermehrt zu politischen Revolutionen. Viele Länder bekriegten sich, Frauen forderten nach wie vor vehement ihre Rechte ein. Mit Erfolg. Ein internationaler Frauentag wurde eingeführt, unter anderem initiiert von zwei deutschen Sozialistinnen, die dem amerikanischen Vorbild folgten.
Einen Tag danach brachte man die Mutter in ein Sanatorium. Nie verlor der Vater ein Wort darüber, weshalb sie wie leblos in der Küche gelegen hatte. Catherine ahnte, dass sie sich immer mehr von der anderen Welt angezogen fühlte, weil sie sich von dieser zurückgezogen hatte. Ihr Vater litt sehr unter der Situation. Umso mehr versuchte sie ihn zu unterstützen. Freute sich mit ihm, wenn er Jahr um Jahr trotz Krisen die Gerste erfolgreich verkaufte. 1913 konnte er sogar eine halbe Tonne nach Amerika exportieren und machte sich mit den „Griffith-Fässern“ einen Namen, weil eine der Brennereien nach drei Jahren die erste Charge verkaufte, die darin gelagert hatte. Würziger als je zuvor, war der Whiskey bald in aller Munde, und der Vater gewann zusehends an Ansehen.
Jeffrey Collins riet ihm ein Jahr darauf, sich ein Zubrot zu verdienen, indem er Torf abbaute. Draußen beim riesigen Moor, mit dem der Vater bisher nichts anzufangen gewusst hatte. So kam es, dass er – statt der bisherigen Hilfsarbeiter – drei Männer fest anstellte und einen überschaubaren Handel aufbaute. Gerade Amerika klagte über das Fehlen von Torf, das zur Herstellung von Whiskey erforderlich war.
Auch Georgie und Thomas mussten viel harte Arbeit verrichten und halfen beim Abbau. Alle waren binnen kurzer Zeit reifer geworden, weil ihnen durch die Krankheit der Mutter das letzte Stück Kindheit fortgenommen worden war. Aber trotz allem: Sie fehlte. So sehr, dass Emma zur Bettnässerin wurde und zu stottern begann. Obwohl sie mittlerweile reden konnte, verstand man sie kaum besser. Hannie übte täglich mit ihr und ging bei einer Schneiderin in die Lehre. Die erste Hose machte sie für Georgie, der sie stolz präsentierte. Allerdings rutschte sie plötzlich hinunter, weil die Knöpfe nach der Reihe heraussprangen. Erbost hatte er Hannie die Hose vor die Füße geworfen. Es sei kein Meister vom Himmel gefallen, hatte sie erwidert und daraufhin einen unbändigen Ehrgeiz entwickelt, sich stetig zu verbessern. Bald trugen alle Familienmitglieder ihre selbstgemachte Kleidung, da sie zu einer Meisterin ihres Faches geworden war und den Stoff günstig bei ihrer Brotgeberin erstehen konnte.
Die ersten Monate des Jahres 1914 waren geprägt von der Angst vor dem Ausbruch eines Weltkriegs. Es fühlte sich an wie die Stille vor einem alles vernichtenden Sturm. Viele Menschen verließen Europa, und bald wurde das Schreckensszenario bittere Realität. Über weite Teile der Welt wütete der Krieg. Neben vielen Großmächten hatte England am 4. August den Deutschen den Krieg erklärt.
Eine Woche danach verschwand Thomas plötzlich über Nacht. Wenige Tage später traf ein Schreiben von ihm ein. Er hatte sich einberufen lassen und kämpfte an der Front. Nie würde Catherine das Entsetzen in den Augen ihres Vaters vergessen, als er die Nachricht las. Diese Ohnmacht. Wie ihm der Brief entglitten und lautlos auf den Verandaboden geschwebt war.
Tage später war die Mutter nach Hause gekommen.
Die Geißel des Krieges, Thomas’ Fortgehen, die Angst um sein Leben, Existenznöte, der Tod so vieler Menschen, Hungersnot, Verfolgungen, all das relativierte das bisher schlechte Verhältnis zur Mutter zu etwas weniger Bedeutsamem. Allmählich gewannen sie wieder Zutrauen zu ihr, auch weil sie sich plötzlich um sie bemühte. Fast war es wie früher, nur dass Thomas schmerzlich fehlte. Oft setzte sich die Mutter zu ihnen ans Bett und sprach über ihn oder von einer wunderbaren Zukunft. Malte mit sanften Worten bildhaft aus, wie sie eines Tages alle gemeinsam um den Tisch sitzen würden. Besonders um Emma kümmerte sie sich, deren Stottern zwar blieb, doch das Bettnässen hörte auf.
Tatkräftig half die Mutter sogar im Geschäft des Vaters mit und wurde zu einer beliebten Anlaufstelle für Frauen, die sich für Mode interessierten. Dass Hannie Kleider nach dem Vorbild Coco Chanels nähen konnte, sickerte bald allerorts durch. Nicht selten kümmerte sich die Mutter selbst um die Werbung, indem sie in einem dieser androgynen Kleider durch den Ort schlenderte, um ihre Einkäufe zu machen. Passende Hüte orderte sie beim Hutmacher, was sie sich inzwischen leisten konnten. Obwohl nicht abzuschätzen war, welche Folgen der Weltkrieg haben würde, gab sie wie die anderen Damen sorglos Geld aus. Als wollten die Frauen dadurch ihre heile Welt behalten, weil der Krieg zunehmend grausamer wurde und viele Familien auseinanderriss.
Die Veränderung der Mutter war Catherines heile Welt. Sie sprachen sich nicht aus, fragten nichts, sondern wurden Meister darin, alles unter den Teppich zu kehren, was die vermeintliche Idylle hätte zerstören können. Der Vater zweigte der Mutter zuliebe sogar eine nicht unwesentliche Summe von den Ersparnissen ab, die er für die Reise nach San Francisco angelegt hatte, um ihren teuren Lebensstil zu finanzieren. Auch Hannie steuerte etwas bei. Die Alten waren begeistert von ihrer Fertigkeit und bestellten Kleider bei ihr. Nie war Hannie so zufrieden, und Catherine stolzer auf sie gewesen, wenngleich sie den vier Frauen nach wie vor nicht viel abgewinnen konnte.
Kapitel 2
Robert war jeden Sommer mit seinen Eltern gekommen, allerdings wurden die Briefe mit Anfang 1915 spärlicher. Catherine war traurig. Vor allem weil davon auszugehen war, dass die Collins wegen dem Weltkrieg auf die alljährliche Reise verzichten würden. Aber Ende April war ein Brief eingetroffen. Trotz allem wollten sie nach Kingstown reisen.
Roberts anstehenden Besuch hatte Catherine anfangs wie ein Geschenk des Himmels empfunden, was sich mit seiner Ankunft geändert hatte. Seine Gegenwart hatte ihr Leben um ein Vielfaches komplizierter gemacht.
Unsicher drehte sie sich vor dem Spiegel im Elternschlafzimmer. Der einzige, den sie besaßen. Das dunkle Ehebett mit den verspielten Ornamenten auf der Kopfseite spiegelte sich darin. Kurz blickte sie auf die Tagesdecke mit dem Schottenmuster, bevor sie sich wieder auf sich selbst konzentrierte. Sie trug eine helle Leinenhose mit aufgenähten großen Taschen und ein weites weißes Hemd mit Rundkragen, das wie üblich salopp über dem Bund hing.
„Gefällt dir die Hose?“ Hannie umrundete sie, zupfte mal hier, mal dort. Sehr professionell mit dem Monokel vor dem rechten Auge. Das Einglas hing an einem Stück Garn, das wiederum um ihren Hals. Anfangs war es ihr ständig entglitten, inzwischen zwickte sie das Auge sogar ohne Monokel zusammen. Seitdem sie diese ‚einarmige Brille‘ – wie Georgie manchmal scherzhaft sagte – in einer Kiste im Dachboden gefunden hatte, waren beide unzertrennlich. Schon allein deswegen, weil sie Granny gehört hatte. „Bereit für Robert?“ Ihr hüftlanges Haar hatte sich Hannie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das mintfarbene Blusenkleid stand ihr hervorragend.
„Ich bin fürchterlich nervös“, bekannte Catherine.
„Bist du das nicht immer?“ Hannies Stirn straffte sich. Das Monokel fiel herab und baumelte am Garn. Besser gesagt in der Luft, weil sie eine ziemlich ausladende Oberweite hatte.
„Schon, aber es fühlt sich … so anders an. Außerdem ist Robert bereits seit einem Monat da und dieses seltsame Gefühl hat sich nicht gelegt.“
Ein kokettes Lächeln ließ Hannies Gesicht strahlen. „Verliebt? Immerhin bist du fünfzehn.“
„Und zwei Jahre älter als du. Für so etwas darf man sich in deinem Alter nicht interessieren.“
„Das sagt ausgerechnet die Draufgängerin unserer Familie. Wenn ich bedenke, dass du jedes Buch aus Vaters Bibliothek gelesen hast. Sogar das mit den nackten Afrikanern darin.“
„In dem Buch ging es um Naturvölker, falls du es vergessen haben solltest.“ Catherine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn es jemand verstand sie aufzuheitern, dann war es Hannie.
„Ich musste dich von den Bildern regelrecht loseisen.“
„Na ja, so etwas sieht man eben nicht alle Tage. Immerhin hat sich Mister Long gefreut“, sie stockte kurz, weil ihr die Zweideutigkeit ihrer Aussage bewusst wurde, „ähm, dass ich im Lesen große Fortschritte machte und zum Schluss besser war als ihr alle zusammen.“ Mittlerweile hatte der Lehrer den Dienst beendet und war mit seiner Familie nach Neuseeland ausgewandert.
„Nicht nur das“, vergönnte ihr Hannie das Lob, „deine Essays und Gedichte fand er wunderschön. Vielleicht wird eines Tages etwas davon veröffentlicht.“
„Das ist im Moment mein geringstes Problem.“ Catherine strich sich eine Strähne aus der Stirn. Sonne flutete durch die Fenster. „Ich fühle mich hässlich.“
Hannies Arme legten sich von hinten um Catherines Bauch, dann beugte sie sich lächelnd zur Seite und suchte ihren Blick im Spiegel. „Ach Cat, du und deine Zweifel. Glaub mir, du bist hinreißend. Dein Haar hat ein so tiefes Rot, dass man neidisch sein könnte. Außerdem, überleg mal, wie viele Frauen London regelrecht gestürmt haben, um die Erfindung dieses Friseurs auszuprobieren. Wie nannte er sie gleich?“
„Dauerwelle.“
„Genau. Frauen mit glattem Haar würden sich deine Lockenpracht wünschen.“
„Von der nichts zu sehen ist.“ Sie hätte sich ohrfeigen können. Zu ihrem Geburtstag im April hatte sie sich einen Besuch bei Mister Doodley gewünscht. Aus dem dummen Gedanken heraus, dass Robert nach wie vor das in ihr sehen sollte, was sie stets gewesen war: Ein Freund. Doch ihre Begegnung hatte plötzlich Gefühle in ihr ausgelöst, die weit tiefer gingen.
Groß und stattlich war er geworden, muskulös an Armen und Oberschenkeln, die besonders in kurzen Sommerhosen gut zur Geltung kamen. Robert war erwachsen geworden mit seinen siebzehn Jahren. Erwachsen genug, um anderen Mädchen in ihren Puppenkleidern hinterher zu schauen, deren lange Mähnen im Wind flatterten. Sogar Hannie hatte er ständig angeblickt, was ihre Eifersucht geschürt hatte.
Bitterkeit stieg in ihr hoch. Was konnte sie ihm bieten? Sie sah aus wie ein Junge und hätte jetzt alles dafür getan, den Friseurbesuch rückgängig zu machen. Leider war es nicht mehr zu ändern. Also musste sie versuchen, anderweitig seine Aufmerksamkeit zu wecken, denn welches Mädchen war so mutig wie sie? Traute sich Dinge zu, die einem Mann einfach imponieren mussten. Jawohl, mussten!
„Er sieht gut aus, nicht wahr?“, hauchte Catherine.
Hannies Wangen erröteten. „Das muss mir entgangen sein.“
„Lügnerin“, schalt sie ihre Schwester. „Du bist rot wie eine Tomate.“
Hannies Hände glitten von ihrer Taille. „Sicher, er ist ein hübscher Mann. Aber du bist in ihn verliebt und ich schwärme vielleicht ein bisschen für ihn. Aber ich bin ohnehin zu jung für die Liebe.“
„Was, wenn er sich für dich interessieren würde?“ Catherine wandte sich um und schaute ihr prüfend ins Gesicht.
„Ich liebe dich, Cat.“ Hannie legte ihre Hand an Catherines Wange. „Mehr als alles andere auf der Welt. Kein Wind, nicht einmal der größte Sturm, könnte uns auseinandertreiben. Und jetzt muss ich zur Arbeit.“ Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Erneut schaute sich Catherine im silberrandumfassten Spiegel an. Wie burschikos sie wirkte, ähnlich dem Vater in jungen Jahren. Mit sich hadernd warf sie einen Blick auf das Hochzeitsbild ihrer Eltern, das auf seinem Nachtkästchen stand. Darüber hingen Fotografien der Familie. Auch eine ihrer Granny, die ebenfalls tizianrotes Lockenhaar gehabt hatte. Lachend hielt sie der Kamera eine Muschel entgegen. Ihr weißes Spitzensommerkleid mit den kurzen Ärmeln war ihrer Zeit weit voraus gewesen. Barfuß stand sie neben einem schweren Armsessel. Dieses Bild drückte so viel Lebensfreude aus, dass man unweigerlich davon erfasst wurde.
Wehmütig löste sich Catherine von der Fotografie und zog die Tür hinter sich zu.
Von oben war ein Poltern zu hören. Inzwischen hatte Emma ein eigenes Zimmer, das ihr der Vater unter dem Dach eingerichtet hatte. Inklusive einer kleinen Ecke mit Farben und Pinseln, die Leinwände fertigte er selbst. An Emmas Leidenschaft für die Malerei hatte sich nichts geändert. Jedoch war ihr Faible für die Theaterkunst neu. Ende des letzten Jahres hatte sie mit Annie Horniman das Abbey Theatre besucht und seitdem übte sie, wann immer sie konnte, als stünde sie auf der Bühne. Dadurch stotterte sie kaum noch. Am liebsten führte sie Stücke von Shakespeare auf, oder William Butler Yeats. Sehr zur Freude der Mutter, während Catherine bei der Erwähnung seines Namens regelmäßig schlecht wurde. Zugegeben, Yeats war ein erfolgreicher Poet, der Gerüchten zufolge jedoch unglücklich verliebt war. Ausgerechnet in Maud! Was für eine Neuigkeit. In diese Frau konnte man ja nur unglücklich verliebt sein. Dennoch widmete ihr Yeats die meisten Gedichte. Vermutlich hatte sie seine Werke deswegen von Anfang an nicht gemocht.
Die Stufen knarrten unter Catherines flachen Schuhen. Ein Klappern war aus der Küche zu hören. Schon vor dem Frühstück bereitete ihre Mutter das Abendessen vor. Kein Wunder, sie hatte viele hungrige Mäuler zu stopfen. Neben der Familie musste sie die Arbeiter versorgen. Inzwischen hatte es der Vater auf vier gebracht.
Jan war Holländer, Vladimir und Vasilij stammten aus Russland und Marori war ein Schwarzafrikaner. Anfangs war sie dem dunkelhäutigen Mann gegenüber ziemlich verlegen gewesen und hatte pausenlos die Bilder des Buches im Kopf gehabt. Egal was er getragen hatte, sie hatte ihn nackt vor sich gesehen. Mit dem Lauf der Zeit blieb die Kleidung jedoch, wo sie war. Marori war ein guter Arbeiter, der kräftiger war als zwei Mann zusammen. Inzwischen konnten alle ein paar Brocken Gälisch, allerdings zu wenig, um sich unterhalten zu können. Doch dafür fehlte ohnehin die Zeit.
„Kann ich helfen?“ Catherine trat ein. Es duftete nach dem gesottenen Rindfleisch, das in einer Suppe auf dem Herd dampfte. Darin kochte die Mutter auch Kartoffeln weich. Einige Knochen und etwas Gemüse schwammen ebenso in der Brühe.
„Ich dachte, du möchtest zu Robert“, ließ die Mutter verlauten, die mit dem Rücken zu ihr stand. „Viel Zeit habt ihr ja nicht mehr.“
Im Alltag trug sogar sie kecke Hosen und Blusen mit Ausschnitt, was sie jünger wirken ließ als vierzig. Die Kirchgänge waren seltener geworden und sie schien im Kochen förmlich aufzugehen. Sogar die Hand rutschte ihr immer seltener aus. Trotzdem gab es eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen, die Catherine nicht überwinden konnte. Vielleicht aus Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung. Je älter sie wurde, desto mehr wuchsen Zweifel in ihr. Desto größer wurde der Drang, mit der Mutter reden zu wollen. Weil dieses eisige Stillschweigen quälend war. Sicher, sie respektierten sich, mochten sich, arrangierten sich, aber Liebe war es bei weitem nicht.
„Robert schläft bestimmt noch. In letzter Zeit feiert er ziemlich viel“, antwortete Catherine.
Ihre Mutter griff nach dem Kochlöffel und rührte geschäftig im Topf. „Robert ist erwachsen. Ein Besuch im Public House gehört bei den Männern dazu. Wenn du Alkohol trinken darfst, wirst du sehen, welch schweren Kopf man davon bekommt.“
„Das erspare ich mir lieber.“ Catherine ließ sich auf die harte Holzbank sinken. Zwei in der Mitte gefaltete Kissen lehnten in der Ecke. Auf dem schmalen Tisch zeigten sich viele Kratzer. Auf ihm wurde gespült, geschnitten oder Teig zubereitet. Neuerdings buk die Mutter fremdländische Fladen, die ausgezeichnet schmeckten.
„Freust du dich auf die Weltausstellung?“ Catherine wischte mit dem Handrücken einige Krümel auf den Boden. Alle hatten eine Beschäftigung. Nur sie nicht. Für Frauen war der Weg eigentlich vorgezeichnet. Man heiratete. Das Letzte, das sie tun wollte. Aber über kurz oder lang musste sie sich Gedanken über ihre Zukunft machen. Seltsam, dass die Frage, die Robert ihr vor Jahren halb im Scherz gestellt hatte, plötzlich Antworten brauchte. Antworten, die sie nicht hatte. Auf die sie heute genauso wenig vorbereitet war wie damals. Beruflich oder privat, sie hatte weder Ziele noch Optionen. Obwohl ihr die Arbeit in der Werkstatt des Vaters großen Spaß machte. Sie half ihm beim Bau der Fässer und liebte den frischen Geruch von Holz. Leider kein Beruf für eine Frau.
„Im Augenblick ist mir nicht nach reisen.“
„Aber Vater hat sich die Fahrt vom Mund abgespart und sich kaum etwas gegönnt.“ In einer Woche wollten sie nach San Francisco aufbrechen. Die Ausstellung ging bis Dezember.
„Das ist mir bewusst.“ Sie legte den Kochlöffel neben den Topf und schob sich das rote Seidentuch vom Kopf, das sie im Nacken gebunden hatte. Aufseufzend setzte sie sich zu Catherine und ließ den weichen Stoff durch ihre Finger gleiten, die nur der goldene Ehering schmückte. „Wenn ich mir ausrechne, wie viel die Anfahrt kostet, vom Hotel ganz zu schweigen. Außerdem tobt überall der Krieg und wir haben bald Erntezeit.“
„Vater hat die Schiffskarten bereits besorgt und alles organisiert. Um die Felder kümmern sich Marori und die anderen.“
„Trotzdem, mir wäre wohler, wenn wir die Arbeiter im Auge behalten könnten.“
„Was du nicht sagst, Mutter.“ Georgie kam mit ausladenden Schritten herein. Er trug hohe Lederstiefel, die Hose hatte er hineingestülpt, wie das Hemd in den Bund. Ihr Bruder, der inzwischen vierzehn war, hatte enorm abgenommen. „Guten Morgen übrigens, Cat.“ Er holte das Brot aus dem Korb unter den Tassen. Ihre leuchtete in Türkis, mit einer Rose darauf. Der Vater hatte wie üblich Wort gehalten.
Mürrisch kramte Georgie in der Schublade neben dem Herd, zog ein Messer heraus und schob die Lade mit der Hüfte zu. Dann kam er an den Tisch. Im Nu hatte er zwei Brotscheiben abgeschnitten. „Magst du auch?“
Catherine schüttelte den Kopf. Seinen Schnurrbart hatte er frisch gestutzt und roch nach dem holzigen Parfüm des Vaters. „Warum bist du Mutter gegenüber so feindselig?“
Er hielt kurz inne und schnitt im nächsten Moment umso energischer weitere zwei Scheiben ab. „Ich muss zum Moor.“
„Du weichst mir aus.“
Die Mutter legte ihre Hand beschwichtigend auf Catherines Arm. „Ich habe viele Fehler gemacht. Nicht jedes meiner Kinder kann mir verzeihen.“
„Du sprichst in der Vergangenheit“, fuhr Georgie sie an. „Versuch es mal mit der Gegenwart. Die ist die Wurzel allen Übels.“
„Was sollen die Anspielungen, Georgie? Sprich offen, oder lass es. Mutter bemüht sich wenigstens, was man von dir nicht behaupten kann.“ Egal was vorgefallen war, sie war immer noch ihre Mutter.
„Du musst mich nicht verteidigen“, bat die Mutter.
„Womit wir einer Meinung wären“, rief Georgie aus. „Und du, Cat, du lässt dich einwickeln. Ausgerechnet du. Ausgerechnet von der Frau, die uns mehr Feindin als Mutter war, und ist. Was du Bemühen nennst, nenne ich in Sicherheit wiegen.“ Mit spöttisch verzogener Miene stapelte er die Brotscheiben aufeinander. „Alles Eigennutz. Unseretwegen blüht sie jedenfalls nicht auf.“ Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Mit Nachdruck legte er Brot und Messer zurück. Danach nahm er die Wurstdose von der kleinen Arbeitsfläche neben dem Herd, die ihm die Mutter jeden Morgen bereitstellte. Das Moor war eine Stunde entfernt. Meist kam Georgie erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück.
„Was ist los mit euch beiden?“, fragte Catherine.
Ihre Mutter zog die Hand zurück und wechselte einen undefinierbaren Blick mit Georgie.
„Ich will weder dir noch Pa die Laune verderben“, ließ ihr Bruder verlauten. „Er freut sich wie ein kleines Kind auf die Reise. Danach sehen wir weiter.“
Die Hände ihrer Mutter zitterten. Als sie sich Catherines Blick bewusst wurde, ließ sie das Tuch los und verschränkte die Finger ineinander. Ihre Knöchel traten weiß hervor.
„Du solltest jetzt besser deinen Mund halten“, befahl die Mutter an Georgie gewandt und zog die Augenbrauen zusammen. Wortlos packte er die Brotzeit in seinen weißen Stoffsack und verließ den Raum. Sofort erhob sich die Mutter von ihrem Platz und stellte sich an den Herd. Auch sie wollte scheinbar ihre Ruhe haben, obwohl Catherine voller Fragen war. Wieder einmal.
***
„Keine Ahnung, was Georgie hat“, äußerte sich der Vater eine Stunde später. Er war gerade dabei, einige Eichenbretter zu gerben. Dafür verwendete er eine geheime Mischung aus Nutzpflanzen. Das Holz war für das nächste Jahr gedacht, weil er es den Winter über trocknen lassen wollte. „Die Weißeiche aus Amerika kann mit meinen Fässern nicht mithalten“, lobte er sich selbst und rückte sich die Brille zurecht. Das Haar hing ihm auf beiden Seiten ins Gesicht. Er wirkte beinahe verwegen. Auch die Arme waren kräftiger geworden. „Du kannst die Bretter vom Vorjahr toasten und die zwei fertigen Fässer auskohlen. Der Whiskey braucht einen rauchigen Geschmack, mein Mädchen.“
Als ob sie das nicht wüsste. „Das habe ich bereits gestern gemacht. Schon vergessen?“
Ein verlegenes Lächeln umspielte seinen trockenen Mund. „Mein Kopf ist in San Francisco.“ Ihr Vater streckte sich durch. Es knackste in seinen Gelenken. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue nach der vielen Knochenarbeit. Eine Reise mit meiner ganzen Familie …“ Sein Blick verlor sich. Vermutlich war er in Gedanken bei Thomas. Zwar schrieb ihr Bruder regelmäßig, die Briefe wurden jedoch von Mal zu Mal kürzer. Im gleichen Maße schwand die anfängliche Euphorie darin.
