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Titel: Maggie Yellow Cloud

Maggie Yellow Cloud

Das verkaufte Herz

von Brita Rose-Billert

Seiten: (ca.) 236
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 8.8.2016
ISBN: eBook 9783956071799
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)

US$ 4,99

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Autor

Autor: Brita Rose-Billert
Brita Rose-Billert (Autor)
2 eBooks
Übersicht Leseprobe Autor

Die junge Lakota-Ärztin Maggie Yellow Cloud kämpft um das Leben ihrer Nichte Shauna Wiyakaska. Nach einem Unfall erwacht diese nicht aus dem Koma. Eine neurologische Privatklinik ist an der kleinen erst sechsjährigen Patientin interessiert und will sogar alle Kosten übernehmen. Die Familie gewinnt neue Hoffnung, doch bereits einen Tag später wird Shauna in der fremden Klinik für hirntot erklärt und nur noch mit medizinischen Geräten am Leben erhalten. Maggies innere Unruhe und böse Träume treiben sie bis nach Utah, um nach ihrer Nichte zu sehen. Ihre Hoffnung ist die Studienfreundin Lynn Yazzie, eine Navajo-Ärztin, die an der Klinik arbeitet. Zu ihrer Bestürzung muss Maggie erfahren, dass ihre Freundin erst kürzlich einen tödlichen Reitunfall hatte. Bei ihren Nachforschungen gerät Maggie in ein Geflecht aus Lügen, geheimnisvollen Zeremonien und kriminellen Machenschaften

Details

Titel
Maggie Yellow Cloud
Untertitel
Das verkaufte Herz
Autor
Brita Rose-Billert
Seiten
236
Erscheinungsform
Neuausgabe
Preis (eBook)
4,99 EUR
ISBN (eBook)
9783956071799
Sprache
Deutsch

Leseprobe

Rose_Maggie_eBook

Brita Rose-Billert

Maggie Yellow Cloud

Das verkaufte Herz

Ethno-Roman

Impressum

Maggie Yellow Cloud – Das verkaufte Herz, Brita Rose-Billert

Copyright der E-Book-Neuausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2014 bei Traumfänger Verlag, Hohenthann

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat: Ilona Rehfeldt

E-Book-Herstellung: readbox, Dortmund

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-179-9

www.heypublishing.com

Inhalt

Wokokipe – In Gefahr

Anpetu witko – Ein verrückter Tag

Wiyaka-ska – Weiße Feder

Wanagi Sica – Böse Geister

Wiconi tonaheca he – Wie viel kostet das Leben?

Lakota hemaca – Ich bin Lakota

Widmung

In memory of the crushed cars in the wilderness,
the white crosses along the roads
and of all lost hearts.

In memory of the missing children,
all homeless people
and their stolen hearts.

For all my friends.

Don‘t let your heart get stolen, give it away …

In Erinnerung an all die verunglückten Autos in der Wildnis,
an die weißen Kreuze entlang der Straßen,
und an all die verlorenen Herzen.

In Erinnerung an all die vermissten Kinder,
an alle obdachlosen Menschen,
und an deren gestohlene Herzen.

Für all meine Freunde.

Lasst euch euer Herz nicht stehlen, verschenkt es …

Wokokipe – In Gefahr

Blue Mountains – Utah

Der Wind fuhr in die Bäume und trug den Geruch der Ponderosakiefern mit sich. Er spielte mit den Blättern der Cottonwoods und wirbelte das erste verwelkte Buchenlaub durcheinander. Weiter oben, am hellblauen Himmel, trieb er kleine Wolkenberge, gleich einer Schafherde, vor sich her. Der Herbst hatte längst Einzug gehalten, hatte die Blätter in purpurrot und orange gefärbt. Wenn der Wind in die Baumkronen fuhr, flirrten die Farben durcheinander und es schien, als stünden die Bäume in Flammen. Im Verborgenen bereiteten sich die Tiere des Waldes auf den bevorstehenden Winter vor. Nur das leise Rascheln verriet ihr Tun. Die Tage waren bereits kürzer geworden. Die Sonne hatte an Kraft verloren. Sie stand, an diesem letzten Freitagmorgen im September, noch tief im Osten. Ihr gleißendes Licht wirkte kühl. Es brachte den Tau auf den Hochebenen der bewaldeten Berge zum Glitzern. Der langgezogene Schrei eines Falken, der seine Kreise über der Lichtung zog, erregte die Aufmerksamkeit einer einsamen menschlichen Gestalt. Sie stoppte ihr Pferd und sah suchend hinauf. Die schwarzen Mandelaugen hatten ihr Ziel anvisiert. Der Blick der Betrachterin folgte dem Raubvogel. Wieder vernahm sie seinen Schrei. Das Pferd schnaubte leise. Die junge Navajoärztin atmete tief durch, genoss ihren freien Tag, den Geruch des Waldes, die Schönheit des Landes und die frische, kühle Luft in ihrem hellbraunen Gesicht. Der Wind fuhr in ihr Haar und brachte es durcheinander. Sie lachte. Der Wind tat es immer und immer wieder. Schon seit Lynn Yazzie denken konnte. Der Wind war immer und überall. Der Wind war unsichtbar. Wie ein Geist tauchte er auf und verschwand, ganz wie es ihm beliebte. Er erweckte die Bäume und Sträucher zum Leben, verzauberte sie in Fabelwesen. Der Wind war ein mächtiger Geist, der seine jahrtausendealten Spuren überall hinterlassen hatte. Er pfiff durch die Felsenklüfte und summte sehnsüchtige Melodien. Reglos saß Lynn auf ihrem hellbraunen Hengst, der die uralte Zeichnung des Wildpferdes trug, und lauschte. Das Pferd hob den Kopf und drehte aufmerksam die Ohren. Es musste etwas vernommen haben, was kein menschliches Ohr hören konnte. Dann nahm es die Witterung auf.

Lynn hatte es längst bemerkt und lächelte. „Der Wald ist voller Geister, nicht wahr, Sequoia?”, flüsterte sie.

Beunruhigt war sie deshalb keineswegs. Sie kannte ihr Pferd genau. Sie waren eins. Vielleicht trieb sich ein Raubtier in ihrer Nähe herum, was hier oben, in den Blue Mountains, in Utah, durchaus nichts Ungewöhnliches war. Der Berglöwe, der Wolf und der Bär waren hier genauso zu Hause wie die Dineh, die Ureinwohner dieses Landes, die von den Weißen Navajo genannt wurden. Lynn Yazzie ließ ihren Hengst antreten. Der setzte seine Hufe fest und sicher auf den schmalen „Sky-Trail“, der steil bergab in das Dickicht des Waldes führte. Steinchen lösten sich aus dem Geröll und kullerten leise hinab. Die Stille der Wildnis umgab sie. Sie hatte ihren ganz eigenen Klang. Dann zerrissen klägliche Schreie die Stille. Es klang, als würde ein Schaf um sein Leben wimmern, so, als würde es jemand quälen.

Lynn hielt inne. Auch der Hengst lauschte. Das Tier schrie im Todeskampf. Nur etwa eine Minute später war es merkwürdig still. Der Spuk war vorbei, als hätte es ihn nie gegeben. Doch Lynn zweifelte nicht an ihren Sinnen. Langsam ritt sie in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Einige abgebrochene Zweige fielen Lynn auf. Nicht solche Spuren, wie wilde Tiere sie hinterließen. Menschen mussten hier oben sein. Die Bruchstellen an den Zweigen waren noch feucht. Es konnte also noch nicht lange her sein, dass sie abgebrochen worden waren. Dann meinte sie Hufspuren entdeckt zu haben. Welkes Laub war umgekehrt.

Lynn stieg vom Pferd und sah sich das genauer an. Sequoia wurde wieder unruhig. Er roch die Gefahr und drängte Lynn zur Flucht. Jemand musste das Tier gerade erlegt haben, dachte sie. Lynn berührte die Erde vorsichtig mit den Fingern. Die Erde war an dieser Stelle feucht. Also war der Jäger, vielleicht waren es auch zwei, ganz in der Nähe. Lynn saß auf. Kurze Zeit später verwandelte sich die Erde in glatten, roten Felsen. Lynn überließ ihrem Freund die Führung. Der Hengst wusste genau, was er tun musste, um nicht zu stürzen. Trittsicher bewegte er sich ohne wegzurutschen über den Felsen. Die junge Ärztin, die in einem Hospital arbeitete, das früher zum San Juan River Indian Health Service, Moab, gehörte, nutzte gern ihre freien Tage, um in die Blue Mountains zu reiten. Manchmal suchte sie die Einsamkeit. Manchmal war sie mit Verwandten, Freunden oder auch Kollegen unterwegs. Dann benutzte sie den Pferdetrailer, um die etwa zwanzig, fünfundzwanzig Meilen über die Schotterstraße direkt in die Berge zu fahren. Die Blue Mountains erhoben sich majestätisch aus der Wüste und wirkten aus der Ferne gesehen dunstig und rauchblau. Im Winter lag der Schnee hier oben so hoch, dass man sich nur mit Schneeschuhen vorwärts bewegen konnte. Selbst die Pferde sanken dann bis zu ihren Bäuchen ein. Deshalb waren hier die Jäger im Winter auch mit ihren Schneeschuhen unterwegs. Lynn wusste das ganz genau, denn Vater und Bruder hatten sie manchmal mit auf die Jagd genommen. Es war beschwerlich und kräftezehrend, aber wie ein Zauber. Es war mehr, als der Hirsch, den Mutter zu einem köstlichen Festbraten zubereitete. Es war ihr Leben, ihre Identität, um wieder zu dem zu werden, was sie waren: Native Americans vom Volk der Dineh. Heute war Lynn allein mit dem Pferd. Sie fürchtete sich nicht. Sie war Teil dieses Landes. Mit dem Sonnenaufgang war sie aufgebrochen. Zu deren Untergang wollte sie wieder zu Hause sein. Lynn trug eine geblümte Flanellbluse, darüber eine rote Steppweste. Ihr langes Haar reichte weit über die Schulter hinab. Sie hatte versucht, sich einige blonde Strähnchen hineinzufärben, wie es bei den jungen Navajofrauen im Augenblick in Mode zu sein schien. Das schwarze Haar hatte die Farbe nicht vollständig angenommen, als wäre es mit der Veränderung nicht einverstanden gewesen. So sah es eher aus, als befände sich ein Strudel Milchkaffee in ihrem Haar.

Sequoia, ihr Hengst, wurde plötzlich wieder unruhig. Seine Muskeln spannten sich an. Er stellte die Ohren auf, während seine Nüstern bebten. Aufgeregt sog er die Atemluft ein und stieß sie aus, sodass er schnaufte. Irgendetwas schien tatsächlich nicht zu stimmen. Lynn spürte die Gefahr, vor der ihr Pferd sie warnte. Sie sah sich um und lauschte. Sie konnte Sequoia nicht überzeugen, noch einen Schritt weiter voranzugehen. Sie stieg ab.

Er weigerte sich, ihr zu folgen. Also band sie ihn an einen jungen Baum. Dann ging sie ein paar Schritte weiter, bevor auch sie erstarrte. Auf dem mit welkem Laub bedeckten Boden lag ein totes, gerade frisch aufgebrochenes Schaf. Es war kein wildes Schaf und ein Raubtier hatte es nicht geschlagen. Es waren die Spuren menschlichen Tuns. Immer wieder waren in letzter Zeit Schafe gestohlen worden. Die Züchter hatten bereits Alarm in der gesamten Navajoreservation geschlagen, die Stammespolizei hatte verschiedene Fälle aufgenommen und die Navajo Times hatte einen Artikel gebracht. Erst letzte Woche. Lynn hatte es gelesen. Die Navajo redeten sich die Köpfe heiß und die Munition für ihre Jagdgewehre war seitdem ausverkauft. Lynn schüttelte betreten den Kopf, während sie das Tier betrachtete. Dem Tier war die Halsschlagader aufgeschnitten und der Brustkorb aufgebrochen worden. Lynn erschrak innerlich. Nur das Herz fehlte! Erschrocken sah Lynn sich um und lauschte. Sie war nicht allein! Lynn wurde es heiß. Der Jäger hatte das Schaf nicht erlegt, er hatte es getötet. Das war ein sehr seltsames Verhalten. Er musste in der Nähe sein. Lynn fand es sehr eigenartig, dass das Tier kein wildes Dickhornschaf war, sondern ein Haustier, so wie es die meisten Navajofamilien in Herden hielten und züchteten. Das könnte das rätselhafte Verschwinden der Zuchtschafe erklären! Kein Jäger, kein normal denkender Mensch schleppte ein Zuchtschaf hierher. Es musste ein Verrückter sein, ein richtig kranker Mensch. Lynn empfand Abscheu, und eine Spur Angst schlich sich in ihre Gedanken, während sie ihren Blick weiter herumschweifen ließ. Sie hatte die Augen und die Ohren eines Jägers. Der Hengst hatte Angst und machte Anstalten zu fliehen. Pferde flohen vor dem Geruch frischen Blutes, vor dem Geruch des Todes. Es bedeutete für sie, in großer Gefahr zu sein und setzte ihren Urinstinkt der Flucht frei. Der junge Baumstamm bog sich unter der Kraft des Hengstes. Langsam ging Lynn zu ihrem Pferd. Es war höchste Zeit, diesen Ort zu verlassen.

„Ich weiß. Wir werden beobachtet”, flüsterte sie ihrem Freund zu. Ihr Herz begann wild zu trommeln und jagte das Adrenalin mit dem Blut durch ihren Körper, als sie das leise Knacken der Zweige vernahm. Blitzartig schoss ein eisiger Schauer durch ihren Körper, der ihr Blut gefrieren lies. Lynn hörte das Pochen ihres eigenen Herzens, als sie meinte, einen Schatten zwischen den Bäumen gesehen zu haben. „Wer ist da?”, fragte sie.

Sie vernahm ein dunkles Lachen. Dann tauchten zwei Männer vor ihr auf. Der eine lächelte. Blutspuren waren an seinen Händen und er hielt das Messer noch fest umklammert.

„Sie?”, fragte Lynn erstaunt und zugleich erleichtert.

Der andere lächelte nicht. Sein Blick war nicht auf Lynn Yazzie gerichtet und seine Gesichtszüge blieben verschlossen. Ihn hatte Lynn auch schon einmal gesehen. Sie wusste, dass es einer der Navajo-Fährtenleser war. Der Hengst rollte die Augen, blähte die Nüstern, scharrte mit dem Huf und zerrte am Halfter, mit dessen Strick er am Baum angebunden war.

„Schön, dass wir uns getroffen haben, Doktor Yazzie. Es wird Zeit, Ihr Versprechen einzulösen”, sprach der noch immer lächelnde Mann, während er auf die junge Ärztin zuging. Lynn starrte ihn an, starrte in wirre Augen, den eigenartigen, unberechenbaren Blick, der sie zu durchbohren schien. Er musste von einem bösen Geist besessen sein, dachte sie. Der Navajo war reglos an seinem Platz stehen geblieben und beobachtete das Geschehen gleichgültig. Als Lynn Anstalten machte, ihr Pferd loszubinden, ließ sie den bösen Geist nicht aus den Augen. Er war ihr zu nahe. Er hinderte sie daran, das zu tun, was sie tun wollte. Er berührte sie mit seinen blutigen Händen. Sie sah das Messer vor ihren Augen aufblitzen. Lynns Aufschrei blieb stumm. Sie rang nach Luft. Der böse Geist lächelte. Es wirkte diabolisch. Er wird mich töten, dachte Lynn, töten wie ein Schaf! Ihre blanke Ohnmacht entlud sich in einer sekundenschnellen Reaktion. Sie war kleiner als er und nicht so kräftig. Aber sie war schnell. Schneller als der böse Geist. In einer verzweifelten Bewegung entwand sie dem Überraschten das Messer. Der Mann fluchte und wollte es sich zurückholen.

Der Navajo legte sein Jagdgewehr an. Lynn begriff nun endgültig die Absicht dieser beiden Männer. Aber weshalb? Es war wie ein böser Traum. Ihre Angst verwandelte sich in blanken Überlebenswillen. Sie wollte leben! Solange sie in Bewegung blieb, und der böse Geist in der Schusslinie stand, konnte sie kämpfen. Sie stach mit dem erbeuteten Messer zu, traf aber nur die Hand, mit der ihr Gegner nach dem Messer griff. Der Geist zischte. Der Hengst wieherte wütend. Der Navajo im Hintergrund wartete mit dem angelegten Jagdgewehr. Lynn traf den Mann, der vom bösen Geist besessen sein musste, unbeabsichtigt im Gesicht. Der stieß einen wütenden Schmerzensschrei aus und griff reflexartig mit der Hand nach dem tiefen Schnitt. Der reichte vom Auge bis zum Kinn. Die Wunde klaffte. Das Blut lief am Hals hinab und färbte sein weißes Hemd rot. Er war im Augenblick mit sich selbst beschäftigt und fluchte laut. Lynn zog den Knoten des Strickes auf und lag bereits flach auf dem Pferd. Der Hengst, endlich befreit, stob davon, ehe der Navajo reagieren konnte. Dann hörte sie das verräterische Pfeifen hinter sich und den Widerhall eines Schusses. Unfassbar! Ein Navajo war auf der Jagd nach einer Navajo! Auch er musste von einem Chindi, einem bösen Geist, besessen sein. Im selben Augenblick hörte sie den Schmerzensschrei ihres Hengstes. Panisch legte das Pferd an Tempo zu, gab seine letzten Reserven frei. Er brach durch den Busch, verfing sich im Dickicht. Er ließ sich dadurch nicht aufhalten. Lynn lag noch immer flach auf seinem Rücken, während die Zweige um sie herum an ihrem Körper zerrten und über ihr zusammenschlugen. Der Schreck trieb ihr erneut Schweißperlen auf die Stirn. Aber sie blieb stumm. Erst jetzt war sie wieder fähig, irgendwelche Gedanken zu fassen. Sie konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Es war so unwirklich. Lynns Arme umschlagen den Hals ihres Pferdes, um nicht im Gestrüpp hängenzubleiben. Sequoias Fell war nass. Schweißperlen rannen ihm, wie Bächlein, über Augen und Stirn hinab. Lynns Knie waren mehrmals gegen hartes Holz gestoßen und schmerzten furchtbar. Der Reiterin war das egal. Sie musste um jeden Preis bei ihrem Pferd bleiben, sonst war sie verloren. Sequoia rang verzweifelt nach Luft und wurde langsamer. Als er endlich zum Stehen kam, sprang Lynn ab. Seine Flanken bebten. Seine Beine zitterten. Das Fell war schweißnass und blutverklebt von seinen Verletzungen. Deutlich sah Lynn den Streifschuss an der Flanke, und aus einem Einschussloch, am rechten Knie, sickerte Blut. Lynn flüsterte ihm leise, beruhigende Worte zu und berührte ihn. Unter dem Laub, das den Boden bedeckte, fand sie feuchte Erde. Das und etwas Speichel mussten zunächst genügen. Sie schmierte dem Hengst diesen Brei auf die Wunden. Er wird es überleben, dachte sie beruhigt. Lynns Hände hatten sich rot gefärbt.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte ihr Mobiltelefon keinen Empfang. Sie steckte es weg und führte ihren Freund langsam weiter. Wenn sie sich nicht täuschte, musste in einiger Entfernung vor ihr der „Sky-Trail“ sein. Von dort aus waren es nur etwa zwei Meilen bis zu einer der Wasserstellen.

