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Abnehmen mit Torte

Abenteuer eines Selfmadeadeligen

©2015 184 Seiten

Zusammenfassung

Als der in Geldnot geratene Self-Made-Graf Lo Graf von Blickensdorf eines Tages sich in einem Wochenendhaus in einem Dorf zurückzieht, um dort in aller Ruhe an seinem Roman zu schreiben, wirbelt in dem kleinen verschlafenen Dorf seine bloße Anwesenheit allerhand Staub auf. Als ihm auch noch der Bürgermeister das alte verlassene Schloss anbietet, hat er plötzlich alle Dorfbewohner gegen sich, die herausgefunden haben, dass er ein „falscher Graf“ ist und erhält aus diesem Grunde sogar Morddrohungen. Mit der geplanten Ruhe ist es vorerst vorbei. Und so ganz nebenbei absolviert der Autor noch ein Diätprogramm – ohne auf seine geliebte tägliche Torte zu verzichten. Sein Ziel sind 10 Kilo weniger – wird er sein Ziel erreichen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.
Ein verhängnisvoller Entschluss

Ich stand am Ortsausgangsschild von Schwenkow und blutete aus der Nase. Mein Kopf dröhnte wie ein Vuvuzela-Konzert, und eisiger Wind pfiff mir durch die Rippen. Zum ersten Mal in meinem Leben verfluchte ich es, Graf geworden zu sein. Ich könnte jetzt schön in einer meiner gemütlichen Berliner Lieblings-Patisserien sitzen und mir ein Maracujatörtchen zu Gemüte führen, dachte ich. Aber nein, ich landunerfahrener Stadtmensch musste ja unbedingt in die „ruhige“ Provinz.

Aber der Reihe nach.

Also, auf einer Party nahm das Schicksal seinen Lauf. Dort traf ich nach langer Zeit einen alten Freund wieder, der sich interessiert nach meinem Wohlbefinden erkundigte. Ich jammerte ihm vor, dass ich eigentlich an meiner nächsten Buchidee arbeiten müsste, dass aber banale Alltagsdinge mich leider immer wieder davon abhalten würden. Da ich leidenschaftlicher Tortenesser bin, sollte es ein geniales Buch über Torte werden, berichtete ich ihm. Wie das genau aussehen sollte, wusste ich selber noch nicht.

Er erzählte mir von seinem kleinen Wochenendhaus auf dem Lande, das er mir anbieten könne. Das wäre für mich genau richtig, ich könne dort ein paar Wochen an meinem Buch arbeiten, schlug er mir vor. Kostenlos! Das ganze hätte allerdings einen kleinen Haken. Die Bevölkerung wäre etwas „… ähhh …, sagen wir mal etwas eigenwillig.“

Wie so oft in meinem Leben, nahm ich diese kleine Warnung nicht so ernst, denn ich vertraute auf meine grundsätzlich positive Einstellung zu meinen Mitmenschen.

Vor allem aber war mir klar, dass ich ein neues Buch herausbringen musste, denn ich bekam viele Zuschriften von Lesern, die immer wieder danach fragten.

Ich erinnere mich immer noch gern an meine erste Buchpremiere, die mein damaliger Verlag in das Hotel Adlon gelegt hatte. Es war ein heißer Septembertag, und ich sollte als PR-Gag mit einem standesgemäßen gesponserten Mercedes-Benz von 1953 vor dem Hotel vorfahren. Es sollte so aussehen, als käme der Graf gerade von seinem Sommersitz „Gut Dünken“ nach Berlin. Da der Sponsor aber nicht so viel Geld dafür ausgeben wollte, wurde die Nobelkarosse nur für eine Stunde gemietet. Was zur Folge hatte, dass ich mit meinem alten Miele Fahrrad, das ich zuweilen ITS („Ich Trete Selbst“) nenne, zum Treffpunkt radeln musste. Das Gute daran: Wer ein Fahrrad hat, braucht für den Sport nicht zu sorgen.

Da noch etwas Zeit war, ging ich Unter den Linden erst einmal meiner Lieblingsbeschäftigung nach: dem Konditern. Im Café Einstein trank ich draußen auf dem Trottoir einen Milchkaffee und teilte mir mit einer Wespe ein Stück Pflaumenkuchen mit Sahne, während ich Möbelpackern zusah, die emsig wie Blattschneiderameisen mit Umzugsgut hin und her liefen.

Und ich sah gerade noch den Halsspeck eines bekannten Politikers, der eilig im Inneren des Cafés verschwand. Je weiter hinten im Café Einstein der Gast sitzt, umso wichtiger ist er, sagt man.

Apropos: Ich war einmal in der Galerie des Café Einstein zur Vernissage einer Fotoausstellung von André Rival eingeladen, wo Claudia Roth von den „Grünen“ die obligatorische Rede hielt und ironisch den auf einem Foto zu sehenden „wunderschönen Guido Westerwelle“ erwähnte. Plötzlich ertönte dicht hinter mir eine laute Stimme: „Nicht nur auf dem Foto!“. Ich drehte mich um – da stand Guido Westerwelle selbst.

Nach einer Weile kam die vom Verlag bestellte schneeweiße Limousine mit meiner selbst entworfenen Familienwappenstandarte am Kotflügel vor dem Café vorgefahren. Mir wurde vom Chauffeur der Wagenschlag aufgehalten. Unter den Augen der staunenden Passanten stieg ich ein. Huldvoll winkte ich ihnen zu. Dann fuhren wir die paar Meter bis zum Hotel Adlon. Dort wurde ich vom Publikum mit Papierfähnchen, ebenfalls mit meinem selbst entworfenen Familienwappen, frenetisch winkend begrüßt. Pressefotografen fotografierten um ihr Leben. Bald kamen auch noch zahlreiche Touristen hinzu, weil sie dachten, Prinz Charles wäre gerade eingetroffen. Ich hatte Mühe, durch die Menschenmenge über den roten Teppich den Hoteleingang zu erreichen.

Es wurde ein für mich unvergesslicher Tag, für den ich immer und ewig Berlin dankbar sein werde. Um es mit Marlene Dietrich zu singen: „Wenn keiner treu Dir bliebe, ich bleib Dir ewig grün, du meine alte Liebe, Berlin bleibt doch Berlin!“

*

Am Tag nach der Party stand ich zu Hause in Berlin-Charlottenburg an meinem Fenster und schaute nachdenklich hinaus auf das Berliner Häusermeer. Der Fernsehturm am Alexanderplatz in weiter Ferne blinkte nervös, als wollte er mir signalisieren: „Beweg dich endlich.“

Sollte ich wirklich ein paar Wochen raus aufs Land? Dabei liebte ich doch die Großstadt so sehr. Nichts gegen etwas Natur, aber die hatte ich im nahegelegenen Charlottenburger Schlosspark auch. Andererseits brauchte ich dringend mal wieder ein neues Buch, damit mein Schornstein wieder rauchte und ich nicht immer meine Teebeutel zum Trocknen aufhängen musste, weil ich sie dadurch mehrmals benutzen konnte. Auch meine Besuche bei der Berliner Tafel waren mehr als unerfreulich. In meinem Portemonnaie herrschte schon seit Monaten Ramadan, und die letzten Tage waren wie eingefallener Käsekuchen. Manchmal wollte ich am liebsten meine schlechten Gedanken gegen Fahrstuhlmusik austauschen.