Catherine nahm die Arbeitshandschuhe vom Werktisch, zog sie an und stapelte einige Bretter an die rückliegende Wand. „Können wir uns das tatsächlich leisten?“, umschiffte sie Thomas’ Abwesenheit. Außerdem waren die Bedenken der Mutter nicht von der Hand zu weisen. Obwohl ihr Vater das Geld stets umsichtig verwaltete.
„Ich habe alles genau kalkuliert.“ Er klang müde, als müsse er diesen Satz ständig wiederholen. „Einmal im Leben soll man sich etwas Großes leisten. Außerdem sind wir nie gereist. Deine Großmutter würde sich im Grab umdrehen.“ Das Lächeln verjüngte ihn. Sein Haar war an den Koteletten ergraut. In seine Stirn hatten sich drei Längsfalten eingegraben und er trug mit Vorliebe Dreitagebärte, obwohl Hannie oft betonte, dass eine blanke Rasur ein Muss war in der Modewelt. Mit dem Hinweis, dass das auch für kleine Brüste gelte. In diesem Fall konnte Catherine locker mithalten.
„Und der Krieg?“
„Dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Wir sterben, wenn unsere Zeit abgelaufen ist. Also warum das Boot entern, bevor man nicht versucht hat, ans andere Ufer zu kommen?“
Darauf wusste sie nichts zu sagen und so arbeiteten sie schweigend weiter.
Kurz vor dem Mittagessen musste sie zur Hütte hochgehen und auf der Tenne die Gerste umschichten. Dass ihr der Vater diese Arbeit zutraute, hatte sie anfangs mit Stolz erfüllt. Inzwischen fand sie es lächerlich, weil es eine stupide Tätigkeit ohne wesentlichen Inhalt war. Wieder dachte sie über ihre Zukunft nach. Selbst während des Essens. Kartoffelbrei mit Seehecht war ihre Lieblingsspeise. Hannie aß bei der Schneiderin, Emma hatte ihren Teller mit einem theatralischen ‚To eat or not to eat, that is the question‘ mit nach oben genommen.
„Unser Küken interpretiert Hamlets Stück völlig falsch“, kreidete der Vater an, als Catherine später mit ihm auf der Veranda eine Tasse Tee trank. Die Mutter machte einige Besorgungen im Ort. Wie sonderbar still es war. Jeder ging seiner Wege.
Die Zitronen-Geranien in den Blumenkisten auf der Verandabrüstung verströmten einen frischen Duft. Der Bug eines Schiffes durchfurchte die See. Die weißen Segel blähten sich auf. Leise hörte man das Schnaufen der Lokomotive, die von Dublin kam. Berge erhoben sich weit hinter der Stadt. Das klare Wetter gewährte einen herrlichen Fernblick. Seit langem war der Tag nicht so hell, die Luft so warm, die Gegenwart so friedlich gewesen.
„Versteh mich nicht falsch.“ Er legte den Kopf an die Lehne und wirkte schläfrig. Thomas’ abgegriffene Briefe lagen auf seinem Schoß. Nach der täglichen Zeitung las er sie einen nach dem anderen. „Ich fühle mich geehrt, dass du Zeit mit deinem alten Vater verbringst. Aber wartet nicht jemand auf dich?“
„Ja, sch… schon.“ Der Gedanke an Robert warf plötzlich Schatten. Sie kam sich albern vor, weil sie seit ein paar Tagen beinahe genauso stotterte wie Emma früher. Einerseits wünschte sie sich die Unbefangenheit ihrer Jugend zurück, andererseits wollte sie als Frau wahrgenommen werden. „Wir treffen uns um vier unten an der Bucht.“
Ruckartig hob er den Kopf. „Wollt ihr baden?“
„Nein, keine Angst. Davon abgesehen habe ich ohnehin kein Badekleid.“
Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich der Vater wieder zurücksinken. „Dann bin ich beruhigt. Du bist zu jung, um einem Mann zu viel Haut zu zeigen.“
„Robert ist wie ein Bruder für mich.“
„Wenn du das sagst.“ Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Eine Mischung aus Belustigung und Sorge. „Seine Eltern kommen übrigens nachher vorbei.“
Catherine stellte die Unterteller aufeinander und stapelte die Tassen darauf. „Ich bringe das Geschirr hinein. Bis später.“
Während sie hastig abwusch, kam ihr eine spontane Idee, wie sie Robert womöglich beeindrucken konnte. Kaum in der Küche fertig, durchsuchte sie wenig später den Schrank ihrer Mutter, bis sie einen naturfarbenen Brustgurt fand. Mit zitternden Händen zog sie ihn unter dem Hemd an und stopfte ihn mit Socken aus. Als sie in den Spiegel blickte, fühlte sie sich unendlich erwachsen und sah zum ersten Mal die Frau in sich. Hoffentlich ging es Robert ebenso.
Nervös machte sie sich zur vereinbarten Zeit auf den Weg zur Bucht. Ihr Vater schlief leise schnarchend in seinem Stuhl. Vorsichtig tapste sie die drei Verandastufen hinunter, rannte gebückt an der Brüstung vorbei und stieg über die in den Fels geschlagenen Stufen hinab. Vor Aufregung hatte sie Mühe nicht zu stolpern und wäre auf den letzten Stufen beinahe doch hingefallen, weil sie Roberts verblüfften Blick auf ihre Brüste sah, der ihr entgegenlief und knallrote Ohren bekam.
Vier Stunden später war von der Freude nicht viel geblieben. Der Gurt schnürte sie enorm ein und sie hatte Schmerzen, sobald sie den Brustkorb hob oder senkte. Wer auch immer meinte, eine Frau, die schön sein wolle, müsse leiden, konnte nicht bei Trost sein. Welche Frau tat sich dieses Zaumzeug freiwillig an?
Leider war das nicht ihr einziges Problem.
Tief zog Catherine den Rauch der dritten Zigarette in ihre Lungen und betete inständig, dass sie sich nicht wieder blamierte. Gespannt waren Roberts blaue Augen auf sie gerichtet. Ihre Kehle kratzte, bevor sie sich die Lunge aus dem Leib hustete. Er grinste, während sie ihm die Zigarette reichte. Ihr Körper wurde durchgeschüttelt, wie die Socken in ihrem Brustgurt. Hoffentlich riss er nicht, andererseits wünschte sie sich nichts sehnlicher. Als wäre das nicht genug, brannte Übelkeit in ihrer Speiseröhre und ein bitterer Geschmack lag ihr auf der Zunge. Himmel, was fanden Erwachsene nur am Rauchen?
„Habe ich zu viel versprochen?“, fragte Robert und zog an der Zigarette. Ein leises Knistern war zu hören, die Spitze glomm auf wie das purpurrote Abendrot hinter ihm. „Schmeckt gut, nicht wahr? Es wird mit jeder Zigarette besser.“
Catherine konnte nur nicken und hustete weiter. Robert schien das nicht aufzufallen. Oder weshalb sollte er sonst so dumme Fragen stellen, während sie beinahe erstickte?
„Bei mir hat es ebenfalls so angefangen“, erklärte er mit stolzer Miene, „das legt sich. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“
„Sicher.“ Allmählich wurde der Reiz schwächer und sie atmete durch. Im selben Moment blies Robert den Rauch in ihr Gesicht. Ihr Mund klappte zu und sie hielt den Atem an. Du liebe Güte, wie nahe sein Gesicht war. Die Zähne weiß wie Schnee, die Haut gebräunt von der irischen Sonne. Und dann dieses Lächeln, das ein fürchterliches Kribbeln in ihrem Bauch verursachte.
„Du siehst mich an, als wärst du in mich verliebt“, zog Robert sie auf und schnippte den Stumpen weg, der gegen einen Stein flog. Catherine atmete aus und suchte nach einer saloppen Entgegnung, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war der Wunsch von ihm geküsst zu werden. „Außerdem frage ich mich, wie es möglich ist, dass dein Busen über Nacht so … so … womit hast du nachgeholfen? Obwohl ich sagen muss, es sieht verdammt gut aus.“ Sein Blick hing förmlich an den Rundungen.
Hastig verschränkte Catherine die Arme vor der Brust. Jetzt schämte sie sich für diesen albernen Einfall, der ihr im doppelten Sinn zu schaffen machte. Sie hatte ja selbst keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht hatte. „Du denkst doch nicht …“, Catherine schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Himmel, glaubst du etwa, ich … ich hätte mir die Brust aus…gestopft?“ Wie schrill ihr Lachen klang, wie albern das Stottern. „Das sind Äpfel, du dummer Junge. Ich habe sie als Prov…iant mitgenommen.“ Hoffentlich hatte er keinen Hunger!
„Ach so“, erwiderte Robert, dessen Blick sich auf das Meer hinaus verirrte. Wie verträumt er aussah. Innerlich seufzte sie abgrundtief, oder hatte sie es laut getan?
Wenn er sie nur einmal so ansehen würde.
Erneut wurde sie neidisch auf Hannies Oberweite und haderte damit, dass sich bei ihr kaum Brustwuchs einstellte. Sie war flach wie eine Flunder. Nur feine Härchen unter den Achseln ließen ahnen, dass sie zur Frau reifte. Neben der Monatsblutung, die getrost hätte wegbleiben können.
Wie Roberts Haar in der Abendsonne glänzte. Rotgolden legte sich das Licht darüber, kitzelte sein Gesicht und berührte seine Augen, die er zu schmalen Schlitzen gezogen hatte, was ihm einen fast arroganten Ausdruck verlieh. Ein Spitzbart zeigte sich am Kinn, das Haar war streng zurückgekämmt und akkurat gescheitelt. Die beige Kniebundhose passte farblich zu den Socken und dem braun gemusterten Pullover.
„Irgendwann will ich so werden wie Michael“, flüsterte Robert, als vertraue er dem weiten Meer seine kühnsten, geheimsten Träume an. Jedes Wort war wie ein Flehen. Ein Flehen zu Gott. Ein Flehen nach Erfüllung. Gleichzeitig ein stummes Versprechen, zu allem bereit zu sein, sollte sein Gebet erhört werden.
„Wer ist Michael?“
„Mein Cousin“, antwortete er, ohne den Blick vom Meer abzuwenden. „Michael Collins mit vollem Namen. Er ist schon zweiundzwanzig. Seine Eltern besitzen ein riesiges Anwesen in Sam’s Cross, nahe Clonakilty.“
„Und? Was ist so besonders an ihm?“ Catherine starrte auf die Anhäufung riesiger Steinklumpen, die sich über die Länge der kleinen Bucht formierten. Hinter ihnen erhoben sich die Klippen. An manchen Stellen leuchteten grüne moosige Stellen herunter.
„An Michael?“, hakte Robert nach, als wundere er sich über Catherines Unwissenheit. Zugegeben, dieser Michael interessierte sie nicht die Bohne. Andererseits ahnte Catherine, dass sie Robert eine andere Facette von sich zeigen sollte. Die einer interessierten Frau statt des ständig zu Scherzen aufgelegten Blutsbruders.
„Wir nennen ihn ‚The Big Fellow‘“, weihte er sie mit gewichtiger Miene ein, als habe er ihr soeben eine Audienz beim Papst ermöglicht.
„Der große Kerl? Klingt nicht besonders.“
Robert warf ihr einen entrüsteten Blick zu. „Vor einem Monat habe ich erfahren, dass er der IRB beigetreten ist.“ Neid, unverhohlener Neid war zu hören.
„Die IRB ist … irgendwo habe ich davon gehört.“ Plötzlich wurde ihr klar, dass auch mit Robert etwas geschehen war und sie dachte voller Wehmut an den James Joyce Tower, an das Ost-Pier, den Süßigkeitenstand, die Nackten am Forty Food, den Druidenplatz oder an die Eiche mit ihren Initialen.
„Die Irish Republican Brotherhood, ein Geheimbund.“ Catherine brauchte einen Moment, um ihm wieder folgen zu können. „Eine neue Gruppierung neben den Irish Volunteers, die es mit der IRB ohnehin nicht aufnehmen können. Ich überlege, ob ich mich Michael anschließen soll. Er hat bereits jetzt großen Einfluss.“
„Wozu ein Geheimbund?“ Die IRB sagte ihr nichts, die Volunteers hingegen schon. Ihr Vater war ein überzeugter Gegner dieser Gemeinschaft, wie er ein Gegner aller politischen Lager war. Halsabschneider, nannte er die Politiker, oder Klugscheißer mit heißer Luft im Hintern. Eine Meinung, die sie ebenfalls vertrat und Politisches in jeder Zeitung überblätterte. „Ich mag nach wie vor keinen Krieg.“
„Manchmal geht es nicht anders.“ Leidenschaft flammte in Roberts Augen auf. „Für die Freiheit Irlands bin ich zu allem bereit. Ich verabscheue die Engländer. Sie fühlen sich wie die Herren über Sklaven.“
„Welche Sklaven?“
„Irland, du Dummerchen. Im übertragenen Sinn.“
Wie viel Spott in seiner Stimme lag. Nein, er nahm sie nicht wahr wie eine heranreifende Frau, sondern sah immer noch das kleine Kind in ihr. Sie war es vermutlich auch. Ein Freund. Der Junge. Ein Blutsbruder. Dieses Gespräch zeigte es mehr als deutlich.
„Ich interessiere mich nicht für Politik“, fauchte sie und erschrak selbst über ihre Heftigkeit.
„Musst du ja nicht. Bist ohnehin ein Mädchen.“
„Na und? Wenn ich wollte, könnte ich das Parlament anführen“, schnitt sie auf.
Robert lachte schallend, gleichzeitig gab er ihr einen kräftigen Klaps auf die Schulter. „In welchem Zeitalter lebst du? Frauen gehören an den Herd, gebären unsere Kinder, ansonsten haben sie nur schön auszusehen.“ Ernster werdend musterte er Catherine wie eine Muschel, die man zufällig am Strand erblickte, aber schließlich liegen ließ. „Das war’s.“
„Für mich wäre das zu wenig“, behauptete sie enttäuscht und kühn zugleich, ohne zu wissen, was sie stattdessen tun könnte. „Ich kann mir Besseres vorstellen. Nimm Coco Chanel. Sie ist weltberühmt, eine Stilikone. Für ihren Lebensunterhalt sorgt sie selbst, dazu braucht sie keinen Mann.“
„Genau“, entgegnete er gedehnt. „Jede Frau braucht einen Mann.“
„Das ist Schwachsinn und …“
„Eigentlich interessiert mich das nicht“, erstickte er ihr Plädoyer im Zaum. „Obwohl ich zugeben muss, dass diese Frau atemberaubend aussieht.“ Er grinste zweideutig.
Catherine schluckte die Eifersucht hinunter. „Ich werde mich niemals von einem Mann unterdrücken lassen“, schob sie nach, um sich nicht zu verraten.
„Du liebes bisschen“, er rückte von ihr ab, „eine Suffragette? Haben dir die aufständischen Weiber ebenfalls das Gehirn vernebelt? Immerhin soll ja deine Mutter im Bannkreis einiger dieser Irren stehen.“
„Das mit den Irren nimmst du sofort zurück.“ Wer hätte gedacht, dass sie sich eines Tages für die Alten einsetzen würde? „Genauso wie die Beleidigung meiner Mutter.“
„Männer sind an der Macht, Catherine“, blieb er bei seiner Haltung. „Daran ist nicht zu rütteln, egal ob Frauen vor Buckingham oder sonst wo aufmarschieren.“ Robert griff nach einem Kieselstein und umschloss ihn mit der Faust. Die Dämmerung brach bereits herein, floss wie ein dunkler Strom vom Horizont heran. „Trotzdem habe ich Respekt vor euch, wie Michael es mich gelehrt hat. Die Frauen lieben und vergöttern ihn. Ob es seine Schwestern sind oder die hübschen Begleiterinnen, wenn er zu einem Fest geladen ist.“
„Ach, um euch zu unterhalten sind wir gut genug, was? Sag mir, was das mit Respekt zu tun hat?“, griff sie ihn neuerlich an, obwohl sie das nicht wollte. „Wenn dieser Michael sagt, du sollst von der Half Penny Bridge springen, tust du es dann?“
Robert wurde blass um die Nase. „Ich habe durchaus eine eigene Meinung.“ Abrupt erhob er sich, ging etwas in die Knie und warf den Stein ins Wasser, der dreimal hochsprang. Wie ein fliegender Fisch.
„Scheint mir entgangen zu sein“, steigerte sich Catherine in ihre Wut hinein. „Du wiederholst stupide Sätze von Männern, deren Denkweise längst überholt ist. Wo ist der Zwölfjährige, der sich für meine Gedanken interessiert hat?“
„Er ist älter geworden und stand damals unter dem Einfluss seiner Mutter.“
„Ein guter Einfluss, wie mir scheint.“
„Das musste ja jetzt kommen und zeigt, dass du zu jung für solche Gespräche bist. Ich gehe hinauf. Meine Eltern warten sicherlich auf mich.“ Kaum ausgesprochen, schritt er auf die Stufen zu. Catherine fasste nach dem nächstbesten Stein, um ihn Robert hinterherzuwerfen, aber schließlich ließ sie ihn fallen und starrte auf seinen breiten Rücken.
Sie hasste ihn für seine Worte. Hasste ihn dafür, dass er ihr die Tränen in die Augen trieb. Doch am meisten hasste sie sich selbst. Diesen Zustand, dieses zähe Heranwachsen. Es war schwierig, wenn man das Gefühl hatte weder Kind noch Frau zu sein. Dazwischen stand und auf beide Seiten gezogen wurde, ohne zu wissen, wohin man tatsächlich gehörte. Im Augenblick hatte sie ihre Empfindungen und Gedanken nicht unter Kontrolle. Reagierte trotzig wie ein Kind statt umsichtig wie eine Frau.
Robert verschwand aus ihrem Blickfeld.
Verärgert wischte sich Catherine über die Augen, holte die Socken heraus, deponierte sie neben sich und öffnete den Brustgurt. Danach legte sie sich auf den Rücken, verschränkte die Hände am Hinterkopf und starrte zum verdunkelten Himmel hinauf. Vereinzelt flammten erste Sterne auf, wie die Halbsichel des Mondes. Ständig veränderte sie ihre Lage, weil der steinige Untergrund schmerzte wie der Gedanke an alle Cocos dieser Welt. Dieselbe Frisur zu haben reichte bei weitem nicht aus. Man konnte eben aus einem verlausten Schäferhund keinen salonfähigen Pudel machen.
Ein Stern leuchtete heller als die anderen. Als sende er ihr eine Nachricht. Ein Morsezeichen aus dem Weltall. Oder meldete sich Gott zu Wort? Wollte er sich dafür entschuldigen, sie irrtümlich mit zwei hübschen Schwestern in ein und dasselbe Haus gesteckt zu haben? Ja, sie zerfloss in Selbstmitleid und hatte allen Grund dazu.
Ob Tatty ebenso mit Gott gehadert hatte?
Seufzend schnappte Catherine sich die Socken, sprang auf die Füße und lief zu den Stufen. Als sie nach oben stieg, hörte sie den dumpfen Klang ihrer eigenen Schritte auf dem harten Gestein. Immer schneller wurde sie. Getrieben vom Zorn auf Robert und auf sich selbst. Als sie keuchend die letzten Stufen erklomm, blieb sie erschrocken stehen. Da stand jemand mit einer Taschenlampe und leuchtete ihr ins Gesicht! Robert? Wollte er sich entschuldigen?
„Was tust du um diese Zeit hier draußen?“ Ihre Mutter. Enttäuschung erfasste Catherine, gleichzeitig kam die Wut zurück. „Könntest du mir bitte antworten?“
„Wenn du damit aufhörst mich zu blenden.“ Der Lichtkegel senkte sich und Catherine eilte den Rest des Weges hinauf. „Ich war mit Robert in der Bucht“, antwortete sie dann knapp, als sie vor der Mutter stand. Leise raschelte es im hohen Gras, als schleiche sich ein Tier davon. „Und du?“
„Was soll mit mir sein?“
„Du bist selten um diese Zeit draußen.“
„Erstens bin ich dir keine Rechenschaft schuldig“, antwortete die Mutter unwirsch, „zweitens habe ich dich gesucht.“
„Weswegen?“
Das Licht der Taschenlampe flackerte, und erlosch. Die Mutter stand mit dem Rücken zum hellerleuchteten Elternhaus. Hinter dem Bibliotheksfenster konnte Catherine die Gestalt ihres Vaters erkennen. Er und Jeffrey prosteten sich zu.
„Ich brauche Hilfe beim Abwasch.“
„Dann frag doch zur Abwechslung einen der Jungen“, entgegnete Catherine spitz und umklammerte die Socken. Die Enttäuschung über das missglückte Treffen mit Robert ließ sie ihre guten Vorsätze vergessen. Egal wer, irgendjemand musste Blitzableiter spielen. Auch wenn sie dafür eine Ohrfeige riskierte.
„Lass uns ins Haus gehen“, schlug die Mutter überraschenderweise mit müder Stimme vor. „Ich habe keine Lust zu streiten.“ Unvermittelt schnupperte sie an Catherines Haar. „Sag mal, hast du geraucht?“
„Robert. Ich saß in seiner Windrichtung.“ Catherine setzte sich in Bewegung und hörte, dass ihr die Mutter folgte. Kurze Zeit später stiegen sie die Verandatreppe hoch.
„Ist … ist Robert noch da?“ Wie sehr hätte sie jetzt eine Mutter gebraucht, die ihr über den ersten Liebeskummer hinweghalf. Ratschläge gab und zuhörte. Sie einfach in die Arme nahm.
„Nein, Jeffrey hat Liane und ihn vorhin ins Hotel gebracht.“
Catherine war auf den Schmerz nicht vorbereitet gewesen, der sie jetzt mit aller Wucht überkam.
„Du wirfst mich allen Ernstes aus deinem Haus?“, erscholl Jeffreys Stimme, als sie das Cottage betraten. „Bloß weil ich dir den Verkauf Wild Swans angeraten habe?“
„Zum wievielten Mal, Jeffrey? Langsam beschleicht mich das Gefühl, du willst mich um jeden Preis dazu animieren. Reicht dir ein Nein nicht?“
Die Mutter legte sich den Zeigefinger an den Mund und schob leise die Tür hinter ihnen zu. Auf Zehenspitzen tapsten sie an der Bibliothek vorbei.
„Du und dein Misstrauen. Ich meine es nur gut. Hast du dich einmal umgehört? Wir stehen kurz vor einem Aufstand. Alle Gruppierungen formieren sich. Über kurz oder lang wütet der Krieg auch bei uns. Dabei hast du unzählige Schiffe vor der Nase, die dich nach Australien oder Amerika bringen könnten. Immerhin hast du Kinder, an die du denken solltest.“
„Warum steigst du nicht selbst auf das nächste Schiff?“
„Weil vor allem in Dublin die Gemüter überkochen. Mein Zuhause ist weit genug entfernt.“
„Trotzdem können es die Engländer dem Boden gleichmachen.“
„Verkauf um Himmels Willen, Chester!“
Kurz war es still. „Du klingst nicht wie ein Freund. Eher wie einer, den man in die Enge treibt. Was ist das für ein übles Spiel? Zwingt dich jemand, mich unter Druck zu setzen? Sag, was ist wirklich los?“
„Nichts.“
„Jeffrey!“
„Herrgott, tu was immer du tun willst. Doch damit ist unsere Freundschaft beendet. Ich finde es beschämend, dass du mir Eigennutz unterstellst. Das habe ich nicht verdient. Nicht nach allem, was ich für dich getan habe. Mit Rat und Tat stand ich dir seit jeher zur Seite, und das ist der Dank. Morgen werden wir Kingstown verlassen. Ich komme kurz vorbei, damit sich Robert und Liane verabschieden können. Die Kinder und deine Frau haben schließlich nichts mit deiner Halsstarrigkeit zu tun.“
Catherine wurde schwarz vor Augen. Sie hielt sich am Treppengeländer fest. Jeffrey kündigte ihrem Vater die Freundschaft. Hieß das, dass sie Robert nie wiedersehen würde?