„Ich denke, es wird dunkel werden, bevor wir zu Hause sind, mein Freund”, lächelte sie gequält.

Der Hengst schien sich tatsächlich beruhigt zu haben. Als sie den Pfad wieder ereicht hatten, hörte Lynn sein Schnauben hinter sich. Erleichterung machte sich breit. Als der Hengst das Wasser witterte, kehrten die Lebensgeister in ihn zurück. Er hatte es plötzlich eilig, wagte aber nicht, Lynn zu überholen. Sie schmunzelte und ging schneller voran. Auch sie war durstig. Beide stillten ihren Durst am klaren, kühlen Wasser. Dann hob der Hengst plötzlich den Kopf und hielt inne. Er lauschte angespannt. Dann gab er leise ein heißeres Gurgeln von sich. So mahnte er Lynn aufzusteigen und diesen Ort schnellstens zu verlassen. Sie hatte das verstanden und schwang sich auf seinen Rücken.

„Meinst du, sie haben uns entdeckt?”, flüsterte sie.

Der Hengst ging vorsichtig im Schritt voran, als wollte er wie ein Geist durch den Wald schleichen. Vor allem aber wollte er nicht zu früh bemerkt werden. Lynn vertraute ihm. Er vertraute ihr. Lynns Gedanken schwirrten im Kopf herum. Die Männer hatten Pferde und der Spurenleser verstand seinen Job. Der böse Geist würde nicht ruhen, bis er … Was hatte sie ihm angetan, dass er sie so verfolgte? Was hatte sie gesehen?

Der Schrei ihres Pferdes holte sie aus ihren Gedanken zurück. Es war ein markerschütternder Schrei. Eine Mischung aus Angst, Wut und Angriffslust. Ein Reiter versperrte ihm den Weg nach vorn, der andere kam von hinten näher. Sequoia tat das fast Unmögliche. Er sprintete aus dem Stand auf den Reiter vor ihm zu und setzte zum Sprung an. Der Mann im weißen Hemd wich den Hufen geschickt aus. Dann war Sequoia vorbei und die Männer begannen mit der Verfolgungsjagd. Lynn wollte ins Tal, doch die Männer drängten sie in die andere Richtung. Immer weiter führte der schmale Pfad bergan. Lynn zitterte. Ihre Hände verkrampften sich in der Mähne ihres Pferdes. Sie wagte einen Blick hinter sich. Die Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Sequoias Kräfte schwanden schnell. Er war aber ein Kämpfer. Lynn spürte die ohnmächtige Verzweiflung, diesen Männern ausgeliefert zu sein. Schließlich erreichte sie eine der Hochebenen. Die Männer preschten mit ihren Pferden auf beiden Seiten heran. Es glich einer Treibjagd. Mit letzter Kraft schlug der Hengst nach ihnen aus, ohne jemanden zu treffen. Lynn hörte sein Keuchen. Es tat ihr im Herzen weh. Niemals hätte sie ihn soweit getrieben!

Dann stoppte Sequoia abrupt. Der Grat! Hier endete die Hochebene, ähnlich einem Tafelberg. Der Abgrund war genau vor ihnen. Sie wussten es beide. Vor Lynn und ihrem Pferd lag das Tal in mehr als 100 Metern Tiefe. Hinter sich vernahm sie wieder dieses dunkle Lachen.

Tränen der Verzweiflung traten der jungen Navajoärztin in die Augen.

„Tun Sie das lieber nicht, Doktor Yazzie. Es wäre schade um ein so junges Herz.”

Langsam wendete Lynn ihren Hengst. Sie sah in die Mündung des Jagdgewehres, hörte das unverkennbare Klacken. Unwirklich, wie in einem Traum, nahm Lynn das auf, was bittere Realität war. Sie würde sterben müssen! Vater und Mutter würden auf sie warten. Wie ein Blitz folgte der Schuss, direkt vor die Hufe des Tieres. Der Hengst wich zurück. Sequoia, was „Unsterblich“ bedeutete, taumelte, nicht mehr Herr seiner Kräfte. Ein Hinterhuf suchte vergebens nach Halt. Der andere fand ihn, den Halt. Doch der Grat war brüchig. Niemals wäre Lynn so nah an den Abgrund gegangen. Ihr Vater hatte sie immer davor gewarnt. Sie hörte das Kullern der Steine, die in die Tiefe stürzten. Sie sah das verzweifelte Gesicht ihres Bruders vor sich. Es blieb keine Zeit Abschied zu nehmen. Ihr Herz jagte, trieb das Blut durch die Adern, als wollte es ihren Körper sprengen. Alles um sie begann sich zu drehen. Mit ihrem letzten Schrei verfluchte Lynn ihren Mörder. Das Rauschen des Ozeans drang in ihre Ohren. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme des bösen Geistes. „Du Idiot! Ich wollte sie lebend!”

Der furchtbare Todesschrei ihres Pferdes raubte ihre Sinne und zeriss ihr Herz auf dem Weg in die Tiefe.

Anpetu witko – Ein verrückter Tag

Die Sonne war gerade erst am östlichen Horizont aufgetaucht. Die Luft war feucht und Dunstschleier schwebten am Ufer des White River, in der Nähe des Slim Butte. Der Lakotaärztin Maggie Yellow Cloud standen die Schweißperlen auf der Stirn, obwohl der Septembermorgen kühl war. Jede Sekunde zählte. Sie kniete auf dem welken Grasboden, über einen jungen Mann gebeugt, etwa zwanzig Fuß von einem der Campingzelte entfernt. Die junge Ärztin der Notambulanz des Pine Ridge Hospitals kämpfte um das Leben eines Bewusstlosen, der sich unter Muskelkrämpfen wand. Zwei seiner Freunde und ein Mädchen standen hilflos, schweigend daneben. Besorgt starrten sie auf ihren Freund.

Ein Rettungsassistent hielt den Arm fest, sodass es der Ärztin möglich war, dem Patienten einen venösen Zugang zu legen. Maggie löste den Stauschlauch und injizierte eine wässrige Flüssigkeit in die Armvene des jungen Mannes. Seine Krämpfe ließen sofort nach. Die Muskeln entspannten sich. Nun lag er wie tot am Boden.

„Wie heißt er?”, fragte Maggie die daneben stehenden Jugendlichen, während sie mit ihrer kleinen Stabtaschenlampe die Pupillenreaktion ihres Patienten prüfte.

„Antonio Martinez. Seine Mutter ist Oglala, sein Vater mexikanischer Abstammung”, antwortete das Mädchen.

„Antonio! Kannst du mich hören?”

Der Angesprochene reagierte nicht.

„Wie alt ist er?”

„Siebzehn.”

Der Rettungsassistent, der ein Lakota war, brachte die vorbereitete Infusion an und warf zunächst eine Wolldecke über den Patienten. Die lebensbedrohliche Situation war noch nicht gebannt. „Der Blutdruck ist am Boden”, sagte der Assistent. Er war etwa Mitte vierzig, von gedrungener Gestalt und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Doch auch in seinen Gesichtszügen zeigte sich nun Sorge, als er Maggie ansah.

„Eine Ampulle Adrenalin”, ordnete sie an. „Er bekommt auch kaum noch Luft, Louis.”

Der Rettungsassistent, den Maggie mit Louis angesprochen hatte, zog sofort die Injektion auf und applizierte das Medikament über den venösen Zugang.

„Er muss sofort ins Hospital! Verdacht auf anaphylaktischen Schock”, sagte Maggie.

Der Angesprochene nickte. „Der Helikopter ist bereits unterwegs.”

„Antonio! Komm schon”, zischte Maggie leise, während Louis den Kopf des jungen Mannes leicht nach hinten streckte und dessen Mund öffnete. Nur ein Blick bestätigte die Vermutung der Ärztin. Die Schwellung im Rachenraum schien die Luftröhre zu blockieren. Maggie presste die Lippen fest aufeinander, atmete tief durch und nickte ihrem Kollegen zu. Der hatte verstanden und sprang zum Rettungswagen, während Maggie ihre Hände mitsamt den Handschuhen, die sie trug, desinfizierte. Louis war sofort zurück und packte bereits das Koniotomiebesteck aus. Maggie nahm sich die Notfallkanüle. Die Punktion der Luftröhre war die letzte Möglichkeit, das Leben des jungen Mannes zu retten. Maggie biss die Zähne hart aufeinander und tat es. Selbst in einer Notambulanz stand das nicht auf der Tagesordnung, sodass es für jeden Arzt immer eine Herausforderung darstellte. Die jugendlichen Zuschauer wandten sich hilflos ab.

„Wird er es schaffen?”, fragte schließlich einer der beiden jungen Männer besorgt.

Maggie wischte sich mit dem Arm über die Stirn und schniefte. „Im Hospital hat er eine Chance. Ist euer Freund auf irgendetwas allergisch?”

Die Jugendlichen, die etwa alle im gleichen Alter wie Antonio zu sein schienen, zuckten fast gleichzeitig mit den Schultern.

„Hat er irgendetwas eingenommen?”

Wieder Schulterzucken.

Der Wind frischte auf und ließ Maggies gelöste Haarsträhnen wie kleine Flaggen wehen. Noch immer kniete sie vor dem Patienten und fixierte die Kanüle, die aus der Luftröhre ragte, mit einem Klettband um dessen Hals. Dann fühlte sie noch einmal nach dem Puls an der Halsschlagader und überzeugte sich von den gleichmäßigen Atemzügen Antonios. Louis nickte zufrieden. Maggie atmete erleichtert durch und wagte aufzustehen. Ihre Knie schmerzten und schienen steif geworden zu sein. Maggie fröstelte. Die Hitze der Anspannung war von ihr gewichen und plötzlich spürte sie den kalten Wind auf ihrer Haut. Außerdem war sie übernächtigt und sollte längst im Bett liegen. Doch als der Notruf einging, war der erste Rettungswagen der Notambulanz, mit Doktor Lithgow, bereits im Einsatz. Maggies Einsatzort war ein katholisches Jugendcamp, direkt am White River. Sie blickte zu den fünf Campingzelten. Es war still, als schienen alle noch zu schlafen. Nur der Wind säuselte sein Lied und ließ die Blätter in den Bäumen rauschen. Das weißlich schimmernde Wasser folgte im Bogen dem Flussbett. Die drei jungen Leute rührten sich nicht. Maggie horchte auf. Aus der Ferne drang das Geräusch eines Helikopters zu ihr. Dann sah sie ihn am Horizont. Er kam aus südöstlicher Richtung. Die aufsteigende Sonne blendete die Augen. Nur wenige Minuten waren inzwischen vergangen. Maggie hockte sich wieder zu Antonio und überprüfte noch einmal den Reflex der Pupillen. Diese zogen sich im Bruchteil einer Sekunde zusammen. Kreislauf und Atmung hatten sich stabilisiert. Die Lippen hatten ihren bläulichen Schimmer verloren. Maggie war zufrieden. Der Helikopter kreiste über dem Camp und ging schließlich in einiger Entfernung zu Boden. Der Wind des Rotors wirbelte Blätter und Staub auf. Der Pilot sprang aus dem Helikopter. Louis lief ihm entgegen. Die Rotorblätter durchschnitten gleichmäßig die Luft. Mit der Transporttrage kamen die beiden Männer zu Maggie und dem Patienten. Unzählige Augenpaare waren an den Zelteingängen aufgetaucht und beobachteten das Geschehen. Maggie gab den Männern ein Zeichen, dass alles in Ordnung war für den Transport. Jeder wusste, was er zu tun hatte, jeder Handgriff saß und alles geschah mit einer stoischen Ruhe. Der Pilot griff Doktor Maggie Yellow Cloud am Arm und sah in ihre schwarzen Augen.

„Die Einsatzzentrale sagte, es sei eine Notärztin vor Ort, die den Transport begleitet.” Er grinste verräterisch.

Maggie nickte. Sein Lächeln wirkte beruhigend.

Der Pilot, Robert Yellow Cloud, war ihr Mann. Mit festem Griff zog er sie zum Helikopter.

„Pine Ridge oder Rapid?”, fragte er.

„Zu uns!”, schrie Maggie, den Lärm übertönend.

Louis stieg in den Rettungswagen der Notambulanz und benutzte den Sprechfunk. Der Helikopter stieg auf und drehte sofort in die Richtung ab, aus der er aufgetaucht war.

Der Herbstwind ließ die ersten Pappelblätter umhertanzen. Das Sonnenlicht flirrte lebendig zwischen den Blättern und Zweigen der Bäume, als der Wind hineinfuhr. Er spielte mit den Baumkronen, stahl ihnen ein wenig Laub und dürre Zweige. Dann ließ er sie zu Boden schweben, nur um sie wieder hinaufzublasen. Die Blätter tanzten erneut und schienen gleichfalls Gefallen an diesem Spielchen zu haben. Ein alter Mann mit grauen Zöpfen saß auf einem geflochtenen Schaukelstuhl auf der Veranda vor seinem Haus und beobachtete lächelnd das Spiel. Unzählige Falten umspielten seine leuchtenden Augen. Die Melodie des Windes und das leise Rascheln der Blätter säuselte in seinen Ohren. Sechsundachtzig Jahre hatte der alte Mann, Ian Yellow Cloud, den Sommer erlebt, die Blätter fallen sehen, eisige Kälte und Schneestürme überlebt und den Frühling begrüßt. Es war so, wie seit ewigen Zeiten. Der Lauf der Dinge. Der Kreis schloss sich immer wieder, ohne Anfang, ohne Ende. Ian war Vater geworden und Großvater. Nun sah er bereits seine Urenkel in dem gelben Haus, im Shannon County, aufwachsen. Sein Herz war voller Freude. Schwere Zeiten hatten ihn oft hin und her geworfen, wie ein Wirbelsturm aufgewühlt und zum Kämpfen gezwungen. Nun hatte der alte Mann sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden und er war Wakan Tanka dankbar für jeden Tag, den er noch erleben durfte. Er freute sich über die Sonnenstrahlen, die ihn blendeten, den Regen in seinem Gesicht, den Mond, der ihn wie ein guter alter Freund in der Nacht begleitete. Er freute sich über jeden Grashalm und jede Blume, die sich aus der Erde der Sonne entgegenreckten, freute sich über die Stimmen der Menschen und die Stille gleichermaßen. Der alte Mann freute sich, wenn es genug zu essen für alle gab, alle gesund waren und gerade eben freute er sich über den Tanz der Blätter im Wind. Was brauchte es mehr, um glücklich zu sein? Ian Yellow Cloud war glücklich. Das fröhliche Lachen der Kinder drang zu seinen Ohren. Er richtete seinen Blick zu ihnen. Sharon Yellow Cloud, seine Urenkelin, rannte mit ihrer Freundin Lory Crow Horse kichernd um die Wette. Die geflochtenen Zöpfe der beiden flogen im Takt ihrer Sprünge. Ray Yellow Cloud, Sharons zwei Jahre älterer Bruder, ging hinter den beiden Mädchen her. Seine große, schlanke Gestalt folgte ihnen mit ausgreifenden Schritten. Er war im Gehen fast genauso schnell wie die Mädchen. Die schwarze Hündin sprang ihnen freudig entgegen, gefolgt von fünf quiekenden Welpen. Die Kinder riefen ihren Namen. Tashina wedelte mit dem Schwanz und sprang sie abwechselnd an. Es war das tägliche Begrüßungsritual.

„Hallo Grandpa!”, rief Sharon von Weitem, denn sie hatte den alten Mann längst gesehen.

„Heute ist ein schöner Tag”, rief die Elfjährige freudestrahlend, während sie sich keuchend zur Verandatreppe durchkämpfte. Noch immer wohnte die Hündin mit ihren Welpen darunter. Die waren gewachsen und unter der Treppe wurde es eng.

„Hau. Anpetu kin waste”, lächelte Ian und nickte.

Während Ray sofort im Haus verschwand, stellten Sharon und Lory, die gemeinsam in eine Klasse gingen, ihre Schulrucksäcke ab und spielten weiter mit den Hunden. Kurz darauf erschien Ray mit seiner roten Gitarre in der Hand und kaute an einem Kanten Brot.

„Du bist allein?”, fragte er seinen Urgroßvater erstaunt.