Ich war zwar schon bei Günter Jauchs „Wer wird Millionär?“ als Gast, hatte es aber leider nicht auf den Kandidatenstuhl geschafft, weil ich die Anfangsfrage etwas zu langsam beantwortet hatte. Andernfalls hätte ich heute keine Geldprobleme.

Und noch etwas sprach für einen Landaufenthalt: Ich hatte vor einiger Zeit mit dem Rauchen aufgehört und sah dadurch um die Hüften herum aus wie eine Aldi-Tüte voller Wasser. Ich hatte keine Lust, so fett zu werden, dass die Elefanten im Zoo Erdnüsse nach mir warfen.

Komisch, dass heute immer mehr Menschen aussehen wie eine stramm aufgeblasene Hüpfburg. Merken die denn nicht, dass sie immer fetter werden? Zugegeben – Tiramisu ist eine prima Antifaltencreme. Aber nach einer Weile stellen sich die dazugehörigen Krankheiten ein, ich sah das in meinem Bekanntenkreis: Falsche Kniegelenke werden nötig, Diabetes klopft an die Tür.

Aber nicht bei mir! Auf dem Lande würde mich nicht nur nichts vom Schreiben ablenken, in gesunder Luft und mit frischen Lebensmittel würde ich auch in Muße abnehmen. Und mit den etwas „eigenwilligen“ Leuten würde ich schon fertig werden. Dass sich mein Leichtsinn und meine grundsätzlich positive Einstellung zu meinen Mitmenschen diesmal bitter rächen würden, konnte ich da noch nicht wissen.

Ich hatte nicht, wie Sie jetzt vielleicht denken werden, aus gesundheitlichen Gründen mit dem Rauchen aufgehört. Nein, ich hatte aufgehört, weil mannicht mehr in Restaurants, Kneipen und Bars rauchen durfte. Und das gemeinsame Rauchen neben den übelriechenden Mülltonnen eines Nobelrestaurants, Seite an Seite mit Staatssekretären des Bundesgesundheitsministeriums, konspirativ wie Junkies am Drogenumschlagplatz am Hannoveraner Hauptbahnhof – das stand einem Grafen nun mal nicht.

Ich war nämlich gerne Raucher. Dafür nahm ich, jedenfalls bis zum Rauchverbot in Lokalen, auch unangenehme Begleiterscheinungen in Kauf. Ich machte die Helmut-Schmidt-Diät – eine ausgewogene Ernährung, bestehend aus Cola und Zigaretten, nach dem Motto: Der Weg zur Lunge muss geteert sein! Seine Ehe mit Loki Schmidt hielt ja nur deshalb so lange, weil sie getrennte Aschenbecher hatten.

Jeden Morgen fühlte sich meine Zunge einst so pelzig an wie ein dicker Perserteppich. Aber es machte mir nichts aus. Ich erinnere mich noch wehmütig an die Fahrten mit der Bahn im verqualmten Raucherabteil, wo ich rauchend und Cola trinkend durch melancholisch-schöne deutsche Landschaften fuhr, mich über die hässlich-schönen Einfamilienhäuser am Rande der Bahnstrecke amüsierte und dadurch auf die eine oder andere gute Idee kam, die ich dann flugs in meinem kleinen Notizbuch mit dem roten Lesebändchen notierte.

Einmal kam ich mit meinem Kollegen Oliver von einer Arbeitsreise aus Casablanca zurück, und da wir zwei Stunden Aufenthalt auf dem Frankfurter Flughafen hatten, suchten wir eine Stelle zum Rauchen. Wer den Frankfurter Flughafen kennt, weiß, dass wir ungefähr die Strecke Berlin-Warschau laufen mussten, bis wir einen Raucherstützpunkt draußen an einem zugigen Notausgang fanden, wo blasse Raucher mit zittrigen gelben Fingern die Asche ihrer Glimmstängel in stinkende, randvolle, weinfassgroße Aschenbecher abschnippten.

Oder ein anderes Mal war ich in einem Designerhotel zum Essen eingeladen, da waren sogar die Rülpser designt („Joop! – oh, Verzeihung!“). Es herrschte dort auch Rauchverbot, und da ich ein Lungenbedürfnis hatte, steckte ich mir draußen auf der Terrasse an einem romantischen Ententeich mit einer einsamen Ente ein Glühwürstchen ins Gesicht. Während ich so den Blauen Tod in mich hinein sog, war ich froh, nicht unter Anatidenphobie zu leiden. Das ist nämlich die Angst, irgendwie, irgendwo von einer Ente beobachtet zu werden.

Ich sinnierte: Wie tragisch Phobien sein können, sieht man an dem Fall eines Mannes in meiner Nachbarschaft. Er hatte eine langjährige Ausbildung bei verschiedenen Clownslehrern gemacht, unter anderem sogar bei dem berühmten Jango Edwards, und arbeitete dann einige Jahre als Clown – bis er Gelotophobie bekam. Das ist die Angst, ausgelacht zu werden. Er musste sofort seinen Beruf aufgeben, die ganzen Ausbildungsjahre waren umsonst. Er wollte auf Nummer Sicher gehen und schulte dann auf Beerdigungsredner um.

Nun, ich hatte also mit dem Rauchen aufgehört, was aber die besagte Aldi-Tüten-Verformung meiner Hüften zur Folge hatte. Die Waage zeigte mir 10 Kilo über meinem Normalgewicht an. Die Hosen passten mir nicht mehr, und wenn ich mir die Schuhe zubinden wollte, klemmte ich mir immer den Bauch ein, als hätte ich ein Sofakissen vor dem Frontspoiler hängen. Das konnte und wollte ich nicht dulden. Das musste weg! Ich wollte nicht werden wie jene dicken Leute, die in ihrem Bauchnabel keine Flusen finden, sondern ganze Pullover. Aber ich wollte auch nicht auf meine geliebte, täglich genossene Torte verzichten, denn dieses Ritual war mir lieb und teuer.

*

Es gab viele Gründe, die mich vom Schreiben an meinem Buch abhielten. Ich nenne hier nur einige. Fangen wir mit meinen Alkoholeskapaden mit Aron an.

Er mochte so Mitte Vierzig sein, sah aus wie der junge Jack Nicholson, war Champagnerliebhaber und sehr, sehr großzügig. „Champagner hat noch keinem geschadet“, lautete seine Devise, wenn er mich wieder einmal zu einem Glas einlud.

„Aron, deine Worte sind heute wieder von der Wahrheit beseelt“, antwortete ich ihm meistens.

Aron gehörte angeblich der halbe Potsdamer Platz. Er war Minderheitengesellschafter einiger Hotels, hatte einen Doktortitel und gab immer an wie eine Lore Affen. Champagner war für ihn ein französisches Iso-Getränk, und er goss sogar seine Zimmerpflanzen damit.

Ich war für Aron so etwas wie ein Hund mit zwei Beinen. Und was macht man mit einem Hund mit zwei Beinen? Um die Häuser ziehen. Mir war es recht, denn solche Abende hätte ich mir ohne ihn nie und nimmer leisten können.

Manchmal rief er mich an: „Komm, Lo, wir saufen heute, bis unsere Locken wieder glatt sind.“ Danach war ich immer dicht wie eine Raumkapsel.

