
Maggie Yellow Cloud
von
Brita Rose-Billert
Seiten: (ca.) 196
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 30.8.2016
ISBN: eBook 9783956072666
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Die junge Lakota-Ärztin Maggie Yellow Cloud ist schockiert über den Mord an ihrem Schwager. Während die Stammespolizei im Dunkeln tappt, leidet die Familie unter dem Verlust. Maggie stürzt sich in ihre Arbeit in der Notambulanz des Indian Hospitals in Pine Ridge und versucht so, mit dem Mord fertig zu werden. Als ihr auffällt, dass immer weniger Medikamente und Verbandsstoffe zur Verfügung stehen, geht sie dem rätselhaften Verschwinden nach. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Mord an ihrem Schwager? Sie ermittelt auf eigene Faust und gerät dabei selbst in tödliche Gefahr…
Ein spannender „Ethnothriller“ in einer völlig fremden Welt…mit einer kraftvollen Frau!
Details
- Titel
- Maggie Yellow Cloud
- Untertitel
- Mord auf Pine Ridge
- Autor
- Brita Rose-Billert
- Seiten
- 196
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Preis (eBook)
- 4,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956072666
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Maggie Yellow Cloud – Mord auf Pine Ridge, Brita Rose-Billert
Copyright der E-Book-Neuausgabe © 2016 bei hey! publishing, München
Originalausgabe © 2011 bei Traumfänger Verlag, Hohenthann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat: Ilona Rehfeldt
E-Book-Herstellung: readbox, Dortmund
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-266-6
Taku okiyake wacin – Ich möchte dir etwas erzählen
Cantemasice – Mein Herz ist schwer
Cante etan tawoyukcan kin u – Mit dem Herzen denken
Igmu gleschka kin – Gefleckte Katze
If you ever heard the voices of Indian Nations,
if you ever heard their songs,
if you ever saw, how they are dancing,
you will never forget it.
But if you felt it, it will be in your heart
for ever and always.
Wenn du jemals die Stimmen des indianischen Volkes hörtest,
wenn du jemals ihre Lieder hörtest,
wenn du sie jemals tanzen gesehen hast,
wirst du es niemals vergessen.
Aber wenn du es gefühlt hast, wird es in deinem Herzen sein, für immer und überall.
Taku ociyaka wacin – Ich möchte dir etwas erzählen
Die zwanghafte Ernährungsumstellung zu Beginn der Reservationszeit kostete unzähligen Ureinwohnern Gesundheit und Leben. Ihrer ursprünglich sehr gesunden Lebensweise war mit dem Verlust ihrer Freiheit und der Ausrottung der Büffelherden ein Ende gesetzt. Die damit verbundene Armut zwang sie zu einem entbehrungsreichen Überlebenskampf mit zucker- und fettreicher Nahrung, um überhaupt satt zu werden.
Noch bis vor wenigen Jahren gab es nicht genügend Lakota Ärzte bzw. Ä rztinnen, da sich viele das Studium überhaupt nicht leisten konnten. Diejenigen, die studieren konnten und wollten, wählten oft lieber das Jurastudium, weil sie es für wichtiger hielten. So hatten zum Teil Ärzte mit undurchsichtiger Vergangenheit oder junge Assistenzärzte ohne Berufserfahrung Zutritt in die Reservationen. Diese durften für ca. zwei Jahre zwangsverpflichtet werden. Eine menschliche Bindung zu ihren Patienten blieb dabei völlig auf der Strecke.
Die Regierung war und ist aufgrund eines alten Vertrages zur kostenfreien Gesundheitsversorgung der Ureinwohner verpflichtet, sozusagen als Entschädigung für ihren Landraub. Doch von der Qualität dieser war nie die Rede.
So kämpfen bis heute viele Uramerikaner mit den simpelsten Zivilisationskrankheiten, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Leberzirrhose, Übergewicht aufgrund der billigen Fehlernährung, Suchterkrankungen und noch immer einer überdurchschnittlich hohen Rate an Säuglingssterblichkeit.
Heute ist, dank des unermüdlichen Kampfes der Reservatsbewohner, das Indian Hospital im Ort Pine Ridge ein durchaus modernes, mehrstöckiges Krankenhaus, in dem die Patienten fachgerecht versorgt werden. Ein neuer Flügel zur Erweiterung des Hospitales wurde erst im letzten Jahr eröffnet.
Sie sind Lehrer, Ärzte, Anwälte.
Sie sind Rodeoreiter, Büffelzüchter, Farmer.
Sie sind arbeitslos, krank, resigniert.
Sie haben Ängste, Hoffnungen und Träume.
Sie sind etwas Besonderes:
Menschen, wie du und ich!
Ihnen widme ich dieses Buch.
Die Sonne stand fast im Zenit über der Staubpiste, die schnurgerade durch das hügelige Grasland führte, so weit das Auge reichte. Ein Windhauch streifte sanft die Gräser. Unheimliche Stille beherrschte das Land. Ein schwarzer Punkt am Horizont, da wo der Himmel die Erde berührte, kam schnell näher. Er zog eine immense Staubwolke hinter sich her. Der Punkt nahm die Gestalt eines Wagens an, der mit Höchstgeschwindigkeit heranpreschte. In dessen Staubwolke tauchte schemenhaft ein zweiter Wagen auf. Es schien, als würden sie sich ein Rennen liefern.
Der junge Mann im vorderen Wagen fuhr sich mit dem linken Arm über die Stirn und wischte sich die lange, widerspenstige Haarsträhne weg, die ihm immer wieder über das Gesicht fiel. Sein Blick wechselte ständig zwischen der Straße und seinem Verfolger. Er konnte nicht genau einschätzen, wie dicht der fremde Wagen bereits hinter ihm war. In der Staubwolke, die sein Pontiac verursachte, war der nur schwer zu erkennen. Sein Fuß hatte das Gaspedal voll durchgetreten, aber mehr gab der alte Pontiac nicht her.
Dieser Wagen, den er im Rückspiegel sah, war wie aus dem Nichts aufgetaucht und verfolgte ihn, ohne daraus einen Hehl zu machen. Mit einem dumpfen Schlag rammte der Verfolger das Heck des Pontiac. Der angstvolle Blick des Mannes, der Henry Yellow Cloud hieß, richtete sich nach hinten. Er kannte den Verfolger nicht, wusste nicht, weshalb der es auf ihn abgesehen hatte. Dann sah Henry wieder nach vorn auf die unbefestigte Straße. Wieder war ihm die Haarsträhne über sein Gesicht gefallen. Wieder wischte er sie weg und sah in den Rückspiegel.
Der Verfolger war schneller als er und rammte den Pontiac am hinteren Kotflügel. Der Pontiac kam aus der Spur und geriet ins Schleudern. Mit festem Griff am Lenkrad steuerte Henry dagegen und brachte den Wagen wieder in die Spur. Kalte Angst kroch in ihm hoch, schnürte ihm die Kehle zu, trieb ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn. Sein Herz trommelte. Das Blut schoss durch die Halsschlagadern bis in den Schädel. Warum? Wieso? Er hatte niemandem etwas getan. Aufgeben wollte Henry Yellow Cloud nicht. Aber er wusste, wenn der Motor des alten Pontiac aufgab, würde er sterben. Das weite Grasland bot ihm kaum eine Chance auf Deckung. Als der fremde Wagen erneut Anlauf nahm, ihn von der Straße zu drängen, riss Henry das Lenkrad herum und fuhr in die Prärie. Der Wagen hinterließ eine schwarze, schmierige Spur. Der Verfolger ließ sich nicht abschütteln. Der Motor des Pontiac drohte auszugehen und kämpfte sich schließlich mit röchelnden Geräuschen weiter vorwärts.
„Wenn ich wenigstens eine Waffe bei mir hätte!”
Die Gedanken schossen wirr durch Henrys Kopf und die Angst, die ihn begleitete, wuchs zur Panik, als der Motor seinen Geist ganz aufgab. Der alte Pontiac wurde langsamer und rollte aus. Henry Yellow Cloud, der Lakota, riss noch währenddessen die Fahrertür auf und sprang heraus. Er stolperte und fing sich wieder, rannte um sein Leben. Seine Hoffnung war der Graben, ein Riss in der Erde, nur ein paar Meter vor ihm.
Als Henry Yellow Cloud absprang, spürte er plötzlich brennende Schmerzen in seinem Rücken. Er stolperte, überschlug sich und rutschte ein Stück den Hang hinab in den Graben. Dann blieb sein Körper reglos liegen. Die widerspenstige Haarsträhne fiel über sein Gesicht. Ein sanfter Windhauch spielte mit ihr und trieb den Staub über ihn. Seine Augen waren gebrochen.
Cantemasice - Mein Herz ist schwer
Kath Yellow Cloud lag im Indian Hospital, im Behandlungszimmer der Notaufnahme, im Ort Pine Ridge. Die Betten waren alle belegt und die junge, diensthabende Ärztin hatte in dieser Nacht alle Hände voll zu tun. Kath lag noch immer auf der Transportliege. Das schwache Licht von nebenan schien durch die halb offene Tür auf ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Die Platzwunde an der linken Augenbraue war frisch geklammert, das Gesicht von Prellungen geschwollen und blau unterlaufen. Die Unterlippe war in der Mitte eingerissen. Nicht weiter schlimm. Kath hatte ihr Leben lang gelernt, Schmerzen zu ertragen und sie hatte nie gejammert. Aber die Schmerzen in ihrem Herzen taten verdammt weh und quälten sie. Es schien, als schliefe sie, doch aus ihren Augenwinkeln rannen leise, wie ein winziger Bach, heiße Tränen. Kath öffnete die Lider einen Spalt, als jemand sie sanft an der Schulter berührte.
Mary Night Killer, Schwester Mary, die stämmig gebaute Lakotafrau mit dem runden Gesicht, arbeitete schon seit mehr als dreißig Jahren in diesem Hospital. Sie verstand die Menschen hier auch ohne Worte. Mary wusste genau, was in ihrer Freundin Kath vor sich ging. Mary lächelte Kath zuversichtlich an. Kath lächelte schwach zurück.
„Wie geht es dir, Kath?”
„Es tut weh”, antwortete sie leise.
Mary nickte. „Er hätte dich fast tot geprügelt.”
Kath schwieg. Sie wollte nicht darüber reden. Mary Night Killer wusste, dass die Frauen, die von ihren betrunkenen Männern verprügelt worden waren, nicht darüber sprechen wollten. Nicht einmal Kath, die ihre Freundin war und das schon seit fast fünfzig Jahren.
„Möchtest du etwas trinken, Kath?”
„Ja”, antwortete sie leise.
Mary ging.
Kath schloss die Augen wieder. Sie weinte nicht mehr.
Die junge Ärztin war zum Umfallen müde. Es war drei Uhr morgens und endlich war Ruhe eingekehrt. Ihre Augen brannten. Die Luft hier drin erschien ihr stickig und viel zu warm. Sie entschied sich, vor die Tür zu gehen. Die Nachtluft würde guttun. Alles war besser als die Luft hier drin. Langsam ging sie, an der Wand entlang, durch den Flur.
„Müde, Maggie?”, fragte eine leise Stimme.
„Ich schlafe schon, Mary. Weck mich bitte nicht auf.”
Die Angesprochene lächelte schwach. „Ich gehe nur einen Augenblick vor die Tür. Bin gleich zurück.”
Schwester Mary nickte. „Kath ist wach. Ich gebe ihr etwas zu trinken.”
„Wie geht es ihr?”
„Sie ist sehr tapfer.”
„Ich sehe gleich nach ihr.”
Die junge Ärztin, die Schwester Mary mit Maggie angesprochen hatte, trat zur Tür hinaus. Die Nachtluft war mild und erweckte ihre müden Sinne. Die Bluejeans gehörte zu ihrer ganz persönlichen Dienstkleidung und die karierte Bluse dazu ließ sie allenfalls als Rancherfrau durchgehen. Den weißen Kittel hatte sie im Behandlungszimmer hängen lassen. Ihr langes, schwarzes Haar lag im locker geflochtenen Zopf über ihrem Rücken. Sie sah zum sternenklaren Himmel hinauf und schien einen Augenblick zu träumen, bevor sie umkehrte. Lautlos ging sie direkt zu Kath.
„Kath?”, fragte Maggie leise.