Ian lachte leise. „Ich bin nicht allein, aber im Augenblick ist niemand weiter zu Hause.”

„Hm”, murrte Ray, als er an den leeren Kühlschrank dachte, und stopfte den letzten Bissen Brot in seinen Mund. Sein langes Haar war sorgfältig gescheitelt und straff in zwei Zöpfe geflochten. Die braune Haut wirkte noch etwas dunkler als gewöhnlich, vielleicht durch das weiße Shirt, das er heute trug. Von seiner alten, zerschlissenen Jeans schien er sich nicht trennen zu wollen, als wäre diese ein Teil von ihm selbst. Die Turnschuhe allerdings waren neu. Kauend setzte sich der dreizehnjährige Ray auf die Verandastufen und wischte mit seinen Händen über die Jeanshose. Einen Fuß auf der Stufe, den anderen im Staub, beugte er sich über seine Gitarre und stimmte sie. Schließlich begann Ray zu spielen und zu singen. Sowohl Ian als auch die Mädchen hörten ihm aufmerksam zu. Mitten im Song brach er ab und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann wandte er sich zu Ian um. „Wie macht man sein eigenes Lied? Etwas Neues!”

Der Alte grinste und aus seinen Augen blitzte der Schelm, als er antwortete: „Schließ deine Augen und warte, bis das Lied zu dir kommt.”

Ray riss die Augen auf. Die Mädchen kicherten. Ian schien nicht die Absicht zu haben, dem etwas hinzuzufügen.

„Wie lange, meinst du, kann so etwas dauern?”

Rays Urgroßvater zuckte mit den Schultern.

„Ein Rocksong?”, fragte Sharon.

„Ja.”

„Sing doch etwas über die Schule, oder die Lehrer, oder deine Freunde, oder …”

Ray atmete tief ein und aus. Sharon wagte nicht weiter zu sprechen und Ray wagte nicht zu sagen, was er gerade dachte. So zupfte er an den Saiten seiner Gitarre und blieb stumm.

Sharon und ihre Freundin Lory, die im Haus gegenüber am Fuße des Hügels wohnte, nur etwa eine Meile von hier, nahmen ihre Schulrucksäcke und gingen hinein. Sie tauschten vielsagende Blicke mit dem alten Mann und lächelten sich zu. Die beiden Mädchen setzten sich an den großen Küchentisch und machten ihre Hausaufgaben. Ian vernahm ihre leisen Stimmen, die ab und an aus dem Haus drangen und er lauschte Rays Gitarrenklängen. Sie hörten sich alles andere als rockig an. Ray spielte sanfte, leise Töne. Der alte Mann schloss die Augen und schien zu träumen. Irgendwann, vielleicht eine Stunde später, hielt Ray inne und horchte auf. Die Hündin war aufgesprungen, winselte leise und wedelte mit dem Schwanz. Ein Van kam näher. Ray beobachtete ihn, bis er vor dem Haus stehen blieb. Er freute sich sichtlich, denn seine Großeltern stiegen aus. Großmutter Kath Yellow Cloud winkte Ray heran. Er stand auf und lehnte die Gitarre an die Hauswand. Die Hündin sprang vor seinen Füßen umher und er stolperte über einen der Welpen. Ray fing sich und fluchte leise. „Noch mal und du kommst in die Suppe.”

Dann grinste er. Ray grüßte mit einem knappen „Hi” seinen Großvater, Harry Yellow Cloud. Der öffnete die Kofferraumklappe und Ray entfuhr ein „Wow”.

Kath lächelte. Ihre schwarzen Augen glänzten. Kleine Falten erschienen in ihrem Gesicht, wirkten wie lebendige Strahlen. Ihr dünnes, graues Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, den sie am Hinterkopf zu einem Knoten gesteckt hatte. Sie wusste, dass Ray hungrig war. Ray packte zu und schleppte Kartons, Tüten, Wasser und Colaflaschen ins Haus. Die Mädchen waren mit ihren Hausaufgaben fertig und hatten den Küchentisch bereits geräumt. Kath griff nach einer Packung Cookies und gab sie den Kindern.

„Danke!”

„Wollen wir gemeinsam etwas schönes zu Abendessen kochen?”, fragte Kath.

„Natürlich!”, antworteten die Mädchen gleichzeitig.

Sharon und Lory backten und kochten gern mit Großmutter Kath und ganz nebenbei lernten sie sehr viel von ihr.

„Ist Maggie noch nicht zu Hause?”, fragte Kath erstaunt.

„Nein”, antwortete Ray, stapelte sich so viele Cookies in seine Hand, wie hinein passten, ohne hinunterzufallen. Dann biss er genüsslich in einen weiteren und kaute auf dem Weg nach draußen. Ray konnte es kaum erwarten, dass das Abendessen fertig war. Er ging zu Großvater Harry, der am Paddock lehnte, die Arme über einem der Holzbalken verschränkt. Harry Yellow Cloud beobachtete die zwei Pferde in ihrer Einzäunung und die Pferde beobachteten die Zweibeiner. Der Boden war von den Hufen zertreten, vom Regen verschlammt, aufgewühlt worden und wieder vertrocknet. Kein Grashalm hatte mehr eine Chance, sich hier der Sonne entgegenzustrecken. Harry wandte seinen Blick zu seinem Enkelsohn und lächelte. Ihm fehlten bereits einige Zähne. Das magere Gesicht durchzogen zwei tiefe Falten. Die vielen kleinen Fältchen dagegen, die gerade jetzt seine leuchtenden Augen umschmeichelten, wirkten wie zarte Spinnweben im Morgentau. Großvater Harrys gebogene Nase, zwischen den hervorstehenden Wangenknochen, erinnerte Ray an eine aus Holz geschnitzte Indianerstatue im Besucherzentrum der Black Hills. Es schien, als hätte er sich einmal das Nasenbein gebrochen. Doch das blieb Harrys Geheimnis. Ray hatte ihn nie danach gefragt und würde es auch jetzt nicht tun. Großvaters Haare waren seit dem Mord an seinem Sohn Henry Yellow Cloud, Rays Vater, sehr grau geworden. Seine dünnen Zöpfe verloren sich in Brusthöhe auf dem karierten Holzfällerhemd. Harry schwieg sich aus. Ray hatte nicht vergessen, dass Großvater versucht hatte, seinen Schmerz im Brandy zu ertränken und er würde nie vergessen, was er Kath und ihm angetan hatte, als er sie damals verprügelt hatte. Aber Ray wollte seinem Großvater verzeihen, denn er glaubte zu verstehen, warum er damals fast den Verstand verloren hatte. Ray lächelte zurück und bot seinem Großvater Cookies an. Harry nahm sich einen und sagte: „Danke.”

Die Pferde kamen heran und untersuchten Rays Hand, die er am Holzbalken abstützte. Sie waren sehr neugierig und wahrscheinlich genauso hungrig wie er. Jeder Zweibeiner in der Reservation, auch wenn er seine Pferde liebte, gab das Brot und die Möhren dennoch lieber seiner hungrigen Familie. Eine Ausnahme gab es sehr selten. Ray machte heute eine Ausnahme und gab jedem Tier einen seiner Cookies ab.

„Du verwöhnst sie”, bemerkte Harry. „Jetzt werden sie jeden Tag an den Zaun kommen und dich fragen, ob du einen Coockie für sie hast.”

„Sie werden lernen müssen, dass es hier nicht jeden Tag welche gibt.”

Harry lachte leise vor sich hin. Schweigend blieben die beiden nebeneinander stehen und warteten, bis Kath sie rufen würde.

Obwohl Maggie wach lag, hielt sie die Augen geschlossen und genoss die Ruhe und die wohlige Wärme unter ihrer Decke. Sie wusste nicht, wie spät es war und wie lange sie geschlafen hatte. Ihr Geist war wach und die Gedanken kreisten in ihrem Kopf herum. Aber die Augenlider wollten sich noch nicht öffnen und ihre Glieder fühlten sich schwer und müde an. Sie gähnte und zog die Decke bis zu ihrer Nasenspitze. Maggie musste wohl doch noch einmal eingenickt gewesen sein, denn sie schreckte auf, als es leise knackte und ein Lichtschein auf ihr Gesicht fiel. Nun öffnete sie die Augen und blinzelte Schwester Mary entgegen.

„Wie geht es dir, Maggie?”, flüsterte diese.

„Gut, Mary. Danke. Wie lange habe ich geschlafen? Drei Stunden oder drei Tage?”

Maggie hörte Mary leise lachen. „Drei Wochen”, antwortete diese schließlich.

Maggie grinste durch das Dämmerlicht im Bereitschaftszimmer zu Mary Night Killers rundem, immer freundlich wirkendem Gesicht und erhob sich. „Und niemand hat mich vermisst?”, fragte sie ungläubig.

„Nein”, antwortete Mary ohne zu zögern.

Dann kicherten sie beide. Maggie öffnete das Fenster. Das Tageslicht blendete ihre Augen. Ein kühler Luftzug schlug ihr entgegen und ließ sie etwas frösteln. Maggie schlug die Arme um ihren Körper. „Wie geht es dem jungen Mann aus dem Camp?”

„Mr Martinez ist stabil und erholt sich gut. Er schläft.”

„Das freut mich zu hören.”

Maggie wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und griff nach dem Handtuch.

„Der Pater vom Camp ist gerade bei ihm”, berichtete Schwester Mary. Sie war eine robuste Person, eine Vollblutlakota, die bereits seit dreißig Jahren zum Krankenhausinventar gehörte.

Maggie rubbelte mit dem Handtuch über ihr Gesicht. Nun war sie wach und fühlte sich auch so. Sie lächelte Mary zu.

„Der Pater möchte dich gerne sprechen, Maggie.”

Maggie nickte. „Ich gehe gleich zu ihm. Wie spät ist es eigentlich?”

„Viertel nach vier .”

Maggie lachte leise. „Du meine Güte …”

Die Sonnenstrahlen waren bereits an der Südseite des Hospitals vorbeigewandert. Fahles Licht schien nun zum Fenster herein. In dem Krankenzimmer der Intensivstation war Platz genug für vier Notfallbetten. Nur zwei davon standen momentan im Raum. So wirkte es kühl und ungemütlich.

Die technische Ausstattung musste auf die Patienten eher bedrohlich als beruhigend wirken. Doch Antonio Martinez war das egal. Er lag in dem Bett am Fenster und schlief. Das fahle Tageslicht fiel auf sein Gesicht und gab ihm eine eigenartige Färbung. Es schien gerade so, als wäre er aus Wachs. Die Kanüle, die Maggie ihm gelegt hatte, hielt noch immer den Weg für die Luft zur Lunge frei. Der Siebzehnjährige war ganz entspannt und atmete gleichmäßig. Er war momentan der einzige Patient in diesem Zimmer. Das elektronische Gerät, das seine Vitalwerte aufzeichnete, war auf stumm geschaltet. Nur der Alarmgeber war aktiv. Vor Antonios Bett, auf dem Stuhl, saß ein weißer Mann. Er war in sich zusammengesunken und wirkte, als schliefe er ebenfalls. Doch mit kleinen, müden Augen starrte er auf den Patienten, der im Bett lag.

Der Mann trug eine einfache Jeanshose und einen schwarzen Pullover. Sein dunkelblonder, dichter Haarschopf wirkte ungekämmt und erinnerte an einen Staubmopp. Sein blasses Gesicht war glattrasiert. Er schien kaum älter zu sein, als sein Freund, den er besuchte. Dieser Mann hatte die Hände im Schoß gefaltet, ja regelrecht ineinander verkrampft. Reglos verharrte er in der Stille, seitdem er gekommen war. Er zuckte nicht einmal, als es leise knackte. Vielleicht hatte er es gar nicht gehört. Er saß auf dem Stuhl, sah auch nicht auf, als jemand das Zimmer betrat. Jemand stellte sich einen zweiten Stuhl neben den seinen und setzte sich zu ihm. Wieder beherrschte die endlose Stille den Raum, in dem drei Menschen spürten, nicht allein zu sein.

„Guten Tag, Pater”, begann Maggie schließlich leise und sanft die Stille zu stören.

Der Angesprochene rührte sich nicht, doch Maggie bemerkte, dass ihn etwas zu bedrücken schien und er krampfhaft nach Worten suchte.

„Er lebt”, fuhr Maggie leise fort. „Es geht ihm gut.”

Die junge Ärztin hörte den Mann neben sich aufatmen. Er nickte, wie in Trance und sagte kaum hörbar: „Danke.”

Es dauerte eine Weile, bevor der junge Mann zu sprechen begann. „Ich bin schuld. Ich allein. Ich habe ihm das Antibiotikum gegeben.”

Auch er sprach leise und starrte fortwährend auf den Schlafenden. Maggie hörte dem jungen Mann aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen.

„Antonio hatte eine Bronchitis. Er hustete schon, als wir gestern Morgen aufbrachen. Dass er eine Bronchitis hatte, verschwieg er aus Angst, wir könnten ihn nach Hause schicken. Aber gegen Abend wurde es schlimmer, obwohl er ständig seine Hustentropfen einnahm. Er hustete fast die ganze Nacht hindurch und konnte nicht schlafen. Die anderen auch nicht. Ich wollte ihm helfen. Ich hätte es besser wissen müssen. Aber Antonio flehte mich an, ihn nicht zurück nach Hause zu schicken.”

Der Pater machte eine Pause, bevor er fortfuhr. „Dann habe ich ihm die Tabletten gegeben.”

„Wann?”

„Das war so gegen sechs heute Morgen.”

„Welche?”

Wortlos löste der Pater seine verkrampften Hände und griff in seine Hosentasche. „Diese”, sagte er, während er sich zu Maggie wandte und diese scheu anblickte.

Maggie nahm ihm die zerdrückte Pappschachtel ab, warf einen Blick darauf und nickte. Dann gab sie ihm die Packung zurück.

„Nein. Ich will sie nicht mehr haben. Diese Tabletten haben Unheil gebracht. Haben einen meiner Schutzbefohlenen beinahe getötet.”

„Er hat daraufhin einen anaphylaktischen Schock bekommen. Das ist eine der stärksten, allergenen Reaktionen, die in vielen Fällen durch Medikamente, wie eben einem Antibiotikum, aber auch durch tierische Gifte oder Nahrungsmittel ausgelöst werden kann. Wenn ein Mensch nicht weiß, dass er auf irgendetwas dermaßen allergisch reagiert, kann es jeden treffen, Pater. Sie konnten das nicht wissen. So etwas ist unvorhersehbar.”

Der Pater atmete tief durch und starrte wieder auf Antonio.

„Werfen Sie sie trotzdem weg, Doktor …”

„Yellow Cloud.”

„Verzeihen Sie mir, Doktor Yellow Cloud, dass ich so unhöflich war. Ich habe mich Ihnen nicht einmal vorgestellt. Jonathan Robertson. Ich bin erst seit Kurzem hier, in der Mission von Rapid City. Ich habe mich freiwillig dorthin versetzen lassen, um mich der vielen verlorenen Seelen von Jugendlichen in der Stadt anzunehmen, die sonst niemanden haben, bei dem sie Halt finden. Das Jugendcamp am White River war mein erster Schritt. Es sind hauptsächlich Stadtkinder: Indianer, auch ein paar Weiße, Latinos, Chinesen und sonstige Schattierungen. Wir sind also eine ganz bunte Truppe.”

Beim letzten Satz erschien ein Lächeln auf Pater Robertsons Gesicht, das ihn plötzlich lebendig werden ließ.

„Vielleicht kommen Sie uns einmal besuchen, Doktor Yellow Cloud.”

„Gerne.”

Antonio Martinez rührte sich im Schlaf und seufzte leise. Es war inzwischen dämmrig im Zimmer geworden.

Das Gesicht des Patienten hatte seinen wachsfarbenen Teint verloren. Gesunde, gut durchblutete, braune Haut spannte sich über sein Gesicht.

„Hat Antonio Angehörige, die wir verständigen sollten?”, fragte Maggie.

Pater Robertson zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise. Sein Vater lebt irgendwo in Mexiko. In Rapid City wohnte er angeblich in einer Wohngemeinschaft, im Indianerviertel. Man nennt diese Stadtteile wohl auch heute noch Slums. Er erzählte mir von einer kranken Mutter und jüngeren Geschwistern. Mehr weiß ich leider auch nicht über ihn. Auf jeden Fall wollte er unbedingt mit in das Camp, auf keinen Fall zurück nach Hause.”

Maggie nickte etwas niedergeschlagen, denn Sie wusste, was das bedeutete.

„Ich werde mich um ihn kümmern. Das verspreche ich Ihnen”, fügte Pater Robertson hinzu. „Ich bin Gott so dankbar, dass es Antonio geschafft hat. Dass er lebt. Aber ohne Sie, Doktor Yellow Cloud, wäre das unmöglich gewesen. Sie haben ein Wunder vollbracht.”

Maggie lächelte.

„Sie haben heute Morgen neben uns gestanden, mit dem anderen jungen Mann und dem Mädchen. Ich hielt Sie für einen seiner Freunde.”

Pater Robertson grinste verlegen. „Ja. Ein Schaf unter Schafen.”

Maggies Lächeln wurde breiter. Dann stand sie auf. „Sie können Antonio besuchen, wann immer Sie wollen, Pater. Reden Sie mit ihm. Er weiß, dass Sie da sind.”

Pater Robertson nickte Maggie zu. „Danke.”

Maggie verabschiedete sich und ging.

Vor der Tür stand Robert Yellow Cloud, Maggies Mann, der bereits auf sie wartete. Sein Kollege aus Rapid City, der den Rettungshelikopter von ihm übernommen hatte, hatte Robert am Hospital in Pine Ridge abgesetzt.

„Schon Feierabend?”, fragte sie.

„So ist es. Und du?”

Maggie lächelte seufzend. Sie hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war.