Eines Tages stand ich an einem lauen Sommerabend mit Aron an der Theke der Vox-Bar am Marlene-Dietrich-Platz. Sie wurde mal zur besten Bar Deutschlands gekürt. Früher stand hier an der Stelle das berühmte Vox-Haus, von dem 1923 die erste Radiosendung Deutschlands gesendet wurde.

Zum Vorglühen tranken wir einen „Golden Vox Shrimptini“, eine Kreation aus Wodka, Tabasco, Noilly Prat (französischer Wermut der Extraklasse) und einer goldummantelten Garnele – dekadenter ging es nicht. Wahrscheinlich sehr teuer, vermutlich mehr als ich im Portemonnaie hatte – aber Aron lud mich ja dazu ein. Dekadenz ist ohnehin nur die angenehme Variante von Anarchie, tröstete ich mich.

Plötzlich kamen etliche Banker herein, jeder mit einem Namensschildchen am Revers. Sie werden wohl von irgendeinem Banker-Kongress gekommen sein. Sofort verwickelte Aron sie in ein Gespräch. Sie fachsimpelten in einer Bankersprache, die ich nicht verstand, über etwas namens Sonderzinsen. Dann verschwand Aron kurz und kam triumphierend mit einem Aktenordner zurück. Für einen Augenblick steckten alle ihre Köpfe darüber zusammen, um bald darauf Aron zu bestätigen, dass er tatsächlich Sonderzinsen bekomme. Davon war Aron so euphorisiert, dass er prompt eine Magnumflasche Champagner bestellte. Aber nicht irgendeine, nein, eine bestimmte Marke musste es sein, die es gekühlt nur im einen Kilometer entfernten Hotel Adlon gab und die ein Fahrer extra holen musste. Als er zurückkam, wurde eingeschenkt. Nach fünfzehn Minuten war die Flasche leer und Aron um 2000 Euro ärmer. Die Banker gingen um Mitternacht auf ihre Zimmer, während Aron und ich hinüber ins Mandala Hotel schlenderten, weil er noch englische Pfundnoten in Euro umtauschen wollte. Für uns fing die Nacht jetzt erst an.

Als Aron an der Rezeption das umgetauschte Geld in Scheinen und Münzen zurückbekam, moserte er herum: „Was soll ich denn mit dem Klimpergeld? Ich bin doch kein Zigeuner. Sprechen Sie deutsch?“ Dann schob er die Münzen der errötenden jungen Dame an der Rezeption zurück. „Sie kleiner Goldkäfer, Sie!“ Da sie sehr aufgeregt war, aber äußerlich versuchte, ruhig zu bleiben, schwollen ihre Halsadern an, dass ihr Blut ein herrliches Fleckenmuster aus Rosa und Weiß bildete.

Plötzlich lief ein attraktiver, indisch aussehender Mann an uns vorbei. Als Aron ihn sah, rief er in die Runde: „Seit wann werden denn Rosenverkäufer hier reingelassen?“

Die Dame hinter der Rezeption wurde zur Abwechslung hinter ihrem Makeup ganz blass. Ihr herrliches Fleckenmuster war verschwunden.

„Du wolle Rose kauffe?“, äffte Aron einen Rosenverkäufer nach. Ich lachte gequält und machte unauffällig besänftigende Handbewegungen, denn langsam wurde mir die ganze Situation peinlich.

Der Inder blieb vor einem Lift stehen und schaute belustigt zu uns herüber. Er schien glücklicherweise kein Wort zu verstehen. Meine besänftigenden Handbewegungen schienen Aron noch mehr anzufeuern.

„Hab ich noch irgendwo einen Bentley herumstehen?“, fragte er die Rezeptionistin. Sichtlich dankbar, dass Aron von dem Inder abließ, antwortete sie: „Ich weiß es nicht, Herr Doktor.“

Aron: „Dann fragen Sie doch mal. Vielleicht in der Tiefgarage?“

Die Dame verschwand für einen Augenblick.

Ich fragte ihn neugierig: „Du hast einen Bentley?“

Aron schüttelte den Kopf und schaute mich mit seinem verschmitzten Jack-Nicholson-Blick an: „Ach, man muss doch das Personal immer irgendwie in Trab halten.“

Er war schon etwas bizarr, mein Aron.

Wir gingen wieder rüber in die Vox-Bar. Was tranken wir? Natürlich ein französisches Iso-Getränk!

Als Aron gerade wieder bei Herrn Edgar eine neue Rutsche Champagner bestellte, kam eine stark geschminkte Frau im violett glitzernden Abendkleid und weißem Bolero-Jäckchen suchend herein. Die kam Aron gerade recht.

Sofort stürzte er sich umgarnend auf sie, nahm dem heraneilenden Herrn Edgar eilig zwei Gläser vom Tablett und drückte ihr galant ein Glas in die Hand mit dem Satz: „Lassen Sie uns das Feuer unserer Herzen mit Champagner kühlen, Madame.“

Sie war beeindruckt, stellte sich als Lisa vor und erzählte mit einer rauchig dunklen Stimme, dass sie einen Schauspielerkollegen suche, der ihr eine Rolle in einem Film verschaffen wolle. Dabei unterstrich sie ihr gebrochenes Deutsch mit ihren beringten, merkwürdig großen, kräftigen Händen. Wie Männerhände, wunderte ich mich.

Aron forderte, dass wir erst einmal zusammen anstoßen sollten.

Arons Trinkspruch „Sehr zum Wohle, sagt der Pole, fahr nach Berlin, da machste Kohle“ brachte mich zum Lachen. Übermütig stießen wir unsere Kelche klirrend aneinander und genossen den perlenden Champagner.

Aron, der am meisten über seine Witze lachen konnte, kam jetzt so richtig in Fahrt und wollte noch drei Gläser bestellen. Doch als Lisa feststellte, dass sie nicht im Mandala Hotel war, sondern in der Vox-Bar, die zum Grand Hyatt Hotel gehörte, wurde sie nervös und wollte noch mal rasch hinüber ins Mandala Hotel, um ihren Kollegen zu suchen.

Aron und ich reagierten nicht auf ihre hilfesuchenden Blicke, denn sie drohte unsere ausgelassene Stimmung mit ihrer Ernsthaftigkeit zu gefährden. Aron hatte ohnehin abrupt sein Interesse an Lisa verloren, da er an der Theke schon neue „Opfer“ entdeckt hatte, zwei mit Juwelen behängte Frauen. Sie waren Besitzerinnen einer renommierten Privatbrauerei, wie sich später herausstellte.

Lisa setzte eine flehende Miene auf – mit einem AschenputtelBlick, der seine Wirkung auf mich nicht verfehlte. „Können Sie mich kurz ins Mandala Hotel begleiten, Herr Graf?“, flötete sie mit ihrer Sandpapierstimme. „Nur ein paar Minuten.“ Sie klimperte mit ihren langen Wimpern so heftig, dass ich sogar einen leichten Windhauch davon verspürte. „Bitte!“

Da es schon spät war, und ich stets Kavalier alter Schule bin, willigte ich ein, sie zu begleiten.

Beim Hinausgehen hörte ich wieder Arons Satz, den er gerade den beiden Diamantfrauen an der Theke sagte: „Lassen Sie uns das Feuer unserer Herzen mit Champagner kühlen, meine Damen.“ Sie kicherten.