Sie wusste, dass Kath nicht schlafen konnte, auch wenn es so aussah. Sie konnte ja selbst kaum Ruhe finden. Maggie liebte den Sohn von Kath, Robert Yellow Cloud. Er war Maggies Mann. Aber er liebte seinen Job in Montana. Maggie verdrängte ihren Schmerz darüber und legte all ihre Liebe in ihre Arbeit. Die Menschen hier in der Reservation brauchten sie, hatte Maggie trotzig gesagt, als ihr Mann sie mit nach Montana nehmen wollte. Maggie Yellow Cloud lebte, wenn sie nicht im Hospital oder bei Mary Night Killer blieb, bei Kath Yellow Cloud, ihrer Schwiegermutter, die sie wie ihre eigene Tochter liebte. In dem Haus der Familie Yellow Cloud lebte auch Kaths Mann, Maggies Schwiegervater Harry, der dem Alkohol zugetan war und die Wut über den Mord an seinem Sohn Henry blind an seiner Frau ausgelassen hatte. Und dann gab es noch den alten Ian Yellow Cloud, den alle Großvater nannten. Ihm gehörte das gelbe Haus.
Henry Yellow Cloud, Maggies Schwager, hatte man gestern Nachmittag mit drei Kugeln im Rücken gefunden. Er hinterließ nun zwei Waisenkinder, die noch zur Schule gingen.
Kath öffnete die Augen. Maggie lächelte.
„Maggie. Schön, dass du da bist. Wie geht es dir?”
„Das sollte ich dich fragen. Mir geht es gut. Ich bin nur müde.”
„Mach dir keine Sorgen um mich.”
Maggie atmete tief durch. „Ich bin immer für dich da, Kath. Mir tut es auch weh.”
„Er kann nichts dafür.”
„Ich weiß. Die Kinder haben es auch schwer. Wie geht es Großvater Ian?”
„Er hofft auf eine gute Vision. Er hofft auf den Tag, an dem alles gut wird. Die Hoffnung hält uns am Leben.” Kath lächelte. „Ich will wieder nach Hause.”
„Heute bleibst du noch bei mir. Ich möchte dich mindestens einen ganzen Tag beobachten, damit ich ein Schädel-Hirn-Trauma ausschließen kann. Dann sehen wir weiter. Versuch ein wenig zu schlafen.”
Kath nickte schwach und schloss die Augen.
Heiß war es, wie am Tag zuvor, und still ringsum. Ein schwacher Wind strich über das Land und wiegte sanft das trockene Gras. Vereinzelte Baumgruppen spendeten Schatten. Einige Häuser hatte die Wohlfahrt schon vor Jahren hier aufstellen lassen, die sich in den kaum zu erkennenden Farben noch unterschieden, aber nicht in ihrem Baustil. Unwillkürlich, wie eine handvoll ausgeworfener Samenkörner, hatte man sie aufgestellt. Sie waren weder hitzetauglich, noch für die Kälte im Winter gewappnet, ganz zu schweigen von der Sturmtauglichkeit. Als vor einigen Jahren ein Wirbelsturm durch dieses Gebiet brauste, hatte er das wenige Hab und Gut mit sich fortgerissen. Vor einem gelben Haus mit kleiner Veranda und drei Stufen zwischen dem Boden und der Tür, saß ein Jugendlicher. Einen Fuß im Staub, den anderen auf der Stufe, hatte er sich über seine Gitarre gebeugt. Die Turnschuhe waren ausgetreten und seine Jeans begann sich an den Nähten zu lösen. Unten, an den Hosenbeinen, gab es keinen Saum mehr. Seine Haare hatte er locker auf dem Rücken zusammengebunden. Eine Haarsträhne war ihm herausgerutscht und hing seitlich vor seinem Gesicht. Es schien ihn nicht zu stören. Überhaupt schien er sich an nichts zu stören. Wie in seiner eigenen Welt, weit weg von hier, war er in sein Gitarrenspiel vertieft. Er zupfte sanft an den Saiten, sodass ein Hauch Wehmut darin lag. Lange tat er das, schon seit Stunden und lange hatte er kein Wort mehr geredet. Dann schlug er die Saiten kräftiger und wechselte rasch die Akkorde. Es klang wie ein Protest, wie Wut und Anklage. Sein Blick starrte dabei ausdruckslos und leer auf seine Finger. Der Jugendliche schreckte zusammen, als ihn jemand kräftig an der Schulter packte. Ein letzter lauter Klang der Gitarre, dann hielt er inne. Langsam hob er seinen Blick zu dem alten Mann mit den grauen Zöpfen. Tunkasila, Großvater Ian Yellow Cloud, richtete sich auf und setzte sich langsam neben seinen Urenkel. Lange schwieg er, bevor er langsam sprach: „Micante masicelo.”
Der Junge rührte sich nicht.
„Ray, ich weiß, dass du fast ein Mann bist. Du bist stark und dein junges Herz ist genauso schwer wie mein altes.”
Der Junge, der gerade seinen dreizehnten Sommer erlebte, schwieg.
Nach einer Weile sprach Großvater weiter: „Ich habe mit dem Bruder deines Vaters gesprochen. Er wird uns helfen.”
Ray nickte. Da er wieder nicht antwortete, sagte Ian Yellow Cloud schließlich: „Spiel etwas auf deiner Gitarre für mich. Ich höre zu.” Großvater lächelte ein wenig und lauschte. Ray spielte mit flinken Fingern, Töne die klangen wie plätscherndes Wasser. Dann setzte Ian, der der Großvater von Rays Vater war, leise mit seinem Gesang ein. Die Töne verflossen in Harmonie miteinander. Die Leidenschaft, mit der der Junge spielte, berührte das Herz des alten Mannes und ließ seine Stimme kräftiger werden. Dann setzte auch Ray mit seiner Stimme ein. Als das Lied ausklang, lächelte Ray den Großvater an. Das erste Mal, seitdem sie Henry Yellow Cloud, seinen Vater, mit drei Kugeln im Rücken gefunden hatten. Ian lächelte zurück.
„Ich will wissen, warum er. Ich will wissen, wer”, sagte Ray leise mit erschreckend ruhigem Tonfall, der seiner Selbstbeherrschung alles abverlangte.
„Ich will in seine Augen sehen.”
Großvater Ian richtete den Blick auf seinen Urenkel. „Wenn die Zeit gekommen ist, Ray. Wenn sich unser Blick nicht mehr trübt, um das zu sehen, was wirklich gewesen ist.”
„Dann wünschte ich, mein Blick würde ihn töten.”
Ian atmete hörbar ein und aus. Aus seinem braunen Gesicht, in das sich sechsundsiebzig Jahre lang sowohl Sorgenfalten als auch Lachfalten gegraben hatten, blinzelten zwei zuversichtliche Augen. Er holte eine kleine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen.
„Morgen gehen wir wieder zur Schule. Ist besser so. Es ändert nichts, aber alles wird anders sein als vorher.”
„Eine weise Entscheidung, Ray.”
Der alte Mann entzündete seine Pfeife. Lange zog er daran und schwieg. Auch Ray hüllte sich in Schweigen.
Auf der Straße näherte sich ein Wagen. Eine Staubwolke nach sich ziehend bog er ab und kam direkt auf die beiden zu. Der Polizeijeep stoppte. Ein großer, kräftiger Mann in Uniform und mit Igelfrisur, stieg aus und spielte mit dem Schlüssel in der Hand.
„Hallo!”, grüßte er mit kräftiger Stimme.
„Hallo, Richard. Gibt es was Neues?”, fragte Ian.
„Leider nicht. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Das FBI - Wichtigtuerei - untersucht alles noch einmal. Sie sind ab sofort zuständig. Ich muss mit Harry reden. Ist er da?”
Ian nickte. „Er liegt drinnen und schläft seinen Rausch aus.”
Richard Sounding Side verzog die Mundwinkel und schüttelte missbilligend den Kopf. „Wenn er so weitermacht, werde ich ihn mitnehmen müssen.”
Ian schwieg. Ray sah demonstrativ in die andere Richtung.
„Der Körper deines Enkelsohnes ist freigegeben”, sagte Richard schließlich und verabschiedete sich. Ian Yellow Clouds Blick folgte dem Jeep bis die Staubwolke verschwand.
Kath wartete geduldig. Seit Stunden saß sie im Wartebereich vor der Notaufnahme. Die dreiundfünfzigjährige Lakotafrau wirkte müde und ihr Haar schien über Nacht noch einen Hauch grauer geworden zu sein. Sie hatte es, als Zeichen ihrer Trauer, kurz geschnitten. Da sie seit dem Tod ihres Sohnes nichts mehr gegessen hatte, schien es so, als sei sie noch mehr abgemagert, als ihre ohnehin zierliche Gestalt verkraften konnte. Kath Yellow Clouds Blick ruhte auf dem Taschentuch, das sie in ihren Händen hielt. Sachen, die sie hätte packen müssen, hatte sie nicht bei sich. Maggie, ihre Schwiegertochter, die ihre Platzwunde versorgt hatte, war zufrieden und hatte ihr erlaubt, nach Hause zu gehen. Es war Abend geworden. Jemand würde sie abholen. Kath wusste das, auch wenn sie kein Auto mehr hatten. Schwester Mary kam ständig an ihrem Stuhl vorüber und lächelte jedes Mal freundlich. Auch Kath lächelte.
Die untergehende Sonne begann bereits die Wolken am Horizont zu färben, als ein Dodge Pickup Truck direkt vor dem Eingang des Hospitals stoppte. Der junge Mann, der mit einem Satz heraussprang, ging direkt zur Tür der Notaufnahme hinein und lächelte sofort, als er Kath erblickte. Er trug Jeans und ein olivfarbenes Rangerhemd. Im Gegensatz zu seinen harten Gesichtszügen wirkten seine dunklen Augen sanftmütig. Das Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Obwohl man ihm berichtet hatte, was geschehen war, erschrak er tief im Inneren. Er ging direkt auf Kath zu.
„Es ist spät geworden, Mutter, aber ich bin da. Wie geht es dir?”
„Besser als du vielleicht denkst, Robert.”
Robert lächelte ein wenig, presste die Lippen aufeinander und nickte langsam. „Ist Maggie hier?”
„Ja. Du sollst mit ihr reden, bevor wir fahren.”
Robert nickte. Das wollte er. Langsam ging er den Gang weiter bis zum Behandlungszimmer. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Er schob sich hindurch und blieb stehen. Auf der Behandlungsliege lag ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre und krümmte sich unter den offensichtlichen Bauchschmerzen. Maggie sprach beruhigend auf ihn und seine Mutter ein, während sie ihm eine feine Nadel in die Vene schob. Das Medikament zeigte innerhalb kürzester Zeit seine Wirkung. Der Kleine hielt sich tapfer. Maggie strich zärtlich über sein Haar und lächelte.
„Es wird wieder gut. Aber diese Nacht bleibst du hier, mit deiner Mom.”
„Okay”, antwortete der Kleine.
Maggie räumte die benutzten Utensilien weg. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die reglose Gestalt des Mannes an der Tür wahrnahm. Unbeachtet dessen ging sie zum Mülleimer und wusch sich dann die Hände. Schwester Mary kam herein und nahm die Mutter und den Jungen mit sich. Robert betrachtete Maggie aufmerksam, als sie endlich allein waren.
„Guten Abend”, grüßte er schließlich.
„Guten Abend”, erwiderte sie. „Du willst sicher Kath abholen.”
„Ja.”
„Gut, dass du gleich gekommen bist.” Nun lächelte Maggie doch.
„Willst du einen Kaffee?”
„Ja.”
Robert löste sich vom Türrahmen und ging auf Maggie zu, nahm sie in die Arme und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Sie ließ es zu und wandte sich dann zur Kaffeemaschine um.
„Hast du etwas Näheres erfahren, von dem, was sich zugetragen hat?”, fragte er.
„Jemand hat versucht, deinen Bruder von der Straße zu drängen und es ist ihm gelungen. Der Wagen ist am Heck und an der Fahrerseite mit dem anderen kollidiert. Er stand abseits der Straße. Ein Schulbusfahrer hat deinen Bruder mit drei Einschüssen im Rücken gefunden. Sounding Side von der Stammespolizei ist sofort hinausgefahren.”
Maggie spürte die Enge im Hals, die sie am Sprechen hinderte.
Sie goss den Kaffee ein.
„Ich habe ihm meinen Wagen gegeben, weil er ihn brauchte”, brachte sie mühsam hervor, während sie Robert die Kaffeetasse hinhielt. Er nahm sie und schien nachzudenken.
„Wenn er oder sie den Wagen verfolgt haben, Maggie, dann …”
Maggie schwieg, während Robert eine Pause machte.
„Dann werde ich auf dich aufpassen müssen”, sprach er ernst.
„Ich kann auf mich allein aufpassen. Das habe ich immer müssen”, sagte sie leise und vermied es, ihn dabei anzusehen.
„Du weißt, dass es sein muss”, entgegnete er.
Sie setzte vorsichtig die Kaffeetasse an und trank einen Schluck.
„Aber es ist schwer”, sagte Maggie leise.