***
„Natürlich wirst du“, beschwichtigte Hannie sie später, als sie in ihren Betten lagen. Auf dem Schreibtisch brannte die Petroleumlampe, die einen runden Kreis an die Decke malte. „Vater und Jeffrey sind nicht zum ersten Mal unterschiedlicher Meinung.“
„Aber nie haben sie sich so heftig gestritten.“ Catherine zog die Steppdecke bis ans Kinn. Wie üblich zog es durch die Ritzen des Fensters, obwohl die Vorhänge zugezogen waren. „Es ist so ungerecht.“
„Wenigstens habe ich dich dann wieder für mich.“ Ihre Schwester drehte sich zur Seite, stützte den Kopf auf die Handfläche und schaute zu ihr herüber. „Wenn Robert da ist, gibst du dich ausschließlich mit ihm ab.“ Hannies Augen glänzten im sanften Lichtschein. Das volle Haar fiel wie ein seidiger Schleier herab und wellte sich auf dem Kissen. Das weiße Rüschennachthemd ließ sie unschuldig wirken, fast verträumt.
„Du hast mich das ganze Jahr über.“ Catherine kratzte sich am Bauch. Im Gegensatz zu ihrer Schwester trug sie ein zerschlissenes Oberteil und eine Hose von ihren Brüdern. Mitsamt dem Schlitz vorne. Einmal hatte sie versucht, sich wie ein Mann Erleichterung zu verschaffen, weil sie neugierig gewesen war, wie das funktionierte. Mit klatschnasser Hose hatte sie das Klo verlassen. „Ich sollte aufhören, mich wie ein Junge zu benehmen.“ Sie deutete auf ihren Kopf. „Vor allem hier drinnen. Ich habe vor Robert so getan, als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Es wird Zeit, erwachsen zu werden.“
„Trotzdem wünschte ich, dass ich mehr von dir hätte. Du scherst dich nicht viel darum, was andere sagen. Hast Mut und traust dich Dinge zu tun, an die ich nicht einmal zu denken wage. Du schlägst sehr nach Granny. Dafür beneide ich dich.“
Nie hatte ihr Hannie ein schöneres Kompliment gemacht. „Du hast genauso viel von ihr“, überspielte sie ihre Rührung. Noch ein nettes Wort und sie würde in Tränen ausbrechen. Dieser Tag hatte ihr viel abverlangt, der Abend nicht weniger. Sie fühlte sich erschöpft.
Hannie lächelte. „Disziplin? Vorsicht? Vernunft? Auf diese Weise hat Pa unsere Granny nie beschrieben. Aber dein Einwand musste ja kommen. Kannst du nicht einmal etwas für dich selbst annehmen? Nur ein einziges Mal? Wie kann man nur so mutig und feige zugleich sein?“ Ihre Schwester richtete sich auf, schob das Kissen etwas in die Höhe und drehte ihr den Rücken zu. „Schönheit kommt vor allem von innen. Sieh dir Grannys Bild an. Tatty mag eine anmutige und schöne Frau gewesen sein, doch auf der Fotografie strahlt sie regelrecht. Weil sie voller Liebe in die Kamera geschaut hat. Ich glaube fest daran, dass es dem Mann gegolten hat, für den sie das Bild machen ließ. Vielleicht hat er es sogar selbst gemacht.“
„Du denkst, der Unbekannte hat Granny fotografiert?“
„Kann sein, aber nun lass uns schlafen. Ich bin müde. Gute Nacht, Große.“
„Gute Nacht, Kleine.“ Catherine blickte zur kahlen Stelle an der Wand. Dort, wo Emmas Bett gestanden hatte, war die Mauer heller. Einige ihrer Bilder hingen noch am selben Platz. „Schlaf schön, Winzling“, flüsterte sie, zog sich die Decke bis zum Ohr und stopfte sie sich in den Rücken. Ihre rechte Hand glitt unter das Kissen, während sie Hannies Atem lauschte. Ihre Gegenwart hatte etwas Beruhigendes, weil die Dunkelheit manchmal beängstigend war. Vor allem für Hannie, die lieber mit Licht schlief. Dass es ihr entgegenkam, verschwieg sie allerdings.
Catherine gähnte und schaute zur Lampe. Bei jedem Atemzug Hannies flackerte die Flamme hinter dem verschmierten Glas. Sicherlich ein Zufall, aber unheimlich, und es wirkte wie ein schlechtes Omen, wenn sie an Roberts bevorstehende Abreise dachte. Ahnend, dass der Bruch zwischen den Vätern weit tiefer ging, als Hannie vermutet hatte. Oder sie hatte nur so getan, um sie zu trösten.
Wie gemein war es, dass Erwachsene etwas beschlossen, ohne an die Folgen für andere zu denken. Jeffrey nahm ihr mit seinem Handeln die letzten Tage mit Robert, ihr Vater hatte sich ebenso wenig mit Ruhm bekleckert. Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal mit Robert gestritten hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie die Möglichkeit haben würde, sich mit ihm auszusprechen. Nicht auszudenken, wenn sich ihre Wege auf diese Weise trennen würden. Womöglich für Jahre. Vielleicht sogar für immer.
„Ich denke nicht daran, klein beizugeben“, wies der Vater am nächsten Morgen den Rat der Mutter zurück. Sie saßen am Frühstückstisch, während Robert und seine Eltern aus ihrem schwarzen Ford stiegen. Von ihrem Platz aus beobachtete Catherine sie. Ihr Herz raste.
Blass hing der Himmel über ihnen, als hadere auch er mit diesem Abschied und gestand dem Tag deshalb kaum Farbe zu.
„Jeffrey hat es gut gemeint.“ Ihre Mutter schürzte die Lippen und strich sich die Haare aus der Stirn. Emma schüttelte ihr Lockenhaar, um eine Fliege zu vertreiben. Dann leerte sie in einem Zug ihren Tee. Heute Morgen hatte sie sich furchtbar darüber aufgeregt, dass sie gebrauchte Sachen tragen musste. Langsam wurde sie zu einer kleinen Diva, trotz ihrer erst neun Jahre. Hannie hatte ihr umgehend versprochen, das nächste Kleid für sie zu nähen. Damit war vorübergehend Ruhe eingekehrt.
„Es wäre schade um eure Freundschaft, Pa. Brich nicht alle Zelte hinter dir ab“, riet ihm Hannie. Ihre vom vielen Nähen zerstochenen Finger umschlangen die Tasse. Dabei schaute sie gedankenverloren vor sich hin, als habe sie mit sich selbst gesprochen.
„Kluge Worte, Hannie, aber zu einer Freundschaft gehören zwei. Ich habe einfach das Gefühl, dass mit Jeffrey irgendetwas nicht stimmt.“
„Frag ihn einfach, womit deine Unsicherheit aus der Welt wäre.“ Catherine schaute den Vater hoffnungsvoll an. Wenn etwas half, war es ein klärendes Gespräch.
„Du kennst ihn seit Jahren“, hielt ihm Georgie vor Augen. „Traust du Jeffrey tatsächlich einen Verrat zu? Was hätte er davon, wenn du unseren Besitz verkaufst?“
„Eine Frage, die ich mir die ganze Nacht über gestellt habe.“ Der Vater hielt der Mutter seine Tasse entgegen. Sie griff nach der dampfenden Kanne und schenkte ihm Tee nach. Sein Blick verirrte sich ständig nach draußen. Jeffrey und Liane rührten sich nicht vom Fleck, sondern standen untätig neben dem Auto und besprachen sich mit Robert.
„Die sehen aus wie du, Pa. Ziemlich unglücklich“, meldete sich Emma mit ihrer glockenhellen Stimme zu Wort und fuchtelte vor ihrem Gesicht herum. Sogar Fliegen schienen von ihrer Schönheit angezogen zu werden. „Diese verdammten Viecher!“
„Willst du nicht hinausgehen?“ Hannie folgte dem Blick des Vaters.
„Sie sind zu uns gekommen. Wenn Jeffrey nicht den Mut hat, sich mir zu stellen, soll er gehen.“ Catherines Inneres füllte sich mit einem dumpfen Schmerz. Ihr Vater stopfte sich eine Scheibe Blutwurst in den Mund. Sein Hemd war zerknittert, als habe er darin geschlafen. Auch ihre Mutter war nachlässig gekleidet und hatte ihr geblümtes Kleid falsch zugeknöpft. Darüber trug sie eine dicke Wolljacke
Robert wandte sich dem Haus zu. Sekunden später klopfte es.
Unwillig hob der Vater den Kopf. Die Gabel steckte senkrecht in der Leberwurst. „Ja?“
Robert trat zögernd ins Zimmer. Catherines Puls beschleunigte sich. Wie gut er aussah in der hellen Sommerhose und dem erbsengrünen kurzärmligen Hemd. Sogar einen Filzhut trug er, mit breitem grünen Band. „Störe ich?“
„Komm herein.“ Die Mutter erhob sich und lächelte.
„Fass dich kurz“, forderte der Vater. Beinahe war Catherine geneigt, ihn zu maßregeln. Nur mit Mühe zügelte sie ihr Temperament.
Unsicher trat Robert ein und suchte Catherines Blick, die ihn anlächelte. „Wir fahren jetzt. Mein Vater lässt Ihnen beste Grüße ausrichten, Mister Griffith.“ Kurz lüftete Robert den Hut in seine Richtung, während die andere Hand in der Hosentasche steckte. „Vor allem Ihnen, Mrs. Griffith. Meine Mutter bittet Sie nach draußen zu kommen, um sich von Ihnen zu verabschieden.“
„Kommst du mit?“, fragte die Mutter an den Vater gewandt, der zögernd den Kopf schüttelte.
„Mister Griffith, ich würde Catherine gern ein Geschenk überreichen.“ Robert deutete in Richtung ihres Vaters eine Verbeugung an. Die Mutter verließ das Esszimmer. „Eigentlich wollte ich es ihr bei meiner Ankunft geben.“ Er setzte den Hut auf, dann zog er ein rotes Samtkästchen aus der Hosentasche und ließ es aufklappen. Ein filigraner goldener Kleeblattanhänger blitzte auf. „Den Schmuck habe ich selbst gemacht.“ Seine Ohren glühten. „Mein Onkel ist Goldschmied. Ein Unikat.“
Hannie zwinkerte ihr zu. Emma grinste breit. Überwältigt starrte Catherine auf das Präsent und fühlte sich, als habe er ihr soeben seine Liebe gestanden, einen Heiratsantrag gemacht oder gefragt, ob sie ihn begleiten wolle.
„So lange sich dein Vater nicht bei mir entschuldigt und ehrlich zu mir ist, muss ich dein Geschenk im Namen meiner Tochter ablehnen, Robert.“
„Vater!“, rief Catherine entsetzt aus und hoffte gleichzeitig, dass sie sich verhört hatte. Aber ein Blick in sein ablehnendes Gesicht belehrte sie eines Besseren. Wie konnte er nur? Es war bloß eine nett gemeinte Geste. „Das kann unmöglich dein Ernst sein.“
„Es tut mir leid, Catherine.“
„Mein Vater wird keinen Schritt auf Sie zugehen, Mr. Griffith“, kam es leise von Robert, „würden Sie vielleicht …“
„Ich werde genauso wenig einlenken wie er, sofern du mich das fragen wolltest.“ Robert senkte den Kopf. „Aber trotz allem wünsche ich euch eine gute Heimreise.“
In Hannies Augen stand Mitleid. Emma fixierte ihre Tasse. Niemand sagte etwas, niemand half ihr. Catherine fühlte sich im Stich gelassen. Erbost sprang sie auf und warf ihre Serviette auf den Tisch, die im Kirschmarmeladeglas landete.
„Ich hasse dich, Vater“, brüllte sie und rannte hinaus. Vorbei an dem zu Stein erstarrten Robert, ihrer fragend dreinblickenden Mutter und den erstaunten Collins’. Tränen strömten über ihr Gesicht, als sie den nächstbesten Pfad entlanglief. Egal wohin er führte, Hauptsache fort von ihrem Elternhaus. Weit fort. Nie wieder wollte sie zurückkehren.
Irgendwann fand sie sich am Hafen wieder. Das Getümmel der Menschen wirkte auf einmal einschüchternd, obwohl sie schon so oft hier gewesen war. Fremde Gerüche stiegen ihr in die Nase. Verschwitzte Männer hievten Kisten auf die Schiffe, oder schleppten große Frachtgüter von Deck. Seltsam klingende Sprachen vermischten sich wie bunte Farben. Meist waren es dunkelhäutige Menschen, angetrieben von Weißen, die ständig Drohgebärden machten. Catherine wischte sich über das feuchte Gesicht, nahm ihren Mut zusammen und steuerte auf ein Schiff zu, das in der Nähe ankerte. ‚Augusta‘ prangte ihr vom Bug entgegen.
Elegant gekleidete Frauen standen in Gruppen zusammen und schnatterten wie Gänse. Ausladende Hüte schmückten ihre Köpfe. Die knöchellangen Kostüme schimmerten vornehm. Männer zeigten sich gegenseitig die goldenen Taschenuhren. Reisekoffer stapelten sich unweit von ihnen. Catherine blickte zur See hinaus. Einige Schiffe waren nur als winzige Punkte auf den Wellen auszumachen.
„Suchst du jemanden?“ Ein junger Mann hatte sich von der Gruppe gelöst und schlenderte auf sie zu. Dabei klappte er die wertvolle Uhr zu und steckte sie in die Westentasche „Oder willst du mit anpacken? Es gibt einiges an Gepäck, das in die Kajüten soll, Junge.“
Junge? War dieser Kerl bei Trost? Catherine lagen patzige Widerworte auf der Zunge, doch sie zügelte sich. Sie wollte fort von hier, vielleicht war er ihre Fahrkarte in ein neues Leben. „Eigentlich möchte ich anheuern“, teilte sie ihm mit tiefer Stimme mit. „Wohin fährt das Schiff?“ Sie kratzte sich am Schritt, wie die nackten Männer es am Strand getan hatten.
Der hochgewachsene schlanke Mann lächelte, bevor sein Blick über die Promenade glitt, als überprüfe er, ob man sie beobachtet hatte. Dann zog er sich den Hut vom Kopf und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das aschblonde widerspenstige Haar. Wie alt mochte er sein? Zwanzig? In seinen Zügen lag eine eigentümliche Melancholie. Die rauchblauen Augen ruhten eine Weile auf ihr. „Wie heißt du?“
„Thomas“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Kurz wanderte sein Blick zu ihrer Brust. Unter dem braunen Hemd zeichnete sich nur ab, was man als Muskeln deuten konnte. Die graue Hose war weit genug, um sich nicht an pikanter Stelle zu verraten. Die abgetragenen Schuhe ihres Vaters zu klobig, um weiblich zu wirken. Im Grunde durfte sie sich über die falsche Annahme des Mannes nicht aufregen, weil sie ihren Plänen entgegenkam. Trotzdem fühlte sie sich in ihrem Stolz verletzt.
„Also, Thomas, das hier ist ein Passagierschiff.“
„Was Sie nicht sagen“, entfuhr es ihr, ehe sie es verhindern konnte.
Ein amüsierter Blick streifte sie, dem sie auswich. Ein Pärchen hinter ihm küsste sich innig. Catherine schluckte die Tränen hinunter.
„Meine Tanten machen eine Vergnügungsfahrt nach Gibraltar und Athen. Ein bisschen Bildung inklusive“, holte er sie in die Wirklichkeit zurück.
„Brauchen die Damen jemanden für die Überfahrt?“ Catherine war plötzlich wie im Fieberrausch. „Ich könnte sie bedienen. Ihnen die Betten machen oder …“
„Frauenarbeit für einen Jungen?“, unterbrach er sie. Sein Lächeln vertiefte sich.
„Na und?“
„Deine Stimme hat ein seltsames Timbre.“ Was für ein Wichtigtuer. „Die Seemänner werden dich auf dem Boot zerstückeln und den Haien zum Fraß vorwerfen.“
„Ich bin Waise“, versuchte sie Mitleid zu erheischen.
„Geh nach Hause … Junge. Allein unter Fremden, das kann gefährlich sein.“
„Haben Sie nicht gehört? Ich bin ein Waise.“
„David Wolfe Mitchel! Wo bleibst du denn?“, zeterte eine ältere Frau. Du liebe Güte, war der Schnösel etwa der Spross der Whiskey-Brennerei?
In ein pastellfarbenes Kostüm gehüllt walzte die dicke Frau heran. Bei jedem Schritt verzog sie das Gesicht. Ein Blick auf ihre hohen Schuhe und das hervorquellende Fleisch zeigte, dass sie ein paar Nummern zu klein waren. Runde große Ohrringe baumelten an ihren roten Ohrläppchen. Eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen verlieh ihr Strenge und das Gesicht wirkte, als wäre es von unzähligen Krähenfüßen zerkratzt worden. Ein arroganter Zug verhärtete den kleinen Mund. Am Handgelenk baumelte eine schwarze Lederhandtasche. „Warum unterhältst du dich mit diesem Abschaum, Sohn?“ Mit pikiertem Blick auf Catherine hakte sie sich bei ihm unter. „Du und dein Hang zum Pöbel.“
„Wir sind nicht besser als andere Menschen, Mutter.“
„Aber um ein Vielfaches reicher.“ Sie lachte schrill auf. „Nun sei so gut und begleite mich zurück. Ich hoffe, das Schiff legt bald ab mit unseren lästigen Verwandten.“ Plötzlich musterte sie Catherine, als wäre ihr etwas eingefallen. Diese Frau schien viele Gesichter zu haben. „Bist du von hier?“
Catherine nickte.
„Kennst du die Familie Griffith? Chester Griffith? Er stellt Eichenfässer her.“
Catherine fuhr sich an den Hals. „Vom Hörensagen.“
„Sind dir zufällig Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Griffith vorhat seinen Besitz einem Freund zu verkaufen?“
„Wie gesagt, ich kenne Chester Griffith nicht näher und von einem Freund weiß ich nichts.“ Von ihr würde sie nichts erfahren, obwohl sie sich über das Interesse an ihrem Vater und Jeffrey wunderte.
„Lass den Knaben in Ruhe, Mutter, und stecke deine Nase nicht immer in fremder Leute Angelegenheiten.“
Sie schaute empört zu ihrem Sohn hoch. „Griffiths Besitz umfasst ein großes Torfgebiet, eine frische Wasserquelle sowie Gerstenfelder und ein Hafen ist vor Ort. Das alles möchte ich für mich haben und außerdem ist es immer besser, wenn man weiß, mit wem genau man es zu tun hat. Das gilt sowohl für Geschäftspartner als auch für Strohmänner, die einem lukrative Geschäfte zuspielen. Im Übrigen gibt es keinen besseren Standort für eine Brennerei als diesen. Das hat schon Mutter zu ihren Lebzeiten gesagt.“
„Wovon redest du?“ Der junge Mitchel schaute zu Catherine, die genauso überrumpelt war, wie er aussah.
„Wild Swan. Wir könnten unser Imperium um ein Vielfaches vergrößern. Das Anwesen gehört Chester Griffith.“
„Mir ist sein Name geläufig. Ich wusste allerdings nicht, dass er einen solchen Besitz hat noch hörte ich je von Wild Swan. Außerdem hättest du mit mir zuhause darüber sprechen können statt das hier in aller Öffentlichkeit zu tun.“ Sein Gesicht verfinsterte sich. „Schließlich geht das niemanden etwas an und eigentlich sollte ich von einer solchen Investition wissen, oder etwa nicht?“
„Derzeit führe ich die Geschäfte“, pflaumte sie ihn an. „Und wo ich darüber plaudere, ist meine Sache. Reg dich also ab, Sohn. Freu dich lieber, dass du eines Tages durch meine Voraussicht ein Vermögen erben wirst.“
„Du klingst, als wäre die Sache bereits in trockenen Tüchern.“
Catherine fühlte sich wie unsichtbar und hätte die beiden am liebsten zur Raison gebracht. Wild Swan war unverkäuflich!
„Bedauerlicherweise stellt sich dieser Griffith quer. Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wenn ich an Theresa denke.“ Meinte sie etwa ihre Großmutter Tatty? „Griffiths Mutter hat das Kaufangebot deines Großvaters damals ebenso ausgeschlagen.“
„Großvater hat sich für den Besitz interessiert?“
„So ist es. Leider ist es dabei geblieben.“ Sie schnitt eine säuerliche Grimasse. „Deswegen habe ich Jeffrey Collins mit der Lösung meines Problems betraut.
In Catherines Kopf begann es zu gären, während ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Deshalb wusste die Frau über alles Bescheid! Sollte der Vater Jeffrey zu Recht misstrauen? Spielte sein bester Freund ein doppeltes Spiel und riet ihm im Auftrag dieser Hexe, Wild Swan zu verkaufen? Aber warum?
„Mit einem hochverschuldeten Kerl wie Jeffrey sollte man keine Geschäfte machen.“ Mitchel löste sich von seiner Mutter, was diese mit einem pikierten Blick quittierte. „Zumal er für seine unlauteren Mittel bekannt ist. Lass mich die Sache übernehmen und ich sehe zu, was ich tun kann.“
„Bei einem Mann wie Griffith muss man härtere Geschütze auffahren. Aber wenn es dich beruhigt, ich traue Jeffrey ebenfalls nicht über den Weg. Deshalb meine Frage vorhin.“ Sie deutete mit dem Kopf zu Catherine. „Allerdings sehe ich mich darin bestätigt, dass eine Unterhaltung mit dem Fußvolk zu nichts führt. Nun ja, sollte mich Jeffrey hintergehen oder versagen, rufe ich vielleicht dich auf den Plan. Bis dahin hältst du aber schön die Füße still.“
„Was hast du vor?“, bohrte Mitchel nach. Catherine hielt den Atem an.
Ein falsches Lächeln umspielte den Mund seiner Mutter. „Viel, sofern sich Jeffrey an unsere Abmachung hält.“
„Mein Gott, Mutter, worauf hast du dich eingelassen?“
„Das wirst du zu gegebener Zeit erfahren.“ Mit selbstzufriedenem Grinsen wandte sie sich um und schritt zur Gruppe zurück. Catherine starrte Mitchel an, dessen Miene nicht zu deuten war. Dann lief sie los. Hetzte durch den Hafen, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Graue Wolken zogen heran. Panik erfasste sie, eine dunkle Vorahnung und sie spürte, dass etwas geschehen würde. Etwas Schreckliches.
Kapitel 3
Keuchend rannte Catherine den kurvenreichen erdigen Weg hinauf. Über ihr verdichtete sich der Himmel zu einer undurchdringlichen Mauer. Raben flogen kreischend durch die Luft. Unweigerlich rang sie nach Atem. Von jetzt an gab es kein Zurück mehr. Der endgültige Bruch mit der Familie Collins stand unmittelbar bevor. Doch ihre Familie war ihr wichtiger als alles andere auf der Welt. Sogar wichtiger als Robert, obwohl es ihr fast das Herz zerriss.
Schon von weitem hörte sie lautes Rufen und wurde mit jedem Schritt ängstlicher. Schweiß rann über ihren Rücken. Motorengeräusch heulte auf, wurde leiser, um erneut aufzuheulen. Als sie das Cottage erblickte, sah sie Emma. Wie eine Statue stand sie da und starrte zu den Gerstenfeldern. Daneben standen Liane und ihre Mutter, ebenfalls vor Schreck wie erstarrt. Im nächsten Augenblick fiel Catherines Blick auf den Ford, der kreuz und quer durch die Felder pflügte. Unzählige Gerstenpflanzen waren abgeknickt. Es glich einem Schlachtfeld. Ihr Vater lief neben dem Auto her, Hannie und Jeffrey ebenso.