Es regnete leicht. Auf dem Marlene-Dietrich-Platz hakte Lisa sich beherzt bei mir ein. Ich schaute zu ihr hoch, denn sie war fast zwei Köpfe größer als ich. Wir staksten nach rechts um die Ecke. Nun konnte ich sogar ihr Parfüm riechen. Es roch nicht schlecht. Es war eine Mischung aus frischem Zitrus und dem zarten, geheimnisvollen Duft französischer Rosen.

Ich konnte es kaum glauben – da ging ich eingehakt mit einer aufgetakelten Dame, die vielleicht ein Transvestit war und mit Bud-Spencer-Stimme belanglose Sachen plauderte, durch den neonfarbenen Regen. Als wir am Taxistand vor dem Grand Hyatt vorbeiwackelten, dachte ich zu mir: Das glaubt dir niemand. Verrückt! Wie in einer komödiantischen Filmszene. Es war aber Realität und nicht ausgedacht.

Als wir die Rezeption des Mandala Hotels betraten, schaute die Rezeptionsdame mich mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, weil sie dachte, Aron würde wieder jeden Augenblick hinter mir durch die Tür kommen. Sie wirkte etwas entspannter, als Lisa nach ihrem Kollegen fragte und Aron nicht auftauchte.

Die Hoteldame war wohl auf Lisas Erscheinen vorbereitet und verband sie telefonisch mit einem Zimmer. Dann reichte sie Lisa den Hörer, und es folgte ein kurzes Telefongespräch.

Als Lisa auflegte, stand eine Minute später der indische „Rosenverkäufer“ neben uns. Lisa stellte ihn mir vor, und er gab mir höflich die Hand. Als ich seinen Namen hörte, war ich wie vom Donner gerührt! Es war der derzeit wohl erfolgreichste indische Bollywood-Star Sha Rukh Khan!

In einer mir unbekannten Sprache unterhielten sie sich angeregt. Danach verabschiedete sich Sha Rukh Khan lächelnd von uns, und Lisa bat mich, sie noch zum Taxi zu bringen. Vielleicht klappe es ja morgen mit der Filmrolle, sagte sie hoffnungsfroh und deshalb wolle sie so schnell wie möglich ins Bett, damit sie für ihren Auftritt fit sei.

Am Taxistand vor dem Grand Hyatt verabschiedete ich sie galant mit einem Handkuss. Ich bin eben ein alter Kavalier vom Scheitel bis zum Kopf. Da mache ich keine Unterschiede, wie jemand sexuell ausgerichtet ist. Sie hauchte mir mit ihrer Bud-Spencer-Stimme ein tiefes „Bye, bye!“ zu und schenkte mir ein schneeweißes Fluorlächeln. Dann nannte sie dem Fahrer ihr Fahrtziel, das ich nicht verstand, ich schlug die Wagentür zu, und das Taxi verschwand laut dieselnd in der neonfarbenen Berliner Nacht.

Ich ärgerte ich mich, dass mich keiner von meinen Freunden gesehen hatte, wie ich filmszenengleich galant eine attraktive Dame mit Handkuss verabschiedete. Tja, immer wenn man sie braucht, sind sie nicht da.

Als ich zurück in die Vox-Bar ging, kam mir in den Sinn, dass ich mir so etwas als Kind immer gewünscht hatte – große weite Welt!

Ich erinnerte mich, wie ich damals in Münster am Stadtrand lebte, und der einzige Höhepunkt des Jahres war der Spielmannszug des örtlichen Schützenvereins, dessen Mitglieder, blau wie die Feldhaubitzen, am Ende des Tages in mittlerweile unordentlicher Uniform als bunter Haufen an unserem Jägerzaun vorbeischwankten, wie Matrosen bei hoher See.

Zurück in der Vox-Bar bekam ich gerade noch mit, wie Aron dem Mutter-Tochter-Gespann vorlog, dass er gerade mit seinem Privat-Jet in Schönefeld zwischengelandet sei, aber von der Flugaufsichtsbehörde keine Genehmigung zum Weiterflug bekomme, weil an seinem Jet etwas nicht in Ordnung sei. „Dann lass ich die Schüssel hier einfach stehen, zum Verschrotten“, flunkerte er den beiden Frauen vor, dass es nur so eine Pracht war. Die Privatbrauereibesitzerinnen nickten beeindruckt, nippten an ihrem Schampus und glitzerten und klunkerten um die Wette.

Ihre vermutlich sündhaft teuren Diamantgehänge funkelten wie Fahrgeschäfte auf der Kirmes. Um mir so etwas leisten zu können, muss ich wahrscheinlich mindestens tausend Bücher schreiben, dachte ich.

Aron nahm mich etwas zur Seite und fragte mich, was mit Lisa wäre? Ich berichtete ihm, dass sie nach Hause gefahren sei. Das meine er nicht. Dabei zwinkerte er mir zu. Ich verstand nicht, was er hören wollte.

„Was meinst du denn?“, fragte ich ihn.

„Na, du weißt schon.“

„Nee, was denn?“

„War das nun ein Mann oder ne Frau?“

„Woher soll ich das denn wissen?“

„Na ja, ich hab gedacht, du fühlst mal nach, ob die Olle ne Gangschaltung hat?!“

Hatte ich natürlich nicht. Aber dann lag ich mit meiner Vermutung wohl richtig, dass Lisa ein Transvestit war. Egal, es war jedenfalls eine buchreife Episode. Sicherheitshalber notierte ich mir die wichtigsten Eckdaten in mein kleines Notizbuch mit dem roten Lesebändchen.

Mit Aron habe ich schon viele solcher Geschichten erlebt. Das ist nützlich für einen Buchautoren, hat leider aber den Nachteil, dass ich durch die Unmengen Alkohol danach ein paar Tage krank bin. Wenn ich betrunken bin, habe ich nicht nur eine rote Nase wie mein Lieblingskomiker W.C. Fields, sondern mir treten dabei auch an den Schläfen die Adern stark hervor.

Mein guter Freund Kögl nennt das immer „Natterngezücht“ und kann daran sofort erkennen, dass ich gerade voll wie eine irische Kirchengemeinde bin.

So ging es mir dann auch an diesem Abend, der bis in den späten Morgen reichte. Immerhin: Es war teuerster französischer Schaumwein, der in meinen Adern pulsierte.

Von meinem letzten Buch hatte Aron 200 Exemplare gekauft, um sie dann in seinen Saufnächten nach und nach zu verschenken (und ich hoffe, er tut es auch wieder mit diesem Buch!). Ich erlebte das sogar einmal indirekt mit, als ich an einem Herbstregentag mit meiner lieben Freundin, der Jazzsängerin Nina Ernst,

ins Kreuzberger Yorckschlösschen ging.