„Wir müssen die Dinge so akzeptieren wie sie sind.”
„Nein, Robert! Man muss die Dinge ändern, weil sie nicht zu akzeptieren sind!”
„Du bist mit nichts zufrieden. Nicht mit deiner Arbeit, nicht mit mir und nicht mit dir selbst.” Robert verzog missmutig die Mundwinkel.
„Wir haben zu wenig Zeit zusammen und in der Zeit, die wir haben, reden wir nur noch über Organisatorisches miteinander. Wenn ich nachts neben dir liege, wünsche ich mir, dass es wieder so wäre wie zu der Zeit, als wir uns kennengelernt haben. Du hattest die tollsten Einfälle und du hast mich zum Lachen gebracht.”
Noch immer sah Maggie Yellow Cloud ihren Mann nicht direkt an. Er stellte die Kaffeetasse neben der Maschine ab und sagte kühl: „Dann sind wir ja einer Meinung, Maggie. Nur diese Nacht wirst du nicht neben mir liegen.”
Er wandte sich um und ging zur Tür hinaus. Maggie starrte in ihre Kaffeetasse und drängte die aufsteigenden Tränen zurück.
Es war bereits dunkel geworden, als Robert Yellow Cloud mit Kath nach Hause fuhr. Der Lichtschimmer des zunehmenden Mondes beleuchtete schwach das Land. Meilenweit führte die asphaltierte Straße geradeaus, bevor der Truck die Interstate 18 zum Shannon County verließ. Robert kämpfte gegen die Müdigkeit. Er hatte das Radio ein wenig lauter gestellt und die Seitenfenster ein Stück geöffnet.
Kath war wach, aber sie schwieg. Ihr war nicht entgangen, dass er mit Maggie gestritten hatte. Seit nunmehr vier Jahren hatten sich ihre Wege getrennt. Er wollte seinen Job als Hubschrauberpilot und Ranger bei der Rocky Mountain Bergwacht nicht aufgeben. Maggie hingegen war Ärztin für ihr Volk und gehörte in die Pine Ridge Reservation, hatte sie gesagt. So trennten hunderte von Meilen ihre Ehe, ihr Leben und ihre Liebe. In der kurzen Zeit die füreinander blieb, schienen sie sich immer mehr voneinander zu entfernen. Auch das tat Kath im Herzen weh und sie hatte nie darüber geredet. Sie liebte Maggie wie ihre eigene Tochter. Kath hatte sich damit abgefunden, genauso wie sie sich mit allen Dingen abfand, die nicht zu ändern waren. Auch mit dem Mord an ihrem Sohn Henry. Sie würde beten.
Eine Vollbremsung schreckte Kath aus ihren Gedanken. Es polterte und der Truck kam zum Stehen.
„Verdammt!”, zischte Robert durch die Zähne und stieg aus.
Im Schatten des Scheinwerferlichtes kroch er unter den Truck.
Vorsichtig zog er ein klägliches Fellbündel darunter hervor und untersuchte es.
„Wer bist du denn?”, fragte er erstaunt und lächelte, als er festgestellt hatte, dass die schwarz-weiß gefleckte Hündin noch atmete.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.”
Robert nahm das benommene Tier auf seine Arme und trug es zur Beifahrertür. Kath öffnete sie.
„Wenn sie wieder zu sich kommt, werde ich sie verhören”, grinste er.
Kath lächelte und nahm sie behutsam auf den Schoß. Als Robert wieder eingestiegen war und starten wollte, sagte sie: „Sie alle?”
Robert sah seiner Mutter erstaunt in die Augen. Aus Kaths Lächeln wurde ein Grinsen.
„Du meinst, sie …”
Kath nickte. „Sie wird bald Babys bekommen.”
Robert lachte leise und startete den Motor.
Wenig später tauchten die ersten Häuser des Dorfes auf. Wie Schattengestalten erschienen sie dem Blick ihrer Betrachter. Langsam glitt das Scheinwerferlicht an einem Baumstamm entlang, beleuchtete kleines Gesträuch und scheuchte eine Maus auf. Mitten in der Nacht kamen sie an. Schon von Weitem sahen sie das Licht im gelben Haus brennen.
„Du bleibst im Wagen!”, befahl Robert, während er ausstieg und eilig das gelbe Haus betrat.
Der Lärm, der ihm entgegenschlug, vermischte sich mit der wütenden Stimme seines Vaters. Das halbe Mobiliar war zertrümmert und bedeckte den Boden. In wenigen Sätzen sprang Robert darüber hinweg, um dem Jungen zur Hilfe zu eilen, auf den sein Vater gerade blindlings einschlug. Roberts Stimme ging im Lärm unter. Noch einmal schrie er seinen Vater an. „Hör auf!”
Harry Yellow Cloud fuhr herum, als ihn jemand hart am Arm packte und versuchte herumzuziehen. Er war einen Kopf kleiner, als sein Sohn Robert. Die sonst stolze, aufrechte Gestalt, die Robert kannte, war in sich zusammengefallen, so wie deren Seele. Harrys Augen funkelten wild und unbeherrscht durch seine zerzausten Haarsträhnen. Brandygeruch schlug Robert entgegen.
„Verschwinde!”, schrie Harry seinen Sohn an. Dann packte er wieder den Jungen, der keinen Laut von sich gab. Robert hatte begriffen, dass es keinen Sinn hatte, mit Harry reden zu wollen. Er packte ihn mit aller Kraft von hinten, zog seinen Vater herum und schlug mit der Faust unter dessen Kinn. Harry taumelte zwei Schritte zurück und fluchte laut. Dann schlug er nach seinem Sohn. Doch der Schlag landete im Nichts, bevor Robert ihn endgültig mit einem zweiten Kinnhaken außer Gefecht setzte. Harry ging mit einem dumpfen Geräusch zu Boden und blieb reglos liegen.
„Alles okay mit dir?”, fragte Robert, als sich Ray langsam aus der Zimmerecke aufrappelte. Er nickte nur, zog sich ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich das Blut von der Nase und drückte es dann auf die aufgesprungene Lippe. Robert zog seinen Gürtel aus der Jeans und band seinem Vater damit die Hände fest zusammen. Dann zog er ihn vor die Tür auf die Veranda und lehnte ihn gegen die Hauswand. Als er den Wohnraum wieder betrat, stand Großvater Ian Yellow Cloud vor ihm und hielt einen Stuhl in der Hand.
„Er hat nur noch drei Beine. Vielleicht kann ich hier irgendwo noch etwas Brauchbares finden. Wenn nicht, brauche ich mir keine Sorgen mehr um das Holz für den Winter zu machen.” Er lachte leise. „Gut, dass du da bist.”
„Es wurde höchste Zeit! Hallo, Großvater.”
Großvater Ian trug nur eine Boxershort. Die Nächte waren ihm zu warm. Sein Körper straffte sich, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Er überragte seinen Enkelsohn um eine halbe Hauptesgröße. Während zahlreiche Falten Ians Gesichtszüge durchfurchten, gab sein Körper noch immer eine beeindruckende Gestalt ab. Nur das hellgraue Haar erinnerte Robert an Großvaters wahres Alter. Noch immer lächelte der alte Mann. Dieses Lächeln milderte seine eher scharfen Gesichtszüge mit der markant gebogenen Nase.
Robert wandte den Blick von ihm und sah sich im Raum um. „Wo ist deine Schwester, Ray?”, fragte er seinen Neffen besorgt.
„Sharon ist seit zwei Tagen bei ihrer Freundin. Sie hatte Angst.”
Robert nickte und half kurz beim notdürftigen Aufräumen, bevor Kath das Haus betrat und das Chaos erblickte.
Kath war inzwischen aus dem Truck gestiegen und hatte die Hündin unter der Veranda in einen Karton gebettet. Sie war zu sich gekommen und winselte leise. Das Lager unter der Veranda schien ihr zu gefallen und sie hatte es dankend angenommen. Kath hatte ihren Mann, der an der Hauswand gelehnt im Schlaf grunzte, nur mit dem Blick gestreift. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf, bevor sie hineinging. Der Stich in ihrem Herzen blieb ihr Geheimnis. Sie verbarg auch tapfer ihre Gedanken, als sie sich im Haus umsah. Sie stand mitten im größten Raum des Hauses, der sowohl Wohn- und Esszimmer als auch Küche war. Es glich wahrhaftig einem Schlachtfeld. Nichts stand mehr an seinem Platz. Die Vorhänge waren heruntergerissen worden. Zumindest die Küchenschränke, Kühlschrank und der Gasherd schienen unversehrt zu sein. Zerbrochenes Geschirr lag am Boden. Eine Pfanne lag gegenüber vor der Tür zum Badezimmer. Kath ging dorthin und hob sie auf. Sie wagte kaum die Tür zu öffnen. Doch das Badezimmer war völlig unversehrt geblieben, wie auch die zwei Schlafzimmer, die sich auf beiden Seiten neben dem Bad befanden. Kath atmete tief durch. Alles war zu reparieren und vielleicht auch die Seele ihres Mannes, glaubte sie.
Ray starrte auf seine zertrümmerte Gitarre. Dann hob er sie auf. Seine Gedanken hingegen blieben nicht verborgen.
„Seit zwei Tagen war er nur noch betrunken. Er lässt die Wut über den Tod seines Sohnes an uns aus”, sagte Ray leise zu seinem Onkel, Robert Yellow Cloud. „Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber es war sinnlos.”
„Das wird sich ändern. Ich bleibe vorläufig hier”, entgegnete Robert.
Ray nickte nur, nahm die Überreste seiner Gitarre und verschwand damit nach draußen. Er warf sie zum Müll, sah zu den Sternen und atmete die frische Nachtluft tief ein.
„Gib mir die Kraft, das zu verstehen, Vater”, sagte Ray kaum hörbar. Er spürte, dass jemand neben ihn getreten war und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie dieser sich eine Zigarette aus der Schachtel zog. Robert zündete sie sich an und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg. Irgendwann drehte Ray den Kopf zur Seite und sah zu seinem Onkel. Der schien nachzudenken. Ray richtete seinen Blick wieder nach vorn. Als Robert schließlich seine Zigarette austrat, meinte er nur: „Wir sollten schlafen gehen.”
„Ja.”
Gemeinsam gingen sie hinein.
Am nächsten Tag, nach der Schule, stiegen die Geschwister gemeinsam aus dem Schulbus. Ray waren die Spuren der letzten Nacht ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich tapfer gehalten und seine Freunde hatten sich mit ihren einfallsreichen Sprüchen zurückgehalten. Sharon ging mit ihrem großen Bruder in ihr neues Zuhause. Das war seit drei Tagen das gelbe Haus, das gemeinsam mit den anderen Häusern des Dorfes eingebettet zwischen den Bäumen im Prärietal stand, von sanften Hügeln umgeben, die etwas Schutz vor dem stetigen Wind boten. Das Haus in dem die Großeltern und ihr Urgroßvater, Ian Yellow Cloud, auf sie warteten. Die Elfjährige versuchte, mit ihrem Bruder Schritt zu halten. Die geflochtenen Zöpfe sprangen im Takt ihrer Schritte. Sharon reichte Ray bis zu dessen Kinn. Das zierliche Mädchen war stolz, einen großen Bruder zu haben. Es tat so gut, dass er für sie da war. Sharon wusste bereits von ihm, dass ihr Onkel gekommen war, um sie zu beschützen.
Ray lächelte, als er schließlich mit ihr vor der Veranda des Hauses stehen blieb.
„Oh, wie niedlich!”, rief Sharon, ließ ihre Schultasche fallen und kroch vorsichtig ein Stück unter die Treppenstufen. Die Hündin knurrte das Mädchen leise an.
„Sie will ihre neugeborenen Babys beschützen”, erklärte Ray.
Sharon hielt inne und beobachtete sie.
„Ich habe die Welpen heute Morgen entdeckt, als ich zum Schulbus gehen wollte.”
Sharon wandte sich zu ihrem Bruder um und grinste. „Und du hast es mir nicht erzählt!”
„Es ist schön, dein Lächeln zu sehen”, hörten beide eine bekannte Stimme von der Veranda her.
„Grandpa!”
Sharon stand auf und ging zu Großvater Ian, der ihr Urgroßvater war. Er saß auf einem alten, geflochtenen Schaukelstuhl im Schatten und lächelte. Ian nahm Sharon wie ein kleines Mädchen auf seinen Schoß und lachte vergnügt. Sie schien nichts dagegen zu haben. Ray hatte ihre Schultasche aufgehoben. Als er an den beiden vorbeiging, fragte er:
„Wie viele?”
„Fünf habe ich gezählt”, antwortete der alte Mann.
Ray nickte und ging hinein.