„Gehen wir”, sagte sie und ging zum Bereitschaftszimmer, um ihre Tasche zu holen. Sie rief ihrem Kollegen ein „Bye. Ich wünsche euch einen ruhigen Dienst” zu und verließ mit Robert das Hospital.

Kalte Luft schlug ihnen entgegen. Maggie machte ihre Jacke zu. Die Temperatur war schnell gefallen, die Luft war schwer und feucht, und die Sonne, die sich im Westen neigte, erschien nur als weißschimmernde Scheibe am Horizont. Zwei Minuten später hatten sie den schwarzen Dodge Ram erreicht. Robert öffnete die Türen. Maggie zog die Jacke nicht aus. Robert startete den Motor und fuhr an. Maggie schüttelte gedankenversunken den Kopf.

„Was ist?”, fragte Robert, der das bemerkt hatte.

„Wie kann man um diese Zeit noch ein Camp am White River aufschlagen? Die Nächte sind schon viel zu kalt!”

„Pater Robertsons Jugendcamp der Stadtindianer”, stellte Robert fest. Er hatte bereits davon gehört.

Maggie nickte.

Robert grinste, als er weitersprach. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein katholischer Pater unsere Jugend für so viel Traditionalismus begeistern könnte.”

„Unsere Vorfahren hatten aber bessere Zelte, als diese dünnen Dinger.”

„Und hatten richtige Felle und keine Baumwolldecken.”

„Und sie waren im Allgemeinen viel besser abgehärtet, schon allein durch ihr morgendliches Bad im eisigen Flusswasser”, grinste auch Maggie. „Könntest du dir das vorstellen?”

Robert schüttelte sich und lachte. „Ich könnte mir etwas sehr viel Besseres vorstellen.”

Maggie sah erwartungsvoll zu ihrem Mann und wartete. Er schwieg.

„Was?”, fragte sie schließlich.

„Vier nackte Frauen unter meiner Decke, die mich von allen Seiten wärmen.”

Maggie stieß ihren Mann daraufhin mit dem Ellenbogen in die Seite. „Du bist unmöglich, Robert Yellow Cloud!”

Robert lachte amüsiert.

Es wurde bereits dunkel, als der Truck auf den unbefestigten Weg zum gelben Haus einbog. Das Scheinwerferlicht huschte am Gestrüpp entlang. Zarte Nebelschwaden umhüllten die Nachbarhäuser. Die Umrisse waren kaum noch zu erkennen. Im Haus der Yellow Clouds brannte Licht. Robert hatte die schwarzen Schatten bemerkt, die auf den Truck zuhuschten und fuhr in Schrittgeschwindigkeit bis zur Veranda, wo auch der Van parkte. Die Hunde begrüßten die Zweibeiner und die Ankömmlinge streichelten die Hunde, ehe sie im Haus verschwanden.

Simon McPherson, der junge Assistenzarzt der Notaufnahme des Indian Hospitals in Pine Ridge hockte an diesem Freitagnachmittag allein in seiner Wohnung. Er erschlug die Einsamkeit mit Telefonaten, hatte inzwischen auch die Gesellschaft seines Fernsehapparates zu schätzen gelernt und vergrub seine Gedanken in Arbeit. Unzählige Bücher stapelten sich auf dem Fußboden, auf dem Schreibtisch oder wo er sie gerade hatte liegen lassen. Im Prinzip war er momentan sogar dankbar, dass niemand seine ganz besondere Ordnung störte. Noch beherrschte Simon sein eigenes Chaos und vergaß darüber nicht nur das Fortschreiten der Zeit, sondern auch oft das Essen. Erst sein hungriger Magen erinnerte ihn mit einem eindeutigen Knurren daran, dass auch sein Körper aus Fleisch und Blut bestand. Auch ein Arzt war den normalen physiologischen Gesetzen unterworfen und das war gut so, denn sonst hätte Simon wahrscheinlich irgendwann vergessen zu atmen oder sein Herz hätte vergessen, das Blut durch die Adern zu pumpen.

Die Natur der Dinge, die Schöpfung an sich, hatte an alles gedacht, zum Schutz vergesslicher Menschen. Aber der menschliche Körper hatte noch eine weitere wichtige Schutzfunktion gegen Überlastung. Von einer Sekunde zur anderen, als Simons Kopf so voll war, dass er keine Informationen mehr aufnehmen konnte, schaltete das Gehirn einfach ab. Simon wusste nicht mehr, was er gerade eben überhaupt gelesen hatte und schlug das Buch einfach zu. Seine Gedanken begannen zu wandern. Simon überlegte, was er schon alles studiert hatte. Viel mehr als das, was er als Notarzt wissen musste. Simon McPherson hatte nicht vor, sein Leben als Assistenzarzt im Hospital zu fristen. Er wollte mehr. Er hatte sogar heimlich gewagt, von der Chefarztstelle in der Notambulanz zu träumen. Seitdem Doktor Burton Kinley wegen seiner korrupten Machenschaften im Gefängnis schmorte, war die Stelle noch immer unbesetzt. Maggie hatte mit der Begründung, sie wollte lieber Patienten behandeln, anstatt sie zu verwalten, abgelehnt.

Der Traum hatte Simon gefallen. Doch der erste Schritt war seine Ausbildung zum Notarzt. Nur, ihm wurde immer noch furchtbar schwindlig, wenn er viel Blut sah und es kostete ihn große Überwindung, mit dem Skalpell zu arbeiten. Aber Simon gab nicht auf. Seine Entscheidung stand fest. Außerdem war er nicht der erste, der mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Selbst seine Ausbilder hatten ihn grinsend getröstet und ihm von ihren Anfangsschwierigkeiten gebeichtet. Ja, und auch Maggie hatte ihm gestanden, dass sie sich hatte überwinden müssen.

Das machte Simon Mut. Er hatte seine Wohnung inzwischen nach seinem Geschmack eingerichtet, nachdem er seine Sachen von zu Hause, aus Kalifornien, hierher geholt hatte. Seine Eltern hatten den Schock inzwischen verarbeitet, dass er hier in der Wildnis saß, und wollten ihn zu Weihnachten besuchen kommen. Das Doppelhaus stand mit den anderen Häusern in einer langen Reihe und war dem Hospital angegliedert. Ein Teil des Personals wohnte hier, auch Schwester Mary Night Killer. Diese Häuser waren nicht besser isoliert, als alle anderen, schlicht und alle nach dem gleichen Schnitt. Schwester Mary hatte beim Einzug augenzwinkernd zu Simon gesagt: „Das hat den Vorteil, dass Sie sich überall zu Hause fühlen und sich auf dem Weg zur Toilette niemals verlaufen können“. Simon musste grinsen, als er sich an Marys Äußerung erinnerte. Er legte schließlich das Buch aus der Hand, zog seinen Anorak an und trat vor die Tür. Die frische Luft, die er tief in seine Lunge sog, tat gut und der Nebel im Gehirn klarte auf. Simon hatte Hunger und das erinnerte ihn daran, dass der Kühlschrank genauso leer war, wie bei einem Einheimischen. Da er heute Abend noch zum Bereitschaftsdienst ins Hospital musste, stieg er in seinen Wagen und fuhr zum Sioux Nation Supermarkt. Wenig später steuerte er den Einkaufswagen zwischen den Regalen entlang. Während er nach etwas Passendem für seinen Singlehaushalt suchte, wurde er von einem Jugendlichen gegrüßt. „‘n Abend, Doc.”

Simon wandte sich um und grüßte freundlich zurück. Er kannte den Jungen, der zusammen mit Ray Yellow Cloud Musik machte. Es schmeichelte Simon, dass die Leute ihn im Ort und im Hospital mit Doktor anredeten, obwohl er noch keiner war. Er hatte es inzwischen aufgegeben, ihnen das zu erklären. Simon wandte sich wieder dem Regal zu. Stirnrunzelnd stellte er sich dem Problem, Nahrungsmittel für seinen Singlehaushalt zu finden. Das war nicht so einfach, denn Supermärkte waren im Allgemeinen mit Großpackungen für Großfamilien ausgerüstet. Auch hier war das nicht anders. Außerdem hatte Simon mit einem zweiten Problem zu kämpfen: Wie wird aus den ganzen Einzelteilen ein nicht nur nahrhaftes, sondern auch gut schmeckendes Gericht, das auch noch gesund sein sollte? Ein Kochbuch befand sich nicht in Simons Privatbibliothek. Er bemerkte nicht einmal, dass er gerade die Zubereitungsanweisungen eines Fertiggerichts laut vorlas, als er gestört wurde.

„Das solltest du lieber stehen lassen, Doktor. Davon bekommt man Blähungen.”

Simon zuckte erschrocken zusammen und sah in das grinsende Gesicht, zu dem die ihm bekannte Stimme gehörte.

„Oh, Jack! Wie geht‘s?”

„Gut, wie immer. Und dir?”

Hinter dem großen, breitschultrigen Lakota mit den langen Haaren und dem runden Gesicht, tauchte eine junge, braunhäutige Frau auf. Sie hatte zwei kleine Kinder bei sich. „Guten Tag”, grüßte diese Simon freundlich.

Bevor Simon etwas sagen konnte, stellte Jack Many White Bulls sie vor. „Lorna, das ist der Doktor von unserem Hospital und das ist Lorna Many White Bulls.”

Simon starrte die Frau mit großen Augen an. Er wusste, dass er das lieber nicht hätte tun sollen, aber er konnte nicht anders. Lorna war, nach seiner Auffassung, verdammt hübsch und gut gebaut. Simon schalt sich selbst und erinnerte sich an seine gute Erziehung. Lächelnd schüttelte er die Hand der Frau. „Schön, Sie kennenzulernen, Lorna.”

Lorna lächelte Simon zu und nickte nur, bevor sie mit den Kindern den Einkaufswagen weiterschob.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass du verheiratet bist und Kinder hast”, sagte Simon verwundert.

„Schon zu lange. Frauen machen manchmal Ärger. Wenn die Kinder nicht wären …”

Dann grinste Jack, als er Simons verdutztes Gesicht sah, wobei seine schwarzen Augen schelmisch blinzelten.

„Aber Frauen können kochen?”, fragte Simon schließlich verunsichert. Irgendetwas verschwieg Jack ihm gerade!

Jack dagegen lachte amüsiert. „Ich glaube, du hast ein Problem?” „Mehrere”, entgegnete Simon frustriert. „Zum Beispiel Kochen“. Jack trat näher zu Simon McPherson heran, als wollte er ihm ein Geheimnis verraten. „Kochen ist gar nicht so schwer, wie du vielleicht denkst. Es ist heute auch keine Schande mehr, wenn das ein Mann macht. Nimm ein paar Fertiggerichte!”

Simon warf das Fertiggericht mit einem Seufzen in seinen Korb zu Müsli, Toast und Erdnussbutter.

„Okay. Ich kann immerhin die Mikrowelle bedienen, Kaffee kochen und eine Suppe auf dem Herd aufwärmen. Ist doch schon mal ein Anfang.”

„Überlebenswichtig!”, bestätigte Jack und zog einen großen Sack Mehl aus dem Regal. „Bye, bis später.”

Simon starrte Jack hinterher, der den 25-Kilo-Mehlsack in den Einkaufswagen packte, und fragte sich, wozu man so viel Mehl gebrauchen könnte. Dann nahm er sich aus dem Tiefkühlfach mehrere Packungen Steaks, packte Ketchup, Gurken und eine ganze Palette Joghurt dazu. Schließlich landeten auch Eier, Schinken und eine beträchtliche Auswahl verschiedener Dosensuppen im Korb. Als Simon an der Kasse stand, war sein Einkaufswagen voller, als er geplant hatte, und sein knurrender Magen erinnerte ihn unsanft daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.

Draußen wurde es bereits dämmrig. Das Licht der großen Laternen auf dem Parkplatz spiegelte sich auf dem Lack seines Wagens, einem achtundneunziger Honda Civic. Eine der Glühbirnen flackerte. Simon packte das Eingekaufte in den Kofferraum und schlug die Klappe zu. Sein Hunger wuchs ins Unermessliche in Anbetracht dessen, dass seine Vorräte nun aufgefüllt waren und kaum noch Wünsche offen ließen. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr und startete den Motor. Ohne es zu ahnen führte sein Weg zu einer Pizzeria, und ohne dass Simon es beabsichtigte, stoppte er seinen Wagen auf dem Parkplatz davor. Wie automatisch führten ihn seine Schritte direkt dort hinein. Simons Hunger überwand die Scheu, die er bisher noch hatte, allein in Restaurants zu gehen. Schon der Duft zog ihn in seinen Bann und er bestellte sich eine extra große Pizza. Dann sagte er der Bedienung, dass er gleich wiederkäme.

Simon fühlte sich, als müsse er jeden Augenblick vor Hunger sterben. Er ging hinaus vor die Tür, weil er den Anblick und den Duft des Essens nicht mehr ertragen konnte. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen, während er wartete. Es herrschte ziemlich viel Betrieb und dauernd öffnete sich die Tür. Fast immer kam ein freundliches „‘n Abend, Doc”. Simon sah sich die Leute an, die er ebenso freundlich zurückgrüßte, um sich wenigstens die Gesichter einzuprägen. Die Namen konnte er sich ohnehin nicht alle merken. Dann entschloss er sich, den Parkplatz zu Fuß zu umrunden. Er hoffte, dass danach die bestellte Pizza auf ihn wartete. Nach ein paar Schritten grüßte wieder jemand freundlich.

„Guten Abend, McPherson.”

Simon war ein wenig erschrocken, dass ihn jemand mit Namen angesprochen hatte. Er sah in das Gesicht eines Mannes, den er kannte: Louis Three Star, der Rettungsassistent der Notambulanz. Louis war ein wenig größer, trug sein Haar genauso kurz wie Simon und hatte sich in eine fellgefütterte Jeansjacke gehüllt, deren Kragen er nach oben geschlagen hatte. Er grinste Simon vorwitzig an. Seine schwarzen Augen funkelten im schwachen Licht der Parkplatzlaternen.

„Guten Abend, Mr Three Star”, antwortete Simon.

„Trauen Sie sich nicht rein, oder sind Sie nicht hungrig?”

„Ich warte auf meine Pizza. Ich wollte gerade hineingehen.”

Louis grinste noch breiter.

„Das trifft sich gut. Ich bin hungrig wie ein Wolf und allein schmeckt es nicht so gut.”

Simon nickte. Louis hatte vollkommen recht. Im Prinzip war er froh, Louis begegnet zu sein.

„Stimmt. Kommen Sie. Ich lade Sie ein”, entschied Simon.

Gemeinsam betraten sie den Pizza-Hut und fanden zwei freie Plätze an einem der Tische.

Simon strahlte, als die Bedienung ihm seine Pizza brachte und bestellte zwei große Cola. Louis hatte sich bereits entschieden und bestellte eine Pizza. Als er bemerkte, dass Simon zögerte, mit dem Essen zu beginnen, meinte er: „Hau‘n Sie rein, McPherson. Heiß schmeckt sie besser.”

Mit einem dankbaren Blick begann Simon zu kauen. Louis erzählte Simon Belanglosigkeiten aus der Reservation und andere Neuigkeiten, die der Arzt besser wissen sollte. Er wusste, dass der junge Arzt für seine Weiterbildung büffelte und außer im Hospital kaum unter Leute kam. Außerdem war es Ende September und damit brach eine Zeit an, in der die Menschen sich eher in ihre Häuser verzogen, sich oft nur an Orten trafen, die Simon nicht kannte oder mied, abgesehen von der Tankstelle, an der immer Betrieb war. Dann erzählte Louis von dem morgendlichen Einsatz am Jugendcamp, drüben, zwischen Slim Butte und White River. „Den hatte es ganz schön erwischt!“, meinte er ernst.

Simon sah sich um und mahnte: „Sollten wir das nicht lieber im Hospital besprechen? Schweigepflicht und so?” Er kannte die Redseligkeit der Lakota.

Louis grinste achselzuckend. „Es gibt keinen Lakota hier, oder in der ganzen Reservation, der das noch nicht weiß, Doktor Mc-Pherson.”

„Der Mokassintelegraph”, stellte Simon fest.

„Information ist alles. Wissen heißt leben. Aber keine Angst. Wir respektieren auch die Schweigepflicht.”

Simon nickte freundlich. „Danke für die Information, Mr Three Star.”

„Louis.”

„Danke Louis. Ich heiße Simon.”

Louis lachte glucksend.

Simon spürte den Anflug seiner alten Unsicherheit, die er glaubte, längst überwunden zu haben.

„Danke wofür, Simon?”, fragte Louis, als er sich beruhigt hatte.

„Dass du mich nicht dumm sterben lässt, sondern mir erzählst, was hier so alles passiert.”

Louis legte den Kopf schräg und musterte sein Gegenüber, wie ein Falke seine Beute. War das Sarkasmus? Simon dagegen dachte, dass Louis ihn nicht ganz verstanden hatte. Aber Louis schwieg und starrte ihn nur mit diesen undurchdringlichen schwarzen Augen an.

„Ich hoffe, ich kann mich irgendwann einmal revanchieren”, sagte Simon schließlich verlegen. Manchmal verstand er diese Lakota einfach nicht.

Louis nickte und trank seine Cola aus. Ein anderer Lakota kam auf die beiden zu und begrüßte sie, während er sich bereits auf dem freien Stuhl niederließ.

Simon überlegte, ob er den Fremden schon mal irgendwo gesehen hatte. Louis stellte ihn schließlich als seinen jüngeren Bruder, Dave Three Star, vor.

„Guten Abend, Doktor McPherson. Schön Sie kennenzulernen”, sagte Dave.