Ich mag das legendäre Yorckschlösschen, insbesondere Herrn Dähmlow, den liebenswert-schrulligen Wirt, der immer zu allerlei skurrilen Späßen aufgelegt ist. Ich erinnere mich noch an eine legendäre Silvesterfeier im Yorckschlösschen. Es war herrlich dekoriert, und an der Decke schwebten goldene Helium-Ballons. Herr Dähmlow kam auf die Bühne, zeigte auf die Ballons an der Decke und sagte in seiner trockenen Art ins Mikrofon: „Um Punkt 24 Uhr holen wir uns alle einen runter und lassen dann draußen einen fliegen.“

Als wir das Yorckschlösschen betraten, spielte die Lenard Streicher Swingin’ Ballroom Band. Nina wurde, wie das unter Musikern so üblich ist, zu einem Gastauftritt aufgefordert. Es war ein wildes, stimmungsvolles Konzert, so dass nicht nur das Publikum, sondern auch die Kellner und Kellnerinnen ausgelassen tanzten. Die Rockabilly-Elemente erinnerten mich an die ersten legendären Konzerte meines alten Freundes Götz Alsmann, dessen Anfangsjahre ich in Münster miterleben durfte.

Da ich schon seit einiger Zeit etwas untertanzt war, schwoofte ich ebenfalls. Danach saß man noch mit der Band etwas zusammen und fachsimpelte über Musik. Dabei schaute mich der Bandleader Lenard immer so unauffällig auffällig von der Seite an. Das fand ich sehr merkwürdig.

Nach ein paar Whiskeys hatte er wohl Mut gefasst und sprach mich an. Ob ich zufällig der Autor des Buches „Werden Sie doch einfach Graf!“ sei? Als ich dies bejahte, sprühte ein Lobeshymnen-Feuerwerk über mein Buch aus ihm heraus, dass ich ganz verlegen wurde. Es stellte sich heraus, dass mein Freund Aron ihm mein Buch nach seinem Konzert in der Vox-Bar geschenkt hatte. Noch in der Nacht habe Lenard zu Hause im Bett darin angefangen zu lesen und dann nicht mehr aufhören können, erzählte er mir eifrig. Mittags hatte er es durchgelesen. Ohne zu schlafen! Ein größeres Kompliment konnte man mir nicht machen. Wir feierten noch bis tief in die Nacht …

Es gibt aber leider auch Menschen, mit denen ich, was mein Buch anging, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Als einige vermögende Bekannte erfuhren, dass ich ein Buch geschrieben hatte, bekundeten sie Interesse und wollten gern eins haben. Wenn ich ihnen dann eine Widmung reingeschrieben hatte und höflich um 16,90 Euro bat, schauten sie mich an wie ein Pferd, das zum ersten Mal vor die Kutsche gespannt werden soll. Sie gingen frech davon aus, dass sie das Buch von mir geschenkt bekommen – dabei geben sie an einem Urlaubstag so viel Geld aus wie ich im ganzen Monat.

Und das Seltsamste daran war: Von den „Geschröpften“ wurde ich dann später nur noch sehr kühl gegrüßt. Mit einem Blick, als hätte ich ihr Tafelsilber mitgehen lassen. Und das alles wegen läppischer Sechzehnneunzig? Na bravo, feine „Freunde“ sind das. Geiz ist die Armut der Reichen, schrieb er Aphoristiker Werner Mitsch treffend.

Und Alfred Adler, seines Zeichens Psychotherapeut, schrieb zu diesem Thema: „Mit Neid eng verwandt, meist damit verbunden, ist der Geiz. Damit ist nicht nur jene Art des Geizes gemeint, die sich darauf beschränkt, Geldstücke zu sammeln, sondern jene allgemeine Form, die sich im wesentlichen darin ausdrückt, dass es jemand nicht über sich bringt, dem andern eine Freude zu machen, der also mit seiner Hingebung an die Gesamtheit oder an Einzelne geizt, eine Mauer um sich auftürmt, um nur selber seiner armseligen Schätze sicher zu sein.“

Also, meine lieben reichen Freunde – kauft dieses Buch, und alle folgenden! Gern auch mehrere von jedem, zum Verschenken. Denn auch dieses Buch gibt's nicht umsonst. Das letzte Hemd hat keine Taschen.

An jenem champagnerfeuchten Morgen fuhr ich, wie so oft, vom Grand Hyatt mit dem Fahrrad wackelnd nach Hause, denn Berlins öffentliche Verkehrsmittel kommen für mich zu später Stunde nicht in Frage. Erst recht nicht, wenn ich Alkohol getrunken habe. Ich sag’s mal so: Wenn du der einzige Fahrgast ohne Hals-Tattoo und Springerstiefel bist, kommen dir zwei Haltestellen doch recht lang vor …

Am nächsten Spätnachmittag war ich noch immer schwerstens verkatert. An solchen Tagen mag ich noch nicht mal Torte essen. Da rief Lisa mit der Bud-Spencer-Stimme an und erzählte mir, dass sie gerade mit Sha Rukh Khan für seinen Film „Don“ am Brandenburger Tor eine Szene drehe. Ich freute mich trotz meiner Kopfschmerzen wie ein paniertes Schnitzel mit ihr, dass es geklappt hatte. Von dem Gelage mit Aron hatte ich jedenfalls noch Tage später die Blutgruppe „Champagner positiv“.

*

Während ich noch so das Für und Wider einer Landreise überlegte, tauchte vor meinem Fenster eine rumänische Musikkapelle auf. Ein Trompeter, ein Akkordeonspieler und ein schulpflichtiger Junge mit Tamburin spielten lustige Weisen wie aus einem Fellini-Film, während ein junges Mädchen die spärlichen Geldbeträge von der Straße aufsammelte, die aus den umliegenden Fenstern geworfen wurden.

Auch ich wickelte eine 2-Euro-Münze in ein Stück des gestrigen „Tagesspiegel“ ein und warf sie aus dem Fenster, sorgfältig darauf bedacht, dass sie nicht auf dem Balkon unter mir landete oder im Straßengulli verschwand.

Das Mädchen hob mein Päckchen auf und öffnete es, küsste die Münze und warf einen glutäugigen Blick hoch zu mir. Nun sah sie aus wie auf einem der unzähligen Kaufhausölbilder mit dem Titel „Zigeunerin“. Auch die Kapelle bedankte sich freundlich bei mir und spielte plötzlich viel lauter und schneller.

Geld scheint zu motivieren, dachte ich mir. Wie bei mir! Ich beschloss, das Angebot meines Freundes anzunehmen. Aber nur ungern. Trotz der etwas „eigenwilligen“ Nachbarn. Mit eigenwilligen Menschen konnte ich eigentlich schon immer gut umgehen, das hatte sich in meiner Vergangenheit schon öfter gezeigt – das das klappt nur eben nicht immer. Doch davon später mehr. Ich beschloss, meine Reisefaulheit zu überwinden. Ich verreise halt nicht gern, ich fahre mir allerhöchstens mal durch die immer spärlicher werdenden Haare.

Nun galt es, alles genau zu planen: Was mache ich mit meinem Fahrrad? Denn ohne mein geliebtes Miele-Fahrrad fahre ich nirgendwo hin. Wie komme ich mit meinem ITS aufs Land? Der Transport machte mir Sorgen. Und was nehme ich alles mit? Fragen über Fragen.