Kath hängte gerade die Vorhänge wieder auf, die letzte Nacht zerrissen am Boden liegen geblieben waren, und die sie kunstvoll genäht hatte.
„Hallo, Ray. Hast du Hunger?”, fragte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
„Wie ein Bär. Ich mache mir ein Sandwich. Wo ist Grandpa Harry?”
„Bei der Stammespolizei. Sie haben Fragen, viele Fragen.”
Ray öffnete die Kühlschranktür und nahm sich eine Flasche Wasser heraus. Fast die Hälfte trank er gierig in einem Zug aus. Dann belegte er sich mehrere Toastbrotscheiben mit einigen klebrigen Käsescheiben. Es war jeden Tag dasselbe. Das Brot klebte beim Kauen am Gaumen fest und machte nicht wirklich satt. So hungrig, wie Ray in seinem Wachstumsschub war, hätte er ein ganzes Brot allein vertilgen können. Er nahm seine Käsesandwiches mit hinaus und setzte sich, wie immer, auf die Treppenstufen vor dem Haus. Ein Bein auf der untersten Stufe und das andere auf dem staubigen Boden. Während er kaute, beobachtete er das Haus gegenüber, das etwa eine halbe Meile entfernt zwischen einzelnen, schattenspendenden Bäumen stand.
Sharon war gerade auf dem Weg dorthin. Ihre Freundin Lory wohnte dort drüben mit ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern. Sharon und Lory waren beide elf, gingen in eine Klasse und waren unzertrennlich.
Ray würgte den letzten Bissen hinunter. Seine Freunde aus der Schule wohnten zu weit entfernt, um sich danach zu treffen. Nicht mal einen funktionierenden Wagen besaßen sie mehr. Rays Blick streifte die zwei Wagen neben dem Haus, die seinem Vater gehört hatten. Der eine ein schrottreifer Ersatzteilspender, der andere war nicht angesprungen, als er ihn brauchte. Nicht ohne Grund hatte er sich Maggies Wagen ausleihen müssen. Auch den gab es nun nicht mehr.
„Was denkst du?”, hörte er die leise Stimme Großvater Ians hinter sich, der noch immer auf seinem Stuhl saß.
„Mir ist langweilig.”
„Hast du heute keine Schularbeiten mehr zu tun?”
Ray drehte sich zu ihm um und grinste.
„Clevere machen das in der Schule.”
Ian grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf.
„Warte. Ich habe etwas für dich.”
Der alte Mann stand auf und verschwand im Haus. Kurz darauf kam er mit einer kleinen Handtrommel zurück. Damit setzte er sich zu seinem Urenkel und sagte: „Es ist zwar keine Gitarre, aber du kannst auch Takte damit schlagen, so wie dein Herz es will.”
Ray sah ihn eher skeptisch an.
„Probiere es einfach”, nickte Ian auffordernd.
Schließlich nahm Ray die Trommel in die Hände, betrachtete sie genauer und begann sie zu schlagen.
Ian trommelte den Takt auf seinem Bein mit und nickte zufrieden.
„Da ist ein Herzschlag. Kannst du ihn hören? Kannst du ihn fühlen?”
Ray fühlte sein Herz kräftig in seiner Brust schlagen und mit jedem Schlag schlug er die Trommel kräftiger und schneller, bis sie dem Rhythmus seines Herzens folgte.
„Vergiss es, Kenneth! Es ist zwecklos”, lachte Maggie amüsiert, als sie dem jungen Mann, der auf der Untersuchungsliege saß, den Verband am Handgelenk fixierte. Der beobachtete lächelnd jeden ihrer Handgriffe.
„Gib es zu, dass du mich noch immer liebst, Maggie.”
„Bilde dir bloß nichts ein.” Sie schüttelte den Kopf und zog sich die Handschuhe aus.
„Es ist nicht gut, wenn eine so junge, schöne Frau zu lange allein ist.”
„Ich bin nicht allein.”
„Du weißt, was ich meine.”
„Warum suchst du dir keine neue Frau. Damit wäre dein Problem gelöst.”
Kenneth griff nach ihrem Handgelenk.
„Ich will dich, Maggie!”
„Du wirst es wohl nie überwinden, dass ich Roberts Frau geworden bin.”
„Er hat dich allein gelassen. Er ist nicht hier. Ich bin hier.”
Der junge Mann sah Maggie eindringlich in die Augen.
„Er ist hier!” Maggie zog ihre Hand zurück.
„Und er wird wieder gehen, wie immer.”
Kenneth stand auf.
„Du wirst jetzt auch gehen, Kenneth. In drei Tagen sehen wir uns zum Verbandwechsel. Bye”, sagte sie sachlich.
„Bye, Maggie”, antwortete Kenneth eine Spur zu mürrisch und verließ das Behandlungszimmer.
Maggie sah ihm nach. Kenneth Calling Tree war gefährlich. Er hatte schöne Augen, geschwungene Wimpern, und unwiderstehliche Grübchen umspielten seinen Mund, wenn er lächelte. Sie hatte sich schon in der Highschool in ihn verliebt. Alle Mädchen hatten das und es war ihm nicht verborgen geblieben. Lächelnd schüttelte sie bei diesen Gedanken den Kopf. Robert liebte nur sie. Sie ging hinaus. Auf dem Gang begegnete ihr Mary Night Killer.
„Das Aspirin geht zu Ende, Maggie. Spritzen, Desinfektion und Verbandsstoffe auch. Insulin habe ich noch gefunden. Aber es wird eng.”
Mary sah die junge Ärztin besorgt an.
„Es war ausreichend bestellt. Ich kümmere mich darum”, beruhigte Maggie Schwester Mary schließlich. Mary nickte und ging weiter. Leise, beinahe lautlos, öffnete Maggie eine der Türen, die zu einem Patientenzimmer gehörte. Die Kinder in den sechs Betten schienen fest zu schlafen. Sie lächelte. Gerade als sie die Tür ebenso leise schließen wollte, vernahm sie eine leise Stimme.
„Maggie?”
Sie hielt inne. „Ja, Ferris.”
„Ich habe auf dich gewartet.”
Maggie schloss die Tür, kam zu dem Bett des kleinen Jungen und setzte sich auf die Decke.
„Was gibt es?”
„Ich habe Angst mich selbst zu stechen, aber ich habe beschlossen, dass ich es noch einmal versuchen will”, antwortete der Junge leise.
„Gut so. Wenn deine Blutzuckerwerte in den nächsten Tagen in Ordnung sind, darfst du auch wieder nach Hause.”
„Wann kommst du wieder?”
„In drei Tagen. Aber Mary ist hier.”
„Ich werde auf dich warten, Doktor Maggie.”
„Ich weiß, dass du tapfer bist, Ferris, mehr als du glaubst. Und nun schlaf gut. Auch das ist wichtig, um deinen Blutzuckerspiegel nicht unnötig durcheinander zu bringen.”
Der Junge mit dem nussbraunen, runden Gesicht, das unter der hellgrünen Bettdecke hervorlugte, grinste und kniff die Augen zu. Maggie strich sanft über sein Haar. So leise wie sie gekommen war, schlich sie sich wieder hinaus. Es war wahrhaftig zu warm in den Zimmern, um schlafen zu können. Maggie atmete dennoch tief durch und ging den Flur entlang zum Büro.
Zur selben Zeit wirbelte der Pickup Truck den Staub auf, dessen nachfolgende Wolke sich langsam im Nichts aufzulösen schien. Robert war auf dem Weg zum Hospital, um Maggie abzuholen. Er nahm nicht den direkten Weg. Schließlich drosselte er die Geschwindigkeit, fuhr außergewöhnlich langsam weiter und stoppte am Straßenrand. Robert stieg aus und sah sich um. Langsam ging er zu Fuß und suchte den Boden ab. Etwa zwanzig Fuß weiter führte eine Ölspur von der Straße weg in das Gelände. Hier hatten sie Maggies Wagen also gefunden und etwa sechzig Fuß weiter seinen drei Jahre älteren Bruder Henry Yellow Cloud. Henry war Lehrer in der Oglala Highschool gewesen. Die Kids mochten ihn und unter den Kollegen hatte er viele Freunde. Feinde? Kaum. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit von sich behaupten.
Nach langer Suche fand Robert schließlich etwas im Staub zwischen den Steinen, nahm es in die Hand und betrachtete es aufmerksam. Dann steckte er das kleine Ding in seine Hosentasche. Sein Blick folgte der Ölspur. Weit von seinem Truck entfernt folgte er dieser Spur, bis diese schließlich abrupt in einer Lache endete. Das Ende. Henry hatte keine Chance gehabt. Robert ging langsam weiter. Dann hockte er sich nieder und berührte die Erde mit den Fingerspitzen. Robert hatte die Stelle gefunden, die er finden wollte, auch wenn sie ihm keinerlei Aufschlüsse bot. Weit und breit war er allein hier draußen. Ein schwacher Windhauch spielte mit seinem Haar. Er presste die Lippen aufeinander. Dann stand er auf und ging mit ausgreifenden Schritten geradewegs zu seinem Truck.
Maggie hatte ihren Kittel längst an den Haken gehängt und war gerade dabei, ihre Sachen zu packen. Es wurde bereits dämmrig, aber das Licht brauchte sie noch nicht einzuschalten. Sie hatte die Listen der Medikamentenbestellung mit den Lieferscheinen verglichen und zurück in die Ablage geschoben. Kaum merklich schüttelte sie gedankenversunken den Kopf. Es war alles, wie immer, korrekt. Das irritierte Maggie allerdings und warf noch mehr Fragen auf. Sie schrak plötzlich zusammen, als sie meinte, jemand würde sie beobachten. Blitzartig richtete sie den Blick zum Fenster. Nur ein Schatten war vorbeigehuscht. Noch immer sah sie zum Fenster, als sie ihre Tasche schloss. Aber da war nichts. Sie schüttelte den Kopf. „Ich sehe schon Geister.”
Langsam beruhigte sich auch ihr rasender Herzschlag. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie einen letzten Blick zum Fenster. In dem Augenblick öffnete jemand rasch die Tür. Maggie blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Eingetretenen: Doktor Burton Kinley, der Chefarzt der Notaufnahme des Hospitals. Er lächelte.
„Oh! Habe ich Sie erschreckt, Maggie? Tut mir leid. Ich dachte, Sie sind schon längst zu Hause.”
Der große und kräftig gebaute Zweiundfünfzigjährige zog die Tür lautlos hinter sich zu. Sein kurzes Haar schimmerte silbern und in der Brusttasche seines weißen Hemdes steckte die Brille.
„Schon okay. Ich wollte gerade gehen.”
„Gibt es noch irgend etwas?”
„Es fehlen schon wieder Medikamente und Verbandsstoffe. Ich habe die Listen mehrmals mit den Lieferscheinen überprüft. Seltsamerweise ist alles korrekt.”
„Ich kümmere mich darum. Sonst nichts?”
„Nein. Alles in Ordnung.”
„Na dann … schönen Abend und kommen Sie gut nach Hause.”
„Danke. Ich wünsche Ihnen einen guten Dienst. Bye Doktor Kinley.”
Mit eiligen Schritten verließ die Ärztin das Hospital. Sie trug ihre Tasche über der Schulter und hielt Ausschau nach ihrem Mann. Maggie ging langsamer, verschränkte die Arme und ließ ihren Blick umherschweifen. „Er wird sich einen Spaß daraus machen, dass ich suche, und mich schon längst gesehen haben”, dachte sie und lächelte. Dann berührte sie jemand sanft am Arm und die leise Stimme hinter ihr sprach freundlich: „Suchst du jemanden, der dich nach Hause fährt, Maggie?”
Die Stimme gehörte nicht zu Robert! Maggie wandte sich um und sah in zwei schwarze Augen in einem lächelnden Gesicht.
„Kenneth!”, fuhr sie ihn unwirsch an.
„Ich bin da. Ich habe es dir gesagt.”
„Ich habe dich nicht darum gebeten.”
„Komm, ich bringe dich sicher nach Hause.”
„Nein! Danke für dein Angebot.”
Kenneth lachte. Dann verzog er die Mundwinkel und es wirkte fast höhnisch, als er fragte: „Willst du die zweiundzwanzig Meilen laufen?”
„Und wenn. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon nach Hause.”
„Es wird gleich Nacht.”
Maggie lächelte. „Ich weiß es, Kenneth.”
„Hast du Angst, mit mir zu fahren?”
„Nein.”
Der schlanke, hochgewachsene Lakota mit dem langem Haar lachte amüsiert. „Komm schon!”
Er fasste Maggie am Oberarm und wollte sie mit sich führen.
„Nein, Kenneth! Gib dir keine Mühe.”