Jeffrey beugte sich halb hinein. „Brems endlich!“, schrie er. „Brems!“
„Ich kann nicht, Vater.“ Robert saß am Steuer. Catherine lief an Emma und den anderen vorbei. Ein Schrei entfuhr ihr, als das Fahrzeug auf einmal scharf wendete und geradewegs auf Hannie zusteuerte. Im letzten Augenblick sprang ihre Schwester zur Seite.
„Um Himmels Willen, Vater, was ist hier los?“, schrie Catherine, um das Geräusch des Motors zu übertönen. Sie war fast bei ihm, als er seine Schritte verlangsamte und schließlich mit hängenden Schultern stehenblieb. Dabei machte er eine wegwerfende Handbewegung.
„Robert war so erbost über meine Zurückweisung“, sagte er abgehackt, weil er nach Atem rang, „dass er ins Fahrzeug seines Vaters gestiegen und losgefahren ist. Dabei hat dieser dumme Junge keine Ahnung, wie man mit dem Gefährt umgeht. Jeffrey ist voller Sorge und versucht ihn seit einer Stunde zu stoppen. Leider steht er mir dabei ständig im Weg, sodass ich nicht an Robert herankomme.“
„Aber Robert kann …“ Den Rest des Satzes verschluckte sie und wusste, dass jeder Versuch ihn aufzuhalten scheitern würde. Sie brauchte nur eins und eins zusammenzählen. Diese Halunken versuchten ihrem Vater nachhaltig zu schaden, indem sie die Ernte vernichteten. Im Wissen, dass dieser Verlust schwer zu verkraften war. Jeffrey wollte sie ruinieren. Was Catherine jedoch am meisten traf, war die Tatsache, dass Robert bei diesem perfiden Spiel mitmachte.
„Oh mein Gott, nicht auch das noch!“
Catherine riss sich von Roberts Anblick los und blickte zu ihrem Vater, in dessen Augen Tränen schwammen. Langsam drehte sie sich um, weil ihr ein beißender Geruch in die Nase stieg. Dann prallte sie zurück. Die Tenne stand lichterloh in Flammen. Dichter grauschwarzer Rauch stieg in die Höhe. Im Gebüsch dahinter bewegte sich etwas. Fassungslos erkannte sie Marori, der sich wie ein Dieb in den Wald davonstahl.
„Wir müssen das Feuer löschen“, stieß Catherine aus. Das Motorengeräusch versiegte.
„Die Tenne! Die Tenne brennt!“ Hannie wollte an ihnen vorbeilaufen, doch der Vater hielt sie am Ärmel ihres fliederfarbenen Kleides zurück. Der Stoff riss ein.
„Lass gut sein“, sagte er monoton. „Sie ist nicht mehr zu retten.“
„Sag das nicht“, wehrte sich Catherine gegen seine Kapitulation. „Wir werden nicht aufgeben, ehe wir nicht alles versucht haben.“ Auf einmal kam Georgie herbeigelaufen, Jan und die anderen Arbeiter folgten ihm. Ihr Bruder gab knappe Anweisungen. Sein besonnenes Handeln brachte etwas Sicherheit zurück. Sogar der Vater wurde davon erfasst. Im Nu hatten sie Eimer aufgetrieben, mit denen sie Wasser aus dem Bach schöpften. Es entstand eine Menschenkette. Catherine schüttete einen Kübel nach dem anderen ins Feuer. Dem Zischen folgte ein erneutes Aufflammen. Es war, als lache sie die Feuersbrunst hämisch aus. Die Eltern eilten an ihre Seite. Ihre Wangen waren rußig. Emma und Hannie taten ebenso ihr Bestes und versuchten panisch wie alle anderen, das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Die lauten Rufe Georgies schallten über das Hochplateau. Immer wieder ein Zischen, wenn das Wasser auf die Flammen traf. Nein, die Tenne würde stehen bleiben. Die Ernte. Das Cottage. Nichts davon würden sie einbüßen.
Plötzlich stoben unzählige Glutfunken in die Luft … im nächsten Moment krachte die Tenne wie ein Kartenhaus tosend in sich zusammen. Der volle Eimer fiel aus Georgies Hand und rollte den Hügel hinunter. Alle starrten entsetzt auf die verkohlten Reste und das Feuer, das sich weiter durch das Holz fraß.
Im Gesicht ihres Vaters bewegte sich kein Muskel. Seine Beine hingegen zitterten. Er wirkte gebeugt wie ein alter Mann, binnen Minuten um Jahre gealtert. Sein Lebenswerk lag buchstäblich in Schutt und Asche. Seine verhärmte Gestalt verschwamm vor Catherines Augen, bis sie auf die Collins’ aufmerksam wurde, die im Begriff waren ins Auto einzusteigen. Keiner von ihnen hatte geholfen. Im Gegenteil. Dieses verdammte Pack hatte vermutlich lachend dabei zugesehen.
Catherine schleuderte den Eimer von sich und stürmte auf sie zu. Voller Wut und Hass. Doch ehe sie das Fahrzeug erreichte, gab Robert Gas und lenkte es in weitem Bogen an ihr vorbei.
„Ihr Schweine!“, brüllte sie mit erhobener Faust und rannte hinter dem Ford her, wohlwissend dass er nicht mehr einzuholen war.
„Vater.“ Emmas gellender Schrei ließ sie herumfahren. Der Vater sackte in sich zusammen und fiel der Länge nach auf die Erde.
„Nein“, wimmerte Catherine und lief hinauf. Die Männer waren sofort bei ihm und trugen ihn zum Haus. Catherine hielt seine Hand. Emma wurde so hysterisch, dass Hannie sie gewaltsam an den Schultern schüttelte, um sie zur Vernunft zu bringen.
Wie zum Hohn trommelte wenige Sekunden später bleischwer Regen gegen die Fenster. Binnen Minuten wurden die Wege morastig, dennoch wollte Georgie den Arzt holen und begleitete Jan, der zum ersten Mal ans Steuer der klapprigen Familienkiste durfte. Obwohl es nur ein kurzer Weg war, kam ihr Bruder erst eine Stunde später mit Doktor O’ Briain zurück.
„Auf dem Rückweg gab es einen Unfall. Doktor O’ Briain musste einen Verletzten versorgen.“, erklärte Georgie an der Haustür. Der Arzt begrüßte Catherine und stellte seinen Koffer auf den Boden. Sein weißer Arztkittel war durchnässt. Hektisch richtete er sich den Kragen. Dann hob er den Arztkoffer auf und folgte der Mutter, die bei seinem Erscheinen heruntergekommen war. Seine ausladenden Schritte hinterließen dreckige Fußspuren. „Ich muss an die frische Luft. Nachher werde ich mich um die Aufräumungsarbeiten kümmern.“ Kaum ausgesprochen, eilte ihr Bruder davon. Catherine knetete die Hände, während sie an der offenen Haustür stehenblieb.
Die See trug weiße Schaumkronen heran. Ein Boot trieb herrenlos auf die Küste zu. Emma und Hannie schlichen an ihr vorbei und unterhielten sich leise in der Küche. Im nächsten Moment verließ der Arzt das Haus und murmelte etwas von einem Schwächeanfall. Die Mutter kam herunter. Jan fuhr den Doktor heim, Georgie kam mit schlurfenden Schritten ins Haus. Die Haare klebten in seinem Gesicht, als er nach dem Befinden des Vaters fragte. Beruhigt nahm er die Diagnose des Arztes zur Kenntnis und erkundigte sich im selben Atemzug, ob jemand Marori gesehen habe. Da erzählte ihm Catherine von ihrer Beobachtung und hatte noch immer das Gefühl, neben sich zu stehen. Wie verstört ihr Bruder sie anblickte. Vermutlich hoffte er wie sie, dass sie sich irrte und Marori den Brand nicht gelegt hatte. Doch der Afrikaner blieb verschwunden. Alles sprach gegen ihn. Wiederholt fragte sie sich, ob auch er gekauft worden war.
Am Abend schob Catherine im Elternzimmer die weißen Spitzenvorhänge zur Seite und blickte aus dem Fenster. Der Arzt hatte ihrem Vater eine Beruhigungsspritze gegeben und betont, dass er in den nächsten Tagen viel Ruhe brauche.
Ruhe, wie sollte das gehen? Egal wie sehr sie auch versuchten alles Übel von ihm fernzuhalten, die Katastrophen waren kaum zu verkraften. Aber wenigstens schlief er.
Georgie kam aus der Werkstatt und ging zum Hochplateau. Aus dem Bund seines Hemdes lösten sich Wassertropfen, obwohl es aufgehört hatte zu regnen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Seine Schultern zuckten. Jetzt hätte er Thomas an seiner Seite gebraucht. Er war immer der Stärkere gewesen.
„Catherine?“ Ihr Vater blinzelte gegen das Licht an und hob kurz die Hand. Sie ließ den Vorhang wieder vor das Fenster gleiten und setzte sich auf die Bettkante. Mit Tränen in den Augen nahm sie seine schlaffe Hand in ihre. Wie hart er schluckte.
„Wie geht es dir, Pa?“ Was für eine alberne Frage.
„Mir ist etwas flau im Magen.“
„Hannie macht ihre legendäre Kartoffelsuppe.“ Sie strich ihm über die kalte Stirn. „Ich bringe dir nachher einen Teller davon.“ Die zerbrochene Brille lag auf dem Nachttisch. Eine Wasserkaraffe und ein Glas standen dahinter.
„Ich habe keinen Hunger“, erwiderte er mit kratziger Stimme, als habe er einen Kloß im Hals. „Und keine Ahnung, wie es weitergehen soll.“ Er drehte den Kopf weg. Tränen traten aus seinen Augenwinkeln. Sanft drückte Catherine seine Hand.
„Wir haben uns, Pa. Irgendetwas wird uns schon einfallen.“
„Ich wünschte, es wäre so einfach. Unser Geld ist beinahe aufgebraucht. Die Ernte fällt aus, das gelagerte Getreide ist verbrannt. Ich kann die Verträge nicht erfüllen und werde sämtliche Aufträge verlieren.“
„Unsere Fässer bringen Geld und …“, es fiel Catherine unendlich schwer, ihm das zu nehmen, „die Schiffskarten könnte ich zurückbringen. Die Company wird uns das Geld sicher zurückerstatten, wenn sie von dem Unglück erfährt.“
„Ein schwacher Trost.“ Er schaute sie an. Traurig, erschöpft, entschuldigend. „Ich war nicht gerade sparsam in den letzten Monaten.“
„Was redest du da? Seit Jahren sparst du wie ein Pfennigfuchser.“
Sein Lächeln wirkte traurig. „Deine Mutter … ihre Ausgaben wurden immer kostspieliger … versteh mich richtig, ich habe es ihr gegönnt und ihr Glück ist das meine. Doch die Reise konnte ich gerade noch berappen. Danach wäre nichts mehr übriggewesen. Da die Geschäfte gut liefen, war ich bereit zu diesem Risiko.“
„So sehr hast du davon geträumt?“
„So sehr habe ich davon geträumt.“ Seine Stimme versagte.
„Es gibt eine nächste Weltausstellung, Pa. Dann fahren wir alle hin.“
Kurz schloss er die Augen. „Das ist nicht mehr wichtig. Jetzt zählt das blanke Überleben und es sieht nicht gut aus.“ Der Druck seiner Hand verstärkte sich. „Entschuldige wegen der Sache mit Robert. Ich hätte nicht so stur reagieren dürfen. Jeffreys seltsame Anwandlungen haben nichts mit ihm zu tun, trotzdem habe ich meinen Argwohn auf Robert übertragen. Kein Wunder, dass der Junge durchgedreht ist.“ Es kostete sie Mühe, ihren Hass nicht hinauszuschreien. „Umso mehr vertraue ich darauf, dass Jeffrey Wiedergutmachung leistet.“ Wenn er wüsste, dass sie den Teufel tun würden. „Die zerstörte Tenne ist ein weiterer harter Schlag. Was wohl die Ursache war?“
Catherine rang mit sich und dachte an die Worte des Arztes. „Versuch zu schlafen. Morgen werden wir uns zusammensetzen und beraten, wie es weitergehen soll. Was Granny geschafft hat, schaffen wir auch.“ Sie schaute kurz auf Tattys Bild.
„Nicht ohne einen Kredit.“ Sein Seufzen kam aus den Tiefen seines Herzens, war erfüllt von Hoffnungslosigkeit und Furcht. „Ob mir die Bank einen gewährt, ist fraglich. Und wenn ich an die Verträge mit den Brennereien denke, wird mir ganz anders.“ Seine Stirn runzelte sich.
„Was meinst du damit?“
„Nichts“, er fixierte den Spiegel. „Sei mir nicht böse, aber ich bin müde.“ Er küsste ihre Hand. Seine Lippen bebten.
„Kopf hoch, Pa. Es wird alles gut.“ Nichts als schale Weisheiten, doch was hätte sie sonst sagen sollen? Erst einmal war es wichtig, dass er wieder auf die Beine kam. „Übrigens, was ich heute Morgen zu dir gesagt habe …“
„Schon gut“, unterbrach er sie und schloss die Augen.
Wenig später brachte Catherine ihrem Vater einen Teller Suppe, den sie wieder mitnahm, weil er schlief. Unruhig zwar, aber er schlief. Danach gesellte sie sich zu ihrer Familie ins Esszimmer. Auch ihre Teller waren unberührt, und längst kalt. Nur die Arbeiter hatten aufgegessen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit spülten sie das Geschirr sogar ab, wie man am Klappern hören konnte. Ein vertrautes Geräusch, obwohl sich binnen Stunden so vieles geändert hatte.
„Ich werde mir Arbeit suchen“, ergriff Georgie das Wort. „Gleich morgen gehe ich ins Salzwerk und frage nach, ob sie jemanden brauchen. Um alles neu aufbauen zu können, brauchen wir jeden Pfennig.“ Geistesabwesend riss er kleine Stückchen aus seiner Brotscheibe. Um seinen Teller herum lagen unzählige Krümel.
Hannie setzte ihr Glas Milch ab. „Ich steuere meinen Verdienst bei.“ Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Oberlippe. „Vielleicht kann ich zusätzliche Arbeit finden.“
„Auch ich werde mich um eine Stelle bemühen. Die Schiffskompanien suchen laufend Schreibkräfte.“ Kein Beruf, der Catherine sonderlich lockte, aber in der Not durfte man nicht wählerisch sein.
„Das ist vorbildlich von euch“, lobte die Mutter und betupfte mit der Serviette ihre Augenwinkel. „Zurzeit bin ich überfordert und wage nicht weiterzudenken. Euer Vater hat bisher für alles eine Lösung gehabt. Ich hoffe, er ist bald gesund.“ Sie hatte rotgeweinte Augen und wirkte fahrig.
„Wenn ich Marori in die Finger kriege.“ Emma ballte ihre Hände zu Fäusten, hielt sie aneinander und drehte sie abwechselnd, als wringe sie einen nassen Putzlappen aus. „Niemand legt sich mit meinem Pa an.“
Catherine registrierte, dass Georgie ihrer Mutter einen kalten Blick zuwarf.
„Marori war nur ein Werkzeug“, ließ Catherine die Katze aus dem Sack. Erstaunt sahen die anderen sie an. Stockend schilderte sie ihnen die Begegnung am Hafen. Ungläubig schwiegen alle, nachdem sie geendet hatte.
„Robert konnte das Fahrzeug lenken, sagst du?“ Georgie raufte sich das Haar.
„Das hat er mir vor Jahren bei seiner Ankunft im Hotel erzählt.“
„Jetzt, wo du es sagst.“ Hannie erblasste. „Ich habe es auch gehört.“
„Es war alles nur inszeniert, um die Ernte zu vernichten“, sprach Catherine das Ungeheuerliche aus. Eine Feststellung, die sich wie ein Fremdkörper anfühlte, dennoch entsprach sie der Wahrheit.
„Dieses Scheusal“, wütete Georgie. „Ich konnte Robert nie richtig leiden. Was mich jedoch mehr sorgt, ist die Tatsache, dass Jeffrey mit den Mitchels unter einer Decke steckt. Vor allem da sie unseren Besitz wollen. Wie Cat sagte, anscheinend seit Jahren. Die Trusts Brennerei wird mit sich reden lassen, die Mitchels werden auf eine Vertragsstrafe pochen, so viel ist sicher nach den neuen Erkenntnissen.“
Catherine pflichtete ihm stumm bei. Es laut zu tun, hätte sie nicht ertragen. Weil sie das Gefühl gehabt hätte, dass das Eingeständnis dieses ungeheuerlichen Verrats ihre Familie noch tiefer in den Abgrund ziehen würde. Aber sie mussten eine Lösung finden und durften die Tat der Collins’ nicht hinnehmen. Den winzigen Hoffnungsschimmer nicht ignorieren, dass sie sich im Falle einer Gegenüberstellung besinnen würden. Geld war bei ihnen keins zu holen, das war ihr klar. Deswegen mussten sie die Mitchels umstimmen. Vor allem Robert konnte ihre Freundschaft nicht egal sein. „Jan soll mich zum Hafen fahren“, entschied Catherine in derselben Sekunde.
„Warum?“, wollte Georgie wissen.
Die Mutter warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. „Es ist beinahe neun. Was willst du dort?“
„Mit Robert reden.“
„Du willst zu den Collins’? Da bin ich dabei.“ Georgie fuhr sich vielsagend mit der flachen Hand quer über den Hals. „Denen werde ich es zeigen.“
„Genau deswegen möchte ich, dass du zuhause bleibst. Es bringt nichts, wenn wir ihnen die Köpfe einschlagen. Eher sollten wir an ihre Vernunft appellieren.“
„Wer sagt das, Cat? Deine weibliche Intuition?“, erkundigte sich Georgie.
„So ist es“, antwortete Catherine mit fester Stimme. „Hannie, begleitest du mich?“
***
Rauch schwängerte die Luft im Hotel. Jeffrey Collins warf die Streichholzschachtel lässig auf den Tisch und lehnte sich selbstgefällig im weichen Leder zurück. Davids Mutter schnippte mit den Fingern. Ihre vielen Ringe blitzten auf. Ein betagter Ober wurde auf sie aufmerksam und kam zu ihrem Tisch.
„Was darf ich den Herrschaften bringen?“, erkundigte er sich und deutete eine Verbeugung an. Seine Glatze glänzte im matten Dämmerlicht.
„Whiskey, zur Feier des Tages“, entschied Davids Mutter und ordnete die Falten ihres Rockes. „Einen aus der Wolfe-Mitchel-Produktion.“
„Es tut mir leid, aber wir führen keine Marke dieses Hauses. Darf es ein Scotch sein?“
„Was für eine Absteige“, mokierte sich die Mutter, was der Ober ohne Gemütsregung zur Kenntnis nahm. Vermutlich begegneten ihm zu viele Gäste, die sich für etwas Besseres hielten.
„Für mich ein Guinness.“ David zog sich die Anzugjacke aus und legte sie über die Armlehne des Ohrensessels. Im Foyer herrschte drückende Schwüle. Oder lag es an Jeffreys und Roberts zweifelhafter Gesellschaft, dass er in Schweiß gebadet war? Beiden war er einige Male in der Brennerei über den Weg gelaufen, als sie bei seiner Mutter vorgesprochen hatten. Nun wusste er, zu welchem Zweck. Eigentlich hätte er nicht überrascht sein dürfen. Immerhin hatte ihn der Vorarbeiter über Jeffreys Ruf aufgeklärt.
Davids Mutter beugte sich halb über den Tisch. Das goldene Kreuz an ihrer Kette baumelte hin und her. „Wie kannst du Fusel wie Guinness trinken?“
„Ich hasse Scotch.“ Davids Blick schweifte zu Liane ab, die ihm sofort sympathisch gewesen war, als sie sich ihm vorhin vorgestellt hatte. Wie hielt es diese Frau nur mit solchen Idioten aus?
„Du verabscheust auch Whiskey. Als Erbe einer Brennerei. Wie das sein kann, ist mir schleierhaft.“ Seine Mutter gab dem Ober ein Zeichen, sich zu entfernen. „Holen Sie, was ich bestellt habe“, rief sie ihm hinterher.
David fing Lianes mitleidigen Blick auf. Wie er es hasste, dass ihn seine Mutter ständig vor anderen maßregelte wie einen kleinen Jungen. Er war einundzwanzig Jahre alt. Erwachsen genug, um selbst Entscheidungen zu treffen. Doch seine Mutter schien zu glauben, dass er wie ein naives Hündchen geführt werden musste. Selbst in der Brennerei versuchte sie ihn ständig zu kontrollieren. Aber so geschickt, wie sie in geschäftlichen Belangen war, so sehr mangelte es ihr an Ausdauer, sich genauer mit den Büchern zu befassen. Hatte sie ein Geschäft unter Dach und Fach gebracht, verlor sie das Interesse, kaufte in Massen Kleider ein und ließ andere schuften. Im Grunde führte er die Brennerei, obwohl sie das sicher bestritten hätte. Um ihm das zu verdeutlichen, gewährte sie ihm einen Hungerlohn. Keine Frage, sie wollte ihn damit an sich binden. Wissend, dass er am Erbe seines Großvaters hing wie an nichts anderem auf der Welt. Allerdings musste er zugeben, dass sie ihm in Sachen Chester Griffith um einige Schritte voraus war. Dass dieser Mann ein so lukratives Stück Land besaß, war ihm entgangen, obwohl sie seit ein paar Jahren zusammenarbeiteten. Ein Geschäft, das die Mutter eingefädelt hatte. Er kannte Griffith nicht persönlich, da sich sein Vorarbeiter um die Lieferanten kümmerte.
„Nun, Jeffrey, ich bin begeistert von Ihren Neuigkeiten“, wandte sich Davids Mutter an Collins, der an seiner kubanischen Zigarre zog. Dabei überkreuzte er die Beine und wippte mit dem Fuß. Mit einem schmierigen Lächeln pumpte er den Rauch aus seinen Lungen. Was für ein ekelhaftes Kraut. Streng und aufdringlich.
„Wie gesagt, die Felder sind ruiniert, meine liebe Esther“, freute er sich, als habe er eine gute Tat vollbracht. David drehte sich der Magen um. Jeffrey und sein Sohn passten zu seiner Mutter, die sich ebenso für nichts zu schade war. „Der Schwarze hat ihnen den Rest gegeben.“
„Also verfügt Griffith weder über eine Ernte noch über die nötige Lagerhalle. Sofern er keinen Reichtum angehäuft hat, wird er über kurz oder lang vor mir stehen und um Stundung seiner Schulden betteln.“ Davids Mutter öffnete die Tasche und holte ein weißes Tuch mit hellblauen Initialen heraus. Damit betupfte sie sich die Stirn. „Eine Bitte, der ich leider nicht Folge leisten kann. Früher oder später wird ihm die Vertragsstrafe das Genick brechen. Sollte er sich Arbeit suchen wollen, wird ihm das ebenfalls nicht gelingen. In diesem County bekommt er keine Anstellung. Dafür werde ich sorgen. Bei der Company spreche ich ebenfalls vor. Ein guter Tipp übrigens, Jeffrey. Griffith wird auf den Karten sitzen bleiben, allerdings hoffe ich, dass er sie kurzerhand doch benutzt und mitsamt seiner Brut nach San Francisco auswandert.“ Unvermittelt verengte sie die Augen. „Ich darf davon ausgehen, dass Sie in allem die Wahrheit gesagt haben?“
„Keine Angst. Chester Griffith ist ruiniert und Ihnen völlig ausgeliefert. Wenn Sie mich fragen, ist meine Lösung weit besser als dass Sie Wild Swan hätten kaufen müssen.“
„Wenn es dir recht ist, Jeffrey“, wisperte Liane, „möchte ich nach oben gehen. Mir ist weder nach Alkohol noch nach diesem widerwärtigen Gespräch.“ Sie sprach David aus der Seele. Dieser Griffith tat ihm leid. Lukratives Land hin oder her.