2.
Eine turbulente Reise mit Überraschungen oder
Der „Führer“ fuhr Fahrrad

Mein alter Freund Kutte musste mir helfen, die Reise mit dem Fahrrad zu bewältigen. Ich kenne ihn noch aus alten Hausbesetzerzeiten. Kutte war ein Riese von Mensch, sah aus wie ein etwas zu groß geratener Ozzy Osborne und war immer schwarz gekleidet (wie ich früher). Seine Hände sind etwa so groß wie Tiefkühlpizzas, und seit seiner Pubertät trägt er einen langen dunkelbraunen Pferdeschwanz, der mittlerweile mit grauen Strähnen durchzogen ist. Kutte ist unter anderem ein gescheiterter Wurstbudenbesitzer und nennt sich jetzt „Schrauber“, denn er lebt mehr schlecht als recht vom Auto-An- und -verkauf. Auf ihn ist immer Verlass, und er hatte mir schon oft geholfen. Wer sahen uns nicht sehr oft, aber wenn, dann immer sehr intensiv. Außerdem konnte ich über seinen Berliner Mutterwitz immer lachen. Kutte war einer, den man gerne am Tresen treffen will, wenn das Leben mal wieder zu entgleisen droht.

Kutte musste mir helfen. Ich rief ihn an.

„Jraf, alte Säule! Na? Wo quietscht der Käse?“ berlinerte Kutte, wie immer.

Ich erläuterte ihm mein Problem mit dem Fahrrad.

„Keen Problem, Jraf. Dit wer’n wa schon fingern, wa?“

Auf Kutte war eben immer Verlass!

*

„Es kommt ein Zeitpunkt im Leben, an dem du realisierst, wer dir wichtig ist, wer es immer sein wird und wer es nie war! Mach dir keine Gedanken über die Menschen aus deiner Vergangenheit, denn es gibt einen Grund, warum sie es nicht deine Zukunft geschafft haben.“ Ein schönes Zitat unbekannter Quelle.

Von vielen Menschen, die mir nicht gut taten oder die mich in meiner Entwicklung ausbremsten, habe ich mich in letzter Zeit getrennt. Sie saugen einem viel Kraft und Energie aus Körper und Seele, und dann bleibt nur noch die eine Möglichkeit: sich zu trennen.

Sich von Menschen trennen zu können, kann man nicht früh genug lernen. Leider war ich lange Zeit viel zu gutmütig und tolerant. So manche sogenannte Freunde begleiten einen durchs Leben, obwohl man schon lange nicht mehr zusammen passt. Viele meiner ehemaligen sogenannten Freunde müssten erschrecken, wenn sie statt ihres Gesichts ihren Charakter im Spiegel sähen. Da hilft dann nur noch ein radikaler Schnitt. Das geht oft nicht ohne Komplikationen und Emotionen. Ich musste erst einmal lernen, mich von den sogenannten Freunden, die meine Gutmütigkeit ausgenutzt hatten, zu trennen. Aber so schafft man sich Raum für die Menschen, die einem wichtig und wertvoll sind. Die wahren Freunde. Ich habe es nie bereut. Seitdem habe ich viel mehr Erfolg im Leben! Um meine Veränderung zu versinnbildlichen, hier ein Gedicht von dem tibetischen Meditationsmeister Sogyal Rinpoche (Verlag Droemer Knaur):

Autobiographie in fünf Kapiteln

1
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

2
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am selben Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein … – aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen, ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.

4
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

5
Ich gehe eine andere Straße.

Von diesem Gedicht kann man über den Umgang mit falschen Freunden viel lernen. Mein langjähriger Freund Kutte war jedoch einer, der es mit Bravour in meine Zukunft geschafft hatte.

*

Also ging es ein paar Tage später los. Die Reise ins Wochenendhaus meines Bekannten stand kurz bevor. Ich war schon ganz aufgeregt. Es war ein herrlich sonniger Tag, und die Vögel zwitscherten um die Wette, als wollten sie auf dem Eurovision Song Contest den ersten Platz machen. Nur besser. Ich hatte alles für meinen Landausflug vorbereitet und musste nur noch den Wasserhaupthahn in meinem Badezimmer zudrehen. Sicher ist sicher.

Ein gellender Pfiff erreichte mich oben in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Ein schneller Blick aus dem Fenster genügte – Kutte war da. Er stand mit seinem alten, zimtfarbenen 70er-Jahre-Jaguar in der zweiten Reihe vor meinem Haus.

Neben ihm lehnte Willi am Auto, sein Kalfaktor. Willi war der beste Kumpel von Kutte und so etwas wie sein persönlicher Butler (das Wort Kalfaktor, falls Sie sich das fragen sollten, geht auf das mittelalterliche calefactor zurück, was so viel wie Heizer heißt). Für Willi war Kutte der Größte, deshalb sagte er nie viel, sondern lachte bei jedem Witz von Kutte wie Ernie aus der Sesamstraße. Nämlich so: „Chr, chr, chr.“

Willi hatte eine Halbglatze, auf der viele Treuepunkte der Sonne zu sehen waren – nämlich Sommersprossen. Er trug ständig dieselbe abgewetzte blaue Jeansjacke, aus der immer aus der linken Brusttasche ein Päckchen Tabak herauslugte. Auf seinen Knöcheln der linken Hand stand eintätowiert: H-A-S-E. Und dazu kam es so: Willi saß einmal wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ein paar Tage in Untersuchungshaft. Er fühlte sich unschuldig und hasste die ganze Welt. Deshalb wollte er sich H-A-S-S auf seine Handknöchel tätowieren. An jedem Tag schaffte er einen Buchstaben. Doch als er am vierten Tag plötzlich unverhofft entlassen wurde, war sein ganzer Hass verraucht. Jetzt stand auf seiner Hand aber nur H-A-S. Um dem Ganzen doch noch einen Sinn zu geben, ergänzte er das Wort um ein E. Nun stand da eben H-A-S-E. Weil er im Chinesischen Sternzeichen Hase war, log er alle an, die danach fragten.

Einmal erzählte Willi mir, dass er seine Frau, von der er mittlerweile „glücklich geschieden“ sei, nur geheiratet habe, weil sie Bier als Haarfestiger verwendete. So war er sicher, dass immer welches im Haus sein würde. Sein Leben lang war Willi straffällig gewesen, und die Polizei hatte inzwischen von Willi mehr Fotos gemacht als seine Eltern zu seiner Kinderzeit.

Außerdem hatte ich mal ein Techtelmechtel mit seiner Kusine, das sehr unschön endete. Aber das steht alles in meinem vorigen Buch.

Den ledernen Rollkoffer voller Unterhosen und nichts als Buchideen im Kopf verließ ich meine Wohnung. Bei der netten hilfsbereiten Frau Ast, der Hauseigentümerin, hatte ich schon einen Tag vorher meinen Briefkastenschlüssel abgegeben mit der Bitte, meinen Briefkasten regelmäßig zu leeren.

In einer Collegemappe hatte ich mein Notebook (ein schreckliches englisches Wort! Aus diesem Grunde werde ich es im Folgenden nur noch „Klapprechner“ nennen), meine Papiere und etwas Bargeld. Kutte empfing mich unten auf der Straße gut gelaunt wie immer: „Hoffe, wohl jeruht zu haben, Jraf“, und machte einen übertriebenen Hofknicks.

„Chr, chr, chr“, lachte Willi.

Ich nahm es zur Kenntnis, und Kutte nahm mir beflissen meinen Koffer und die Collegemappe ab. Ich begrüßte die beiden. Ich hatte gedacht, dass Willi mitfährt, aber Willi erklärte mir ernst, dass sein alter Kumpel Kutte ihm nur eine Mitfahrgelegenheit gegeben hatte, weil er in meinem Kiez „geschäftlich“ zu tun hätte.