Simon hörte die freundliche Phrase, die auch er schon oft genug gesagt hatte. Aber er hatte das Gefühl, dass Dave auch meinte, was er sagte. Dave lächelte offen und schien darauf zu warten, dass der Doktor etwas erwiderte. Simon nickte und brachte ein freundliches „Mis eya” heraus. Louis und Dave sahen Simon Mc-Pherson erstaunt an und nickten anerkennend.

„Du sprichst Lakota?”, fragte Louis nicht minder erstaunt.

„Meine Geheimwaffe für ganz hartnäckige Fälle”, triumphierte Simon.

Die Männer lachten.

„Running Deer zum Beispiel”, fügte Simon hinzu.

Die Männer amüsierten sich noch eine Weile und machten Witze. Simon fühlte sich wohl in der Männerrunde und zog in Erwägung, sich diese Abwechslung ab und zu mal zu gönnen. Die Zeit verflog viel zu schnell. Ohne dass Simon es bemerkt hatte, war es viertel vor neun. Er sah von seiner Armbanduhr auf und verabschiedete sich von Louis und Dave Three Star.

Draußen war es finster geworden und kalter Wind wehte vom Norden her. Simon fuhr nach Hause. Als er das Eingekaufte in sein Haus schleppte, stoppte ein Wagen direkt hinter dem seinen. Das Scheinwerferlicht beleuchtete seinen Kofferraum. Der Motor des Wagens brummte weiter vor sich hin, während ein Mann ausstieg und direkt auf Simon zukam. Das Scheinwerferlicht blendete Simons Augen, sodass er zunächst nur die Umrisse eines großen, kräftigen Mannes mit langen Zöpfen wahrnahm.

„Guten Abend, Doktor Simon. Das trifft sich gut”, begann dieser und trat zu ihm.

Nun erkannte Simon die Stimme und den Mann, der neben ihm stehen geblieben war.

„Crow Horse! Was machst du denn um diese Zeit noch hier?”, fragte Simon überrascht.

„Ich war bei meinem Cousin, drüben bei Wounded Knee. Ich habe ihm geholfen, sein Auto zu reparieren. Hatte noch ein paar passende Ersatzteile für seinen Ford. Ist dunkel geworden, aber der alte Pick-up läuft wieder wie ein junger Mustang.” Crow Horse lachte gequält. „Ich war an der Tankstelle. Die hatten kein Aspirin mehr und mir platzt gleich der Schädel.”

„Tankstelle? Kein Aspirin?”, fragte Simon ungläubig.

„Ja. So ist es.”

„Komm rein! Ich will sehen, was ich tun kann.”

Simon schnappte sich vier Tüten und ging voran. Crow Horse packte mit beiden Händen den großen Karton Dosensuppen und folgte Simon in die Küche.

„Danke”, sagte Simon und wies mit einem Kopfnicken zum Küchentisch. Der Lakota schob den Karton darauf und blieb schweigend stehen. Simon bemerkte wohl, dass Crow Horse auf seine Vorräte starrte.

„Große Herbstjagd. So sieht es aus, wenn ein hungriger Junggeselle den Supermarkt plündert”, meinte Simon schmunzelnd und öffnete seine hauseigene Apotheke.

Über Crow Horse‘ Gesicht huschte ein Lächeln, während er wartete.

„Du hättest zur Not auch ins Hospital gehen können. Die haben immer was gegen Kopfschmerzen”, meinte Simon. Dann fand er das Gesuchte und gab es Crow Horse. Der nahm sich zwei Tabletten aus der Folie und schluckte sie sofort. Simon holte ihm rasch ein Glas Wasser.

„Danke”, sagte Crow Horse und gab Simon die Packung zurück. Der wehrte ab. „Behalte sie. Ich muss in den nächsten Tagen sowieso tanken fahren.”

Crow Horse nickte. „Danke Doc.”

Dann verabschiedete er sich rasch von Simon und war auch schon verschwunden. Simon schüttelte lächelnd den Kopf und packte die Steaks in seinen Kühlschrank. Alles andere musste warten. Die Zeit lief, ob mit oder ohne Uhr.

Pünktlich um viertel vor zehn an diesem Abend betrat der Arzt Simon McPherson die Notambulanz im Erdgeschoss des Indian Hospital in Pine Ridge. Es hatte zu regnen begonnen. Im Dienstzimmer wartete sein Kollege Doktor Leonhard Lithgow auf Simon und begann nach der Begrüßung mit seinem Bericht. Simon erfuhr Genaueres über den morgendlichen Zugang. Der siebzehnjährige Antonio Martinez war inzwischen bei Bewusstsein. Da er den ganzen Tag geschlafen hatte, wären möglicherweise nächtliche Schlafstörungen zu erwarten. Lithgow lächelte. Weitere Zugänge gab es bisher nicht und in der Notambulanz, die im Augenblick mit drei Patienten belegt war, herrschte außergewöhnliche Ruhe. Der Patient, zu dem der Arzt heute in aller Früh gerufen worden war, hatte lediglich Magenkrämpfe gehabt, die sich unter der Gabe von Muskelrelaxantien schnell gelöst hatten, sodass der Patient nicht in das Hospital eingeliefert werden musste.

Mit Lithgow hatte Simon bisher weder besonders gute noch schlechte Erfahrungen gemacht. Leonhard Lithgow war ein ruhiger, unauffälliger Mann, der sich nie in den Vordergrund stellte. Das brachte ihm Achtung und Respekt der Belegschaft und der Patienten ein. Der alte Arzt hatte vorübergehend den Dienst als Chefarzt der Notambulanz im Hospital wieder aufgenommen, seitdem Burton Kinley, sein Nachfolger, verhaftet worden war und die Stelle noch immer unbesetzt war. Lithgow war Halbindianer und wohnte in Nebraska, also nicht hier in der Reservation. Simon wusste nicht, welchem Volk Lithgow zuzuordnen war. Der alte Arzt mit den weißen Haaren lächelte Simon geheimnisvoll an, als könne er seine Gedanken lesen. Die Brillengläser funkelten, während er Simon mit rauer Stimme dankte, dass dieser seinen Bereitschaftsdienst für die Nacht übernahm.

„Jederzeit wieder, Doktor Lithgow”, antwortete Simon.

„Schön, dass Sie sich hier inzwischen ein wenig eingelebt haben, McPherson. Die meisten jungen Ärzte flüchten sobald wie möglich und andere werden hier zu alt.”

Lächelnd erhob sich der alte Mann. Simon wusste, dass Lithgow der dientsälteste Arzt im Hospital war und dreiundsiebzig Jahre alt war. Vor drei Jahren hatte er seinen Posten an einen Jüngeren, Doktor Kinley, übergeben und sich zur Ruhe gesetzt. Dieser Mann musste viel wissen und viel Erfahrung haben, dachte Simon. Er wagte nicht, ihn darauf anzusprechen. Nicht jetzt.

Doktor Lithgow war im Begriff zu gehen. Simon wollte ihn nicht aufhalten. Sie verabschiedeten sich. Simon wünschte ihm eine gute Heimfahrt. Als er allein war, studierte er die Akte des siebzehnjährigen Patienten. Den Bericht hatte Doktor Maggie Yellow Cloud geschrieben. Simon schob anerkennend die Unterlippe nach vorn. Dann schlich er lautlos wie ein Geist über den Flur und sah nach den Patienten. Zwei schliefen. Simon schloss leise die Tür. Als er sich, nichts Böses ahnend, umdrehte, erschrak er so sehr, dass er kurz aufschrie. Simon presste beide Hände fest vor seinen Mund und starrte mit großen Augen auf die schmale, große Gestalt, die plötzlich vor ihm stand. Dem jungen Mann ihm gegenüber erging es kaum anders. Simon fing sich. Er hielt ihn nicht für gefährlich und verkniff sich ein Lächeln, als er bemerkte, dass der Bursche barfuß unterwegs war, nur mit Shorts und Unterhemd bekleidet. Auffallend war sein dicker Verband, der seinen Hals wie ein Rollkragen umhüllte.

„Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier eine Toilette finde?”, fragte der junge Mann ungeduldig mit heiserer Stimme. Nun lächelte Simon doch. „Sie müssen Antonio Martinez sein. Kommen Sie! Ich bringe Sie hin.”

Antonio nickte nur.

Simon ging voran. Antonio folgte ihm schweigend. Nur zwei Türen weiter, direkt gegenüber des Patientenzimmers, in dem Antonio untergebracht war, wies Simon mit einer Geste und einem Kopfnicken auf die Tür. Antonio verschwand und tauchte lange nicht wieder auf. Simon wartete nicht länger und streckte schließlich den Kopf zum Schwesternzimmer hinein.

„Hallo, Jessy!”, rief er der jungen Schwester freundlich zu.

Diese sah von ihrer Arbeit auf und lächelte. „Guten Abend, Doktor McPherson.”

Simon ging zurück in das Dienstzimmer und packte sein Buch und einen Schreibblock aus. Bevor er sich an den PC setzte, schaltete er die Kaffeemaschine ein. Gegen Mitternacht kämpfte Simon bereits mit müden Augen. Selbst der starke Kaffee hielt ihn nicht mehr wach. Er stand auf, streckte sich und lief herum. Sein Weg führte ihn zum Zimmer des jungen Mannes. Leise öffnete er die Tür. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass das Bett leer war. Simon schaltete das Licht an. Im Zimmer war niemand! Simon war wach. Verflixt! War der Bursche auf der Toilette kollabiert? Aber dann hätte Jessy ihn sofort gerufen. Es sei denn, der Junge hatte die Notruffunktion nicht mehr bedienen können. Simon ging eiligen Schrittes zur Toilette. Auch dort war niemand. Dem jungen Arzt wurde heiß. Verdammt! Das war ihm noch nie passiert, dass ihm ein Patient abhanden gekommen war. War Antonio etwa einfach gegangen? Hatte sich selbst entlassen, so wie Harry Yellow Cloud vor zwei Monaten? Simon rannte zum Schwesternzimmer.

„Wo ist Martinez?”, fragte er ein wenig außer Puste.

Schwester Jessy lächelte und zeigte mit dem Kugelschreiber zur Zimmerdecke. „Oben. Fernsehen.”

Simon atmete erleichtert auf.

„Er sagte, er kann nicht schlafen”, fügte die Schwester hinzu.

„Danke! Ich dachte schon …” Simon beendete den Satz nicht.

Jessy wusste genau, was er meinte. „Es ist alles in Ordnung”, lächelte sie und Simon ging zurück in das Bereitschaftszimmer. Er recherchierte weiter am PC und machte sich einige Notizen, bevor die Müdigkeit ihn erneut einholte. Simon gab schließlich auf und legte sich auf die Couch. Sekunden später atmete er gleichmäßig im Schlaf.

Gegen vier Uhr morgens riss ihn das Telefon aus seinen Träumen. Simon sprang auf. Das Licht im Dienstzimmer brannte noch und beleuchtete auch das Bereitschaftszimmer. So fand er sich schnell zurecht.

„McPherson! Notambulanz!”, rief er in den Hörer.

Dann lauschte er, nickte mehrmals und legte auf. Mit dem Notfallkoffer rannte er den Flur entlang, stoppte kurz am Schwesternzimmer und rief der Schwester zu: „Unfall an der I 18 zur 33. Ich bin unterwegs.”

„Okay!”, antwortete sie.

Simon war hellwach. Im rasanten Tempo steuerte er den Notarztwagen durch den Ort Pine Ridge zur besagten Stelle. Er sah die zuckenden Lichter des Krankenwagens im Rückspiegel und blieb mit dem Fuß hart auf dem Gaspedal. Ein Kind war in Lebensgefahr! Die Lichter verloren sich in der Dunkelheit hinter ihm. Der Nordwind blies in Böen und erschwerte das Geradeausfahren, sobald Simon den Ort und die schützenden Häuserfronten verlassen hatte. Der Regen peitschte gegen die Frontscheibe. Minuten später bremste Simon, als er einen beleuchteten Wagen an der Straßeneinmündung erkannte. Ein Mann stand davor und fuchtelte mit erhobenen Armen. Simon stoppte. Der Mann kam sofort zur Fahrertür des Notarztes und riss diese auf, ehe Simon das tun konnte.

„Doktor! Folgen Sie mir! Schnell!” Der Lakota war außer sich vor Aufregung.

„Okay!”, nickte Simon.

Der Mann sprang in seinen Toyota und fuhr voran, um Simon den Weg über den ausgewaschenen Feldweg zu seinem Haus zu zeigen.

Anscheinend wusste er durch seinen Anruf in der Zentrale, dass McPherson kommen würde, der sich hier kaum auskannte, zumindest abseits der Hauptstraßen, und noch dazu in der Nacht, dachte Simon. Er hatte nicht auf den Krankentransporter warten wollen. Der Notarztwagen schaukelte über die Unebenheiten und rutschte durch Schlamm. Die Familie wohnte weit draußen und allein, wie es schien. Der Toyota stoppte. Simon auch. Tanzende Lichter von Taschenlampen tauchten vor ihnen auf. Mehrere Gestalten liefen aufgeregt umher. Simon griff nach seinem Koffer, sprang aus dem Wagen und folgte dem Mann in das hell erleuchtete Haus. Eine Frau, mit Nachthemd und Bademantel bekleidet, saß auf der Couch. Sie hielt ein anscheinend bewusstloses Kind, das sie in eine Wolldecke gehüllt hatte, mit ihren Armen umschlungen. Die Frau blickte Simon mit großen Augen an. Die Spuren der Tränen waren unverkennbar. Eine Mischung aus Hoffnung und Angst lag in ihrem Blick. Simon durchfuhr ein heißer Schauer, als er meinte, Maggie Yellow Cloud dort sitzen zu sehen. Zumindest sah sie ihr ähnlich. Er rieb sich die müden Augen, als glaubte er, die Sinnestäuschung damit wegwischen zu können. „Was ist passiert?”

„Sie ist gestürzt. Ich habe ihren kurzen, grellen Schrei gehört und bin sofort aus dem Bett gesprungen. Als ich kam, lag sie bewusstlos im Badezimmer, auf den Fliesen”, antwortete sie leise.

Simon beugte sich zu dem Kind. Ein kleines, blasses Mädchen. Sie regte sich nicht, atmete kaum. Er berührte es mit der Hand. Simons Herz klopfte so sehr, dass er es selbst spürte. Aber das Kind lebte! Der junge Arzt atmete tief durch.

Vorsichtig nahm er der Frau das Mädchen ab und legte es auf den Tisch.

„Keine Angst, Kleines”, flüsterte er.

Simon betrachtete das Mädchen. „Wie heißt sie?”, fragte er.

„Shauna. Shauna White Feather.”

„Shauna!”, sprach Simon das Kind an.

„Shauna?”, wiederholte er mehrmals.

Das Mädchen seufzte leise in ihrer Bewusstlosigkeit.

„Wie alt ist sie?”, fragte Simon weiter.

„Sechs. Sie ist gerade erst in die Schule gekommen”, antwortete nun der Mann, der Simons Wagentür aufgerissen hatte.

„Ihre Tochter?”, fragte Simon, denn bei der Anwesenheit der ganzen Familie konnte er kaum die Leute zuordnen.

„Ja.”

Ein paar Prellungen waren inzwischen blau unterlaufen. Aus den Ohren war etwas Blut gelaufen und bereits angetrocknet. Über der rechten Augenbraue zog sich eine Platzwunde bis zur Schläfe. Diese war notdürftig von den Eltern verbunden worden, die Blutung gestoppt. Auch hier klebte angetrocknetes Blut bis über die Wange. Simon legte ihr eine Elektrolytinfusion an. Sie war gefährlich blass und atmete nur ganz flach.

„Ihre Tochter muss sofort in unser Hospital. Hier kann ich nichts für sie tun” ‚ entschied Simon.

Mr White Feather nickte. Er wirkte niedergeschlagen, hilflos und müde. Ein viel zu großes Hemd umhüllte seine schlanke Gestalt. Vielleicht war es nicht sein eigenes, dachte Simon flüchtig. Der Krankenwagen war noch immer nicht angekommen. Vielleicht hatte er sich festgefahren oder wartete an der Zufahrt zur Interstate. Die Frau schluchzte auf.

Simon entging nicht, dass ihre Hände zitterten, als sie ihrer Tochter über den Kopf strich. Es rief böse Erinnerungen in Simon wach. Shauna sollte leben! Er wollte sie nicht verlieren, wie das Baby Mary Lou Crow Horse. Simon kämpfte gegen diese Gedanken und bekam schließlich den Kopf wieder frei. „Ich bringe sie in meinen Einsatzwagen”, entschied er.

Vorsichtig, als fürchte Simon das zierliche Mädchen könne zerbrechen, nahm er die Kleine auf den Arm.

White Feather hielt seine Frau fest in den Armen. Sie riss sich zusammen und wischte die Tränen mit den Händen über ihre Wangen.

„Kommen Sie mit, Mrs White Feather?”, fragte Simon. „Sie können Ihre Tochter während der Fahrt auf den Arm nehmen.”

„Ja. Ich ziehe mir schnell etwas an”, antwortete sie.

Unterwegs trafen sie auf den Krankenwagen, der auf ein Blinken hin wendete und ihnen folgte. Nach etwa fünfzehn Minuten waren sie in der Notambulanz des Hospitals. Simon erschien die Zeit endlos. Ihm waren Schweißperlen auf die Stirn getreten. Schwester Jessy hatte alles vorbereitet und schaltete die OP-Lampe über der Untersuchungsliege an. Simon öffnete die Kleidung des Mädchens. Ihre blasse Haut schimmerte inzwischen bläulich. Schwester Jessy hing die Infusionsflasche an die Vorrichtung und steckte ein kleines Plastikgerät zur Überwachung der Vitalfunktionen an Shaunas Finger. Der Sauerstoffgehalt des Blutes war gefährlich niedrig. Die junge Schwester warf einen besorgten Blick zum Monitor.

„Intubation und Sauerstoff”, entschied Simon.