Maggie entzog sich mit diesen Worten seinem Griff.
„Du wartest auf ihn.”
Es war eine Feststellung, keine Frage. Deshalb antwortete Maggie auch nicht. Sie ließ Kenneth stehen und ging langsam an den parkenden Wagen entlang. Robert hatte gesagt, dass er kommen würde und in dieser Beziehung hatte sich Maggie immer auf ihren Mann verlassen können. Manchmal hatte er auf sie warten müssen und heute würde sie eben auf ihn warten müssen. So war das. Maggie spürte, dass Kenneth ihr folgte. Er gab einfach nicht auf. Die Dämmerung ging in die Nacht über und Maggie musste sich eingestehen, dass eine Spur Angst in ihr aufkam, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Dann spürte sie Kenneth dicht hinter sich. Er drückte sie mit sanfter Gewalt an einen der Wagen. Maggie fuhr herum.
„Lass das”, zischte sie leise.
Kenneth lächelte, stützte seine Hände an das Wagendach und blickte Maggie tief in die Augen.
„Manchmal muss man jemanden zwingen, wenn …”
Er war ihr so nahe, dass sie seinen Atem spürte und ihr Herz trommelte, ohne dass sie es beeinflussen konnte. Maggie drehte den Kopf zur Seite, als seine Lippen ihre berühren wollten. Kenneth lachte leise. Maggie ließ mit aller Kraft ihr Knie zwischen seine Beine schnellen. Doch im selben Augenblick hatte er es mit seinen Schenkeln eingeklemmt und hielt es fest.
„Steig in den Wagen, Maggie!”, zischte er ungeduldig.
„Hältst du dich für so unwiderstehlich?”
Kenneth öffnete die Wagentür, ohne Maggie aus seinen Fängen zu lassen.
„Sag’s mir!”
„Es gab Zeiten, da habe ich das geglaubt.”
„Steig ein”, sagte er kühl.
„Dann lass mich los, du Idiot”, fauchte Maggie ihn an.
Er ließ tatsächlich los. Maggie dachte nicht daran, das zu tun, was er verlangte und wehrte sich mit allen Kräften. Kenneth packte härter zu und drückte sie nun mit Gewalt in seinen Wagen. Maggie schrie in ihrer Panik. Dann wurde sie plötzlich losgelassen. Jemand hatte Kenneth von hinten gepackt und riss ihn von ihr weg.
Kenneth sah gerade noch die Faust auf sich zufliegen, bevor er den Namen aussprechen konnte. Dann stöhnte er leise unter dem harten Schlag, spürte, wie er nach hinten flog. Er fing sich. Robert Yellow Cloud schlug noch einmal zu.
„Lass die Finger von meiner Frau!”, vernahm Kenneth die fremde Stimme und blieb am Boden liegen. Ihm war schwarz vor Augen. Wie automatisch tastete er mit der Hand zu Kinn, Mund und Nase. Von irgendwoher sickerte warmes Blut. Während Kenneth sich mühsam aufrappelte, hörte er einen Truck starten und davonfahren.
„Alles okay, Maggie?”
„Ja.”
Sie atmete tief durch und verschränkte die Arme. Robert ging zunächst nicht weiter auf das gerade Geschehene ein. Was er gesehen hatte, genügte ihm. Wenn Maggie darüber reden wollte, würde sie das tun.
„Ich war an der Stelle, wo es passiert ist”, begann er nach einer Weile.
„Hast du irgendetwas gefunden?”
„Deutliche Spuren. Er ist nicht weit gekommen. Dein Wagen hatte eine Ölspur hinterlassen. Hast du gewusst, dass er Öl verliert?”
„Nein, Robert, sonst hätte ich es ihm gesagt.”
„Ich bin dieser Spur gefolgt. Sie endete in einer Lache. Dort war der Motor festgefahren und er kam nicht weiter. Er ist aus dem Wagen gesprungen und wollte zum Graben. Nur etwa sechzig Fuß von ihm. Sein Blut klebte noch an den Steinen.”
Robert schluckte. Die Stimme schien ihm zu versagen und Wasser sammelte sich in seinen Augen. Er machte eine Pause, schniefte und wischte immer wieder seine Tränen weg. Maggie schwieg.
„Ich habe mir deinen Wagen mal genauer angesehen. Der Ponti war zwar ziemlich alt, aber der Motor war okay”, fuhr Robert schließlich fort, als er sich wieder gefangen hatte.
„Was soll das bedeuten?”
„Dass es möglicherweise jemand auf dich abgesehen hatte.” Robert blickte Maggie besorgt an.
Maggie blieb gefasst. „Dann war dein Bruder nur zur falschen Zeit am falschen Ort”, sinnierte sie. „Aber war der Killer blind, als er schoss?”
„Mein Bruder trug Jeans, ein rotkariertes Hemd und sein Haar war genauso lang wie deins. Aus weiter Entfernung und in Eile, nicht erwischt zu werden. Entweder handelte er im Auftrag oder es war ein Weißer, die uns oft nicht auseinander halten können.”
Maggie sah Robert nun doch besorgt in die Augen, aber sie schwieg.
„Ich bleibe. Ich habe meinen Bruder verloren. Ich will nicht auch noch meine Frau verlieren.”
Robert sah auf die Straße, die von den Scheinwerfern seines Trucks beleuchtet wurde.
„Hast du eine Ahnung, weshalb jemand daran interessiert sein könnte, dich aus dem Weg zu räumen?”
Maggie schluckte.
„Nein”, antwortete sie leise.
Nach einer Weile des Schweigens fragte Robert schließlich: „Was war das mit Kenneth?”
„Er wollte mich nach Hause fahren.”
„Es sah mir eher nach was anderem aus.”
„Eifersüchtig?”
„Ja”, antwortete er knapp.
„Du hast dich lange nicht mehr geprügelt wegen einer Frau.”
Maggies Lächeln ging in ein spitzbübisches Grinsen über.
Robert verzog die Mundwinkel.
„Nicht wegen einer Frau, sondern wegen meiner Frau. Vielleicht wurde es höchste Zeit.”
Kurze Zeit darauf bog Robert zum Haus ab. Er stoppte genau vor den Stufen zum Eingang. Sie stiegen aus und drückten leise die Türen zu. Maggie blieb sofort wie angewurzelt stehen und horchte auf, als sie das drohende, leise Knurren unter der Verandatreppe vernahm. Robert tauchte neben ihr auf und sagte leise:
„Kein Killer, Maggie. Nur eine Hündin, die ihre Neugeborenen beschützen will.”
„Seit wann haben wir Hunde?”
„Seit gestern Nacht. Sie war mir unter den Truck gelaufen. Ich habe ihr Asyl gewährt bis sie den Schrecken überwunden hat. Heute Morgen waren plötzlich noch fünf kleine Fellbündel da.”
Robert legte den Arm um Maggie und ging mit ihr die drei Stufen hinauf. Vor der Tür blieb sie stehen und hielt seine Hand zurück, damit er sie nicht öffnete.
„Was ist?”, fragte er leise.
Maggie antwortete ihm nicht. Sie tastete mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Dann gab sie ihm einen Kuss. Leise öffnete Robert schließlich die Tür. Im Wohnzimmer schlief Großvater Ian auf der Couch. Er blinzelte kurz und tat dann, als würde er die beiden nicht bemerken. Hinter den folgenden beiden Türen schliefen vermutlich die Kinder und Kath. Das letzte Zimmer, den schmalen Gang entlang, gehörte Maggie und Robert. Überall standen Kartons mit den wenigen Habseligkeiten der beiden Waisenkinder, die nun auch zu den Bewohnern des gelben Hauses zählten. Maggie und Robert schlichen zu ihrem Zimmer, immer darauf bedacht, die Schlafenden nicht zu stören.
Die Morgensonne schickte bereits ihre Strahlen über das Reservationsland. Die Vögel begrüßten den neuen Tag mit ihrem Gezwitscher. Die Morgenluft streichelte sanft das Gras. Zaghaft streckte ein Präriehund den Kopf aus seinem Bau heraus und beobachtete aufmerksam die Gegend. Es war ruhig. Er witterte keine Gefahr und verließ rasch seinen Bau. Mit seinen flinken Beinen huschte er davon. Eine kleine Sonnenblume schien sich, kaum merklich, aufzurichten und wandte ihre leuchtend gelbe Blüte der aufsteigenden Sonne entgegen. Es dauerte nicht lange und ein leise summendes Insekt hatte sich zu ihr gesellt. Die Menschen im gelben Haus schliefen noch. Der Schatten, der die Veranda bis eben noch beherrscht hatte, wich langsam dem Sonnenlicht. Die Strahlen drangen schräg zwischen den Stufen der Verandatreppe hindurch, bis zu der schwarz-weiß gefleckten Hündin. Ihre hungrigen Babys tasteten sich gerade zu den Zitzen. Die Hündin half den blinden, hilflosen Bündeln und säugte sie. Kurze Zeit später schienen sie satt zu sein und schliefen erschöpft wieder ein, während sie von ihrer Mutter geleckt wurden. Die Hündin hielt plötzlich inne und lauschte. Ein fremdes Motorengeräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Vor dem gelben Haus parkte ein fremder Wagen, aus dem ein ebenso fremder Mann ausstieg und geradewegs auf die Treppe zusteuerte. Er trug Jeans, eine schwarze Kapuzenjacke und ein schwarzes Baseballcap. Als er allerdings mit dem Fuß auf die erste Stufe trat, vernahm er ein drohendes Knurren. Er hielt kurz inne und ging weiter, als nichts geschah. In dem Augenblick sprang ein Tier auf die Veranda, sodass er zusammenschrak. Die Hündin stand vor ihm und fletschte die Zähne.
„Ist ja schon gut.”
Der Fremde blieb reglos stehen. „Verflucht”, zischte er.
Langsam griff er zur Sonnenbrille und nahm sie ab. Noch einmal versuchte er seinen Fuß zu bewegen. Die Hündin sprang mit einem Satz auf ihn zu, noch immer zähnefletschend wie ein Wolf, knurrte drohend und schnappte nach dem Fuß des Eindringlings. Der Mann schrie sie an, während er seine Dienstpistole zog. Plötzlich riss jemand die Tür des gelben Hauses auf.
„Aus!”, rief Robert hart, ohne zu wissen, ob sie darauf reagieren würde.
Die Hündin hielt zumindest inne. Der Fremde ließ erleichtert die Waffe sinken.
„Verflucht! Sind Sie Yellow Cloud?”
„Ja.”
„Thorney, FBI. Tun Sie Ihren Hund weg!”
Robert blickte auf die Hündin. Leise sagte er: „Wasté.”
Die Hündin setzte sich abwartend neben seine Füße.
„Ich muss mit Ihnen reden.”
Robert nickte. „Okay.”
Thorney schielte misstrauisch zu dem Tier.
„Gehen wir zum Wagen”, meinte er.
Robert verzog ein wenig spöttisch die Mundwinkel. Dann folgte er dem jungen Mann. Die Hündin kroch zurück unter die Veranda zu ihren Welpen und beobachtete die Männer aufmerksam. Thorney lehnte sich lässig gegen seinen Wagen und bot Robert eine seiner Zigaretten an. Der lehnte ab und verschränkte die Arme. Thorney steckte die Schachtel wieder zurück, ohne sich zu bedienen.
„Der Ermordete war Ihr Bruder?”, begann er.
„Ja.”
„Hatte jemand einen Grund dazu?”
„Weiß ich nicht.”
„Was könnte das Motiv gewesen sein?”
Robert hob die Schultern.
„Keine Ahnung.”
„Weshalb war Henry Yellow Cloud mit dem Auto Ihrer Frau unterwegs?”
„Weil seins kaputt war. Sie hat es ihm geliehen.”
„Wohin wollte er damit?”
„Vermutlich nach Hause.”
„Wusste er, dass der Wagen Öl verlor?”
„Nein.”
„Sie?”
„Nein.”
„Sie sind Ranger und kennen sich im Spurenlesen sehr gut aus.
Was haben Sie gestern Abend da draußen gefunden?”
„Nichts.”
„Sicher?”
Robert antwortete nicht.
„Sie verschweigen mir etwas!”
„Nein.”
„Hat Ihre Frau sich sehr um Ihren Bruder Henry gekümmert, ich meine, mehr als Ihnen lieb war?”
„Nein.”
„Sie sind sich da sicher?”
„Ja.”
„Besitzen Sie ein Gewehr?”
„Ein Jagdgewehr. Ist in Montana geblieben.”
„Es gab keine Fußspuren da draußen, keine Patronenhülsen. Das ist merkwürdig. Finden Sie nicht?”
Robert überlegte. Dann fragte er: „Waren Sie nicht selbst draußen?”