Das Wippen endete kurz. „Du bist undankbar, Liane. Aber wenn du lieber in einer Hütte in den Armenvierteln hausen willst …?“
„Übertreib nicht.“ Liane massierte sich die Schläfen. Davids Mutter schob mit strenger Miene das Tuch in die Tasche zurück. „Vater hat uns seine Unterstützung zugesagt.“
„Darüber haben wir oft genug diskutiert. Ich brauche keine Almosen.“
„Das stimmt.“ Liane erhob sich und blickte voller Verachtung auf ihn herab. „Du zerstörst lieber das Leben deines besten Freundes. Hast du dabei auch an mich gedacht? Ich mag und achte Chester, fühle mich mit Florence verbunden. Die Kinder liegen mir ebenso am Herzen.“ Sie fixierte Robert. „Du und Catherine wart wie Geschwister. Was hast du dich jedes Jahr auf sie gefreut. Nun muss ich mich dafür schämen, dass ich einen solchen Sohn habe.“
„Catherine ist mir bestimmt nicht egal“, wehrte sich Robert, „aber jeder ist sich selbst der Nächste.“
Was für ein arroganter Widerling.
„So siehst du das?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Darüber ist jedes weitere Gespräch überflüssig. Ich erkenne weder meinen Sohn noch meinen Mann wieder.“ Sie streckte David die Hand entgegen. „Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mister Mitchel.“ David stand auf und deutete einen Handkuss an. Die anderen vertieften sich in ein Gespräch, als wären sie unsichtbar. „Sie waren schweigsam, was ich schade finde“, raunte Liane ihm zu. „Täuscht mich mein Eindruck, oder heißen auch Sie diese Intrige alles andere als gut?“ Sanft entzog sie ihm ihre weiche Hand.
„Sie täuschen sich nicht.“
„Die Griffiths sind eine rechtschaffene Familie.“ Lianes Stimme klang brüchig.
„Ihre Fürsprache ehrt Sie.“
„Sie entspricht der Wahrheit.“ Ihre Miene wurde flehend. „David, es steht mir nicht zu, Sie darum zu bitten, trotzdem tue ich es: Wenn Sie irgendetwas für die Familie tun können, helfen Sie ihr.“
„Bei allem Respekt, ich kenne die Griffiths nicht.“
Trotz seines Widerspruches lächelte sie. „Natürlich nicht. Aber wäre ich ein Kind, ich würde mir einen Vater wie Chester wünschen. Das Glück seiner Familie hat oberste Priorität für ihn, er ist ein Ehrenmann.“ Ein verächtlicher Blick traf Davids Mutter. „Ich hoffe, dass Ihre Mutter irgendwann erkennt, was sie an Ihnen hat. Gute Nacht, Mister Mitchel.“ Sie nickte ihm zu und stieg wenige Sekunden darauf die breite Marmortreppe hinauf. Der Ober blickte ihr fragend hinterher, bevor er mit dem Tablett an ihren Tisch kam. Mit flinken Fingern verteilte er vier Servietten und stellte die kristallgeschliffenen Scotch-Gläser darauf. Als er sich aufrichtete, sah er verdutzt zum Eingang. Der Portier wurde von einem Jungen mit Mütze beiseite gedrängt, dessen tizianrotes Haar vom Licht erfasst wurde. Ein blondes Mädchen stand unsicher hinter den Streithähnen. Im Nu eilten andere Bedienstete herbei und wollten die beiden hinausdrängen.
„Was soll das?“, rief der Junge aus, und plötzlich erkannte David seine Bekanntschaft vom Hafen. Das Mädchen, das sich als Junge ausgegeben hatte. Der Portier umklammerte ihren Arm. „Aua, das tut weh!“
Ohne nachzudenken, sprang David auf und eilte zum Eingang. „Lassen Sie die junge Dame sofort los.“
Umgehend kam der Portier seiner Anweisung nach. Die Rothaarige rieb sich den Oberarm und schaute ihn mit großen Augen an. Der Geruch nach Verbranntem entstieg ihrer Kleidung und erst jetzt sah er die Rußflecken auf dem Hemd und der zerrissenen Hose. Einige ihrer Haarsträhnen waren an den Spitzen angesengt.
„Gehören die beiden zu Ihnen, Mr. Mitchel?“ Der Portier klang, als traue er sich kaum zu fragen.
„So ist es. Danke für Ihre Hilfe. Ab jetzt kommen wir allein zurecht.“ Was zum Henker ritt ihn da? Er kannte die Kleine nicht und setzte sich trotzdem für sie ein.
Das Personal verstreute sich in alle Richtungen. Nach wie vor war ihnen die Aufmerksamkeit der Gäste gewiss. Der Spross der Mitchel Brennerei mit zwei Mädchen aus der Mittelschicht, wenn nicht aus der Unterschicht. Er konnte die Wut seiner Mutter förmlich riechen. Zugegeben, sein Bedauern darüber hielt sich in Grenzen.
„Das war äußerst nett von Ihnen“, sagte die Blonde.
David lächelte, bis er den abweisenden Blick der Rothaarigen auffing. Dabei presste sie ihre schimmernden Lippen fest zusammen. Im Gegensatz zur Kleineren schien sie es mit der Höflichkeit nicht genau zu nehmen. „Gern geschehen“, erwiderte er in patzigem Ton. „Thomas.“
Ihr Gesicht wechselte die Farbe.
„Thomas?“, hakte die Blonde nach.
Die Rothaarige tippte sich vielsagend an die Stirn. „Keine Ahnung, wen er damit meint.“
„Tatsächlich? Dabei dachte ich, wir Männer würden eine Sprache sprechen.“
„Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten“, schoss sie zurück, „wir wollen zur Familie Collins.“
„Jeffrey Collins?“ Was für eine Kratzbürste. Dabei hatte sie am Hafen so verzweifelt gewirkt, dass er sogar Mitleid gehabt hatte.
„Genau zu dem.“ Die Blonde schenkte ihm ein Lächeln. „Wir sind Catherine“, sie deutete auf die Rothaarige, dann auf sich, „und Johanna Griffith, aber alle nennen mich Hannie. Darf ich fragen, wie Sie heißen?“ Griffith? Etwa die Töchter von Chester Griffith?
„Feind. Sein Name ist Feind“, kam ihm Catherine zuvor.
„Vernunft, weißt du noch, Cat?“
„Schon gut, ich … da ist Jeffrey ja!“ Mit einem Satz war Catherine aus Davids Blickfeld verschwunden. Hannie hetzte ihr nach. Beide bezogen Stellung vor dem Tisch seiner Mutter. Robert und sein Vater schienen einen Stock verschluckt zu haben. Nur die Mutter saß gelassen da. Kein Wunder, noch hatte sie keine Ahnung, wen sie vor sich hatte. Das konnte spannend werden.
„Vater hatte einen Schwächeanfall“, eröffnete Catherine das Gespräch.
David ließ sich in den Armsessel gleiten. Verstohlen blickten die anderen Gäste zu ihrem Tisch.
„Das ist deine Schuld, Jeffrey. Wie konntest …“
„Was Cat meint ist, dass wir um unsere Existenz kämpfen.“ Hannie legte ihren Arm um die zweifellos hitzköpfigere Schwester. „Pa ist am Boden zerstört. Wir mussten sogar einen Arzt rufen. Jeffrey, um der alten Freundschaft willen, wir wissen von deinen Plänen. Bitte hör auf, gegen uns vorzugehen und sprich mit der Familie Mitchel.“
„Warum sollte ich das tun?“
Catherines klare dunkelbraune Augen füllten sich mit Tränen. „Weil du und Vater …“, sie musterte Robert, „wir waren Freunde. Ist es dir so egal, was mit uns geschieht? Mit mir? So viel haben wir miteinander geteilt, war das alles geheuchelt?“
„Ich mochte dich, Cat.“ Sie wirkte verletzt. Robert griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. Dann überkreuzte er wie sein Vater die Beine und stellte den Scotch auf seinem Knie ab. Das stete Drehen des Glases verriet seine Nervosität. So gelassen, wie er tat, war er keineswegs. „In diesen Zeiten hat Freundschaft keinen Wert mehr. Es geht ums Überleben.“
„Auf unsere Kosten?“
„Zur Not auch das.“
Catherine zuckte zusammen, als habe er ihr einen Fausthieb versetzt. „Wie kannst du in den Spiegel schauen, ohne dass dir speiübel wird? Oder du, Jeffrey?“
„Jetzt wird es mir langsam zu bunt“, regte sich Davids Mutter auf. „Ihr wollt mit den Mitchels sprechen? Dann tut es.“
Fragend blickte Hannie zuerst auf seine Mutter, dann zu ihrer Schwester hoch.
„Du hast richtig gehört.“ Mit dem rußigen Zeigefinger deutete Catherine auf David. „Das ist David Wolfe Mitchel, die da seine Mutter.“
„Sehr erfreut“, sagte Hannie. „Darf ich sprechen?“
„Nein, darfst du nicht.“ Seine Mutter holte ihre Puderdose aus der Tasche und ließ sie mit einem herablassenden Seitenblick auf Hannie aufklappen. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit euch zu unterhalten. Und du, David, wage es nicht noch einmal, dich für solche Ratten einzusetzen. Du bist ein Mitchel, benimm dich gefälligst dementsprechend. Deine Gespräche mit einfachen Arbeitern oder sonstigem Pöbel müssen ein Ende haben. Übrigens, du“, sie nickte mit dem Kopf in Catherines Richtung, „kamst mir gleich bekannt vor. Nun ja, jetzt bist du zwar über unsere Pläne informiert, das wird das Scheitern deines Vaters jedoch auch nicht verhindern können.“
„Sagten Sie gerade Ratten zu uns?“ Catherine löste sich mit einem Ruck von ihrer Schwester und machte einen entschlossenen Schritt nach vorne. Mit einem Aufschrei ließ Davids Mutter ihre Puderdose fallen. Das weiße Pulver rieselte heraus. „Oh, bin ich Ihnen auf die Schuhe getreten? Verzeihen Sie, das wollte ich nicht.“
„Du ungehobeltes Stück Dreck.“ Das schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter lief puterrot an. „Jetzt werde ich euch erst recht ausräuchern. Ihr Ratten!“
„Mutter, jetzt reicht es!“, polterte David. Im Foyer war es mucksmäuschenstill.
Ihr Gesicht erstarrte zu einer Maske. Abermals schnippte sie mit den Fingern. „Ober, lassen Sie dieses Gesindel hinauswerfen.“
„Robert.“ Catherine schaute tränenblind zu ihm. Er wich ihrem Blick aus und fixierte den Aschenbecher. „Gut“, zischte sie zwischen den Zähnen hervor, „damit ist alles gesagt.“ Der Portier kam zu ihnen. Catherine hob abwehrend die Hände. „Wir gehen freiwillig, keine Angst. Aber ich habe Durst. Darf ich?“ Sie griff nach Davids Glas und ehe jemand reagieren konnte, schüttete sie den Scotch in Roberts Gesicht, der aufjaulte wie ein Hund. Panisch rieb er sich die Augen. David unterdrückte sein Grinsen nicht. Alle Achtung, diese Catherine hatte Mut.
„Bist du jetzt völlig durchgedreht, Cat?“, kreischte Robert.
„Im Gegenteil.“ Das Glas knallte auf den Tisch. „Ich war nie klarer im Kopf und wage es nie wieder mich Cat zu nennen. Danke für den Scotch, Mister Mitchel. Diesen Schluck habe ich dringend gebraucht.“
David schaute ihr nach. Die junge Frau hatte Stolz. Eine ungemeine Stärke, sogar wenn sie Schwäche zeigte. Auch etwas Verletzliches, Angstvolles, Behutsames. Er konnte sich nicht helfen, diese Catherine imponierte ihm.
Sogar Stunden später, als er längst im Bett lag, ging sie ihm nicht aus dem Sinn. Wie kämpferisch sich diese junge Frau gegeben hatte. Ob ihre Großmutter aus demselben Holz gewesen war? In dem Fall konnte er sich lebhaft vorstellen, dass sich sein Großvater Laurence die Zähne an ihr ausgebissen hatte.
Schwermut erfasste David. Was hätte er darum gegeben, ihn an seiner Seite zu wissen. Schon als er klein gewesen war, denn seine Kindheit war durch ein kaltes Elternhaus und eine Mutter geprägt worden, die zur Rute gegriffen hatte, wann immer sie sich abreagieren musste. Regelrecht verdroschen hatte sie ihn. Erst recht nach dem Tod des Vaters. Er hatte ihn kaum gekannt, war erst drei Jahre alt gewesen, als ihn ein Herzinfarkt über Nacht aus dem Leben gerissen hatte. Ein Schicksal, das auch wenige Tage später den Großvater ereilt hatte. Nur anders. Zwar hatte er den Schlaganfall überlebt, saß jedoch seitdem im Rollstuhl. Körperlich anwesend, geistig in einer anderen Welt. Somit war niemand dagewesen, der ihm hätte beistehen können. Außer Mary. Sie war als Haushälterin beschäftigt und schenkte ihm mütterliche Zuwendung. Wer wusste, was ohne sie aus ihm geworden wäre. Vor allem in Anbetracht dessen, dass seine Großmutter Clarice nicht besser gewesen war als seine Mutter. Über ihren Tod zwei Jahre nach dem seines Vaters war er nicht eine Sekunde traurig gewesen. Sie war von einem Fahrzeug überrollt worden, als sie eine Straße überqueren wollte. Hoffentlich schmorte sie in der Hölle.
David starrte auf die Wandgaslampe. Durch das grüne Glas wurde der Raum in ein unnatürliches und kaltes Licht getaucht. Missgelaunt setzte er sich auf und schob sich das Federkissen in den Rücken. Ein großes Gemälde hing an der gegenüberliegenden Wand. Ein Jäger mit geschultertem Gewehr. Der rechte Fuß thronte auf dem Bauch eines erlegten Hirschs. Ein Bild, das seiner Mutter gefallen hätte. Aber wenn sie glaubte, er ließe sich manipulieren wie jeder andere in ihrer Nähe, hatte sie sich getäuscht. Trotz seines kargen Lohnes hatte er ein kleines Vermögen angehäuft. Ohne schlechtes Gewissen zweigte er Gelder ab. Der florierenden Brennerei schadete er damit nicht, im Gegenteil. Er traf Vorkehrungen. Wer wusste, wozu seine Mutter fähig war. Sie konnte heute entscheiden, ihn morgen zu enterben oder übermorgen aufgrund ihres extravaganten Lebenswandels die Brennerei ruinieren. Nichts davon würde er zulassen. Vor allem weil ihr Besitz im Grunde genommen dem Großvater gehörte, der ihn seinem Vater nie überschrieben hatte. Ein Versäumnis, das ihn manchmal erzürnte. Hätte der Großvater ein Testament aufgesetzt, müsste er sich nicht mit der Mutter herumschlagen. Immerhin hatte er gehört, dass Laurence und sie kein gutes Verhältnis hatten und es lag nahe, dass er sie niemals bedacht hätte. Zumindest in geschäftlicher Hinsicht.
Erschöpft stieg David aus dem Bett, öffnete die hohen Flügeltüren und trat auf den Balkon hinaus. Der Mond stand hoch am Himmel. Sein Licht floss wie ein silbernes Band über die Muir Éireann. Es wirkte wie ein Pfad, der von der Pier in den Horizont führte. Unweigerlich musste er an Catherine denken. Nie zuvor hatte er ein Mädchen wie sie getroffen, obwohl er sich nicht über mangelnde Bekanntschaften beklagen konnte. Doch mehr war nie daraus geworden, weil er seine Freiheit zu sehr genoss. Das schien seiner Mutter zu missfallen, die vor zwei Jahren mit Sarah Trust aufmarschiert war und ihn drängte, den Eisblock zu ehelichen. Eine Fusion der beiden größten Brennereien gehörte zu einem weiteren ihrer Schlachtpläne. Hübsch war Sarah, das musste man ihr lassen. Nur hatte sie einen entscheidenden Fehler: Was ihren Charakter betraf, war sie das Ebenbild seiner Mutter. Oberflächlich, kalt und berechnend. Darum war es nicht verwunderlich, dass sie die Heiratsabsichten seiner Mutter forcierte. Ständig kam sie auf ihr Familienanwesen, um sich ihm aufzudrängen. Erfolglos. Aber wenn er daran dachte, wie seine Mutter bei den Griffiths vorgegangen war, musste wohl auch er härtere Geschütze auffahren, um sich dieser Frau zu entledigen. Es war an der Zeit die Samthandschuhe abzulegen und ein Machtwort zu sprechen.
***
Das kalte Bachwasser plätscherte, als Catherine eine Schürze der Mutter darin wusch. Dabei verirrte sich ihr Blick ständig zur Tenne hinauf, über die sich wie zum Hohn Sonnenlicht ergoss. Ein lauer Sommertag, als habe es das gestrige Schreckensszenario nicht gegeben. Es war schwierig, all die Geschehnisse einzuordnen. Nach der durchwachten Nacht ging es ihr kaum besser. Alles, was sie fühlte, war bittere Enttäuschung. Nie hätte sie gedacht, dass Robert dazu fähig sein könnte. Niemals.
Ein Motorengeräusch ließ sie aufhorchen. Ob Georgie zurückkam? Wie Hannie hatte ihr Bruder mit Jan in aller Frühe das Haus verlassen, um sich Arbeit zu suchen. Sie selbst wollte morgen zum Hafen gehen und die Karten umtauschen. Bei der Gelegenheit würde sie nach freien Stellen fragen. Gemeinsam würden sie es Jeffrey und seiner Sippe zeigen, die Mitchels eingeschlossen.
Ein Fahrzeug fuhr in zügigem Tempo um die Kurve. Keins, das ihr bekannt vorkam, teuer wie es aussah. Catherine wrang die Schürze aus und blickte zum Cottage, vor dem das Auto hielt. Ein Mann mit Chauffeurmütze stieg aus und öffnete die hintere Tür. Als sie David Mitchels Gestalt erkannte, ließ sie die Schürze ins Gras fallen und lief hinunter.
„Was haben Sie hier zu suchen?“, fuhr sie ihn an, kaum dass sie vor ihm stand.
Sein Lächeln verschwand. „Ich wollte mich nach dem Befinden Ihres Vaters erkundigen.“
„Als ob Sie das interessieren würde.“
„Das tut es“, erwiderte er freundlich, was sie noch mehr aufregte. „Wie geht es ihm?“
„Was glauben Sie wohl? Schauen Sie sich um.“ Catherine machte eine ausladende Geste. Er schaute an ihr vorbei und wurde etwas blasser um die Nase. Vermutlich fand er, dass Jeffrey noch mehr hätte tun können.
„Es tut mir leid“, kam es leise aus Mitchels Mund.
Sie musterte sein markantes Gesicht und fragte sich, wie man sich derart verstellen konnte. „Hören Sie auf, mich mit Ihren Lügen zu beleidigen.“ Der Chauffeur räusperte sich, bevor er in den Wagen stieg. „Und jetzt hauen Sie lieber ab, ehe ich mich vergesse.“
Eine Strähne fiel ihm in die Stirn, als er sie in Augenschein nahm. „Das, was Sie am Hafen mitanhören mussten, bedaure ich sehr. Vor allem das Auftreten meiner Mutter. Dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, entgegnete sie süßlich, „mit ihrer Entschuldigung können wir unseren Besitz bestimmt retten.“
„Ein gutes Stichwort“, zeigte er sich von ihrer Häme unbeeindruckt, „ich möchte Ihnen helfen und bin gekommen, um mit Ihrem Vater zu sprechen.“
„Pa ist nicht in der Verfassung mit Ihnen zu reden. Außerdem hat er keine Ahnung, was sich tatsächlich abgespielt hat. Ich hingegen bin sowohl in der Verfassung als auch im Bilde. Also, wie sieht Ihre Hilfe aus?“ Catherine wusste, sie sollte sich zügeln! Womöglich hatte er tatsächlich eine Lösung parat. Im Augenblick musste sie nach jedem Strohhalm greifen, auch wenn er Mitchel hieß. Vielleicht wollte er Fässer ordern. Viele Fässer. Oder etwas anderes schwebte ihm vor, das ihnen aus der Misere helfen würde. Immerhin hatte er gestern Partei für sie ergriffen. Trotzdem musste sie auf der Hut sein. Robert war ebenfalls ein Meister im Verstellen gewesen.
„Ich möchte Wild Swan kaufen.“
„Wie bitte?“ In Gedanken zerstückelte sie den Strohhalm. „Ich hätte es mir denken können. Sie sind nicht besser als Ihre Mutter und wahrscheinlich in ihrem Auftrag da.“ Trocken lachte Catherine auf. „Gestern dachte ich, Sie wären anders und hätten eigene Werte. Falsch gedacht.“
Er nestelte an seiner Anzugjacke. Piekfein, wie die dazu passende Nadelstreifhose. „Ich bin nicht wegen Mutter gekommen. Sie wird abwarten und Tee trinken, bis ihr Wild Swan buchstäblich in den Schoß fällt.“
„Dazu wird es nicht kommen.“
„Sind Sie sicher?“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Tenne. „Machen Sie sich nichts vor, Catherine. Sofern Ihr Vater nicht über enorme finanzielle Reserven verfügt, wird er sein Eigentum über kurz oder lang verlieren.“
„Um unser Auskommen müssen Sie sich als Letzter sorgen. Wir haben mehr Geld, als Sie glauben.“
„Ihre Schwester sprach davon, dass Sie um Ihre Existenz kämpfen.“
„Hannie ist ein theatralischer Mensch.“
„Oder realistischer als Sie es sind.“
„Wild Swan ist unverkäuflich! Schreiben Sie sich das gefälligst hinter Ihre grünen Ohren.“
David lehnte sich lässig gegen das Fahrzeug. „Wie Sie wollen. Dann warten wir eben ab. Sofern Mutter zum Zug kommt, werden Sie alles verlieren. Sollten Sie mein Angebot annehmen, werde ich Sie großzügig abfinden, obwohl Ihr Land wenig wert ist.“
„Wenig wert?“, keifte Catherine den Tränen nahe. „Wild Swan lässt sich nicht in Geld messen. Weil es mein Zuhause ist, das ich liebe wie nichts auf der Welt. Es ist das Erbe meiner Ahnen, meiner Großmutter Tatty. Ich bin tief damit verwurzelt, aber was verstehen Sie schon davon? Sie, der mit einem Chauffeur hier aufkreuzt. In einem makellosen Anzug, der nebenbei gesagt wie eine Verkleidung wirkt. Haben Sie mit Ihren manikürten Fingerchen je in Erde gegraben? Sind Sie je barfuß durch Gras gewandert? Frisches feuchtes Gras?“ Sie deutete auf ihre nackten Füße. „Mit Sicherheit nicht. Deswegen können Sie nicht nachempfinden, was Freiheit bedeutet. Geborgenheit oder Liebe. All das verbinde ich mit Wild Swan.“
„Sind Sie fertig mit Ihrem Vortrag?“
„Ja, Sie Hampelmann.“
„Gut. Dann zeigen Sie mir, wovon Sie gesprochen haben.“ Ehe sie sich’s versah, schlüpfte er aus seinen polierten Schuhen, den Kaschmirsocken und rollte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch. Als er sich aufrichtete, zeichnete sich ein verblüffter Ausdruck in seinem Gesicht ab, als wäre er genauso überrascht über sein Handeln wie sie. Als sich Catherine wieder im Griff hatte, stapfte sie voraus. Ohne zu wissen, wie sie seiner Aufforderung nachkommen sollte. Aber als Mitchel sie eingeholt hatte und sie Seite an Seite die Anhöhe hinaufgingen, bedurfte es keiner Worte. Wild Swan stellte sich selbst vor.
Schmetterlinge flogen zu weit geöffneten Blumenkelchen. Vogelgezwitscher drang aus dem dichten Wald. Wohin das Auge reichte, leuchteten die gelben Blüten des Stechginsters. Die Hänge wurden von dichten violetten Heidekrautteppichen überzogen. Seggen umwucherten das Cottage. Ginster, der den feinen Duft von Kokos und einen Hauch nach Apfel verströmte. Wacholder, Heidelbeeren, Wildrosen. Hervorgehoben durch das Sonnenlicht, das wie ein gemächlicher Wanderer über die Wicklow Mountains hinaufkroch.