Bei der Gelegenheit übergab ich Kutte meinen antiken Grafenstock zum Restaurieren. Den brauchte ich ja nicht in der Walachei. Kutte konnte einfach alles. Ein handwerkliches Multitalent.

Man hörte das unermüdliche Rauschen der nahegelegenen Stadtautobahn A 100, das sich mit dem metallisch surrenden Geräusch der S-Bahn vermengte. Um die Großstadtsymphonie zu vervollkommnen, jaulte gegenüber vor Lidl auch noch ein angeleinter Köter sein Klagelied. Heimatklänge.

Plötzlich zu allem Überfluss ein lautes Hupen. Es war ein riesiger schwarzer BMW X5, den meist zierliche Frauen von einsfünzig Körpergröße fahren. Dieses Mal saß aber ein südeuropäisch aussehender junger Schnösel mit hässlich-fettigem Proll-Araber-Haarschnitt darin. Ihn störte es anscheinend, dass Kutte in zweiter Reihe parkte und er mit seinem riesigen Schiff dort kaum vorbei passte. Aus dem Autoradio dröhnten nervig jaulende, orientalische Klänge.

„Du kannst mir ma anne Pupe schmatzen“, schrie Kutte ihm hinterher und zeigte ihm einen Stinkefinger, während Willi schadenfroh sein obligatorisches „Chr, chr, chr“ zum Besten gab. Plötzlich blieb der BMW stehen, krachend und knirschend schaltete der Fahrer seinen Rückwärtsgang ein. Er hatte wohl Kuttes Stinkefinger im Rückspiegel gesehen. Die schwarze Protzschüssel setzte mit quietschenden Reifen zurück.

„Schönen Gruß vom Getriebe: Der Gang war drin!“, johlte Kutte vergnügt. Als der Wagen neben ihm zum Stehen kam, schrie Kutte den Fahrer an, bevor dieser Luft holen konnte: „Ick hau dir gleich ne Wendeltreppe in`n Hals, dann kannste dein Essen zu Fuß runtertragen!“

„Chr, chr, chr“, machte Willi.

Als der BMW-Fahrer mitbekam, dass wir zu dritt waren und er wahrscheinlich den Kürzeren ziehen würde (den er wahrscheinlich auch in seiner Hose hatte, denn sonst würde er ja nicht so ein Angeberauto fahren), machte er sich mit quietschenden Reifen davon, obwohl die Straße eine verkehrsberuhigte Zone war.

„Verfatzda! Jeh ma aus de Oojen“, schrie Kutte ihm hinterher und wandte sich wieder Willi und mir zu. Er nahm mir mein Gepäck ab und verstaute es gewissenhaft im Inneren seines Luxusgefährts.

Dann ging ich zu der alten Schinkel-Gaslaterne vor meinem Haus, die schon dem alten Heinrich Zille nächtens den Weg geleuchtet hatte und die ich seit über zwanzig Jahren für mein altes schwarzes Miele-Fahrrad, Baujahr 1953, als Dauerparkplatz benutzte.

Als ich mein ITS von der Laterne schloss, hielt ein gelbes DHL-Postauto neben mir, mit dem wahrscheinlich besten und pfiffigsten Paketzusteller der Welt: Herrn Meier. Manchmal bringt er mir meine Pakete bis in mein Stammcafé am Klausenerplatz. Genial, der Mann! Herr Meier hielt in der einen Hand eine Zigarette und rief mir aus seinem Wagen in leicht sächselndem Dialekt heraus zu: „Heute habe ich nichts für Sie, Herr Graf.“

Ich erklärte ihm, dass ich für ein paar Wochen zu verreisen dächte und er gegebenenfalls meine Pakete bei Frau Ast, meiner Wohnungsvermieterin, abgeben könnte. Er nahm es zur Kenntnis, machte eine grüßende Handbewegung und wünschte mir eine gute Reise, „Herr Graf!“.

Dann ging ich mit meinem Tretross zurück zu Kutte. „Jrafenwetter, wa?“ rief Kutte mir über die Straße zu, während er zwei große rot-blau karierte Einkaufstaschen aus Plastik, wie sie oft von Osteuropäern benutzt werden, aus dem Kofferraum holte und Willi in die Hand drückte.

Als ich einen neugierigen Blick hinein warf, entdeckte ich erstaunt, dass sie ein paar aufgeblasene Luftballons enthielt. Willi bemerkte meinen Blick und stellte die Taschen schnell beiseite an den Straßenrand, als wenn er etwas zu verbergen hätte. Dabei schaute er mich an wie ein Dackel, der gerade etwas Unartiges gemacht hat. Ich wollte Willi nicht in Verlegenheit bringen und fragte ihn instinktiv nicht, was es mit den Luftballons auf sich hatte.

Das Geheimnis der beiden Taschen sollte sich alsbald sowieso von alleine auflösen – leider zu Ungunsten von Willi. Doch davon später.

Gemeinsam hievten wir mein Fahrrad in den mit Umzugsdecken ausgepolsterten Kofferraum des Jaguars. Es passte nicht ganz hinein, so dass das Vorderrad herausragte. Aber Kutte beteuerte, dass das nicht so schlimm sei.

Willi mischte sich ein und schlug vor, das Vorderrad abzubauen.

„Dann können wir es ganz rein schieben. Das geht ruck-zuck.“

Dafür erntete Willi von Kutte einen bösen Blick.

„Hab ick von Bockwurscht jeredet, det du dein Senf dazu jibst?“

Willi schaute Kutte mit Dackelblick an und bereute sichtlich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Dann befestigten beide, schweigend wie ein eingespieltes Team, mein Fahrrad und die Kofferraumklappe fachmännisch mit Expandergurten.

Aus einem vorbeifahrenden Auto hörte man aus dem Autoradio Peter Fox schreien: „Guten Morgen, Berlin, du kannst so hässlich sein, deine Nächte fressen mich auf …“ Wie Recht er hat, der Herr Fox, dachte ich.

Ich sah, wie Kutte sich einen Flecken von seiner Hose wischte.

Jetzt bemerkte ich erst, dass Kutte sich neu eingekleidet hatte! Als ich ihn darauf ansprach, sagte er verunsichert: „Hab ick mir für’n schmalen Taler jekooft.“

Ich schaute ihn prüfend von oben bis unten an. Schwarzes Sakko mit mitternachtsblauem Futter, schwarzes Hemd und schwarze Cargohose.

„Seh ick jetze nich aus wie een Loddel?“

„Jau …“, sagte Willi und lachte sein stakkatohaftes „… chr, chr, chr.“

Kutte warf Willi böse Blicke zu: „Gleich klatschtet – aber keen Beifall!“

Willi schaute bedröppelt zu Boden.

„Nein“, log ich. „Eher wie ein Werbemensch. Ja, genau, du siehst aus wie ein erfolgreicher Werbemensch.“

Tatsächlich liefen in den 90er-Jahren alle Zuhälter am Stuttgarter Platz so in Schwarz herum. Dazu eine protzige Rolex am Handgelenk und ein schwarzer Ford-Mustang vor der Tür.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass mein Fahrrad sicher befestigt war, verabschiedete sich Willi von uns, schnappte sich seine rätselhaften Taschen und schlurfte schnurstracks auf den riesigen Rewe-Markt an der Sophie-Charlotten-Straße, Ecke Knobelsdorffstraße zu.