Während Arzt und Schwester wortlos Hand in Hand arbeiteten, wichen Shaunas Eltern Simon McPherson nicht von der Seite und schienen jeden seiner Handgriffe zu beobachten. Sie behinderten den Arzt nicht bei dessen Arbeit und stellten keine Fragen.

Nach der gründlichen Untersuchung, dem Ultraschall und dem Röntgen, stellte Simon zufrieden fest, dass Shauna wohl keinen Schädelbasisbruch und keine inneren Verletzungen hatte, wohl aber ein Schädel-Hirn-Trauma.

Shauna blieb im Tiefschlaf, aus dem sie einfach nicht erwachen wollte.

„Ich befürchte, das Schädel-Hirn-Trauma macht ihr schwer zu schaffen. Im Augenblick sind einige lebenswichtige Funktionen stark eingeschränkt. Deshalb vorübergehend die Beatmung und die Sauerstoffgabe. Sie muss unter Beobachtung bleiben, bis sie aus ihrem Koma erwacht.”

„Wir bleiben”, antwortete White Feather mit fester Stimme.

Simon nickte.

Schwester Jessy brachte die Eltern in ein freies Zimmer und kümmerte sich um sie, während Simon sich sofort mit seinem ärztlichen Bericht beschäftigte. Er fuhr sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger mehrmals über die Augen und rieb sich über die Nasenwurzel.

Schwester Jessys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Sie wirken ziemlich mitgenommen”, sagte sie leise.

Simon hob den Kopf. „Hmh”, nuschelte er.

„Ich habe Doctor Yellow Cloud informiert”, fuhr Jessy fort.

Eigentlich war das nicht nötig und auch nicht üblich. Simons Blick war eine Frage, die er nicht aussprechen wollte.

Jessy lächelte ein wenig. „Sie wussten nicht, dass Mira White Feather Maggies Schwester ist?”

Simon war mehr als erstaunt. „Nein, das wusste ich nicht.”

Daher diese Ähnlichkeit, dachte er.

„Sie waren den Sommer über in Kayenta, in Arizona, bei der Familie ihres Mannes. Er ist Navajo, Dineh”, erklärte Jessy. Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: „Sie ist ein aufgewecktes Mädchen und hatte sich so auf die Schule gefreut.”

Simon atmete tief durch. „Danke für Ihre Hilfe, Jessy.”

Die Schwester lächelte und löste sich vom Türrahmen. Dann ging sie. Als Simon schließlich meinte, den Bericht vollständig zu haben, lehnte er sich im Bürostuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. Dann brühte er sich einen frischen Kaffee direkt in die Tasse und setzte sich damit wieder an den Schreibtisch, um seinen Bericht zu lesen. Es war inzwischen sieben Uhr. Der Tagdienst hatte gerade seine Arbeit aufgenommen, die ersten ambulanten Patienten betraten das Haus. Ein neuer Tag war angebrochen. Samstag. Hinter sich hörte Simon das freundliche „Guten Morgen!” von Schwester Mary Night Killer. Er wandte sich zu ihr um, lächelte und grüßte zurück.

Wiyaka-ska – Weiße Feder

Shauna Wiyaka-ska lächelte im Schlaf, auch als das Tageslicht zum Fenster hereinschien. Während der Vater des Mädchens umherlief, das Zimmer immer wieder verließ, um nach einiger Zeit zurückzukommen, kuschelte sich Shaunas Mutter an ihre jüngste Tochter, als wäre auch sie in einer anderen Welt. Shauna sollte spüren, dass sie nicht allein war.

„Mom? Dad? Es ist hell. Wir müssen aufstehen!“, dachte das Kind.

Shauna versuchte die Augen zu öffnen. Es fiel ihr schwer. Niemend antwortete ihr. Sie waren bei ihr, ihre Eltern, das wusste sie. Sie konnte ihre lächelnden Gesichter vor sich sehen. Shaunas Augen blieben geschlossen. Sie spürte unendliche Müdigkeit. Vielleicht hatte sie ihre Gedanken ja gar nicht laut ausgesprochen? Vielleicht träumte sie ja noch? Shauna Wiyaka-ska beschloss, ihren Traum weiterzuträumen. Später, wenn sie ausgeschlafen hatte, konnte sie ihnen davon erzählen. Mit leichten Füßen, die sanft den Boden berührten, ging Shauna über eine Wiese. Büffelgras, fast so hoch wie sie selbst, kitzelte auf ihrer Haut. Die Sonne blendete ihre Augen. In den Lichtkreisen flogen Schmetterlinge. Der Duft der Wildblumen stieg in ihre Nase und sie sog ihn tief in sich hinein. Im Schatten eines dicken Baumes, der seine Blätterkrone weit um sich herum ausstreckte wie ein aufgespannter Schirm, blieb sie stehen und lauschte. Es war still. Nur der Wind säuselte kaum hörbar in ihren Ohren. Er streifte das Gras und bewegte die Blätter des Baumes, sodass das Sonnenlicht über ihr flirrte wie tanzende Sterne. Leise summten Insekten dazu. Es war ein wunderschönes Lied in ihren Ohren. Die Melodie der Stille. Shauna verabschiedete sich schließlich von dem Baum. Mit den Händen berührte sie seine rissige, warme Rinde. Dann ging sie langsam weiter. Shauna hatte keine Eile. Sie genoss den Augenblick ihres Traumes. Sie spürte den Windhauch in ihrem Gesicht und die warmen, hellen Sonnenstrahlen. Dann hörte sie das leise Plätschern eines Baches, dessen klares Wasser übermütig über Kieselsteine hüpfte. Die Sonnenstrahlen, die sich darin spiegelten, glitzerten im Spiel des Baches wie Tausende Diamanten. Lächelnd hockte sich Shauna an das Ufer des Baches und spürte die Kieselsteine unter ihren Füßen. Shaunas Füße trugen keine Schuhe. Mit den Händen berührte sie das kalte Wasser. Der Bach begrüßte Shauna mit Wasserspritzern in ihrem Gesicht. Das Mädchen kicherte lautlos. Es kitzelte. Auf der anderen Seite des Baches grasten Pferde. Viele Pferde. Eine ganze Herde. Sie ließen sich durch die Anwesenheit des Mädchens nicht stören. Shauna erhob sich langsam und beobachtete sie. Es waren schwarze und weiße Pferde, Füchse und Falben, mit und ohne Zeichen und viele bunte Scheckenpferde.

Shauna Wiyaka-ska liebte Pferde. Sie hatte oft von ihnen geträumt. Nichts hatte sie sich sehnlicher gewünscht, als ein Pferd zu haben. Aber Shauna hatte kein Pferd. Niemand in ihrer Familie besaß ein Pferd. Niemand konnte sich das leisten. Ihre Familie lebte im Shannon County, der ärmsten Gegend der Pine Ridge Reservation überhaupt. Weit abgelegen, in einem Trailer, mitten in einem Prärietal, umgeben von einigen Bäumen und sechs anderen Wohntrailern. Sie und ihre Geschwister, drei ältere Brüder und zwei ältere Schwestern, die auch zur Schule gingen, hatten wenigstens genug Nachbarkinder und Hunde, mit denen sie spielen konnten. Shauna hatte auch noch zwei kleine Brüder. Die gingen noch nicht zur Schule.

Shauna fand sich inmitten der spielenden Kinder zwischen den Trailern, den Bäumen, den unzähligen Autos, von denen nur noch zwei fahren konnten, und den Müllbergen. Sie hörte das Lachen ihrer Freunde und Freundinnen und das Gebell der Hunde. Die Pferde waren verschwunden. Auch der Duft der Wildblumen war ihr nicht gefolgt. Es roch nach altem Öl und Schimmel, nach Hundekot und manchmal lag auch der Geruch von Alkohol in der Luft. Irgendjemand schlief auf einem alten, verschlissenen Sofa, aus dem die Federn traten und benutzte einen Müllsack als Kopfkissen. Shauna wollte die Augen nicht mehr öffnen. Sie wollte nicht bleiben. Es war der Ort, an dem sie geboren war. Shauna träumte von einem anderen Ort, einem schöneren. Ohne dass sie es wollte, traten Tränen in ihre Augen. Sie wollte sie wegwischen, wie immer. Doch ihre Hände gehorchten ihr nicht. Jemand anderes tat es. Shauna spürte die sanfte Hand ihrer Mutter über ihre Wange gleiten. Sie hörte ihre Stimme. Die sanfte Stimme, mit der sie ihr Lieder vorsang. Lieder in ihrer Sprache, die nur Lakota verstehen. Shaunas Mutter hatte sogar behauptet, es seien alte Zauberlieder, die böse Geister vertreiben könnten. Shauna hatte ihr immer geglaubt. Shauna glaubte auch jetzt daran. Aber welche bösen Geister wollte Mom vertreiben, fragte sie sich.

Shauna spürte die große Hand, die nach der ihren griff. Dads Hand. Das wusste Shauna genau. Er sang nicht, aber er war da! Im Kopf begann es zu hämmern. Es tat weh. Shauna beschloss tapfer zu sein, so wie eine Lakotafrau. So wie ihre Mom! Sie würde die bösen Geister aus ihrem Kopf vertreiben.

Shauna hörte, wie sich die Zimmertür öffnete und jemand hereinkam. Eine fremde Stimme drang zu ihren Ohren. Sie gehörte zu einem Mann, der sich ihr als Doktor McPherson vorstellte. Shauna mühte sich, die Augen zu öffnen, ein Wort zu sagen. Doch eine unbekannte Kraft lähmte sie. Deutlich hörte sie die Stimmen, die sich mit ihr unterhielten. Shauna erfuhr von der fremden Stimme des Doktors, dass mit ihrem Kopf etwas nicht in Ordnung war und dass sie zu einer Untersuchung gebracht würde. Shauna vertraute der Stimme des Doktors. Sie klang ehrlich und ein wenig besorgt. Shauna hatte keine Angst. Sie hatte Hoffnung. Eine fremde Hand strich über ihren schmerzenden Kopf und berührte schließlich ihre Augen. Die Hand schob ein Lid nach oben. Shauna sah das fremde Gesicht direkt vor sich. Nur einen Augenblick. Dann blitzte grelles Licht in ihr Auge und reflexartig schloss sie es wieder. Noch lange Zeit wirbelten die Lichtspiralen unter dem geschlossenen Augenlid herum. Doch Shauna konnte ihr Auge schließen. Sie hatte es selbst getan! Die fremde Hand öffnete auch das andere Auge. Shauna sah die lächelnden Gesichter ihrer Eltern. Sie lächelte zurück. Zumindest meinte sie das. Auch das fremde Gesicht lächelte sie an und nannte sie beim Namen. Shauna musste zwinkern. Der Doktor, der sich McPherson nannte, bewegte einen Kugelschreiber vor ihrem Auge hin und her. Shauna konnte den Stift genau erkennen, auch wenn sie mit ihrem Blick nicht folgen konnte. Ein schönes Spiel. Shauna hätte es gern noch eine Weile gespielt. Sie hatte sogar fast ihre Kopfschmerzen vergessen.

Doch der Doktor ging wieder. Irgendwann später trat eine Frau an ihr Bett und fasste sie sanft bei der Hand. Mit der warmen Stimme, die aus ihrem Herzen kam, nannte sie Shauna beim Namen. Wiyaka-ska! Das war ihr Name, Shauna Wiyaka-ska. So nannten sie nur ihre Eltern und ihr Großvater. Schwester Mary meinte es gut mit ihr. Schwester Mary war eine Lakotafrau. Sie erzählte dem Mädchen genau, was sie mit ihr vorhatte. Auch Shaunas Eltern erklärte sie es. Dann bewegte sich das Bett. Die Räder darunter ratterten etwas. Die Kopfschmerzen begannen wieder stärker zu hämmern. Shauna hörte fremde Stimmen. Sie spürte Schwester Marys Hand auf der ihren. Das beruhigte sie. Irgendwann hörte Shauna nichts mehr. Der Tag war anstrengend gewesen und Shauna fühlte sich müde. Irgendwann war Shauna Wiyaka-ska wieder eingeschlafen.

Maggie war natürlich sofort zum Hospital gefahren. Nach Schwester Jessys Anruf hatte sie nicht mehr schlafen können. Gestern Abend erst hatte sie mit ihrer Schwester telefoniert. Eilig ging sie den Flur entlang bis zum Büro. Leise klopfte sie an die Tür. „Herein”, hörte sie McPhersons Stimme.

Maggie trat ein. „Guten Morgen.”

„Guten Morgen, Maggie.”

Maggie wartete einen Augenblick, ob Simon noch etwas sagen wollte. Es hatte so geklungen. Aber Simon räusperte sich nur.

„Wo finde ich sie?”

„Im ersten Zimmer, gleich nebenan”, antwortete Simon.

Maggie wandte sich um und ging dorthin. Sie klopfte leise an die Tür. Als niemand antwortete, trat sie ein. Es war still. Mira lag neben ihrer Tochter und hob verschlafen den Kopf. Lautlos ging Maggie zum Bett. Sie strich ihrer Nichte sanft über den Kopf.

Miras offene Augen glänzten. „Maggie”, flüsterte sie.

Es klang wie ein Flehen. Maggie ging um das Bett herum, während sich Mira erhob. „Oh, Maggie”, flüsterte sie noch einmal, während Maggie ihre ältere Schwester tröstend umarmte. Mira hielt sich an Maggie fest. Sie brauchte Halt. Es tat so gut, für einen Augenblick einen Funken Hoffnung zu spüren.

„Hilf uns, Maggie”, flüsterte Mira weiter und schniefte kurz auf.

„Ich tue alles, das verspreche ich dir, Mira”, antwortete Maggie.

„Wo ist Eric?”

„Draußen. Er wird gleich zurückkommen.”

Maggie nickte und bat Mira, sich zu setzen. Maggie setzte sich neben sie auf den Bettrand und sah zu Shauna. Sie schien ganz fest und entspannt zu schlafen.

„Was ist passiert, Mira?”, fragte Maggie.

Mira begann leise zu erzählen. Wenige Minuten später kam Eric zurück. Fast unbemerkt tauchte der achtunddreißigjährige Navajo am Fußende des Bettes auf. Mira unterbrach ihren Bericht, während sich Schwager und Schwägerin begrüßten.

„Seitdem ist Shauna noch nicht wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht”, beendete Mira schließlich ihren Bericht. Dann presste sie die Lippen aufeinander.

Maggie nickte langsam. „Ich werde mit McPherson sprechen und mir die Untersuchungsberichte ansehen. Dann sehen wir weiter.” „Danke”, flüsterte Mira, während sie sich an ihren Mann drückte, der neben ihr stand.

Maggie schickte ihnen ein zuversichtliches Lächeln zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Maggie ging ins Büro zu McPherson, um ihren Dienst anzutreten. Der lehnte am Türrahmen zum Bereitschaftszimmer, eine Kaffeetasse mit beiden Händen umklammernd.

„Auch einen Kaffee?”, lächelte er müde.

„Auf jeden Fall.”

Maggie zog die Jacke aus, hing die Tasche an die Stuhllehne und setzte sich. Simon stellte ihr eine große Tasse hin und setzte sich zu ihr.

„Auch ein Ritual”, bemerkte Maggie.

Simon lächelte. „Es könnte von mir stammen”, sagte er. „Also”, begann er schließlich ausführlich von seinem Nachtdienst zu berichten, von seinem nächtlichen Einsatz und dem Mädchen Shauna Weiße Feder.

Maggie hörte aufmerksam zu.

„Sie entwickelte ein Brillenhämatom, aber nur unterhalb beider Augen. Das schwere Schädel-Hirn-Trauma beeinträchtigt ihre Atmung. Alle Reflexe sind zum Glück vorhanden. Erstaunlicherweise kam es mir vorhin vor, als träume sie von etwas. Durch die Prellung ist das Hirn vielleicht angeschwollen. Ich habe mir die Bilder gerade noch einmal angesehen, da ich mir nicht sicher war, ob nicht doch irgendwo eine Fraktur … Manchmal übersieht man einfach etwas Unscheinbares. Beides ist nicht eindeutig ersichtlich. Mir wäre wohler, wenn wir eine Computertomographie machen könnten.”

„Mir auch, Simon!”

„Verdammt! Es könnte uns so vieles erleichtern. Nur mit einer schnellen und sicheren Diagnose können wir die richtigen Entscheidungen schnell treffen und Leben retten!”

Maggie schwieg.

Simon hatte ihre Worte benutzt. Seit Jahren kämpften die Ärzte im Indian Hospital in Pine Ridge dafür, ein solches Gerät zu bekommen.

„Wenn Shauna transportfähig ist, können wir sie mit dem Helikopter ins Sioux San bringen”, meinte Maggie.

Simon nickte.

Maggie trank ihren Kaffee aus. „Ich sehe mir zuerst Antonios Wunde an. Dann gehen wir zu Shauna”, sagte sie.

„In Ordnung. Ich kümmere mich inzwischen um die ersten ambulanten Patienten.”

Maggie und Simon erhoben sich gleichzeitig und machten sich an die Arbeit.

Maggies Weg führte direkt zu Antonio Martinez‘ Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und der junge Mann lag verkehrt herum auf seinem Bett und schlief auf dem Bauch. Maggie grinste, tastete nach seinem Puls.

Antonio schreckte auf und starrte Maggie verwundert an.

„Guten Morgen, Antonio. Ich bin Maggie Yellow Cloud, die Ärztin, die Sie gestern Morgen hierher gebracht hat. Wie geht es Ihnen?”

„Gut. Danke”, antwortete der Junge heiser.

„Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, weil Sie auf dem Bauch lagen.”

„Deswegen?” Er zeigte mit dem Finger auf seinen Hals.

„Die Kanüle ist raus”, stellte Maggie fest.

„Hmh. Hat mich gestört.”

Maggie lächelte. „Noch müde?”