Mitchel deutete zu den Hochplateaus, als sie nebeneinander auf Catherines Lieblingsstein saßen, nachdem er vor Tattys Grab kurz innegehalten hatte. Ohne zu wissen, warum, erzählte sie ihm vom ‚Eas Chúirt an Phaoraigh‘. Aufmerksam lauschte er ihren Worten. Schüttelte den Kopf, als sie ihn fragte, ob er diesen Wasserfall jemals gesehen hatte. Oder ‚Abhainn an Mhianaigh Óir‘ kannte, wo viele ihr Glück versuchten und nach Gold schürften. Seltsam, in seiner Gegenwart wurde ihr zum ersten Mal seit langem wieder bewusst, wieviel ihr Wild Swan tatsächlich bedeutete. Doch als ihr Blick auf die Gerstenfelder fiel, brach die Realität umso schlimmer über sie herein. Als sie abwesend über die Einkerbungen des Steines fuhr, berührte sie versehentlich Davids Hand. Erschrocken schaute sie ihn an und zog ihre Hand zurück, während seine blieb wo sie war.
„Danke für diese Reise“, eröffnete er nach einer gefühlten Ewigkeit das Gespräch. Seine Stimme klang rau. „Nun kann ich verstehen, was Sie mit Wild Swan verbindet.“ Er atmete tief ein. Seine rauchblauen Augen schimmerten. „Familie“, murmelte er, um lauter fortzufahren: „So akzeptiert zu werden, wie man ist, ist wohl die größte Freiheit eines jeden Menschen.“ Er hob die Beine etwas an und musterte seine nackten Füße. „Hätte mir gestern jemand gesagt, dass ausgerechnet ich heute ohne Schuhe über Wiesen schlendern würde, ich hätte ihn ausgelacht.“ Er wandte sich ihr zu. „Wieso heißt das Land eigentlich Wild Swan?“
„Weil es früher der Lebensraum vieler Schwäne gewesen sein soll. Ich schätze allerdings, dass keiner so schillernd und schön war wie meine Großmutter Tatty.“ Catherine starrte zum Grab. „Wenn Schwäne lieben“, sie suchte Davids Blick, „dann lieben sie ein Leben lang. Auf dieselbe Weise liebe ich Wild Swan.“
Davids Blick verlor sich in der Ferne. „Sie haben recht. Es gibt Dinge, die mit Geld nicht aufzuwiegen sind.“
Ohne ihr Zutun rührte sich etwas in ihr. Weil seine Worte ehrfürchtig und gequält zugleich klangen. Im nächsten Moment erstickte sie das Gefühl jedoch im Keim. Immerhin saß ein Feind neben ihr. Sie durfte sich nicht einlullen lassen. „Ich muss wieder an die Arbeit“, verkündete Catherine und erhob sich. Dabei zupfte sie am Bund ihres verwaschenen Hemdes herum.
„Sicher. Ich habe Sie lange genug aufgehalten.“ Er rutschte vom Stein herunter und klopfte sich den Staub aus der Hose. Wie verändert er aussah mit der nachlässigen Aufmachung. Stark, etwas verwegen und männlich. „Leben Sie wohl, Catherine.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie. Als er hochblickte, schaute sie ihm sekundenlang in die Augen, bevor sie ihm die Hand entzog. „Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie werden es brauchen. Was mich betrifft, ich werde versuchen, Mutter von ihren Plänen abzubringen. Versprechen kann ich allerdings nichts.“
„Trotzdem danke ich Ihnen.“
Davids Lächeln schenkte ihr einen kurzen Moment der Zuversicht. Dann eilte er den Hügel hinab und sie schaute ihm nach, bis das Fahrzeug in der Kurve verschwunden war. Seufzend blickte sie in den Himmel hinauf und flehte innerlich, dass alles gut werden würde.
Gegen Abend kamen ihre Geschwister zurück. Leider mit schlechten Nachrichten. Weder Georgie noch Hannie hatten eine Anstellung gefunden, obwohl sie alle potenziellen Arbeitgeber in der näheren Umgebung abgeklappert hatten.
„Wenigstens habe ich meine Anstellung als Schneiderin noch“, sagte Hannie und setzte sich seufzend auf die Ofenbank. Sie sah müde aus. „Wie geht es Vater?“
Kurz flammte die Erinnerung an David in Catherine auf, bis sich Roberts Gesicht vor seines schob. Dieser Mistkerl! Dieser elende Mistkerl. „Er schläft.“
„Mutter?“
„Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen.“
„Vielleicht sucht sie ebenfalls Arbeit.“
„Wo ist dein Sinn für die Realität geblieben?“, spottete Catherine. „Emma meinte, sie wäre in der Bucht unten.“
„Na ja, wir alle brauchen Zeit, um das zu verarbeiten. Wie war dein Tag?“
„Ich hatte Besuch. David Wolfe Mitchel kam vorbei.“
Hannie nahm eine gerade Haltung an. „Was wollte er?“
„Wild Swan kaufen.“
„Du lieber Himmel. Hast du ihn zu Vater vorgelassen?“
„Natürlich nicht. Ich habe sein Angebot abgelehnt.“
„Seltsam, ich hatte den Eindruck, dass er und seine Mutter grundverschieden sind.“
„Das sind sie, zumindest hoffe ich das. Jedenfalls hat er gesagt, dass er versuchen wird, seine Mutter umzustimmen. Allerdings räumte er ein, dass er nichts versprechen könne.“
„Wie hast du das denn geschafft?“
Catherine wurde sich bewusst, dass sie lächelte. Sofort wurde sie ernst. „Freu dich nicht zu früh. Seine Mutter ist eine gefährliche Frau und David kann ich nicht richtig einschätzen.“
„David?“ Hannie grinste. „Er scheint ziemlichen Eindruck auf dich gemacht zu haben.“
„Blödsinn. Mitchel spielt in einer völlig anderen Liga als wir. Den sehe ich nicht wieder.“
„Höre ich etwa Bedauern aus deinen Worten?“ Catherine zog es vor zu schweigen. Egal wie heftig sie dementieren würde, Hannie hatte sich festgebissen. Es lohnte die Mühe also nicht, die Sache klarzustellen.
Als sie zu Abend aßen, fehlte von der Mutter nach wie vor jede Spur. Erst gegen elf Uhr nachts kehrte sie nach Hause zurück. Mit verweinten und geschwollenen Augen ignorierte sie Catherines Frage über ihren Verbleib und schlurfte mit müden Schritten nach oben. Auch der Rest der Familie zog sich in die Betten zurück. Hannie wälzte sich von einer Seite zur anderen. Sie schien ebenfalls nicht schlafen zu können. Catherine sprach sie nicht darauf an, weil sie keine Lust zum Reden hatte. Außerdem kostete es Kraft, unter der Steppdecke lautlos zu weinen. Robert hatte ihr das Herz gebrochen und das würde sie ihm nie verzeihen. Irgendwann erlöste sie jedoch der Schlaf aus ihrem Kummer und am späten Vormittag des nächsten Tages machte sie sich auf den Weg zum Hafen. Die Karten hatte sie mitten in der Nacht geholt, um den Vater nicht direkt damit zu konfrontieren. Sie hatte sie in der braunen Handtasche verstaut, die ihr Hannie gegeben hatte. Das kobaltblaue Kleid war eine Leihgabe der Mutter. Es war schlicht, einfach und androgyn. Immerhin fühlte sie sich damit nicht unwohl, aber bei der Company konnte sie unmöglich in Hosen vorsprechen.
Sanft strich der Wind über das Hafengelände. Über ihr kreisten Möwen und es lagen nur wenige Schiffe vor Anker. Kein emsiges Treiben, lediglich vereinzelt begegneten ihr Menschen. Catherines Herz klopfte bis zum Hals, als sie von weitem den Sitz der Company erblickte. Hoffentlich hatte sie mehr Glück als ihre Geschwister.
„Catherine?“
Erschrocken wirbelte sie herum. „David. Was machen Sie hier?“
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, während er ihre Gestalt mit einem Blick maß, der sie verwirrte. „Einen Morgenspaziergang. Wir brechen bald nach Dublin auf.“
Catherine musterte ihn. „Nur Hemd und Hose? Wo ist Ihre Melone? Die Anzugjacke?“
„Halten Sie mich etwa für einen Hampelmann?“ Jetzt lachte er. „Nebenbei gefragt, wo sind Ihre Hose und das obligatorische Hemd?“ Seine Belustigung verschwand. „Obwohl ich nicht klagen möchte. Sie sehen hinreißend aus in dem Kleid und den weißen Sandalen.“
Catherines Wangen wurden heiß. „Ich hatte Lust mich zu verkleiden“, wich sie aus.
„Sie scheinen Komplimente schwer annehmen zu können. Aber ehrlich gesagt, zum ersten Mal sehen auch Sie nicht verkleidet aus.“
„Wenn das Ihre Art ist, Komplimente zu machen, dann vielen Dank“, scherzte sie.
„Ich bin nur aufrichtig.“
„Wann fahren Sie?“, entfloh sie ihrer Verlegenheit.
Davids Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „In einer Stunde.“
Die Sonne brannte auf ihren Rücken. „Dann wünsche ich Ihnen gute Fahrt. Leider muss ich weiter.“
„Schade. Wie es aussieht haben Sie es immer eilig, wenn wir uns begegnen.“
„Eigentlich nicht“, konterte sie. „Muss wohl an Ihrer Gegenwart liegen.“
„Sieh an, sie hat sogar Humor.“ Davids Lachen war ansteckend. Auf einmal fiel die Anspannung von ihr ab. Mit den Karten würde alles gut gehen, wie mit allem anderen.
„Sieh an, er versteht meinen Humor sogar.“ Lachend ließ ihn Catherine stehen und ging davon. Als sie sich nahe dem Quai umdrehte, stand er am selben Fleck und winkte ihr zu. Catherine lächelte, bevor sie weiterging.
***
Die Landschaft veränderte sich allmählich. Ein ungewohnt warmer Sommer ging zu Ende und öffnete das Tor für einen nebligen und nassen Herbst. Pausenlos fiel Regen vom grauen Himmel herab. Manchmal nur ein Nieseln, manchmal öffneten sich die Schleusen wie ein Staudamm. Die farbenfrohen Blätterkleider der Bäume verschwanden Tag für Tag hinter einer milchigen Wand. Die knorrigen und leblosen Zweige waren Ende Dezember mit Reif überzogen. Kälte umfing das Land. Im Januar fiel der erste Schnee und überzog Kingstown bis Anfang März wie ein weißes Tuch.
Im September des letzten Jahres hatten deutsche Zeppeline London bombardiert. Im Oktober war den Österreichern und Deutschen die feindliche Einnahme Belgrads gelungen. Bei Kämpfen auf See zwischen einem britischen U-Boot und einem deutschen Kriegsschiff hatten unzählige Menschen ihr Leben eingebüßt. Weitere Torpedoangriffe waren erfolgt, sogar ein britisches Passagierschiff war Ende Dezember getroffen worden, und gesunken. Brotkarten in Deutschland, ein Getränk namens Coca-Cola – das immer beliebter wurde und auf Streichholzschachteln oder Baseballkarten beworben wurde – die Weltausstellung in San Francisco, ein Stummfilm in Los Angeles, Bombenabwürfe über Paris und Mailand, die Gründung eines Filmunternehmens in Hollywood, Haiangriffe in Spring Lake oder Beach Haven in New Jersey, die raue Wirklichkeit hatte viele Gesichter.
„Und? Gefällt dir das Buch?“, erkundigte sich Georgie.
Catherine blickte hoch. „The Voyage Out?“
„Wie auch immer der Schmöker heißt, in dem du seit einer halben Stunde nicht umgeblättert hast.“
„Ein Buch von Virginia Woolf“, erklärte sie ihrem Bruder, obwohl sie wusste, dass es ihn nicht interessierte. „Aus Vaters Bibliothek. Das letzte, das er angeschafft hat, bevor …“ Georgies Gesicht wurde verschlossen. Es war besser, das Thema nicht zu berühren. Sie hatten es ohnehin unzählige Male durchgekaut.
Catherine streckte die Füße aus. Ihre rechte Zehe lugte aus einem Loch in den braunen Socken. Sie saß auf der Ofenbank im Esszimmer und lehnte mit dem Rücken am warmen Kachelofen. Emma malte, Hannie bestickte ein beiges Kleid mit Perlen. Georgie kaute auf einem Zahnstocher herum und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Es war Sonntag. Die Arbeit ruhte. Aber es war egal, welchen Tag sie hatten. Was das betraf, hatten sie ständig den Tag des Herrn.
Ihr Bruder hatte keine Anstellung gefunden. Weder im Salzwerk noch am Hafen, in den Reedereien oder Hotels. Bei keinem Bauern, keiner Holzfabrik, nicht einmal als Kofferträger. Obwohl er sich sofort beworben hatte, sobald er von einer freien Stelle erfuhr. Hannie erging es nicht anders. Eine Woche nach der Konfrontation im Hotel war sie gekündigt worden. Seitdem suchte sie händeringend nach einer neuen Stelle. Nicht nur des Geldes wegen, sondern weil sie ihre Arbeit liebte. Es war aussichtslos. Sogar die Aufträge blieben aus. Nur die Freundinnen der Mutter hielten ihr die Treue. Seitdem zeigte sich Catherine den Alten gegenüber etwas aufgeschlossener, allerdings kamen sie inzwischen seltener zu Besuch. Die Aufträge für Hannie schickten sie schriftlich. Meistens lagen einige Geldscheine dabei, um ihrer Mutter die Anfahrt zum nächsten Treffpunkt zu bezahlen. Ohne zu zögern nahm die Mutter das Geld an, und fuhr weg. Dabei hatte sich Catherine insgeheim oft gefragt, ob ihre Geschwister derselbe Gedanke beschäftigte: Die Mutter hätte das Geld für die Familie verwenden können. Für eine neue Brille für den Vater, die er sich bisher nicht leisten hatte können. Oder für Eier, Mehl und Brot, die einfachsten Dinge schienen unerschwinglich.
„Florence musste viel entbehren“, wurde sie vom Vater verteidigt, ohne dass jemand über den Egoismus der Mutter laut geklagt hätte. Das trauten sie sich ohnehin nicht. Die Labilität war zurückgekehrt. Mit jedem Monat etwas mehr. Als habe sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, diesmal stärker als je zuvor. Kaum jemand drang zu ihr durch. Es schien, als habe sie mit ihrem Leben abgeschlossen.
Ihre Krankheit und die Untätigkeit hatten den Vater altern lassen. Die ausbleibenden Briefe von Thomas verzweifeln. Eine Nachricht der Kriegsmarine – zu der ihr Bruder Ende Sommer 1915 angeblich gewechselt hatte – war erschütternd gewesen. Thomas galt als verschollen. Das U-Boot sei in der Nordsee gesunken. Dennoch klammerte sich jeder von ihnen an die Hoffnung, dass man sich geirrt hatte.
„Wir haben Geld bis Ende April. Danach werde ich an Esther Mitchel verkaufen müssen. Ich schulde ihr Geld“, hatte ihnen der Vater gestern eröffnet und dabei die sechs Schiffskarten in den Händen gehalten, die nicht umgetauscht worden waren. Vielmehr war sie hinausgeworfen worden, als habe sie etwas gestohlen. Vor einigen Monaten hätte sie diesen Sesselfurzern am liebsten eine geknallt. Jetzt war sie froh darüber, dass der Vater die Karten hatte. Er trug sie immer in seiner Hosentasche bei sich. Wie einen Talisman, der an glückliche Zeiten erinnerte, und auf glückliche Zeiten hoffen ließ. Ein Halt. Wie lange noch?
Der Gedanke, alles zu verlieren, war unerträglich. Etwas, worauf Esther Mitchel bestimmt voller Vorfreude wartete. David womöglich auch. In den letzten Monaten hatte sie sich oft eine Närrin gescholten, einem Spross dieser Familie nur einen Funken Glaubwürdigkeit zugesprochen zu haben. Vor allem in Anbetracht der Gerüchte, dass er Sarah Trust heiraten würde. Sie war eben verwirrt gewesen. Nachdem sie dem Vater nach seiner Genesung von dem widerwärtigen Plan erzählt hatten, hatte sie David endgültig aus ihren Gedanken verbannt. Zu erschüttert darüber, wie sehr der Vater neben sich gestanden hatte. Verzweifelt hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, das Unheil abzuwenden. Mittels Kredit, dem ihm die Bank wie erwartet nicht gewährte. Danach hatte er davon gesprochen, das Cottage niederzubrennen, bevor es in Esthers Hände geraten würde. Denn wie man es drehte und wendete, sobald die letzte Rate nicht mehr aufzubringen war, würden sie den Besitz an die Mitchels verlieren. Die Situation war entwürdigend. Als würden sie auf das Schafott warten. Umso mehr wollte der Vater nach London. Weit genug fort, um nicht alles aus nächster Nähe miterleben zu müssen.
Catherine starrte auf die Zeilen im Buch. Auf die Seite, das neue Kapitel. Sie wollte nicht nach London. In diese große stickige Stadt, in der die Häuser vermutlich jeden freien Blick auf die Landschaft versperrten. Nur, war es nicht gleichgültig, was sie taten, wohin sie gingen? Nirgends würde es ihr gefallen, nirgends. Sie würde überall unglücklich sein wie ihre Mutter, weil sie sich nicht vorstellen konnte, woanders zu leben. Wild Swan war ihre Welt, ihr Glück und ihr Zuhause. Nie hätte sie gedacht, dass ihr das ausgerechnet Robert nehmen würde. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er ihre gemeinsame Vergangenheit abgelegt wie eine Schlange ihre Haut. Eine Schlange, das war er wohl.
Es hatte wehgetan, sehr sogar. Nicht nur sein Verrat, auch die zarten Gefühle, die sie für ihn gehegt hatte. Die erste Liebe, die so enttäuschend gewesen war. Bitterkeit stieg in ihr hoch. Seine Freundschaft war vermutlich auch nur gespielt gewesen. Und das war es, das sie am meisten traf: Dass sein Handeln alles Lügen strafte. Jeden Moment, jedes Abenteuer, jede Geste, jeden Brief. Nichts blieb übrig. Sogar die Asche war fort, die seine Briefe hinterlassen hatten. Alle dreißig hatte sie verbrannt.
„Ich überlege, ob ich zum Militär gehen soll.“ Georgie nahm den Zahnstocher aus dem Mund und blickte zum Fenster. Schneeflocken fielen auf die Erde.
„Du weißt, was Vater davon hält.“ Emma tauchte den Pinsel in grüne Farbe. Sie malte am liebsten Stillleben. Die Farbpalette war beinahe aufgebraucht. „Es würde ihn umbringen.“
Wie erwachsen sie binnen der letzten Monate geworden war. Umso mehr zeichnete sich ab, dass sie am meisten mit der Mutter gemeinsam hatte, weil ihre Wünsche stets an erster Stelle standen und als erstes erfüllt werden sollten. Alle gaben ständig nach und stellten ihre eigenen Bedürfnisse hintenan.
„Aber ich könnte etwas verdienen. Außerdem hätte Pa ein Maul weniger zu füttern.“
„Vater würde lieber in den Hungerstreik treten, als dich zu verlieren.“ Hannie legte das Monokel auf den Tisch, bevor sie den Faden mit den Zähnen abbiss. Sofern sie nicht eine Robe für die Alten nähte, die ihr den passenden Stoff dazu schickten, nähte sie an diesem Kleid herum. Täglich löste sie die Perlen und fügte sie neu zusammen. „Mir persönlich ist ein Bruder genug, der in diesen unseligen Krieg gezogen ist.“
„Über kurz oder lang werden wir ohnehin mitten in einem Kugelhagel stehen.“ Georgie schob den Stuhl zurück, erhob sich und stellte sich zum Fenster. Die Hände verschränkte er hinter dem Rücken. Wie schmal seine Schultern waren. Die Hose viel zu kurz, weil er in die Höhe geschossen war. Sein Gesicht war spitz, die Kieferknochen standen hervor, die Wangen waren eingefallen. Es war beängstigend, dass er trotz regelmäßiger – wenn auch karger Mahlzeiten – so enorm an Gewicht verloren hatte.
Hannie legte das Kleid auf den Tisch. „Mir will nicht in den Kopf, wie man derzeit daran denken kann, für die Unabhängigkeit unseres Landes zu kämpfen. Als wäre der Weltkrieg nicht genug.“
„Gerade deswegen gibt es keinen besseren Zeitpunkt“, ließ Georgie verlauten. „England hat nicht die üblichen Kapazitäten. Das ist unser Vorteil. Ich bin gespannt, ob an den Gerüchten etwas Wahres dran ist.“
„Vielleicht knallen die irischen Republikaner bei dieser Gelegenheit Esther Mitchel ab“, überlegte Catherine laut, wofür sie ein Grinsen ihrer Schwestern erntete. „Nach der letzten Rate wird sie sich hier breitmachen.“
„Was ist mit dem jungen Mitchel?“, warf Hannie ein. „Du meintest vor einiger Zeit, dass er …“
„Mitchel ist keine Option. Mag er mit seiner Mutter nicht in allem übereinstimmen, sie ist seine Mutter. Wir würden Vater doch auch nicht in den Rücken fallen, oder?“ Hannie nickte. „Davon abgesehen sprechen seine Zukunftspläne für sich, wie ich finde.“
„Fakt ist, dass Vater keine weitere Rate aufbringen kann.“ Georgie rieb sich nachdenklich den Nacken. „Die Trusts waren genauso knallhart wie die Mitchels. Was habe ich mich anfangs darüber gewundert. Der alte Trust war immer nett und integer. Aber nachdem die Heiratspläne seiner Tochter mit Mitchel durchgesickert sind, ist mir einiges klargeworden.“ Nun drehte er sich um und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. „Wie konnte sich Vater bloß darauf einlassen, fünfzig Prozent der Vertragssumme im Falle eines nicht eingehaltenen Liefertermins zu bezahlen? Ohne an eine Absicherung zu denken? Weder für Feuer noch für sonstige Schäden.“
„Vater war immer ein einfacher Arbeiter, kein Geschäftsmann.“ Vorsichtig fuhr Emma mit der Pinselspitze den Rand eines Blattes nach. Wie echt der Blumenstrauß aussah, den sie aus dem Gedächtnis malte.
„Geld heiratet Geld“, bemerkte Catherine spitz. „Wie könnte es anders sein.“
„Der junge Mitchel wird sich warm anziehen müssen. Sarah Trust soll eine ziemliche Schreckschraube sein.“ Ihr Bruder schüttelte den Kopf.
„Dann passt sie wunderbar in die Familie“, warf Catherine ein.
„Gestern ist übrigens ein Brief von Vladimir gekommen“, erzählte Emma gedankenversunken. „Er ist Vater geworden.“ Nach dem Vorfall mit der Tenne hatten sie die Arbeiter entlassen müssen. Jan war zwar noch eine Weile geblieben, inzwischen jedoch ebenfalls fort. Wohin, das wusste niemand. Auch von Vasilij hatten sie nichts mehr gehört. Marori war bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Ein Hämmern unterbrach die Stille. Catherine beschloss, nach ihrem Vater zu sehen, schlug das Buch zu und legte es auf die Bank.
Die Werkstatt war bis zum Bersten mit Fässern gefüllt, obwohl der Vater keine Abnehmer mehr dafür hatte. Weder die Brennereien in ihrer Nähe noch Exporthändler bestellten welche. Trotzdem stellte der Vater laufend Fässer her. Wohl um die Zeit totzuschlagen.
„Gibt es schon Abendessen?“ Er lächelte traurig, legte den Hammer aus den schwieligen Händen und drapierte ihn wie ein Schaustück auf dem blitzblanken Werktisch.