„Natürlich!”
Thorney schien etwas ungehalten über diese Frage.
„Ich will Ihnen was sagen, Yellow Cloud. Sie haben was gefunden! Waren Sie dort, um Ihre Spuren zu verwischen?”
„Zwei Tage später?”
Robert konnte den Hohn in seiner Frage nicht verbergen. Was dachte sich dieser Wasicu Grünschnabel?
„Sie sind auf der falschen Spur, Thorney.”
„Dann zeigen Sie sich kooperativer.”
„Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben. Sie waren vor mir da.”
Thorney holte tief Luft. Es passte ihm nicht, was der Indianer gesagt hatte. Was bildete der sich ein, so dreist zu sein! Robert Yellow Cloud war ihm verdächtig und Thorney suchte nach den passenden Worten, ihm klar zu machen, dass ihn das nichts anginge.
„Sie wissen, dass das … Reifenspuren am Straßenrand. Jemand muss also aus dem Wagen herausgefeuert haben und ein ziemlich guter Schütze gewesen sein.”
„Mit einem einfachen Jagdgewehr, wie hier allgemein üblich, kaum möglich.”
„Wollen Sie damit behaupten, es war ein Weißer?”
„Nein. Ich habe nur festgestellt, dass die Waffe nicht hierher passt, nicht, wer damit geschossen hat.”
„Sie halten sich wohl für sehr clever, Yellow Cloud? Woher wollen Sie wissen, was das für eine Waffe war?”
Der Mann vom FBI wurde ungehalten.
„Vom Geist”, antwortete Robert.
Thorney schnaufte. „Jetzt fangen Sie nicht mit solchen Spinnereien an! Von welchem Geist?”
„Von dem Geist, der in meinem Kopf wohnt.”
„Fuck you!”
„Das hätten Sie wohl gerne.”
Robert vermied es zu grinsen und starrte auf seine Füße.
Thorney löste sich von seinem Wagen und griff nach der Fahrertür. Grußlos stieg er ein und knallte die Tür zu.
Cante etan tawo yukcan kin u – Mit dem Herzen denken
Böiger Wind war an diesem Nachmittag aufgekommen. Er ließ die farbigen Bänder flattern, die jemand an das kleine Holzkreuz gebunden hatte. Davon gab es hier, auf dem sanften Hügel in der Nähe des gelben Hauses, mehrere. Auch einige wenige Grabsteine mit Inschriften waren hier zu finden. Vier Bäume standen, wie Wächter aufrecht und stolz, um den kleinen Friedhof herum. Ein alter, knorriger Baum in ihrer Mitte knarrte leise. Sein dicker, verkrüppelter Stamm stand im Gegensatz zu seinen zarten Zweigen und den wenigen Blättern, die er besaß. Es schien, als würde er seine kärgliche Krone wie schützende Hände über diesen Flecken Erde breiten. Ein uraltes Geschöpf, das viele Geschichten hätte erzählen können. Sein Knarren klang so, als würde er das gerade tun. Die Bänder an dem kleinen Holzkreuz winkten und nickten ihm zu.
Ein Mädchen saß reglos vor diesem Kreuz und lauschte. Ihr Blick haftete an den Bändern. Der Wind spielte auch mit ihrem Haar, das sie nicht wie gewohnt zu Zöpfen geflochten hatte. Die Elfjährige war allein gekommen, um ihre Eltern zu besuchen. Sharon Yellow Cloud kannte ihre Mutter nicht. Sie war nach ihrer Geburt an einer postnatalen Eklampsie gestorben. An ihrem Vater hatte sie gehangen. Nun war er auf dem Weg zu ihr. Sharon wusste, dass Mom ihn erwartete, und dass ihre Eltern an einem Ort waren, an dem es ihnen gut ging. Unwillkürlich richtete sie ihren Blick zum Himmel hinauf. Sharon wusste, dass Mom und Dad Ray und sie immer beschützen würden. In ihren Herzen waren sie immer da. Nein. Sharon weinte nicht mehr.
Die Beerdigung war vor zwei Tagen gewesen. Das Hab und Gut der Familie war der Sitte gemäß verteilt worden und die beiden Waisenkinder waren zu Kath und Harry Yellow Cloud gezogen, ihren Großeltern. Das Mädchen hatte keine Angst mehr. Seitdem ihr Onkel Robert gekommen war und wohl auch aus Respekt vor seinem Sohn Henry, hatte Grandpa nichts mehr getrunken. Er hatte nicht einmal mehr gewusst, was er angerichtet hatte und er schien sich dafür zu schämen. Sharon hatte die Hände gefaltet, aber ihr Gebet richtete sie an Wakan Tanka, das Große Geheimnis. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht und sie stand auf.
„Weißt du, Dad, wie lange ich mir schon einen kleinen Hund gewünscht habe? Nun hat Wakan Tanka uns gleich sechs geschickt und die Welpen sind so niedlich.”
Das Mädchen sah sich um, als sie leise Schritte hinter sich vernahm. Kath hatte ein gelbes, blühendes Büschel in der Hand und eine Gießkanne.
„Willst du sie pflanzen?”, fragte sie.
„Ja, Grandma.”
Sharon kniete nieder und schob die lockere Erde mit den Händen beiseite.
„Das sind schöne Blumen. Sie sehen aus wie tausend leuchtende Sterne.”
Kath lächelte. „Schön, dass sie dir gefallen.” Dann goss sie das Wasser darüber. „Kommst du mit mir nach Hause, Sharon?”
Sharon nickte und griff nach der Hand ihrer Großmutter. Gemeinsam gingen sie über den kleinen Friedhof, vorbei an den Steinen, den Holzkreuzen oder einfachen, in die Erde gesteckten Pfählen, vorbei an den flatternden Bändern, jedes ein Gebet. Von hier aus konnten sie bis zum gelben Haus sehen. Hand in Hand gingen sie langsam den Hügel hinab. Zwei Frauen kamen ihnen entgegen und nickten freundlich zum Gruß. Kath und Sharon nickten ebenfalls schweigend.
Ray saß vor dem Haus auf der Treppe, wie gewohnt einen Fuß im Staub, einen auf der Stufe, und bastelte an seiner zertrümmerten Gitarre. Er sah auf und rückte zur Seite, als die beiden kamen.
„Vielleicht sollte ich doch lieber auf die Trommel umsteigen”, meinte er und lächelte.
Von drinnen drangen die Geräusche des Fernsehers heraus. Die schwarz-weiß gefleckte Hündin, die mit ihren Welpen unter der Verandatreppe wohnte, knurrte nun nicht mehr, wenn Sharon nach ihnen sah. Sie blieben still und schienen gerade fest zu schlafen. Nur die Augen der Hündin funkelten Sharons Blick entgegen, bevor sie sie wieder schloss.
Kath ging hinein. Sharon setzte sich schließlich neben ihren Bruder in den Schatten des Verandadaches und beobachtete ihn. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und klemmte sie hinter die Ohren.
„Ich werde sie Tashina nennen.”
„Wen?”, fragte Ray ohne aufzusehen.
„Die Hündin. Sie legt sich schützend wie eine Felldecke über ihre Kinder.”
Ray lachte leise. „Du hast Ideen.”
„Glaubst du, ich darf wenigstens einen von ihnen behalten?”
Ray zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: „Wenn er groß genug wird, gibt das eine fette Suppe und wir werden alle satt davon.”
„Wie kann man nur so denken?! Das ist widerwärtig!”
Sharon war empört, obwohl sie wusste, dass es Ray nicht ernst gemeint hatte. Sie stieß ihn in die Seite und er grinste. Dann steckte er ein paar Teile seiner Gitarre in die Hosentasche und rollte die Saiten auf.
„Gute Stahlsaiten. Viel zu schade, um sie wegzuwerfen.”
Die Geschwister hoben beide die Köpfe und sahen in die gleiche Richtung. Den schwarzen Truck hatten sie beide sofort erkannt. Das Sonnenlicht reflektierte auf der Frontscheibe und der Wind blies den aufwirbelnden Staub unter den Rädern seitwärts weg. Direkt vor dem Haus hielt der Truck. Robert lächelte, als er ausstieg.
„Hallo, ihr zwei!”, rief er.
„Hallo”, erwiderten die Kinder.
Maggie war auf der Beifahrerseite ausgestiegen und rief ebenfalls ein „Hallo!”. Während sie eine Einkaufstüte von der Rückbank holte, zog Robert etwas Größeres aus dem Truck. Mit einer Gitarre in der Hand kam er langsam auf Ray zu. Der blieb unbeirrt sitzen, musterte aber das knallrote Instrument und spürte, wie sein Herz schneller pochte. Robert blieb vor ihm stehen.
„Sie ist verstimmt. Aber ich denke, du kriegst das hin.”
Ray stand auf. Obwohl er ahnte, dass Robert sie für ihn mitgebracht hatte, konnte er es noch nicht ganz fassen. Er nickte mehrmals, als er die Gitarre in die Hände nahm und eingehender betrachtete.
„Ja”, sagte er schließlich leise.
„Gut. Sie gehört dir.”
Ray sah auf. Die Freude darüber war ihm ins Gesicht geschrieben. Maggie war neben Robert stehen geblieben. Sharon, die noch immer schweigend auf der Stufe saß, beobachtete alles aufmerksam. Robert schlug Ray freundschaftlich gegen den Arm, während er an ihm vorbeiging und im Haus verschwand.
„Ich habe auch etwas für dich, Sharon”, sagte Maggie freundlich und zog eine Handvoll Stifte aus ihrer Tasche.
„Danke!”
Sharon sprang auf und nahm sie.
„Auf der Rückbank im Truck liegen auch zwei Blöcke zum Malen.”
Dann ging auch Maggie hinein. Während Ray geduldig an den Saiten der roten Gitarre zupfte und immer wieder millimeterweise die Knöpfe verstellte, begann Sharon zu malen.
Stunden später, als die Sonne die Schatten der Bäume länger werden ließ, nahmen die Akkorde wohlklingende Töne an und Ray spielte ein erstes Lied. Noch immer war er nicht ganz zufrieden damit.
Die Bewohner des gelben Hauses schienen noch zu schlafen, als Robert, Maggie und die Kinder am frühen Morgen des nächsten Tages in den Truck stiegen. Aber es schien eben nur so, denn mitbekommen hatten sie es alle. Etwas früher als gewöhnlich stiegen Sharon und Ray an der Red Cloud Highschool, in der Nähe des Ortes Pine Ridge, aus. Für den Rückweg würden sie den Schulbus nehmen. Robert wollte in Maggies Nähe bleiben, wie immer er sich das auch vorstellte. Zunächst begleitete er Maggie in das Hospital, um sich dort genauer zu orientieren. Als sie schließlich ihren Kittel angezogen hatte, um zu den Patienten zu sehen, verließ Robert den modernen, roten Betonbau. Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg zur Tankstelle mit dem kleinen Geschäft. Sie war nur wenige Meilen entfernt und die Morgenluft wehte wohltuend zum offenen Fenster des Trucks herein. Bereits zu dieser frühen Morgenstunde hatten sich einige Männer an diesem wichtigen Treffpunkt eingefunden. Robert grüßte und wechselte ein paar Worte mit ihnen, bevor er hinein ging. Mit einer Stange Zigaretten und der Lakota Country Times unter dem Arm ging Robert, wenige Minuten später, zur Kasse.
„Guten Morgen, Yellow Cloud. Können wir reden?”, hörte er eine bekannte Stimme neben sich. Robert wandte den Kopf zur Seite.
„Ja. Guten Morgen.”
Sounding Side zahlte nach ihm und folgte ihm hinaus. Robert wartete.
„Wir haben Reifenspuren gefunden. Das Profil war ziemlich abgefahren”, begann Richard.
„Ist das alles?”
„Der Pontiac hatte keine Chance. Hatte zu viel Öl verloren.”
„Gibt es auch was Neues?”
„Wann hast du das letzte Mal mit deinem Bruder gesprochen?”
„Vor drei Wochen.”
„Und mit Maggie?”
„Was soll das? Worauf willst du hinaus, Richard?”
„Maggie hat sich sehr um ihn und die Kinder gekümmert.”
Robert versuchte seine Wut zu zügeln. Er riss seine Stange Zigaretten auf und zündete sich eine an. Er zog lange und tief, bevor er langsam ausatmete.
„Das tun wir Lakota seit jeher”, entgegnete er eine Spur zynisch, ohne Richard anzusehen.
Der Officer lächelte.
„Was war das in der Nacht mit Kenneth Calling Tree, auf dem Parkplatz vor dem Hospital?”
„Er hat Maggie bedroht.”
„Weshalb?”