„Ja. Habe die ganze Nacht ferngesehen.” Ein verlegenes Lächeln erschien auf Antonios Gesicht, der nun mit angewinkelten Knien im Bett saß und die Bettdecke bis zu den Schultern zog.

„Sie wussten nicht, dass Sie auf Antibiotika allergisch reagieren?”

Antonio schüttelte den Kopf. Das Sprechen fiel ihm schwer.

„Sind andere Allergien bei Ihnen oder in Ihrer Familie bekannt?”

Antonio zuckte mit den Schultern.

„Sie sind kein Fall mehr für die Intensivstation, Antonio. Ich werde veranlassen, dass Sie nach oben kommen.”

Antonio nickte.

„Schön, dass Sie sich so schnell erholt haben. Ich werde Ihren Verband wechseln. Wenn alles gut abgeheilt ist, können Sie bald wieder nach Hause.”

Antonio verzog die Lippen und starrte an Maggie vorbei, auf die dunklen Vorhänge. Maggie hatte damit gerechnet. Der junge Mann hüllte sich in Schweigen.

Maggie wartete.

„Kam etwas Gutes im Fernsehen?”, fragte sie nach einer Weile.

Der junge Mann verzog das Gesicht zu einen Lächeln. „Cartoons. Ich hasse Cartoons. Ich habe fast die ganze Nacht Cartoons gesehen und gelacht”, sagte er mit leiser Stimme.

Dann sah er zu Maggie, mit einem Lächeln, das jedes Mädchen seines Alters um den Verstand bringen musste. Maggie bemerkte das Leuchten in seinen Augen. Antonio hatte schwarze Mandelaugen und schulterlanges, schwarzes Haar. Seine Haut war noch eine Nuance dunkler als Maggies.

Antonio hustete ein paar mal gequält. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und mit ihm das Leuchten seiner Augen. Die Bronchitis war noch nicht ausgestanden. Maggie verabschiedete sich von ihm. „Ich habe die Cartoons auch gesehen. Aber nicht die ganze Nacht”, meinte sie schmunzelnd.

Über Antonios Gesicht huschte ein Lächeln, bevor Maggie die Tür schloss.

Sie ging geradewegs zum Büro. Dort war sie allein. Maggie setzte sich an den Schreibtisch, griff zum Telefon und ließ sich zum diensthabenden Arzt der neurologischen Abteilung in Rapid City durchstellen. Sie stellte sich kurz vor, berichtete von der kleinen Patientin und bat um schnelle Hilfe. Der Arzt sagte zu und meinte allerdings, dass Maggie wegen eines Termines mit Doktor Fowler selbst reden sollte. Er verband sie mit der Funktionsdiagnostik. Maggie hatte Fowler zwar noch nie gesehen, aber bereits des öfteren mit ihm zusammengearbeitet. Seine fröhliche Stimme zu hören beruhigte Maggie jedes Mal, wenn sie ihre Patienten zu ihm schicken musste. Maggie hatte die Erfahrung gemacht, dass Fowler sehr korrekt und zuverlässig arbeitete, sie immer sofort anrief, um mit ihr Diagnose und Therapiemöglichkeiten zu besprechen und außerdem besaß er einen gewissen Charme, der Maggie gefiel.

Dieser zauberte auch gerade in diesem Augenblick ein Lächeln auf Maggies Gesicht, als Fowler sagte: „Kommen Sie. Ich freue mich darauf, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen, Doktor Yellow Cloud.”

„Danke”, antwortete Maggie und verabschiedete sich höflich von ihrem Kollegen aus dem Sioux San Hospital und legte auf. Etwas erleichtert atmete sie tief durch und schickte ihren Blick zur Uhr. Es war Samstag, zwanzig vor zehn Uhr am Morgen.

Die Eltern der kleinen Shauna Wiyaka-ska blieben im Zimmer ihrer Tochter. Sie brachten es nicht über das Herz zu gehen. Das Geschehen hatte in Windeseile auch die Verwandschaft, das Tiospaye, erreicht. Einige waren bereits gekommen, hatten ihre Hilfe zugesagt und waren wieder gegangen. Das erleichterte Shaunas Eltern die Entscheidung zu bleiben, in der Gewissheit, dass ihre anderen Kinder alle versorgt waren.

Shauna bekam von all dem nichts mit. Sie verschlief den ganzen Vormittag. Als Shauna schließlich die Stimme ihrer zwei Jahre älteren Schwester Marna vernahm, träumte sie gerade von weißen Wolken. Marna sprach ihren Namen, immer und immer wieder. Die weißen Wolken schwebten leicht wie Federn weiter. Shauna mühte sich wieder einmal, die Augen zu öffnen. Es gelang ihr nicht. Doch Marna schien bemerkt zu haben, dass Shauna es versuchte. Marna strich ihrer kleinen Schwester über den Arm und sagte ihr, wie sehr sie sie liebte. Shauna verstand ihre leisen Worte, die bis tief in ihr Herz drangen, sehr gut. Shauna erwiderte Marnas Gedanken und erzählte ihrer Schwester, ohne die Lippen zu bewegen, von den schönen weißen Wolken. Dann seufzte Shauna hörbar. Auch sie liebte Marna. Shauna wusste nicht mehr, wie lange sie geschlafen hatte, welcher Tag gerade war und ob es Morgen oder Abend war. Raum und Zeit waren so bedeutungslos. Shauna hatte nur einen Wunsch: ihre Augen zu öffnen! Marna erzählte von der Schule, von zu Hause und von den Pferden, die sie unterwegs gesehen hatte. „Ich weiß“, dachte Shauna. „Ich habe davon geträumt.“

Marna machte eine Pause und nickte, als hätte sie Shaunas Gedanken verstanden. Marna war fest davon überzeugt, dass ihre kleine Schwester sie hören konnte und machte ihr Mut. Dann erzählte Marna, dass auch ihr ältester Bruder, Graham, hier im Zimmer war, um sie zu sehen. Er hatte Marna mit seinem Auto von der Schule abgeholt. Shauna lauschte aufmerksam und kicherte in sich hinein. Sie hatte seinen Namen nie richtig aussprechen können und hatte immer Gram zu ihm gesagt. Seitdem nannten ihn alle nur noch so. Graham war schon fast achtzehn und hatte es seiner kleinen Schwester nie übel genommen. Er hatte ihr selbst einmal erzählt, dass er „Gram“ viel besser fand, als seinen richtigen Namen. Graham hatte bis jetzt geschwiegen. Nur ein verlegenes Räuspern verriet seine Anwesenheit. Shauna wünschte sich sehr, seine Stimme zu hören.

„Sie schläft. Vielleicht sollten wir lieber gehen”, sagte er schließlich zu Marna.

Shauna hatte die vertraute Stimme ihres großen Bruders gehört. Aber er hatte Worte gesagt, die Shauna nicht hören wollte. Shauna wollte nicht, dass die beiden gingen. Sie sollten bleiben! Shauna spürte Marnas Hand auf der ihren. Marna hielt sie fest, gerade so, als wollte sie sie nicht wieder loslassen. Noch nicht! Graham blieb reglos. Ihn konnte Shauna nicht spüren. Er war zu weit weg von ihr. Marna war da. Marna hatte sie verstanden. Shauna wollte ihr so viel erzählen. Shauna hatte Fragen. Marna blieb bei ihr, lange. Auch Graham war nicht gegangen.

Irgendwann klopfte es an der Zimmertür. Shauna hörte es in der Stille und es zerriss das Band ihrer Gedanken, das sie mit ihrer Schwester verband. Marna bewegte sich, doch sie ließ ihre Schwester nicht los. Eine vertraute Stimme grüßte freundlich. Es war nicht Schwester Mary. Die Stimme, die Shauna grüßte, klang sanft und vertraut, wie die alten Lieder, die Mom für sie sang. Auch die andere Stimme, die grüßte, war ihr inzwischen vertraut. Sie gehörte zu Doktor McPherson. Dann hörte Shauna auch Marna und Graham grüßen. Tante Maggie sprach mit Shauna, fragte sie, wie es ihr heute Nachmittag ginge. Es war also Nachmittag. Vormittag war Marna ja in der Schule.

Shauna freute sich, dass Tante Maggie gekommen war. Shauna ging es im Moment gut! Sie war nicht allein und das Hämmern im Kopf hatte aufgehört. Shauna spürte, wie eine Hand sanft über ihren Kopf fuhr. Doktor Maggies Hand, ihre Tante. Shauna seufzte. Dann erzählte ihr Maggie von den Untersuchungsergebnissen. Shauna war damit nicht zufrieden. Auch wenn sie erst sechs Jahre alt war, hatte sie verstanden, was Maggie ihr erklärte. Shauna wusste, dass Maggie ihr helfen konnte. Sie vertraute ihr. Shauna mochte auch den Doktor namens McPherson. Aber Maggie konnte noch mehr tun, als er. Maggie konnte singen. Maggie würde die bösen Geister von ihr vertreiben können, die sie daran hinderten, die Augen zu öffnen. Maggie kannte die Lakotaworte, die auch sie kannte. Maggie wusste um die Geheimnisse, dachte Shauna. Shauna hatte keine Angst und ihre Hoffnung wuchs. Mit all ihrer Kraft versuchte sie wieder ihre Augenlider zu öffnen. Nur einen Spalt! Sie spürte die Hände, die sanft über ihre Augen strichen. Im gleißenden Licht erkannte Shauna ein schönes, braunes Gesicht. Die schwarzen Augen lächelten ihr zu. Shauna glaubte für einen Moment, das Leuchten in den Augen ihrer Mom zu sehen. Doch es war Tante Maggie, die ihr aufmerksam zuzwinkerte und ihr sagte, dass sie wunderschöne Augen hatte und dass sie ihre Tapferkeit und Geduld sehr bewundere. Shauna spürte etwas tief in ihrem Herzen. Sie war für diesen Augenblick so dankbar, so glücklich. Mom und Dad kamen in das Zimmer, traten ein in diesen Glücksmoment. Shauna durfte auch sie sehen und ihre Schwester Marna und schließlich beugte sich auch ihr großer Bruder Gram zögerlich über sie. Shauna gelang es nicht, den Blick zu ihnen zu richten, deshalb kamen die Gesichter zu ihr. Die Augen wollten sich wieder schließen. Shauna kämpfte dagegen an. Die Lider wurden schwer. Es strengte das kleine Mädchen mit dem großen Willen an, sie offen zu halten. Schließlich gab sie nach. Wenn sie es ein Mal geschafft hatte, dachte Shauna, würde sie es wieder schaffen. Heute war ein schöner Tag. Selbst als Shauna die Augen wieder geschlossen hielt, sah sie die lächelnden Gesichter vor sich. Die Gesichter würden bei ihr bleiben, selbst, wenn die Menschen das Zimmer wieder verlassen hatten.

Shauna hörte die Stimmen um sich herum. Sie wusste genau, zu wem welche der Stimmen gehörte. Tante Maggie bat ihre Eltern zu sich in das Büro. Shauna hörte, dass sie gemeinsam das Zimmer verließen. Dann spürte sie wieder Marnas Hand, die nach der ihren griff. Sie hörte Gram leise seufzen. Dieser Doktor Mc-Pherson war im Zimmer geblieben. Er war es, der sich nun zu Shauna auf das Bett setzte, sodass die Matratze unter dem Gewicht nachgab und Shauna bewegte. Er war es auch, der sich räusperte, bevor er zu sprechen begann.

„Shauna Wiyaka-ska”, begann er. „Ich möchte, dass du mir hilfst. Ohne deine Hilfe sind mir die Hände gefesselt.”

Marna sah verwundert auf. Graham schielte skeptisch zu dem fremden weißen Arzt. Seine Gedanken blieben Simon verborgen. „Maggie hat dir ja erzählt, dass wir hier im Moment nicht weiter kommen. Um dir wirklich helfen zu können, Shauna, wirst du in das Sioux San Hospital nach Rapid City verlegt. Dort haben sie Geräte, mit denen wir genau sehen können, welcher böse Geist in deinem Kopf wohnt und wo. Ich möchte, dass du damit einverstanden bist und dass du keine Angst hast.”

Shauna hatte Doktor McPherson verstanden. Auch er wusste also von dem bösen Geist. Konnte er ihn vielleicht besiegen? Shauna war einverstanden. Shauna hatte viele Fragen.

„Deine Tante fliegt mit dir, wenn es soweit ist, Shauna, und dein Onkel ist der beste Hubschrauberpilot, den ich kenne.”

Shauna atmete tief durch. Die Worte erleichterten sie.

„Darf ich das als deine Zustimmung deuten?”, fragte Simon.

Shauna wollte nicken, was ihr nicht gelang. Auch das „Ja“ in ihren Gedanken konnte der Doktor nicht hören, obwohl er sich sehr darum bemühte. Shauna versuchte noch einmal ihre Augen zu öffnen. Es wurde ein Blinzeln. Dann seufzte sie ganz offensichtlich. Das war das, was sie konnte. Doch Simon McPherson hatte es verstanden. „Danke, Shauna.”

Graham musterte McPherson misstrauisch. Der hatte es bemerkt. „Reden Sie ruhig mit ihr. Sie kann Sie hören”, sagte Simon.

„Aber sie schläft.”

„Nein. Sie tut nur so”, grinste Simon. Dann fügte er ernst hinzu: „Ihre kleine Schwester befindet sich im Moment in einer Art Wachkoma. Nur ihr Körper schläft.”

„Und? Wird ihr Körper wieder aufwachen? Wann?”

„Es gibt eine Chance. Aber wir müssen schnell handeln.”

Graham nickte.

Simon erhob sich und verabschiedete sich. Als er die Tür von außen geschlossen hatte, setzte sich Graham zu Shauna auf das Bett, genau dort, wo der Doktor gesessen hatte. Shauna spürte die Nähe ihres Bruders. Als sie seine Stimme vernahm, erschrak sie innerlich. Gram kämpfte mit den Tränen. Dann fing er sich und seine Worte begannen lebendig zu werden. Er malte für Shauna damit einen bunten Regenbogen. Marna kicherte über seine Späße. Shauna träumte sich in den Regenbogen hinein.

Während Shauna der Verlegung zugestimmt hatte, zögerten ihre Eltern noch. Maggie verstand ihre Beweggründe. Sie hatten Angst und Rapid City war zu weit weg, um ihre Tochter besuchen zu können.

„Ich bringe sie selbst zu der Untersuchung, sobald wir sie transportieren können”, versprach Maggie. „Ich habe den Helikopter bereits angefordert. Robert meldet sich, sobald er im Anflug ist. Ich habe schon mit den Kollegen der Neurologie und der Diagnostikabteilung gesprochen.”

Maggie griff nach Miras Händen und sah sie eindringlich an. „Ich kenne Doctor Fowler. Er ist ein sehr guter und zuverlässiger Arzt. Sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind und wir wissen, was wir tun können, holen wir Shauna zurück”, versuchte Maggie ihnen die Entscheidung zu erleichtern.

Eric White Feather nickte schließlich. „Ja. Wir wollen, dass die Untersuchung gemacht wird. Es ist Shaunas einzige Chance. Wem sollten wir sonst vertrauen, wenn nicht dir, Maggie.”

Maggies Blick wanderte von ihrem Schwager zu ihrer Schwester. „Wir müssen das Ergebnis der Untersuchung abwarten. Erst dann wissen wir, wie ihre Chancen stehen und können Entscheidungen treffen”, sagte sie.

Wieder herrschte Stille in Maggies Büro. Sie wollte Shaunas Eltern Zeit geben, mit der Situation klarzukommen. Der Unfall hatte sie überrollt. Sie schienen nicht einmal zu wissen, ob sie wütend oder traurig sein sollten. Im Moment waren sie nur furchtbar verwirrt. Sie hatten Angst um ihre kleine Tochter, Angst sie zu verlieren. Ein Augenblick nur hatte ihr Leben verändert und nichts würde mehr sein wie vorher.

Mira nickte schließlich aus ihren Gedanken heraus. „Ich glaube, Shauna hat mehr Mut, als wir denken.”

Dann sah sie Maggie in die Augen. In ihrem Blick lag Hoffnung und eine stille Bitte.

„Ich werde mit ihr fliegen. Sie wird nicht allein sein”, beruhigte Maggie ihre Schwester.

„Wann?”, fragte Mira.

„Heute noch.”

Shaunas Eltern konnten ihr Erstaunen kaum vor Maggie verbergen, aber sie waren einverstanden und unterschrieben beide die Zustimmungserklärung.

„Danke”, sagten sie zu Maggie, bevor sie das Büro verließen, um bis zum Abflug bei ihrer Tochter zu bleiben.

Auch Marna ließ sich nicht davon abbringen zu bleiben, während sich Graham verabschiedete. Er wurde von seinen jüngeren Geschwistern zu Hause erwartet.

Eric rief von Maggies Büro aus seine Eltern an, die in der Nähe von Kayenta lebten. Sie konnten nicht fassen, was ihnen ihr Sohn berichtete. Eric hörte seine Mutter leise weinen. Auch die Stimme seines Vaters schien für einen Moment zu versagen. Dann fragte Eric White Feather nach seinen Geschwistern, erfuhr, dass es ihnen gut ging und alle gesund waren. Seine Mutter erzählte, dass man der Familie ein wertvolles Zuchtschaf gestohlen hatte. Pedro, Erics jüngerer Bruder, hatte Spuren von Stiefeln gefunden und die Stammespolizei gerufen. Die hatten den Diebstahl aufgenommen. Es sollen noch andere Navajofamilien bestohlen worden sein. Dann hörte Eric die wütende Stimme seines Vaters.

„Verfluchte Hopi!”