„Hannie und ich kümmern uns in einer halben Stunde darum.“
„Eure Mutter schläft noch?“
„Ja.“ Immer öfter blieb sie im Bett liegen. Nur wenn eine Fahrt zu den Alten anstand, kam Leben in ihren Körper. Ja, Catherine verurteilte ihre Mutter und schaffte es nicht wie die anderen, sie wegen ihrer Krankheit zu bemitleiden. Immerhin kam ihre Kraft zurück, sobald es um die eigenen Bedürfnisse ging. So schlecht konnte es ihr also nicht gehen und statt zu helfen, wurde sie zu einer zusätzlichen Belastung. Das war nicht gerecht.
„Es gibt Kartoffelbrei.“
„Mmh.“ Ihr Vater rieb sich den Bauch, dann fuhr er sich über den grauen Vollbart, „lange nicht mehr gegessen. Erst gestern, und vorgestern, und, und, und …“ Er zog sie plötzlich sanft an der Hand zu sich und nahm sie in die Arme. „Ich liebe dich, Catherine, und habe keine Ahnung, was ich ohne euch tun würde. Ohne dich.“ Wie in Kindertagen streichelte er über ihr schulterlanges Haar. „Ihr seid alles, was ich habe und ich wünschte, ich hätte euch eine ebenso schöne Kindheit schenken können, wie ich sie hatte.“
„Du bist der beste Pa, den man sich vorstellen kann.“ Tränen brannten in ihren Augen.
„Erinnerst du dich daran, was du mir einmal versprochen hast?“, fragte er unvermittelt.
Catherine wusste sofort, was er meinte und löste sich aus seiner Umarmung, um ihn ansehen zu können. Voller Angst musterte sie sein angespanntes Gesicht. „Weshalb fragst du mich das ausgerechnet jetzt, Pa? Das … das klingt irgendwie nach Abschied.“
„Wir haben am eigenen Leib erfahren, wie schnell sich das Blatt wenden kann.“ Ihr war, als würde sich eine eiskalte Hand um ihr Herz legen. „Du bist meine Große und ich verlasse mich darauf, dass du auf deine Geschwister aufpasst.“
Catherine wollte aufbegehren, dass das in hundert Jahren nicht nötig sein würde. Ihn anbrüllen, damit aufzuhören. Weil der Gedanke zu schmerzvoll war, dass er eines Tages nicht mehr da sein würde. Doch sie war nicht in der Lage etwas zu sagen. Weil ihr diese Vorstellung die Stimme raubte.
„Oh je, wie ich sehe, arbeitet es in deinem hübschen Köpfchen. Entschuldige, ich wollte dich nicht beunruhigen und habe vergessen, dass ihr Frauen jedes Wort auf die Goldwaage legt.“ Kurz flammte die alte Heiterkeit in seinen Zügen auf. Catherine kämpfte erneut gegen die Tränen an. Wie gelöst er aussah. So wie früher, als er über die goldenen Felder gewandert war. Manchmal hatte er die Arme ausgebreitet, als wolle er Wild Swan zur Gänze darin aufnehmen. Im Geiste hörte sie ihn jubelnd heimgekommen, mit den Verträgen über den Verkauf seiner Fässer in der Hand. Schaute ihm dabei zu, wie er Thomas und Georgie an sich drückte und mit Emma und Hannie durch die Küche wirbelte. Sie erinnerte sich daran, wie er von der Lichtung heruntergekommen und sich stolz zur Tenne umgeblickt hatte. Er war erschöpft gewesen, trotzdem hatte er nie glücklicher gewirkt. Und sie dachte daran, wie er jedes Mal aufsah, wenn sie die Werkstatt betrat. Mit ernster Miene, die bei ihrem Anblick von einem Lächeln erhellt wurde.
Schluchzend barg Catherine ihren Kopf an der Brust ihres Vaters und hörte das Pochen seines Herzens. Bei ihm durfte sie weinen, ohne sich dafür zu schämen. Ohne Angst, dafür verurteilt zu werden. Sie spürte seine Arme, die sich beschützend um sie legten. Das sanfte Streicheln über ihren Rücken. Im selben Moment wurde ihr klar, dass es keine Rolle spielte, wo sie lebten. Das Wichtigste hatte sie immer bei sich: Den Vater, ihre Familie. Darum nahm sie sich vor, kein Wort mehr über London zu verlieren. Für ihn war es am Schwersten. Er hatte die Verantwortung für das Cottage getragen und sein ganzes Leben auf Wild Swan verbracht. Darum konnte sie nur ahnen, wie es tatsächlich in ihm aussah. Vermutlich glaubte er, versagt, alle enttäuscht zu haben.
Als Catherine ins Haus zurückging, hatte sie einen Einfall. Wenig später deckten Hannie und sie den Esszimmertisch festlich wie lange nicht mehr. Grannys gehäkelte Tischdecke kam nach vielen Monaten zum Einsatz und sie zündeten Kerzen an. Als der Kartoffelbrei fertig war, trugen sie einen Teller zur Mutter hinauf. Danach holten sie den Vater, dessen Augen beim Eintreten leuchteten wie bei einem kleinen Kind, das zum ersten Mal bewusst das Weihnachtsfest erlebte. Auch wenn ein bescheidenes Mahl im großen Topf dampfte, sie genossen es in vollen Zügen.
„Das war eine gute Idee“, äußerte sich Georgie später, als sie in seinem Zimmer auf dem kalten Holzboden Karten spielten. Lächelnd lehnte er sich mit dem Rücken an Thomas’ Bett, über das die blaue Steppdecke fein säuberlich ausgebreitet war. Unter dem Bett standen seine ausgelatschten Pantoffeln.
Holzfiguren häuften sich auf dem Fensterbrett, die Georgie geschnitzt hatte. Elefanten, Kühe, Tiger, ein filigraner Schmetterling. Kunstvoll und lebensecht. In der Ecke neben seinem Bett lag ein Kleiderstapel, vorbildlich zusammengefaltet.
„Gewonnen!“ Georgie warf seine letzten zwei Karten hin und hob jubelnd die Arme. Dann legte er jeweils einen Arm um Hannie und Catherine. „Tja, ihr seid mir einfach nicht gewachsen.“ Kurz zog er sie an sich, bevor er sie losließ.
„Und ich?“ Emma machte einen Schmollmund. „Werde ich nicht umarmt?“
„Ach, Winzling, wenn du nicht im Mittelpunkt stehst, geht die Welt unter.“ Georgie und Emma stritten häufig. Zwar halfen sie einander – sofern es notwendig war – hatten ansonsten aber wenig miteinander zu tun. „Du solltest tatsächlich eine Karriere als Schauspielerin anstreben. Bloß dreh nicht gleich durch, wenn du nicht die Hauptrolle kriegst.“
Emmas Näschen hob sich weiter in die Höhe. „Schau mich an, Bruder. Denkst du tatsächlich, mir würde lediglich eine Nebenrolle zustehen? Oder dass ich mich damit begnüge?“, fragte sie hochmütig. Man war nie sicher, ob sie einen Text zitierte oder die Worte tatsächlich ernst meinte. „Ich möchte zum Film gehen. Eines Tages wird die ganze Welt über mich reden.“ Mit Schwung warf sie ihr Haar zurück. Keine Frage, Emma war von sich und ihrem Können überzeugt. Meistens fiel sie zwar eher durch Faulheit auf, aber wenn sie etwas wollte, entwickelte sie Ehrgeiz.
„Ich hoffe, dass dir deine Schönheit nicht eines Tages völlig zu Kopf steigt“, warnte Georgie sie. „Wenn du mich fragst, ist das übrigens dein einziges Talent, wenn man so will. Schauspielerisch bin ich alles andere als begeistert. Du übertreibst maßlos.“ Er überlegte kurz. „Wie im richtigen Leben.“
Wütend fegte Emma mit ihrer Hand durch die Karten, die sich im Nu über den ganzen Boden verteilten. „Nimm das sofort zurück, du Würstchen! Womit kannst du denn aufwarten? Mit Schönheit? Intelligenz? Einer Arbeit? Du bist dumm wie Haferstroh und ich wünschte, du wärst an Thomas’ Stelle.“
***
David schob die Papiere in die Schublade seines Biedermeiersekretärs und stand auf. Trostlos fiel das trübe Tageslicht durch die hohen Fenster des kleinen Kabinetts, das zu seinem Appartement im Westflügel des Elternhauses gehörte, wie ein großzügiger Wohnraum und ein Schlafzimmer. Nach dem Vorbild der Zimmer im Hotel Ritz – das 1906 in London eröffnet worden war – hatte er sich vor zwei Jahren im leerstehenden Raum nebenan eine Nasszelle einrichten lassen. Einige Male hatte er in dem Hotel geschlafen und Gefallen daran gefunden, ein Zimmer mit Waschbecken und Badewanne in die Privaträume zu integrieren. Die Mutter hatte dem Umbau nur widerwillig zugestimmt und er war sich wie ein Bittsteller vorgekommen, weil er sie um Geld hatte fragen müssen. Zwar hätte er sich einige Umbauten leisten können, aber um den Schein zu wahren, musste er in den sauren Apfel beißen. Obwohl er innerlich gekocht hatte, weil sie selbst nicht müde wurde für sinnlose und kostspielige Anschaffungen Geld auszugeben. Vor kurzem hatte sie sich ein Röhrenradio angeschafft. Außerdem orderte sie Zobel und andere Pelze, Kunstobjekte, japanische Tapeten, Schuhe, Taschen und Kosmetikartikel.
Wie schön die Liffay um diese Jahreszeit war. Der Fluss trieb gemächlich auf Dublin zu. Eiskristalle zauberten abstrakte Figuren zu beiden Uferseiten. Als wäre die Natur von der Kälte überrascht worden und binnen Sekunden zu Eis gefroren. Manchmal folgte David dem Flusslauf in Gedanken, der in die Dublin Bay und dann in die Irische See mündete. Es wäre ein guter Ort, um Sarah zu ertränken, die sich seit Wochen bei ihnen einnistete.
Seufzend beschloss David, hinunterzugehen. Von Sarah würde er sich nicht die Stimmung verderben lassen. Außerdem wollte er zum Großvater, um ihm wie jeden Tag aus einem Buch vorzulesen. Wie üblich fand er ihn um diese Zeit im Wintergarten vor. Mary breitete gerade eine Decke über seine Beine. Der Raum war sehr hell. Überall standen hohe Zierpflanzen in großen braunen Tonkübeln und ein runder Marmortisch in der Mitte des Wintergartens, um den sich vier edel gefertigte Stühle gruppierten.
„Wie geht es Großvater heute?“
Mary blickte lächelnd hoch. Das graue Haar trug sie seit jeher zu einem strengen Dutt gesteckt. Große Zähne, kleiner Mund, gutmütige Falten. Eine Statur wie ein Mann, unverheiratet. Eine Schwester lebte noch. Irgendwo in England, er hatte vergessen wo. Ihre Eltern waren früh verstorben. Sie mochte Musik, den Tanz und verfügte über eine große Portion Humor.
„Nicht schlechter als gestern.“ Vorsichtig schob sie seinen Großvater zum mittleren hohen Terrassenfenster. Sein starrer Blick blieb unverändert. Manchmal fragte sich David, ob und wie viel er tatsächlich von seiner Umgebung wahrnahm. Er sprach weder noch reagierte er auf sein Umfeld.
David zog sich einen Sessel heran und setzte sich neben den Großvater. „Wozu hast du Lust? Soll ich dir etwas vorlesen? Möchtest du lieber Musik hören?“ Die Züge blieben starr. „Wie wäre es mit ‚Molly Malone‘?“
Als habe sie auf ihren Einsatz gewartet, machte sich Mary am Grammophon zu schaffen. Es stand auf der kunstvoll bemalten Eckkommode aus Eichenholz. Kraftvoll betätigte sie den Hebel, um das Grammophon anzukurbeln. Irgendwann würde Mary den Hebel abreißen.
Dann erscholl das Lieblingslied seines Großvaters: ‚Molly Malone‘. „In Dublin’s fair city, where the girls are so pretty, I first set my eyes on sweet Molly Malone. As she wheeled her wheel-barrow, through the streets broad and narrow, crying, ‚Cockles and mussels, alive, alive, oh!‘“
David konnte sich nicht helfen. Jedes Mal, wenn in letzter Zeit das Lied erklang, schien es, als würden sich die Züge des Großvaters entspannen. Sicherlich eine Täuschung oder ein Wunschgedanke, weil er schon zu lange auf irgendeine Reaktion wartete, obwohl es kaum Hoffnung gab. Nicht zuletzt deshalb, weil ihm Mary versichert hatte, dass Laurence nach seinem Schlaganfall von einigen namhaften Ärzten untersucht worden war, ohne nennenswerten Erfolg. Man tappte über seinen Zustand im Dunkeln. Nichtsdestotrotz hatte er vor ein paar Jahren selbst einige Ärzte konsultiert, da in der Medizin laufend Fortschritte gemacht wurden. Leider mit demselben Ergebnis und dem Rat, dass Laurences Arme und Beine regelmäßig bewegt werden sollten, was Mary mit einer Engelsgeduld täglich tat.
David konzentrierte sich auf das Lied. Auch er mochte es. Vor allem, weil es seinem Großvater so wichtig war und es nicht viel gab, das er von ihm wusste. Clarice hatte nur ein verächtliches Lächeln übrig gehabt, wenn er Fragen gestellt hatte. Wie seine Mutter, die vom Großvater ohnehin sprach, als wäre er tot.
Leider konnte Mary auch kein Licht ins Dunkel bringen. Sie hatte den Dienst erst kurz vor seinem Schlaganfall angetreten. Lediglich von seiner Begeisterung für ‚Molly Malone‘ wusste sie, da der Großvater das Lied ständig abgespielt und ansonsten zurückgezogen gelebt hatte. Andere Verwandte beschrieben ihn als verlässlich und gradlinig. Angeblich hatte er nur für die Brennerei gelebt. Eine magere Ausbeute an Informationen. Wie es schien, hatten ihn alle nur als den Mann gekannt, der das Familienunternehmen weiterführte. Seine private Seite hatte er vermutlich den wenigsten gezeigt. Eine Erkenntnis, die David nachdenklich stimmte. Im Grunde führte er ein ähnliches Leben. Unweigerlich musste er an Wild Swan denken.
Erneut kurbelte Mary das Grammophon an. Molly Malone, eine Fischhändlerin aus Dublin, die in jungen Jahren an hohem Fieber starb und niemand konnte sie retten. Eine schöne Frau, deren Geist durch die Straßen Dublins streifte, mit lebenden Herz- und Miesmuscheln auf ihrem Karren. Das Lied war fröhlich und wehmütig zugleich.
Nach einer Weile war es erneut zu Ende. Die faltigen Hände seines Großvaters lagen ruhig auf der Lehne des Rollstuhles. Sein schlohweißes Haar reichte ihm bis zum Kinn. Am Hinterkopf lichtete es sich. Die Nase war markant, das Gesicht mit Altersflecken übersät, genauso wie die Arme und Hände, seine Lippen rissig. Die Fältchen um die rauchblauen Augen und den Mund bestärkten Davids Gefühl, dass der Großvater ein fröhlicher Mensch gewesen sein musste, der gern gelacht hatte. Zumindest wollte er daran glauben.
„Ich bin sicher, Großvater war früher ein leidenschaftlicher Tänzer“, David deutete auf dessen Füße, „und ich sehe ihn förmlich vor mir: Mit einer Flasche Ale in der Hand, und einem schönen Mädchen im Arm.“
„Jetzt hat Laurence ja mich, und ist endlich sesshaft geworden.“ Mary lachte wie ein Holzfäller, öffnete den Eckschrank und nahm das Buch heraus, aus dem er seinem Großvater derzeit vorlas. Eine Liebesgeschichte, die sie ihm aufgedrängt hatte.
„Ich bezweifle, dass ich weiterlesen kann“, neckte David sie, als sie ihm das Buch in die Hand drückte. „Es ist schnulzig.“
„Mag sein, aber es ist eine angenehme Abwechslung zur trockenen Lektüre, die du ihm zumutest. Erfindungen des Jahrhunderts, der Kosmos in unserer Zeit, das Weltgeschehen und Kriegsanalysen“, zählte sie spottend auf, „da schlafen einem ja die Ohren ein.“
„Das ist eher bei deinem Buch der Fall.“ David grinste.
Mary schloss die Kommode. „Was ist gegen die Liebe einzuwenden? Womöglich war Laurence früher ein Romantiker.“
„Wollt ihr Frauen den nicht alle in uns sehen?“ David blätterte zur Seite siebzig. Da waren sie stehengeblieben. Ein Missverständnis hatte die arme Rose von ihrem Liebsten getrennt. Was für ein Schwachsinn.
„Eines Tages triffst du eine Frau wie Rose und führst dich genauso verliebt auf wie der Held der Geschichte“, orakelte Mary.
„Hört sich an, als hättest du bereits eine Frau im Auge.“ Er legte sich das aufgeschlagene Buch auf den Schoß. „Kenne ich sie?“ Der tägliche Schlagabtausch mit Mary war erheiternd.
„Ich wüsste in der Tat jemanden.“
„Lass mich raten: Sarah?“
„Du liebe Güte, mir liegt etwas an dir“, dementierte sie sofort und zog sich das graue Seidentuch enger um die Schultern. Wie meistens trug sie ein schwarzes schmuckloses Kleid mit Halskragen, schwarze Strümpfe und Lederschuhe. Unter ihren Fittichen standen zwei Stubenmädchen und eine Köchin. „Ich meine die junge Dame, von der du häufig erzählst.“ Sie hantierte erneut am Grammophon herum.
„Wen?“, stellte er sich dumm.
„Catherine.“
„Du hast eine blühende Fantasie, Mary. Kein Wunder – bei diesen Büchern. Außerdem ist sie noch ein halbes Kind.“ Erneut erklang ‚Molly Malone‘.
„Was du über sie berichtet hast, klingt ganz und gar nicht nach einem Kind. Davon abgesehen mag ich sie schon jetzt. Sie ist der erste Mensch, der deiner Mutter im wahrsten Sinne des Wortes auf die Füße getreten ist.“ Mary schlenderte lächelnd zum Fenster und blickte zum Park hinaus.
„Stimmt“, pflichtete er ihr bei und schielte zum Großvater. Oft unterhielt er sich mit Mary über alles Mögliche, jedoch selten im Beisein des Großvaters. Weil er trotz dessen Teilnahmslosigkeit das Gefühl hatte, ihn damit zu verwirren. Doch da ihn das Thema selbst beschäftigte … „In dieser Sache ziehe ich den Hut vor Catherine.“ Er dachte an ihre Begegnung am Hafen. Trotz ihrer burschikosen Frisur hatte er nie ein schöneres Mädchen gesehen. Ebenmäßige Züge in einem perfekt proportionierten Gesicht, schlanke Figur und ein ganz eigener Zauber, der sie umgab.
„Das kleine Kind hat dich ziemlich beeindruckt.“
„Zugegeben, bei unserer letzten Begegnung wirkte sie wie eine Dame, für die ich mich gern eingesetzt habe. Aber Mutter hält an ihrem Plan fest und will den Besitz der Griffiths für sich.“ David nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und wandte sich dem Großvater zu. Aber er wirkte regungslos wie eh und je. „Mutter rechnet damit, dass Chester früher oder später aufgeben wird“, fuhr David zögernd fort, „man munkelt, er sei finanziell am Ende. Dann war es das mit Wild Swan, was ich sehr bedauern würde. Ein magischer Ort.“
Die Hände des Großvaters zitterten plötzlich kaum merklich. David erhob sich langsam. Das Buch flog auf den Boden. Der laute Knall ließ Mary herumfahren. „Siehst du das?“ Ungläubig deutete David auf seinen Großvater und traute seinen Augen kaum. „Siehst du das, Mary?“
„Ja“, entgegnete sie und beugte sich näher zum Großvater. „Laurence, hören Sie mich?“ Mary schnippte mit dem Finger vor seinen Augen. „Können Sie uns erkennen?“ Das Zittern hörte auf. Seufzend richtete sich Mary auf. „Bestimmt ein Reflex. Das kommt manchmal vor.“
„Bist du sicher?“ David hob das Buch vom Marmorboden auf.
„Dass es zu Reaktionen dieser Art kommen kann, haben uns die Ärzte gesagt.“ Sie strich seinem Großvater über die welke Wange. „Obwohl ich mir wünsche, dass er zurückkehrt in unsere Welt.“ Sie legte ihre Hand auf Davids Schulter. Eine Weile blickte Mary sinnend auf seinen Großvater. „Möglicherweise sollten wir damit aufhören, ihn in Watte zu packen und alles von ihm fernzuhalten. Lass ihn teilhaben an deinem Leben, David.“
„Wie meinst du das?“
„Indem du ihm von dir erzählst. Er soll dich kennenlernen und wissen, was dich bewegt.“ Mary umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. So, wie eine Mutter ihren Sohn küsste. „Ich lasse euch jetzt allein, mein Junge.“ Sanft nahm sie ihm das Buch aus den Händen. „Dein Großvater möchte bestimmt alles über dich erfahren. Wer wäre ein besserer Zuhörer als er?“ Sie streichelte Davids Wange, bevor sie den Raum verließ.
Eine halbe Stunde später saß er neben dem Großvater und überlegte, immer noch, was er von sich erzählen sollte. Ungeübt darin, über sich selbst zu reden. Mit ihm zu reden. Ihm, der nichts entgegnen konnte. Bei dem es fraglich war, ob er die Worte überhaupt verstand.
Der Wind tanzte durch den Park. Umkreiste die Bäume, und löste Schnee von den Sträuchern. Wie von selbst begann David zu reden. Erst stockend, dann zunehmend sicherer und ließ sein Leben Revue passieren. Dabei fixierte er die drei Kiefern nahe dem Springbrunnen. Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor. Die ganze Zeit über wagte er es nicht, seinen Großvater anzusehen. Voller Furcht, was er in seinem Gesicht lesen würde: Teilnahmslosigkeit.
„… und nun will sie den Griffiths nachhaltig schaden. In deinem Namen verwaltet sie alles, weil es kein Testament gibt. Ich könnte sie … doch dann denke ich, sie ist meine Mutter. Was auch immer vorgefallen ist“, er wurde leiser, „sie ist meine Mutter.“ David lehnte sich seufzend zurück, seine Hände umschlossen die Sessellehnen. Plötzlich spürte er etwas an seiner Hand. Der kleine Finger seines Großvaters bewegte sich hölzern auf und ab. David schossen Tränen in die Augen. Es fühlte sich wie eine unbeholfene Berührung an und war gleichzeitig unwirklich. Sekunden, Minuten, David wusste nicht, wie lange er der Bewegung folgte – sie fühlte – wohingegen alles andere an Laurence nach wie vor reglos wirkte. Reflex? Zufall? Es war ihm egal, er wollte nichts hinterfragen und so saß er still neben seinem Großvater, bis sich der Abend über den Park senkte. Drückte seine Hand, umschloss sie, hielt sie – und sich daran fest. Mit der Hoffnung, dass er da war. Mit dem innigen Wunsch, dass Laurence Wolfe Mitchel lebte, irgendwo tief in sich und darauf wartete, dass jemand zu ihm durchdrang. Vielleicht hatte er einen Teil des Weges zurück ins Leben bereits geschafft.
„Hat dir Mary diese Flausen in den Kopf gesetzt?“, ereiferte sich die Mutter, als sie zu Abend aßen. „Dein Großvater mag körperlich da sein, geistig ist er tot. Dämlich, zu keiner rationalen Reaktion fähig. Wie ein Säugling, den Mary füttern, anziehen oder baden muss.“
Ihre Kaltschnäuzigkeit entsetzte David immer wieder. „Dennoch möchte ich einen Arzt zu Rate ziehen.“ Warum hatte er nicht seinen Mund gehalten und es einfach getan? Immerhin saß er mit zwei Frauen im Esszimmer, die ungefähr so mitfühlend waren wie ein Stein. Obwohl zumindest Sarah bislang geschwiegen hatte.