Robert schwieg. Sein Zorn wuchs. Schließlich fragte er: „Was für ein Wagen war das? Ich meine, der mit den abgefahrenen Reifen. Und wer feuert mit Hochgeschwindigkeitsgeschossen aus einem Präzisionsgewehr auf meinen Bruder?”
Dabei behielt er Richard Sounding Side aufmerksam im Blick.
Der rührte sich nicht, schien zu überlegen.
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Du hast also die dritte Hülse gefunden?”
„Ja. Und die anderen zwei hast du.”
Richard nickte. „So ist es. Ich dachte schon, die vom FBI haben sie gefunden. Sie haben das Gebiet stundenlang durchkämmt.”
Richard verzog die Mundwinkel nach unten und schüttelte kaum merklich den Kopf bevor er fortfuhr: „Die abgefahrenen Reifen gehören zu einem sechsundneunziger Ford Mustang. Ich habe rote Farbrückstände auf dem Pontiac gefunden, vom Crash.”
„Also suchen wir nach einem roten Pony mit unbeschlagenen Hufen”, stellte Robert fest.
Um die Mundwinkel herum spielte ein vages Lächeln, als Richard seinen Blick auf Robert richtete.
„Dann werden wir den Eigentümer finden und feststellen, dass er nicht damit unterwegs war. Die Waffe passt nicht dazu. So was hat hier niemand.”
„Sicher?”
„Illegale Geschosse aus illegalen Waffen.”
Sounding Side verzog geringschätzig die Mundwinkel und schüttelte den Kopf. Robert starrte zu Boden. Dann tat er einen letzten Zug und trat die Zigarette aus.
„Er wird es wieder versuchen”, sagte er leise.
Sounding Side sah Robert verwundert an.
„Du denkst doch nicht etwa …”
„Doch!”
„Du bist verrückt! Was weißt du?”
„Nichts weiß ich. Maggies Wagen war alt, aber der Motor war okay. Das weiß ich”, antwortete Robert trotzig.
Er wandte sich vom Officer ab und ging grußlos zurück zu seinem Truck. Der Polizist sah ihm nach.
„Verflucht”, zischte Richard leise, während seine Augen zu kleinen Schlitzen wurden.
Simon McPherson lächelte freundlich und blieb gelassen, als der Patient, ein dreiundfünfzigjähriger Vollblutlakota, sich weigerte, mit ihm zu reden. Er ignorierte den jungen Assistenzarzt im Praktikum einfach demonstrativ. Geduldig hatte der ihm zweimal erklärt, dass er ihm die Elektroden des EKG-Gerätes aufkleben wollte, und wo. McPherson wusste genau, dass der Mann ihn verstanden hatte. Zumindest hatte er seinen Oberkörper frei gemacht und sich auf die Liege gelegt. Das war schon viel. Der Patient kam auch nicht zum ersten Mal zu dieser Untersuchung. Vor einer Woche, nach seinem Infarkt, hatte er das nur getan, weil Maggie dabei war.
„Okay, Mr Running Deer. Sie können sich wieder anziehen. Aber rennen Sie nicht gleich weg. Doctor Yellow Cloud muss das EKG noch auswerten”, lächelte McPherson.
Der Mann namens Running Deer zog sich schweigend an und wartete, ohne die geringste Regung. Simon McPherson war erst vier Wochen hier im Indian Hospital. Die Erfahrungen, die er bereits gesammelt hatte, beschränkten sich auf das Misstrauen dieser Menschen ihm gegenüber, obwohl er ihnen immer freundlich gegenübertrat und auch schon ein gut fundiertes medizinisches Fachwissen besaß. Besonders Running Deer schien das gerade zu bezweifeln und Simon tröstete sich damit, dass es nur ein notwendiges Praktikum war, welches außerdem von der Regierung gestützt wurde. Nach einem Jahr würde er die Pine Ridge Reservation wieder verlassen, um sich in einer der namhaften Kliniken, irgendwo in Kalifornien, woher er ursprünglich stammte, heraufzuarbeiten. Noch einmal lächelte der junge Assistenzarzt den Mann etwas verlegen an, als er sich die Hände wusch.
Endlich kam Maggie zur Tür herein. McPherson musste sich eingestehen, dass es ihn ungemein erleichterte, nicht mehr mit diesem, ihm unheimlichen, Lakota allein zu sein. Maggie begrüßte ihn herzlich in einer Sprache, die Simon nicht verstand. Die eisigen Gesichtszüge des Mannes tauten auf und Simon ertappte sich, wie er ihn anstarrte, als er das Lächeln Running Deers sah.
„Kein Wunder. Sie ist eine Frau und noch dazu eine hübsche”, dachte er und räusperte sich.
„Das Elektrokardiogramm ist fertig?”, fragte die Ärztin.
Simon schien noch einen Augenblick zu träumen, bevor er sich selbst aus seinen Gedanken riss und antwortete.
„Ja.”
„Gut. Sehen wir es uns an.”
Maggie zog das Papier auseinander und betrachtete es schweigend.
„Und? Was sehen Sie, Mr McPherson?”
Simon ließ sich Zeit mit der Antwort. „Nichts”, antwortete er schließlich.
Maggie lächelte ihn an, was ihn zu verunsichern schien, und schwieg.
„Wirklich. Ich sehe nichts Ungewöhnliches.”
Noch immer sagte Maggie nichts. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie die zunehmende Unsicherheit des jüngeren Kollegen bemerkte. „Sehen Sie nicht, dass das Herz des Lakota anders schlägt, als das eines weißen Mannes?”
Simon verzog fragend das Gesicht und betrachtete die Linien der Aufzeichnung noch einmal genauer. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich sehe nichts. Es ist völlig in Ordnung. Kein Unterschied. Wollen Sie mich etwa verschaukeln, Doktor Yellow Cloud?”
Maggie lachte. Dann nickte sie dem Mann mit den grauen Strähnen im Haar zu und sagte: „Wasté. Alles in Ordnung.”
Der nickte und zeigte ein Grinsen, als er in der Sprache der Lakota erwiderte: „Schließ ihn an das Gerät an. Seine Augen sind gut, aber sein Herz ist blind.”
„Vielleicht weiß er das nicht”, antwortete Maggie ebenfall in ihrer Stammessprache.
Running Deer lachte und ging zur Tür hinaus.
„Was hat er gesagt?”, fragte McPherson.
„Dass Sie gute Augen haben.”
„Aha”, meinte Simon ungläubig. Er mochte es nicht, wenn sich die Leute in seiner Gegenwart in einer ihm unverständlichen Sprache verständigten.
„Weshalb reden sie, also die Lakota, nicht englisch mit mir? Ich habe gehört, dass viele Ihrer Leute nur noch englisch sprechen und ihrer Sprache nicht mehr mächtig sind.”
„Nur wenige von uns sprechen noch fließend Lakota, leider. Aber etwas davon liegt uns allen im Blut.”
Maggie lächelte nachsichtig, als sie fortfuhr: „Sie machen sich einen Spaß daraus.”
„So wie der Alte da eben. Vielleicht hätte ich sogar mitgelacht, wenn ich ihn verstanden hätte.”
Maggie wurde ernst, als sie McPherson zu verstehen gab: „Er ist ein Wicasa Wakan. Um ihn zu verstehen, müssen Sie mit Ihrem Herz sehen können. Aber Ihr Herz ist blind, sagte er. Deshalb verstehen Sie die Leute hier auch nicht, Mr McPherson.”
„Was ist ein … Wicasa Wakan?”
„Ein Geheimnismann. Ein heiliger Mann und hoch angesehen bei unserem Volk.”
„Ich bitte Sie, Doktor Yellow Cloud!” Simon verzog das Gesicht.
„Glauben Sie noch an solchen Hokuspokus? Sie haben Medizin studiert und wir wissen beide, dass man eine Appendizitis nicht mit Gebeten oder Zauberei heilen kann.”
„So ist es, McPherson. Deshalb schickt man uns jedes Jahr so ein medizinisches Genie wie Sie, um uns daran zu erinnern”, antwortete Maggie ruhig. Er konnte es ja nicht besser wissen.
Maggie presste ihre Lippen fest aufeinander, um ihre folgenden Gedanken nicht laut auszusprechen.
„Wenn Sie sich dann an unseren Patienten weitergebildet haben, damit man Sie auf die Menschheit loslassen kann, schickt man uns den nächsten Probanten. Wie viele Seelen dabei getötet werden, ist ihnen egal. Es sind ja nur Indianer. Wenn etwas schief läuft, ist es kein großer Verlust und niemand macht sich strafbar. Aber ich werde hier sein, um die Menschen meines Volkes zu schützen. Lakota hemaca!”
„Ich bin eine Lakota und ich bin eine Ärztin und ich bin stolz darauf, noch nicht alles vergessen zu haben, was mich unsere Alten lehrten”, versuchte sie ihrem Kollegen zu erklären.
Simon stieß die Luft, die er angehalten hatte, hinaus und starrte Maggie mit großen Augen an.
„Okay. Wenigstens reden Sie noch mit mir”, stellte Simon erleichtert fest. „Ich werde mich bemühen, mein Bestes zu tun.”
Es klopfte. Ein braunes, rundes Gesicht erschien in der Tür und lächelte.
„Die Kinder sind da, Maggie. Wollen Sie sie gleich impfen?”
„Danke, Jessy. Das macht Mr McPherson. Bring sie ins Behandlungszimmer. Es geht sofort los.”
Schwester Jessy schloss die Tür wieder von außen.
„Tetanus-Auffrischung. Der Impfstoff reicht nur noch für die Viertklässler. Wenn Sie fertig sind, melden Sie sich wieder bei mir.”
Simon nickte nur und ging hinaus. Diese Geste zumindest hatte er in der kurzen Zeit hier schon gelernt.
Obwohl Maggie wie immer alle Hände voll zu tun hatte, ließ sie es sich nicht anmerken, als sie auf dem Weg zur Röntgenabteilung zur Notambulanz gerufen wurde. Sie war mit McPherson allein verantwortlich für zur Zeit sechs stationäre Intensivpatienten. Zusätzlich warteten die Leute, die täglich noch zur Behandlung kamen, geduldig im völlig überfüllten Warteraum vor dem Notfallzimmer. Schwester Mary stand bereits in der offenen Tür.
„Hallo Mary, wo brennt es?”, fragte Maggie freundlich und schloss die Tür hinter sich.
„Es sieht aus wie eine Blinddarmreizung oder -entzündung”, antwortete Mary mit einem Nicken auf eine junge Frau, die auf der Untersuchungsliege saß und sich vor Schmerzen krümmte. Ein wesentlich älterer Mann stand mit besorgtem Blick neben ihr.
„Leg dich ganz langsam auf den Rücken, Cory. Wir werden es gleich wissen.”
Maggie begann vorsichtig den Bauch der jungen Frau abzutasten. Die typische Schmerzreaktion beim Loslassen blieb aus. Aber das war noch kein eindeutiger Hinweis, um den Verdacht einer Appendizitis vollkommen auszuschließen.
„Ich werde eine Sonographie machen. Keine Angst, Cory. Ich streiche nur mit diesem Teil über deinen Bauch. Mary bleibt bei uns. Das Gel ist ein bisschen kalt.”
Cory beobachtete die Ärztin mit einer Spur Angst im Blick. Maggie suchte in aller Ruhe und sehr gründlich.
„Wann hattest du deine letzte Blutung?”, fragte sie schließlich leise.
Cory sah an Maggie vorbei und presste die Lippen aufeinander. „Du weißt es also”, stellte Maggie fest.
Cory schwieg.
„Willst du einen Augenblick mit deinem Vater allein sein?”
Der sah offensichtlich verwundert zu Maggie. Cory schüttelte den Kopf.
„Sag du es ihm, Maggie”, antwortete die junge Frau kaum hörbar.
Maggie stand auf und blieb vor dem Mann stehen.
„Cory ist schwanger, aber das Baby ist in der Bauchhöhle. Sie muss sofort operiert werden.”
Maggie machte eine Pause. Der Mann nickte und verbarg den schmerzenden Stich, den er im Herzen spürte. Er krampfte seine Finger in die Hutkrempe.
„Werde ich wieder ein Baby bekommen können?”, fragte Cory leise.
„Ich denke ja, aber du musst sofort nach Rapid City in das Sioux San. Es gibt keine andere Möglichkeit.”
„Kannst du es nicht tun?”
„Ich habe hier nicht die Voraussetzungen für eine solche Operation.”
„Ich habe Angst, Maggie.”
Maggie nickte. „Ich weiß. Deshalb gilt es, keine Zeit zu verlieren. Das Baby hat keine Chance, aber du. Ich werde den Helikopter von ihnen anfordern.”
Cory weinte und nickte als Zeichen ihres Einverständnisses.