Eric zweifelte daran, dass irgendein Hopi dafür verantwortlich war, konnte seinem Vater aber auch keine andere Erklärung geben. Es hatte vor Jahren einmal Viehdiebstähle gegeben, mit denen die Streitereien zwischen den Navajo und den benachbarten Hopi entbrannt waren, deren Reservation rings von der Navajo eingeschlossen war. Nachdem sich die Regierung in diese Streitereien eingemischt hatte, kam es 1974 zu einer umstrittenen Gebietsreform, in der hunderte Familien, 11 000 Navajo und etwa 100 Hopi, von ihrem eigenen Land vertrieben und umgesiedelt worden waren. Nichts hatte sich gebessert. Der Zwist war damit nicht begraben worden. Eric versprach sich zu melden, sobald es Neuigkeiten gab. Seine Mutter sprach ein paar Worte Dineh zu ihm, leise, so dass er es kaum hören konnte. Ihr Herz war bei ihrer kleinen, jüngsten Enkelin. Eric nickte in den Hörer, als könne sie das sehen und legte schließlich auf. Seine Augen glänzten, als er sich bei Maggie bedankte.

Es war später Nachmittag geworden, als der Helikopter vor dem Eingang der Notambulanz des Indian Hospital in Pine Ridge aufsetzte. Der immer wehende Wind trieb endlos graue Wolkenberge über das Land, die neuen Regen mit sich brachten. Robert wartete im Helikopter. Maggie und Schwester Mary transportierten die kleine Patientin. Diese schien fest zu schlafen. Robert fixierte die Transporttrage und gurtete die Kleine an, kontrollierte alles noch einmal und nickte Maggie zu. Diese verabschiedete sich von Mary und stieg zu Shauna in den Helikopter. Das Beatmungsgerät schnaufte regelmäßig und die Vitalwerte waren stabil. Viertel nach fünf Uhr nachmittags hob der Helikopter schließlich ab. Shaunas Eltern, ihre Schwester und Mary Night Killer sahen ihm nach, bis er ihrem Blickfeld entschwand.

Shauna Wiyaka-ska verschlief tatsächlich den Flug. Sie atmete gleichmäßig im Schlaf. Das transportable Beatmungsgerät brummte leise. Shaunas Vitalwerte blieben stabil. Es ging ihr gut. Maggie saß während des Fluges bei ihr. Nach etwa vierzig Minuten setzte der Helikopter in Rapid City vor dem Sioux San Indian Hospital auf. Sie wurden bereits erwartet. Doktor Fowler, ein Mann mittleren Alters und durchschnittlicher Körpergröße, stellte sich Maggie vor. Er lächelte. Seine Augen, von zahllosen kleinen Fältchen umspielt, leuchteten dabei durch die Gläser seiner Brille. „Doktor Yellow Cloud. Es freut mich, Sie zu sehen. Ich habe Sie mir am Telefon schon sehr hübsch vorgestellt. Aber die Wirklichkeit übertrifft das bei Weitem!”, sagte er, während sein Schnauzbart auf und ab wippte.

Er schob das Mädchen mit Maggies Hilfe durch die sich automatisch öffnende Glastür.

Maggie lächelte ein wenig verlegen zurück.

„Ich bin so froh, dass Sie sofort zugesagt haben. Sie sind der Einzige, der uns im Augenblick helfen kann.”

„So?”, schmunzelte Fowler, so dass sein Schnauzer erneut wackelte.

Maggie lächelte. „Danke.”

„Ich bin Arzt”, antwortete er, während er Maggie und ihre Patientin direkt in den CT- und MRT-Raum brachte.

Dann blieb er stehen und betrachtete Maggie. „Ich wollte entweder Arzt oder Kriminalist werden. Deshalb bin ich hier in der Funktionsdiagnostik gelandet, immer auf Spurensuche, um die Wahrheit herauszufinden.” Dann schmunzelte Fowler wieder und wieder wackelte sein Schnauzer.

Maggie amüsierte das. Auch sie schmunzelte unwillkürlich. „Ich bin davon überzeugt, dass Sie der beste Spurensucher sind, Doktor Fowler. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich Angst vor der Wahrheit habe.”

Fowler nickte. „Okay, Doctor Yellow Cloud. Erzählen Sie mir von diesem Mädchen, von Ihren Untersuchungsergebnissen und Ihren Gedanken.”

Maggie begann zu reden, während Fowler die Kleine für die Untersuchungen vorbereitete. Dass sie ihre Nichte war, ein Stück ihrer selbst, verschwieg Maggie zunächst.

Robert wartete in der Eingangshalle auf seine Frau und das Kind. Noch hatte niemand den Helikopter zu einem weiteren Einsatz gerufen. Es dauerte mehr als eine Stunde, bevor Maggie kam. Sie lächelte Robert müde an. „Shauna wird noch einen Tag hier bleiben müssen. Durch den Aufprall ist das Hirn tatsächlich etwas geschwollen und damit ihr Hirndruck erhöht. Doktor Fowler wird ihr etwas Hirnwasser entnehmen, wodurch der Druck und damit ihre Kopfschmerzen nachlassen werden. Er wird es untersuchen lassen. Wir müssen abwarten.”

Robert blickte flüchtig zu Maggie und hob die Augenbrauen.

„Hast du noch etwas Zeit für einen Kaffee und ein Sandwich? Ich lade dich ein”, sagte Maggie.

„Danke, Frau Doctor. Eine gute Idee. Im Augenblick habe ich keine Anforderung”, schmunzelte Robert.

„Wann kommst du zurück in unser Hospital, nach Pine Ridge?”

„Morgen, wenn der Pilot aus Rapid mich ablöst.”

„Fällt es dir schwer, deinen stählernen Vogel zu verlassen?”

Robert hielt kurz inne und blickte seine Frau durch die zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an. „Es ist nicht leicht für einen Mann, sich zwischen zwei Geliebten zu entscheiden. Aber …, wenn ich dich so ansehe, denke ich, ich wähle euch beide.”

Maggie lachte. „Du hast dich schon einmal entscheiden müssen und du hattest dich damals für den Helikopter entschieden. Dann ist dir eingefallen, dass du besser auf deine Frau aufpassen solltest. Nun möchtest du beides.”

„Na ja. Früher hatten es die Männer besser”, entgegnete Robert schulterzuckend und ging langsam weiter. „Sie wurden nicht vor solche Entscheidungen gestellt. Sie nahmen eben beide.”

Wieder lachte Maggie. „Glaubst du? Glaubst du das wirklich, Robert Yellow Cloud? Stell dir nur vor, du musst auf zwei Frauen aufpassen und wenn du hungrig nach Hause kommst, ist keine von beiden da, um dir Essen zu machen.”

„Deshalb habe ich es besser, als die Männer früher”, triumphierte Robert. „Ich passe nur auf eine Frau auf. Das ist in deinem Fall ein schwerer Vollzeitjob. Das Essen lasse ich mir von meiner Mutter kochen und ansonsten habe ich einen stählernen Vogel, der keine Ansprüche stellt.”

Maggie stieß Robert den Ellenbogen gegen die Rippen. Er musste damit gerechnet haben und sprang zur Seite. Dann lachten beide. Im Krankenhauscafé, das rund um die Uhr geöffnet hatte, holten sie sich Sandwiches und Kaffee und suchten sich einen Platz am Fenster. Ihre Gestalten spiegelten sich in der Glasscheibe. Draußen war es inzwischen dunkel. Es war zwanzig nach acht.

„Hat Lithgow Bereitschaftsdienst?”

„Ja. Ich darf nach Hause, in mein Bett”, schmunzelte Maggie.

Robert brummte missgelaunt in Anbetracht dessen, dass er in dieser Nacht im Dienst war.

„Nimmst du mich mit?”, fragte Maggie.

Robert verzog das Gesicht. „Ich bin im Dienst. Ich befürchte, Sie müssen per Anhalter zurück, Frau Doktor.”

Maggie rümpfte die Nase und knurrte wie ein angriffslustiger Hund.

„Es fällt mir nicht leicht zu gehen”, sagte sie plötzlich ernst. „Fowler und der Bereitschaftsarzt der Neurologie haben mir versichert, dass sie mich sofort informieren, wenn sich irgendetwas an Shaunas derzeitigem Zustand verändert.”

Robert erhob sich. „Gehen wir, bevor sie mich in die entgegengesetzte Richtung schicken. Obwohl ich mit dir gerne die ganze Nacht verbringen würde.”

Maggie lächelte schwach und erhob sich ebenfalls. Schweigend zog sie ihre Jacke an und folgte ihrem Mann zur Tür hinaus. Den beiden blieb wenig gemeinsame Zeit. Das wurde Maggie gerade in diesem Augenblick wieder bewusst. Und dennoch klagten weder sie noch Robert. Es musste getan werden, was zu tun war. Das war immer so gewesen. Robert war zu ihr zurückgekommen. Das zählte. Das war ihr gemeinsamer Weg. Kühle Nachtluft schlug Maggie entgegen und feiner Regen sprühte in ihr Gesicht. „Kannst du dir die Aufregung vorstellen, wenn ich mit dem Ding vor unserer Haustür aufsetze?”, amüsierte sich Robert. „Ian wird denken, das der Wirbelsturm am Haus rüttelt und Crow Horse, dass der Krieg ausgebrochen ist.”

Maggie stieg in den Helikopter, als hätte sie seine Worte und sein Lachen nicht vernommen. Robert nahm auf dem Pilotensitz Platz und schaltete den Rotor ein. Es dauerte einige Minuten, bevor der seine Geschwindigkeit erreicht hatte. Zeit für den Check und die Rückmeldung an die Zentrale. Dann hob der Helikopter ab.

„Du bist verrückt”, sagte Maggie plötzlich in die Stille.

Robert sah überrascht zu ihr.

„Du willst tatsächlich den Helikopter vor unserem Haus landen?”

Auf Roberts Gesicht erschien ein Grinsen. „Vielleicht. Vielleicht kannst du aber auch abspringen …”

Maggie lachte kopfschüttelnd. Sie sah zum Seitenfenster hinaus. Die Lichter der Stadt wurden immer kleiner und verschwanden schließlich ganz. Die Dunkelheit lag wie ein großes, schwarzes Loch vor und unter ihnen. Die Nacht hatte das Land verschluckt.

Simon war sofort am Telefon, als Maggie anrief.

„Was ist mit Shauna?”

Simon hörte aufmerksam zu, was Maggie ihm erzählte.

„Hmh …”, meinte er schließlich und spürte ein eigenartiges Kribbeln im Nacken.

„Bist du noch dran, Simon?”, fragte Maggie, als dieser nichts sagte.

„Ja. Und nun?”

„Abwarten, Simon. Das ist alles, was wir im Moment tun können. Ich bin auf dem Rückflug. Du hast längst Dienstschluss. Ist Lithgow nicht gekommen?”

„Er hat angerufen. Wird etwas später. Er leistet gerade erste Hilfe bei seiner Nachbarin”, knurrte Simon in den Hörer.

„Gut. Wenn sich also bis morgen früh niemand bei mir meldet, rufe ich Fowler an.”

Simon seufzte. „Ich wünschte, ich hätte mehr für … ehm … deine Nichte tun können.”

„Bete!”, hörte er Maggies entschlossene Stimme.

Dann meinte er Maggies Lächeln in ihrer Stimme zu vernehmen, als sie ihm eine gute Nacht wünschte.

„Danke. Gute Nacht”, antwortete Simon und legte auf.

Simon McPherson war nicht das erste Mal allein im Bereitschaftszimmer. Aber gerade in diesem Augenblick fühlte er das. Niemand wartete auf ihn, wenn er nach Hause kam. Niemand redete mit sanfter Stimme, so wie Maggie gerade eben. Er atmete tief durch und wandte seine ganze Aufmerksamkeit seiner Arbeit zu. Kurze Zeit später begannen nicht nur seine Augen zu schmerzen, sondern auch sein verspannter Rücken. Er schloss die Akten, erhob sich vom Stuhl und streckte sich. Ein Blick auf die Uhr bestätigte Simon, dass es bereits neun war. Lithgow würde bald da sein. Der letzte Septembertag neigte sich dem Ende zu. Mit dem Sonntag stand der Oktober vor der Tür und für Simon McPherson der erste Winter in der Reservation. Viele Stimmen behaupteten, dass der erste Reservationswinter darüber entschied, ob ein Fremdling wirklich blieb oder nicht. Simon wusste von den Stimmen der Leute hier. Er wollte es einfach auf sich zu kommen lassen. Langsam ging Simon den Flur entlang zum Ausgang. Es regnete noch immer. Feuchte Nachtluft schlug ihm kalt entgegen. Die Gestalt neben der Tür erschreckte Simon. Der junge Mann sah zu ihm und drückte sofort seine Zigarette aus.

„Hallo, Mr Martinez”, sagte Simon. Der Junge fror offensichtlich.

Der Angesprochene lächelte. „Guten Abend, Doc.”

„Können Sie nicht schlafen?”

„Nein. Irgendwie ist alles durcheinander.”

„Sie sollten besser rein gehen. Ist nicht gerade schönes Wetter für eine Bronchitis.”

„Hm. Und Sie sollten vielleicht eine Jacke anziehen, Doc”, grinste Antonio.

Simon wandte sich um und ging hinein. Auch er fror. Antonio Martinez folgte ihm. „Haben Sie Lust auf einen heißen Tee?”, fragte Simon.

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Warum nicht. Kann nicht schaden”, meinte er und folgte Simon in das Bereitschaftszimmer. Antonio sah sich um, zog den Anorak aus und hing ihn über die Stuhllehne. Dann setzte er sich.

„Wieder nur Cartoons im Nachtprogramm?”, fragte Simon, während er den Tee brühte.

„Nein. Heute nicht.”

„Es scheint Ihnen schon wesentlich besser zu gehen, Mr Martinez.”

„Für Sie ‚Antonio‘.”

„Geht es dir besser, Antonio?”, fragte Simon.

„Was die Bronchitis betrifft, denke ich schon. Ja. Dank Doktor Yellow Clouds Spezialmedizin. Kein Antibiotikum. Nie mehr!”

Simon nickte und stellte den dampfenden Tee auf dem Tisch ab. Dann setzte er sich Antonio gegenüber.

„Sie sehen müde aus, Doc.”

„Stimmt”, lächelte Simon.

Dann nippten sie am Tee und schwiegen eine ganze Zeit, bevor Antonio fragte: „Haben Sie eine Familie, Doc?”

„Ich bin Single, falls du das meinst. Meine Eltern und Verwandten leben in Kalifornien. Ich bin im Mai in dieses Hospital gekommen.”

„Freiwillig?”, fragte Antonio mit einem eigenartigen Unterton. „Nein.”

Antonio verzog geringschätzig die Mundwinkel und nickte mehrmals.

„Du denkst, wieder einer von denen, die sich hier ausprobieren müssen, dem alles am Arsch vorbei geht und der nichts weiter im Kopf hat, als schleunigst hier zu verschwinden, um in einer richtigen Klinik Karriere zu machen und einen Haufen Kohle.”

Antonio sah ihn ganz offensichtlich verwundert an.

Simon lächelte nachsichtig. „Manchmal kann ich die Gedanken meiner Patienten lesen.”

Der junge Indianer schien über Simons Worte erschrocken zu sein. „Habe ich im Schlaf geredet?”

Simon lachte. „Nein.”

Wieder schwiegen sie eine Weile und nippten am Tee. Simon war aufgefallen, dass Antonio etwas bedrückte. Er wagte nicht, ihn direkt danach zu fragen.

„Haben Sie Freunde?”, fragte Antonio schließlich.

„Ja.”

„Hier?”

„Ja. Auch hier”, schmunzelte Simon.

Nach einigen Minuten fragte Simon schließlich: „Gehst du noch zur Schule?”

Antonio starrte in seine Tasse und schüttelte nur den Kopf. Dann trank er seine Tasse aus und stand auf. „Danke für den Tee, Doc”, sagte er und griff nach seiner Jacke.

„Jederzeit wieder. Schlaf gut, Antonio.”

Simons und Antonios Blicke trafen sich. Einen Augenblick glaubte Simon eine Mischung aus Wut und Traurigkeit in Antonios Augen zu erkennen. Dann wich der Indianer dem Blick Simons aus und ging.

Inzwischen war es zehn. Lithgow war noch immer nicht gekommen. Es musste also etwas sehr Ernstes sein, denn auf den alten, ehrwürdigen Mediziner war immer Verlass. Simon löschte die Lichter und streckte sich auf der Couch aus. Er schlief mit dem offenen Buch in seinen Händen ein. Die Leselampe war noch an, als er fröstelnd wieder wach wurde. Simon wickelte sich in die Decke und knipste die kleine Lampe aus.

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Autor: Brita Rose-Billert

Brita Rose-Billert

Brita Rose-Billert wurde 1966 in Erfurt geboren und ist Fachschwester für Intensivmedizin und Beatmung, ein Umstand, der auch in ihren Romanen fachkundig zur Geltung kommt. Seit 2006 schreibt sie nicht nur über Indianer, sondern in Rücksprache mit Native Americans. Der persönliche Kontakt ist ihr wichtig, denn nur so können diese beeindruckenden, so unterschiedlichen und besonderen Menschen wirklich in den Geschichten als Native Americans beschrieben werden. Auf ihren Reisen in Reservationen sammelte sie Fakten und Geschichten, hörte zu und merkte irgendwann, dass auch sie beobachtet wurde. Daraus entstanden Kontakte und Freundschaften, erst ein Lächeln, dann der Beginn, die andere Realität zu verstehen. Brita Rose-Billert hat bereits vier Romane veröffentlicht, die die heutige Situation der Indianer beschreiben. Ebenfalls beim TraumFänger Verlag erschienen "Maggie Yellow Cloud, Mord auf Pine Ridge" und "Die Farben der Sonne". Weitere Romane sind in Planung. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Sohn in der kleinen Thüringer Stadt Greußen. Zur Familie gehören Kaninchen, der Foxterrier Willy und das Pferd „Heyoka“.

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