„Du wirst dich erneut lächerlich machen und außerdem haben wir Wichtigeres zu tun. Chester Griffiths Schuldschein ist fällig.“
„Du hast einen Schuldschein von ihm?“
„Die Vertragsstrafe, schon vergessen? Ich habe die Summe mit Zins und Zinseszins in Form eines Schuldscheins ins rechte Licht gerückt. Fein säuberlich von ihm unterschrieben. Leider konnte er bis jetzt die Raten bezahlen, aber damit ist es vorbei. Die Frist ist verstrichen und er muss auf einen Schlag ein nettes Sümmchen begleichen.“
„Könnten wir bei Tisch Geschäftliches lassen?“, echauffierte sich Sarah. Ihr blondes Haar fiel in Wasserwellen auf die Schultern und war mit einem roten Samtband geschmückt. Die roten Lippen hoben sich fast aufdringlich vom blassen Teint ihres Gesichts ab. Ihre schmale Nase war lang, passte aber zu ihr. Große Augen, ein großer Mund mit einem schwarzen Muttermal darüber, lange Finger. Allerdings reichte ihm Sarah bis knapp unter die Schulter. Dafür hatten sie dieselbe Schuhgröße. „Übrigens, du solltest David ernst nehmen. Wenn ihm die Sache mit seinem Großvater wichtig ist, hilf ihm, Esther.“ Sarah betupfte ihre Mundwinkel mit der Serviette. Hatten sie sich etwa abgesprochen? Einen neuen Schlachtplan entwickelt, um ihn endlich zu einer Verlobung zu bewegen? Wurde aus böser Mutter, böser Sarah nun böse Mutter, nette Sarah? Wenn sie glaubten, dass er darauf hereinfiel, hatten sie sich geirrt. Nett und Sarah, das passte nicht zusammen.
Die Mutter stopfte sich einen Löffel Irish Stew in den Mund. Ihre zweite Portion, die sie mit Whiskey hinunterspülte. Die dunklen Augen waren glasig. Nicht lange, und sie würde zu lallen beginnen. Sofern sie nicht vorher vom Stuhl kippte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. „Du weißt ja“, erwiderte sie kauend und vergaß wie üblich im Suff ihre Manieren, auf die sie sonst größten Wert legte, „dass ich dir nichts abschlagen kann, Sarah. Wenn dir danach ist, David, ruf den Arzt und bedank dich gebührend bei deiner Zukünftigen.“
Sarah lächelte breit. Ein Kümmelkorn hing an ihrem Mundwinkel. Die Serviette hatte sie sorgfältig auf dem Schoß drapiert. Ständig strich sie glättend darüber. Auch ihr Ordnungssinn nervte.
„Wofür?“, fragte David. Sarah machte ein enttäuschtes Gesicht. „Dafür, dass sie die Rolle perfekt spielt, die du ihr zugedacht hast?“
„Das war nicht nett“, ereiferte sich Sarah und schürzte die Lippen. Wie unecht sie wirkte. Wie eine lebendig gewordene Porzellanpuppe.
„Die Wahrheit ist selten nett.“ David griff nach dem Glas Cidre und trank ein paar Schlucke. Dabei dachte er daran, wie Catherine seinen Scotch zweckentfremdet hatte. Wie sich das Gras unter seinen bloßen Füßen angefühlt hatte, als er mit ihr über Wild Swan gewandert war. Ihre Gegenwart. Die Begeisterung, als sie von ihrem Land erzählte. Im selben Moment kam ihm Marys Roman in den Sinn. Entschlossen verscheuchte er den Gedanken an Catherine und überlegte, was er mit dem angebrochenen Abend tun sollte. Morgen war Ostermontag, sein freier Tag. Ob er zum Public House fahren sollte? Das Etablissement in der Nähe von St. Stephen’s Green suchte er öfter auf. Meistens traf er dort Bekannte, Studienkollegen oder Geschäftspartner.
„Wie wäre es mit einem Spaziergang im Park? Wir haben Vollmond.“ Sarah nippte mit gespitzten Lippen am Wasserglas.
„Ich habe andere Pläne.“
„Die da wären?“
„Wir sind nicht verheiratet, Sarah. Selbst dann wäre ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig.“
„Was nicht ist, kann noch werden“, säuselte Sarah und stellte ihr Glas exakt über die benutzte Gabel ab, die sie zuvor im ebenso exakten Abstand zum Teller positioniert hatte.
David zerknüllte die Serviette und warf sie auf seinen halbleeren Teller. „Vergessen Sie es, Sarah. Aus uns wird nie etwas werden.“ Zum ersten Mal sprach er es offen aus. Er hatte die Nase gestrichen voll. „Weder in diesem noch im nächsten Leben.“ Seine Mutter und Sarah konnten ihn schlecht zum Altar schleifen.
„Hast du den Verstand verloren?“ Die Gabel der Mutter landete im Stew, das nach allen Seiten spritzte.
Sarah schob entsetzt ihren Stuhl zurück und besah sich ihr Kleid mit einer Miene, als habe sie jemand mit einer ansteckenden Krankheit berührt. Die Wand hinter ihr sah schlimmer aus, dennoch wischte sie unablässig mit der Serviette über den Stoff ihrer Robe. „Hast du eine Ahnung, wie teuer das Kleid war, Esther?“
„David schenkt sie dir massenhaft, sobald ihr verheiratet seid. Nicht war, Sohn?“
„Womit soll ich die Kleider denn bezahlen, Mutter? Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Und jetzt entschuldigt mich. Ich habe genug von eurer Gesellschaft.“ Wie gut es tat, dass beide um Worte rangen, um ihre Fassung.
Später feierte er seinen kleinen Sieg. Das Pub im Süden Dublins war gut besucht. Leider waren nur wenige Bekannte von ihm da. Lediglich zwei Kommilitonen traf er, mit denen er kaum etwas zu tun gehabt hatte. Die zwei irren Schotten, hatte man sie genannt. Zwielichtige Burschen. Der drahtige Richard mit der Stirnglatze war der Sohn eines Senators in Schottland, der gedrungene braungelockte Érem trug stets einen Silberkreol im Ohrläppchen. Er entstammte der Familie eines reichen Industriellen im Norden Irlands. Die beiden waren ziemliche Weiberhelden. Man hatte sie vor einiger Zeit sogar der Vergewaltigung bezichtigt, konnte ihnen jedoch nichts nachweisen. Ebenso wenig die zahlreichen Diebstähle und Betrügereien, die ihnen nachgesagt wurden. Da sie vom Geld und Einfluss ihrer Väter lebten, fühlten sie sich wohl verhältnismäßig sicher und versuchten sich mit zweifelhaften Geschäften die Zeit zu vertreiben.
Anfangs hatte David versucht zur Theke zu gelangen, um ihnen auszuweichen. Doch ein Durchkommen war unmöglich. Also hatte er sich zum Wandbord gestellt. Am Ecktisch saßen die Musiker und machten eine Pause. Auch die Tische im Séparée waren besetzt. Darum war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Richard und Érem zu ihm gesellten und ihn überschwänglich begrüßten, als seien sie die besten Freunde. Notgedrungen unterhielt er sich mit ihnen, gab Guinness weiter, oder trank es selbst. Wenn das Pub wie heute vor Besuchern aus allen Nähten platzte, reichte der Barmann Becher um Becher in die Menge, die ihn weitergab, bis ihn ein Durstiger behielt und das Geld auf demselben Weg zurückschickte. Zu fortgeschrittener Stunde kam es David so vor, als würden sich die Menschenmassen verdoppeln, sich das Pub drehen und die Schrift auf den Wandplakaten verzerren. Die Steinplatten auf dem Boden schienen plötzlich so uneben, dass er Mühe hatte das Gleichgewicht zu halten. Dann wurde ihm schlecht. Im selben Moment hörte er gellende Schreie, bevor Schüsse die Luft zerrissen.
Kapitel 4
Es war kurz vor Mitternacht. Catherine konnte nicht schlafen und saß im Esszimmer. Der einzig warme Raum im Haus, da Holz gespart werden musste. Heute war der 24. April, Ostermontag und das Land befand sich im Ausnahmezustand. Die Irish Citizen Army, die Volunteers, die IRB und andere hatten sich zusammengeschlossen, um für Irlands Unabhängigkeit zu kämpfen.
Am späten Nachmittag hatte sie der Vater darüber informiert, dass in Dublin der erste Stein ins Rollen gebracht worden war. Den Auftakt zur Rebellion hatte die Verlesung der Osterproklamation in der Sackville Street gebildet. Angesichts des Feiertages befanden sich große Menschenmengen um, und auf der Hauptstraße. Niemand ahnte, dass sich militante irische Gruppierungen unter die Umzüge gemischt hatten. Bewaffnet, und zum Kampf bereit.
Nach der Verlesung hatte die Irish Citizen Army mit ihren Verbündeten das Hauptpostamt eingenommen. Sie sollte als zentrale Kommandostelle für alle weiteren Operationen fungieren. Zugleich waren Gebäude nördlich und südlich der Liffey unter die Gewalt der Rebellen gebracht worden. Das Eisenbahnnetz war lahmgelegt und die Telefonleitungen gekappt worden. Das Gerichtsgebäude Four Courts, die Biscuit Factory nahe der Innenstadt, Boland’s Bäckerei und das South Dublin Union befanden sich ebenso unter ihrer Kontrolle wie die St. Stephen’s Green und Dublin City Hall. An der Spitze der Irish Citizen Army kämpfte Gerüchten zufolge eine Frau mit: Countess Constance Markiewicz! Die Volunteers agierten unter der Führung von IRB-Kommandanten und verteilten sich an anderen strategisch wichtigen Örtlichkeiten.
In Bezug auf die Irish Citizen Army hatte ihr Vater einige Namen genannt, unter anderem einen Hauptmann namens Michael Collins und dessen Cousin Rob. Da wusste sie, dass Robert an seiner Seite kämpfte und hatte kurz mit sich selbst gekämpft. Nein, sie wünschte ihm nicht den Tod, auch wenn sie ihn aus tiefstem Herzen verabscheute.
„Du bist noch wach?“
Catherine schreckte hoch und lächelte, als ihr Vater mit struppigen Haaren hereinkam und die Tür leise hinter sich schloss. Bevor er sich neben sie setzte, zog er das Band seines rostbraunen Morgenmantels enger. „Kannst du nicht schlafen, Kind?“
Sie schaute auf die Lampe am Tisch. Das Petroleum würde bald aufgebraucht sein. „Nicht wirklich. Noch sind die Kämpfe auf Dublin beschränkt. Aber was, wenn sie sich ausweiten? Wir sind nur wenige Kilometer entfernt.“
Er legte einen Arm um Catherine, deren Kopf an seine Schulter sank. „Ich hoffe, dass nicht jede Militärgruppe ein eigenes Süppchen kochen will. Immerhin sind sie sich nicht besonders grün, obwohl sie im Grunde dasselbe wollen. Leider auch im negativen Sinn. Jeder möchte die eigene Position stärken.“ Es grollte in der Ferne.
„Hörst du das?“, fragte Catherine und glaubte ein Beben zu spüren.
„Vermutlich britische Kanonenboote.“
„Erzähl mir von Granny“, bat sie hastig und zuckte zusammen, weil sich das Geräusch wiederholte. Es schien näher als zuvor.
„Jetzt?“
„Ja, ich habe Angst, Pa.“
Ihr Vater zog sie fester an sich. Wie warm er sich anfühlte. Sein Duft nach Holz und Moschus schenkte ihr Geborgenheit. „Nun ja, das meiste weißt du ja bereits. Sie war liebenswürdig, hilfsbereit, kämpferisch, loyal und die beste Mutter, die man haben kann. Tatty häkelte und nähte gern. Das weiße Kleid auf dem Bild hat sie selbst gemacht. Hannie scheint ihr Talent geerbt zu haben. Ansonsten liebte Mutter das Meer. Sie nannte es stets ihre Lunge, die Iris ihrer Augen und den Kuss der ersten großen Liebe. Mutter hasste die Enge der Gesellschaft, und die ihrer Schuhe.“ Er lachte leise in sich hinein. „Oft hat sie mitten auf dem Feld ein großes Lagerfeuer gemacht. Einige Leute aus der Stadt kamen manchmal zu uns hoch, weil es bis hinunter zu sehen war. Mit Fideln, Wein und Bier. Wir haben viele Feste gefeiert.“ Er seufzte sehnsüchtig. „Kein einziges werde ich vergessen. Mutter war so fröhlich, hat um das Feuer herumgetanzt und sich im Kreis gedreht. Über uns spannte sich das Sternenzelt, doch sie war der hellste Stern von allen. Besonders, wenn sie ihr Lieblingslied sang.“
„‚Molly Malone‘.“
„Ja, wie Molly hat sie gern Muscheln gesammelt. Seltsam, über Mutter zu reden, hat mich immer geschmerzt. Jetzt ist es anders. Es tut gut, an sie zu denken und ich finde es schade, dass du sie nicht kennenlernen durftest. Sie war ein wunderbarer Mensch und hat die Dinge genommen, wie sie kamen. Mit Ausnahme ihrer Krankheit. Ich habe geahnt, wie schwer sie damit gerungen hat, so plötzlich aus dem Leben gerissen zu werden, obwohl sie versuchte, sich nichts anmerken lassen. Bis zuletzt blieb sie ein fröhlicher Mensch. Hat gelacht, damit ich nicht weine. Aber nachts hörte ich ihr Schluchzen. Oft sehe ich sie vor mir, in ihrem weißen Spitzenkleid. Wie sie es hochhebt. Wie sie im Takt der Musik durch das Gras tanzt. Sie hat gelacht und ihr Lachen war einzigartig.“ Er küsste Catherine auf die Wange. „Nein, ich muss mich korrigieren. Du hast es, dieses Lachen. Dieses strahlende Lachen, das jeden ansteckt. Deine Granny hatte ihren ganz eigenen Zauber, gerade weil sie so war, wie sie war. Bewahre dir das wie einen kostbaren Schatz. Und wenn dir danach ist, Cat, zieh deine Schuhe aus und tanze barfuß über die Wiese. Atme tief ein, wenn du das Meer betrachtest. Wenn du Kinder hast, überhäufe sie nicht mit Geld oder Geschenken, sondern zeige ihnen deine Liebe mit einem Lied, einem Tanz, einer Umarmung. Und lach mit ihnen. Lach, auch wenn dir nicht danach zumute ist. Denn das, was du von deinen Kindern zurückbekommst, nenne ich den Sinn des Lebens.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unbeholfen tätschelte er ihre Schulter. „Du solltest schlafen gehen. Es ist spät.“
Widerwillig löste sie sich von ihm. „Was ist mit dir?“
„Ich halte Wache. Man weiß ja nie.“
Catherine ergriff seine Hand. „Darf ich dich um etwas bitten?“
„Selbstverständlich.“
„Tanz mit mir, Pa.“
Während der Boden bebte, Kanonen das Land erschütterten, stellte der Vater das alte Grammophon an. Dann tanzten sie zu ‚Molly Malone‘ und für einen kurzen Moment geriet alles in Vergessenheit, das sie beide bedrückte. Auf einmal waren sie nicht mehr im Esszimmer, sondern mitten auf der Wiese. Catherine glaubte, das Rauschen der Irischen See zu hören, das Sternenzelt über sich zu sehen und Granny, wie sie ihnen lächelnd zuschaute. Doch viel zu schnell wurde sie wieder in die Wirklichkeit katapultiert, weil das Gefecht tatsächlich näherzukommen schien. Ängstlich löste sich Catherine von ihrem Vater. Nie war ihr kälter gewesen. Nie war ihr die Gegenwart härter erschienen.
Das Lied war zu Ende.
„Versuch zu schlafen, Schatz.“
„Gute Nacht, Pa.“ Sie küsste ihn auf die stoppelige Wange.
„Treffen wir uns heute?“, fragte er lächelnd. „Mit deiner Großmutter?“ Sein Arm glitt von ihrer Schulter.
„Wie … wie meinst du das?“
„In unseren Träumen. Lass uns heute Nacht mit Großmutter tanzen, lachen und fröhlich sein“, flüsterte er. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, die er mit dem Daumen fortwischte. „Als ich ein Kind war, hat sich Mutter immer beim Zubettgehen zu mir gesetzt. Dann haben wir uns ausgemalt, was wir in unsere Träume mitnehmen würden. Am nächsten Tag haben wir uns gegenseitig erzählt, was wir gemeinsam im Traum erlebt hatten. Erfundene Geschichten, trotzdem hat der eine so getan, als wüsste er, worüber der andere sprach. Über die Jahre hinweg habe ich das völlig vergessen. Dabei ist es ein tröstlicher Gedanke, dass ich sie zumindest im Traum wiedersehen kann, wann immer ich will.“
Trotz des anhaltenden Kampfeslärms schlief Catherine in dieser Nacht tief und fest. Sie hatte keine Ahnung, ob sie tatsächlich mit ihrem Vater und Granny über die Felder getanzt war, aber ein Gefühl sagte ihr, dass es genauso gewesen sein musste.
Am späten Vormittag des nächsten Tages schlurfte die Mutter die Treppe herunter. Ohne jemanden wahrzunehmen, holte sie sich in der Küche einen halben Brotlaib und verschanzte sich erneut in ihrem Zimmer. Georgie war in der Stadt gewesen und berichtete ihnen, dass tatsächlich Kanonenboote vor Anker lagen. Allerdings zwei britische, die sich irrtümlich gegenseitig unter Beschuss genommen hatten. Überall wurde gemunkelt, dass die Engländer bisher unwissend seien, wie groß die Zahl der irischen Gegner war und deswegen vier Divisionen nach Irland gesandt hatten. Mit dem Befehl keine Zeit mit Diskussionen zu verschwenden, sondern die Gegner ausnahmslos zu eliminieren.
In der Zwischenzeit war die Funkverbindung der aufständischen Iren zusammengebrochen, die mit tausendzweihundert Mann einem viertausendfünfhundert Mann starken britischen Heer gegenüberstanden. Außerdem mussten sie sich gegen die Hüter des Friedens von Irland – die Polizeimacht Garda Síochána na hÉireann – zur Wehr setzen, die ihrerseits mit tausend Mann gegen die irischen Rebellen vorgingen.
Die Briten begannen damit, die Aufständischen zu isolieren und hatten es besonders auf das Hauptpostamt abgesehen. Zugleich nutzten Plünderer ihre Chance und taten das Ihre, um einen Vorteil aus den feindlichen Auseinandersetzungen zu ziehen. Gegen Abend hörte man, dass es erste Dispute zwischen den irischen Gruppen gegeben haben sollte. Die Befürchtung ihres Vaters schien einzutreten.
Und dann erreichten britische Schiffe Kingstown.
„Das hättet ihr sehen sollen“, hatte Georgie voller Wut gesagt, als er Stunden später vom Hafen zurückgekehrt war. „Dieser Brite hat drei Zeitungsschreiber abknallen lassen, als wären sie Hunde. Er hat allen Ernstes behauptet, sie seien auf der Flucht gewesen. Dabei wollten sie nur vor Ort recherchieren. Leute, ich glaube das wird ausarten. Die Engländer werden uns ausräuchern.“ Niemand wollte von England abhängig sein. Sie waren ein selbstständiges Volk mit eigenen Regeln, einer eigenen Geschichte und anderen Vorstellungen darüber, wie die Dinge zu sein hatten. Nur, weshalb konnten Männer solche Meinungsverschiedenheiten nicht wie Frauen regeln? Darüber reden, darüber streiten, aber letztendlich alles ohne Blutvergießen. „Übrigens sollen die Volunteers auch Stellung im Haus der Mitchels bezogen haben.“
Trotz der ernsten Lage verspürte Catherine Schadenfreude, obwohl sie eher Esther Mitchel galt als David. Einmal in ihrem Leben sollte diese Hexe am eigenen Leib spüren, wie es war, Angst zu haben. Machtlos zu sein, sich nicht wehren zu können.
Auch der Mittwoch ließ auf kein vorzeitiges Ende der Rebellion hoffen. Die Briten verschärften ihre Bemühungen und bombardierten die Liberty Hall, unter anderem Sitz der Gewerkschaft. Das Kanonenboot zerstörte aber nicht nur die Hall, sondern tötete viele Menschen in den benachbarten Häusern. In der Hall selbst kam niemand zu Tode. Die Rebellen waren den Engländern einen Schritt vorausgewesen und hatten sie vorher räumen lassen. Doch zählte das angesichts dessen, was sich fortwährend ereignete? In vielen Teilen Dublins brannte es. Die Versorgung brach zusammen, es gab keinen Nahrungsnachschub und die Engländer unterschieden immer weniger, wer ihnen vor die Mündung lief. Sie schossen einfach und töteten viele Zivilisten. Auch der Strom britischer Truppen riss nicht ab. Von Kingstown aus marschierten sie nach Dublin.
Am nächsten Tag traf ein ranghoher britischer Offizier ein. Mit Befehl von Premierminister Asquith, die Rebellion umgehend zu beenden. Doch das unerfahrene Heer der Engländer – deren ausgebildete Truppen im Weltkrieg kämpften – schoss immer wilder um sich. Auch deshalb, weil die Rebellen größtenteils in Zivilkleidung auftraten. Dann begannen die Bombenangriffe auf das Hauptpostamt, Boland’s Bäckerei und andere Quartiere der Rebellen. In den Straßen Dublins gab es eine Schießerei nach der anderen und mittlerweile waren die Brände in der Stadt flächendeckend geworden, weil die Wasserversorgung unterbrochen war. Ein Kampf, der immer aussichtsloser wurde. Catherine fragte sich, weshalb die irischen Aufständischen nicht kapitulierten. Ihr Unterfangen glich einem Himmelfahrtskommando. Auf Dauer würden sie der Überzahl an englischen Truppen nicht standhalten können.
„Ihr packt das Nötigste zusammen und versteckt euch im Wald“, befahl der Vater am Nachmittag und reinigte ein Gewehr. Catherine hatte keine Ahnung gehabt, dass er eines besaß. „Georgie bleibt bei mir. Wir verschanzen uns in der Werkstatt.“
„Ist das nötig, Pa?“, erkundigte sich Emma und putzte mit einem Zahnstocher ihre Fingernägel am Tisch. „Ich habe keine Lust im Schnee zu schlafen. Da hole ich mir ja den Tod. Außerdem könnte meine Stimme darunter leiden.“
„Möchtest du lieber vergewaltigt werden?“ Wütend funkelte Georgie sie an. „Ach, mach doch was du willst. Meinetwegen erstick an deiner Arroganz.“
„Hört auf, Kinder.“ Der Vater hob das Gewehr an und zielte auf das Fenster. „Ich hoffe, das alte Ding taugt noch.“
„Probier es aus, dann weißt du es.“ Emma zog sich die dicke grüne Wolljacke über. Gelassen drapierte sie sich das Haar über die rechte Schulter. Wie ein Schleier fiel es herab.
„Ich habe kaum Munition. Jeder vergeudete Schuss könnte uns im richtigen Moment die Möglichkeit nehmen, uns zu verteidigen.“
„Gegen wen?“ Sicherlich, es war Emmas Jugend geschuldet, dass sie diese Frage stellte. Trotzdem, sie war stets dabei gewesen wenn sie über die Rebellion gesprochen hatten. Aber wie immer schien sie nicht zugehört zu haben, weil sie zu sehr auf sich selbst fixiert war.
„Plünderer und Briten.“ Die Geduld des Vaters schien unerschöpflich. „So, und jetzt tut, was ich sage. Je eher ihr fort seid, desto besser.“
„Bitte kommt mit, Pa“, bettelte Catherine. „Ihr seid nur zu zweit. Was könntet ihr im Notfall ausrichten?“
„Ich lasse nicht zu, dass man unser Cottage plündert oder dem Erdboden gleichmacht.“
„Es gehört uns ohnehin nicht mehr“, hielt ihm Catherine beinahe wütend vor Augen. Sie verabscheute sich dafür, doch noch mehr hasste sie den Gedanken, dass er und ihr Bruder in Gefahr waren. „Noch dazu riskierst du nicht nur dein Leben.“
„Georgie steht es frei mit euch zu gehen.“
„Ich bleibe bei dir, Vater.“ Als wolle Georgie seine Aussage unterstreichen, stellte er sich neben ihn. Nie zuvor war ihr aufgefallen, wie ähnlich sie sich waren.