Maggie injizierte ihr etwas intravenös gegen die Schmerzen.
„Das wirkt sofort, Cory”, sagte sie zu ihr.
Erst als der Vater zusammen mit Maggie das Zimmer verließ, sagte Cory leise zu Mary Night Killer: „Es ist alles meine Schuld. Ich hoffe, mein Vater verzeiht mir.”
Mary lächelte schwach und setzte sich zu ihr. Cory, die junge Frau mit den kindlichen Zügen in ihrem Gesicht, war erst sechzehn. Mary ließ sie nicht allein.
Maggie sah sich die Röntgenaufnahme sofort an und schüttelte den Kopf.
„Du hattest verdammt viel Glück, Jack Many White Bulls.” Sie lachte. Der angesprochene junge Mann, der auf der Liege lag, hob den Kopf und grinste.
„Sie haben dich am Flussufer neben der Brücke gefunden. Weißt du noch, wie es passiert ist?”
„Ich muss wohl von den zwei Wegen über den Fluss den falschen genommen haben. Es war ziemlich holprig.”
Jack lachte.
„Du solltest vielleicht das nächste Mal zu Fuß gehen. Dann fallen die Prellungen und Stauchungen wesentlich milder aus.” Auch Maggie lachte.
„Wie geht es meinem Wagen?”, fragte er.
„Der muss wohl zur Behandlung, denke ich. Er hat sich multiple Prellungen und Hämatome zugezogen.”
„Was ist das?”
„Er ist auf den Kopf gefallen.” Maggie lachte noch mehr.
„Shit”, stellte Jack fest.
„Ich wickel dir ein paar Binden um die Beine, damit du nicht umfällst. Du darfst sie noch nicht voll belasten. Die nächsten drei Tage nimmst du die Krücken, okay!”
„Und wenn nicht?”
„Dann werde ich dich drei Tage am Bett festbinden und es gibt nur Kräutertee für dich.”
Jack verzog das Gesicht und schüttelte entschieden den Kopf.
„Du bist ein hartes Weib, Maggie. Ich wähle die Krücken.”
Maggie lachte erneut, während sie zu den Bandagen griff.
„Okay, dann lass mal deine Hosen fallen.”
„Hey, Maggie! Was soll das denn werden …?”
„Hast du Angst, Jack?”
Jack öffnete den Mund und riss die Augen auf.
„Ich kann McPherson zu dir schicken”, meinte Maggie.
Etwas umständlich öffnete Jack seine Jeans und schob sie nach unten.
„Keine Umstände.”
Er holte tief Luft, als ihm Maggie ein Kühlgel auftrug und lächelte wieder, als sie ihm die Beine verband.
„Okay, Jack. Du kannst aufstehen.” Maggie drückte ihm in jede Hand eine Krücke. „Die sind für alle Wege zugelassen. Ich hoffe, du nimmst damit den richtigen. In drei Tagen möchte ich dich mit deinen Gehhilfen wieder sehen.”
Jack grinste breit. „Yes, Sir!”
Der große, kräftig gebaute Dreißigjährige mit den traditionell geflochtenen Zöpfen, wagte vorsichtig die ersten Schritte zur Tür.
„Hey! Wie kommst du nach Hause?”, fragte Maggie.
„Zu Fuß. Wenn ich morgen zu Hause angekommen bin, werde ich wenden und zurücklaufen.”
„So habe ich mir das vorgestellt”, schüttelte Maggie den Kopf.
„Auf dem Parkplatz draußen treibt sich irgendwo mein Mann herum. Er kann dich nach Hause fahren.”
„Robert Yellow Cloud?”
„Genau, den meine ich. Sag es ihm.”
„Hecetu. Toksa.”
Die Tür fiel hinter Jack Many White Bulls ins Schloss.
Maggie steckte die Röntgenbilder in die Mappe und machte sich auf den Weg zurück zu den ambulanten Patienten. Mary hatte Cory inzwischen auf der Transporttrage in Maggies Büro geschoben. Maggie steckte den Kopf zur Tür herein. Die junge Frau war eingeschlafen. Maggie lächelte zufrieden und drückte die Tür leise zu.
„Der Helikopter wird jeden Augenblick hier sein, Maggie.”
„Gut. Du kannst den Nächsten hereinbitten, Mary.”
„Wie geht es Kath?”
„Die Wunden sind verheilt, das Herz nicht. Sie beklagt sich nicht. Sie kümmert sich um Sharon und Ray, aufrecht wie eine Pappel im Sturm.”
Mary lächelte. „Grüße sie von mir.”
„Das werde ich.”
Mary öffnete die Tür und ein dicker Mann mittleren Alters trat herein.
„Hallo, Doc”, grüßte er freundlich und grinste.
„Hallo, Walter. Setz dich. Was liegt an?”
„Das wollte ich eigentlich von dir wissen, Maggie.”
Er lächelte und setzte sich auf den Stuhl neben den Schreibtisch.
„Ich möchte gerne wissen, wie es dir geht.”
„Oh. Mir geht es gut, Maggie. Ich habe vorgestern einen Zahn verloren. Die Schmerzen sind weggegangen.”
Maggie grinste. „Hast du die Tabletten so eingenommen, wie ich es dir gesagt habe?”
„Ja, habe ich.”
„Dein Cholesterinspiegel will einfach nicht runtergehen. Das heißt, du hast noch immer zu viel Fett im Blut. Das gefällt mir nicht. Das setzt sich in deinen Blutgefäßen fest und irgendwann wird es sie verstopfen.”
„Ja, Maggie. Du hast es mir schon einmal erklärt. Aber was soll ich machen. Von irgendwas müssen wir uns schließlich ernähren. Sie schicken uns dieses billige Dosenfutter, das sie nicht essen wollen. Es schmeckt scheußlich. Nicht mal unsere Hunde fressen das.”
„Ja, Walter, ich weiß.” Maggie nickte. „Ich …”
Es klopfte an der Tür und im selben Augenblick stieß sie jemand auf, noch bevor Maggie antworten konnte.
McPherson tauchte auf und ließ die Tür hinter sich wieder zufallen. „Melde mich, wie angeordnet, zurück.” Simon trat näher und legte eine Packung Tabletten auf den Schreibtisch. „Schwester Mary bat mich, Ihnen das hier zu geben. Lipidsenker.”
Er musterte dabei den dicken Lakota, der vor ihm saß. „Es gibt da ein speziell entwickeltes Ernährungsprogramm zur Unterstützung dieses Problems. Vielleicht könnte ich …”
Maggie hob die Hände, während Walter schweigend auf seine Füße starrte.
„Ich unterbreche andere nur ungern, McPherson, und es ist auch nicht meine Art. Aber ich kenne das Programm besser, als Sie vielleicht ahnen und die Probleme. Es gibt etwas Wichtiges zu tun.”
„Okay. Was?”
„Geben Sie bitte die Medikamentenbestellung durch. Schwester Mary hat alles aufgelistet, auch Verbandsstoffe und Impfampullen.”
„Geht in Ordnung, Doktor Yellow Cloud.”
Nachdem Simon McPherson die Tür geräuschvoll von außen ins Schloss hatte fallen lassen, trat absolute Stille ein.
Walter nickte schließlich. „Okay. Sag mir, Maggie, was ich tun kann, außer diesen Chemiecocktail zu schlucken.”
„Wirf deine Chipsvorräte in den Müll und steig auf Kaugummi um.”
Walter lachte amüsiert. „Willst du mir die letzte Freude am Leben nehmen? Ich werde Entzugserscheinungen bekommen!”
Maggie lachte ebenfalls.
Kurz darauf setzte der Helikopter des Sioux San Hospitals von Rapid City vor dem Indian Hospital in Pine Ridge auf und sorgte für einiges Aufsehen. Neugierige Menschen blickten durch die Fensterscheiben. Einige kamen heraus, um das Geschehen genau zu beobachten. Doktor Maggie Yellow Cloud begleitete Cory, die ruhig auf der Transportliege lag und Maggie ängstlich in die Augen schaute. Maggie drückte Corys Hand zum Abschied und zwinkerte der jungen Frau aufmunternd zu.
„Es wird alles gut, Cory. Glaube mir. Ich warte hier auf dich”, lächelte Maggie.
Cory nickte kaum merklich. In dem Augenblick bemerkte Maggie den alten Mann mit dem besorgten Blick etwas abseits. Verlegen knetete er mit beiden Händen seinen Hut zusammen. Maggie winkte ihn heran. Zögernd kam er.
„Sie dürfen bei Ihrer Tochter bleiben, wenn Sie wollen”, schrie Maggie ihn an, den Lärm des Helikopters übertönend. Mit einer eindeutigen Geste forderte sie Corys Vater auf einzusteigen. Es war keine Zeit für Überlegungen. Dankbar nickte der Mann und stieg ein. Der Helikopter stieg auf und drehte ab.
Als Maggie an diesem Abend das Büro betrat, saß bereits jemand an ihrem Schreibtisch. Ohne etwas zu sagen, ging sie auf ihn zu und schlang ihre Arme von hinten um ihn.
„Geschafft?”, fragte dieser Jemand.
„Wie man es nimmt. Ich könnte einen Kaffee vertragen”, antwortete sie.
„Ich auch.”
Robert drehte den Kopf zu ihr und lächelte.
„Okay, ich mache uns einen. Eine Pause kann nicht schaden.”
Während Maggie die Kaffeemaschine anstellte, benutzte Robert ihren Computer.
„Was machst du da eigentlich? Das untersteht alles der Schweigepflicht.”
„Ich weiß. Ich kann schweigen”, feixte Robert. „Das, was da drin steht, verstehe ich sowieso nicht. Medizinische Fremdsprache. Ein Buch mit zu vielen Geheimnissen.”
Maggie kam zu ihm und sah ihm über die Schulter. Sie lachte leise.
„Es lässt dir keine Ruhe, hm?”
„Ein Hundebiss. Deshalb war Kenneth bei dir in Behandlung.”
„So ist es. Am rechten Arm hat es ihn erwischt. Sah böse aus. Er war heute zum Verbandswechsel hier. Es heilt gut.”
„Vielleicht hatte er neulich Abend die Tollwut? Hat er sich wieder beruhigt?”, grinste Robert.
„Ja.”
Auch Maggie grinste, als sie zwei Tassen aus dem Schrank holte.
„Kennst du jemanden hier in der Gegend, der einen roten sechsundneunziger Mustang besitzt?”
„Kenneth Calling Tree”, antwortete sie ohne zu zögern. „Er hat mal seiner Frau gehört. Aber er fährt nicht mehr mit ihm.”
„Aber er könnte?”
„Möglicherweise. Weshalb fragst du?”
„Möglicherweise hat er auch abgefahrene Reifen und ein paar Beulen. Möglicherweise ist er doch damit gefahren oder er hat ihn jemandem ausgeliehen. Vielleicht hat man ihm den Wagen gestohlen.”
Maggie schüttelte den Kopf.
„Er hat mal erzählt, dass er ihn nicht mag, weil er rot ist. Nur Weiber fahren rote Autos.”
„Er wollte ihn loswerden?”
„Kann sein. Aber das Ding steht noch bei ihm. Glaubst du etwa er hat …?”
„Nein. Er hätte weder auf dich, noch auf meinen Bruder gefeuert. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann wohl eher auf mich.”
Robert lachte leise beim letzten Satz.
„Rede nicht einen solchen Unsinn, Robert Yellow Cloud!”
„Das FBI und auch Sounding Side verdächtigen mich. Motiv Eifersucht.”
„Ha!” Maggie war erbost darüber. „Auf Kenneth?”
„Nein. Auf meinen eigenen Bruder und das FBI ist drauf und dran, mich festzunageln. Dieser Thorney, der bei uns war, ist der Meinung, dass ich ihm etwas verberge, dass ich meine Spuren da draußen beseitigen wollte. Er hat mich wohl beobachtet, als ich die Patronenhülse eingesteckt habe. Falls ich die Reservation jetzt verlasse, wird er sofort nach mir fahnden lassen.”
„Das ist alles so verrückt! So verfahren. Jemand erschoss deinen Bruder und anstatt den Mörder zu finden, verdächtigen sie dich?
Das ist Irrsinn! Hast du Richard gesagt, was du vermutest?”
„Ja. Vielleicht hält er mich jetzt für verrückt.”
Maggie goss den heißen Kaffee in die Tassen. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben.
„Wo werden wir diese Nacht schlafen?”, fragte Robert, während er nach einer Tasse griff.
„Nebenan im Bereitschaftszimmer. Da steht eine ausklappbare Couch.”
„Schläfst du immer da?” Er wies mit dem Kopf zur Tür.
„Wenn ich Bereitschaft habe ja.”
„Und sonst?”