Kutte rief Willi noch etwas hinterher.

„Willi?“

„Ja?“

„Lass dich nich anquatschen!“

„Chr, chr, chr.“

Herrlich die beiden, dachte ich.

*

Kutte und ich fuhren los, wendeten in einer Einfahrt, überholten den schlurfenden Willi und winkten ihm grinsend zu.

Als wir in Wannsee vor einer roten Ampel standen, entdeckte ich einen uralten Teddybär auf dem Armaturenbrett. So einen hässlichen mit kahlen Stellen, wie Mr. Bean ihn immer in seinen Sketchen hatte. Ich roch daran. Er hatte das Aroma vergangener Kinderzeiten.

„Ein neuer Talismann, Kutte?“, fragte ich.

„Nee, dit is mein alter Teddy. Hab ick wiedergefunden. Er heißt Genscher.“

Kutte nahm den Teddy und strich ihn sich über seine Wange. Er geriet ins Schwärmen, und seine Stimme wurde ganz sanft wie Seide: „Mein alter Genscher. Ohne ihn bin ich nürgends hinjegangen. Sogar inner Kinderverschickung war der mit mir mit.“ Dann zum Teddy: „Ja, du bist mein Bester, Genscher …“

Ich bemerkte, dass wir wegen Kuttes Lobhudelei über Genscher die Grünphase der Ampel völlig verpasst haben. Sie sprang schon wieder auf Rot.

Plötzlich klopfte es an Kuttes Fahrerseite. Man sah nur einen schwarzen Schatten. Kutte legte den Teddy reflexartig auf die Ablage zwischen die beiden Vordersitze.

Ein rötliches Vollmondgesicht schaute zu uns herein und gestikulierte, dass Kutte seine Scheibe herunterfahren solle. Surrend fuhr das Fenster herunter. Ein vierschrötiger Mann von Anfang Fünfzig schaute neugierig in unser Auto herein.

„Warum fahren’se denn nich, Sportsfreund?“

Kutte verlagerte seine Körpermasse ein Stück nach vorn, und seine Hände umklammerten das Lenkrad wie angeschmiedet. Er schaute den Mann angriffslustig an.

„Ick klebe an ei’m Kaugummi fest.“

Erst jetzt entdeckte ich, dass das Mondgesicht zu einem Polizisten gehörte. Ich zischte Kutte leise zu: „Po-li-zei-hei!“

Der Polizist trug eine dieser neuen, gewöhnungsbedürftigen schwarzblauen Polizeiuniformen. Kein Wunder, dass die Leute keinen Respekt mehr vor Polizeibeamten mit ihren schwarzen Basecaps haben, mit denen sie aussehen wie Drogendealer im Görlitzer Park. Eine Respektperson muss sich von der breiten Masse abheben und weit und breit sofort erkennbar sein. Heute sieht jeder Polizist aus wie jeder zweite schlecht angezogene Passant auf der Straße. Wer sich die neuen Uniformen ausgedacht hat, müsste verdonnert werden, sie selber Tag und Nacht zu tragen.

Ich schaute nach hinten durch die Heckscheibe und sah einen Polizeiwagen, der zur Absicherung das Blaulicht eingeschaltet hatte, weil wir auf der Linksabbiegerspur standen. Wir standen direkt vor dem bekannten Ausflugslokal „Loretta am Wannsee“.

Ach du Heiliger Mohnkuchen, dachte ich. Das fängt ja gut an! Kutte steht seit unserer gemeinsamen Hausbesetzerzeit mit Polizisten auf Kriegsfuß. Mir schwante schon Übles.

„Ja, ja …“ sagte das Mondgesicht. „Sie haben mit Ihrem Handy telefoniert, Stimmt’s? Geben Sie’s zu.“

Ich sah, wie Kutte sich aufpumpte wie ein Maikäfer im Mai, kurz vor dem Jungfernflug.

„Ha ick nich!“ Kutte lief langsam rot an.

„Machen’Se erst mal Ihren Motor aus.“

Kutte schaltete den Motor aus.

„Ick schwöre uff meene Puma-Socken – ick hab nich telefoniert!“

„Doch, habe ich doch ganz genau gesehen. Sie hatten die Hand am Ohr.“

„Ick könnte jetzt sagen: Sie haben gleich meine Hand anIhrem Ohr – tu ick aba nich. dit wäre ja Beamtenbeleidigung.“

Der Polizist erwiderte streng: „Mehr als das: Das wäre Widerstand gegen die Staatsgewalt.“

Kutte schob seine Unterlippe vor und schaute zu dem Mondgesicht hoch, nahm Genscher aus der Ablage und reichte ihn dem Mondgesicht heraus. „Versuchen’Se mal hier ne SMS rinzutippen, Wachtmeester.“

Der Polizist nahm den Teddy und schaute Kutte spöttisch an. „Ach? Der Herr spielt noch mit Teddys?“

Kuttes Gesichtsfarbe ging jetzt ins Violette über. Ich machte mir Sorgen um unser Wohlbefinden, ganz zu schweigen von unserem Weiterkommen und versuchte, der Situation die Sprengkraft zu nehmen und sagte: „Da bin ich wohl schuld, Herr Wachtmeister.“

Kutte zum Mondgesicht: „Dit is übrigens der Jraf.“

„Ach, der Sänger?“

„Nee, der Tortengraf.“

„Kenn ich nicht.“

„Watt? Den kennt in Berlin jeder!“

Ich versuchte, die beiden Streithähne zu beruhigen: „Ist ja egal. Also, es war so: Mein Freund, der Herr Kutlowski, wollte mir nur demonstrieren, wie er damals als Kind mit seinem alten Teddy geschmust hat und da …“

„Woll’n Se mich vergackeiern?“

„Nein, Gott bewahre! Ist es denn verboten, mit Teddys während der Fahrt zu spiel …“

Das Mondgesicht unterbrach mich: „… sind Sie der Halter des PKW?“

Ich verneinte.

Das Mondgesicht wandte sich nun wieder Kutte zu. Mit einer Stimme, schärfer und bohrender als ein zahnärztliches Instrument, sagte er: „Steigen’Se mal aus.“

Kutte schälte sich aus seinem Jaguar. Verächtlich schaute er auf die Polizeiuniform: „Die alten Uniformen waren aber besser.“

Der Polizist lapidar: „Woll’n Se mit mir hier über Modefragen diskutieren, oder was?“

Der Polizist drückte Kutte den Teddy in die Hand und schaute ihn streng an. „Führerschein, Kraftfahrzeugschein!“, ertönte es scharf aus dem Mondgesicht.

Kutte zog aus seiner Gesäßtasche ein vom Sitzen gebogenes schwarzes Portemonnaie, hielt Genscher mit den Zähnen fest, um seine Hände frei zu haben, zog dann die verlangten Dokumente heraus und reichte sie dem Mondgesicht.

„Sie glooben wohl, det ick hier uff de Wurschtsuppe herjeschwomm’n bin, oda wat!?“

Das Mondgesicht flötete übertrieben freundlich: „Übertreiben Sie’s mal nicht. Oder wollen Sie mich begleiten?“ Kutte unbeeindruckt: „Jerne, Herr Wachtmeester, ick hol ma eben meene Mundharmonika, wat woll’n Se denn singen?“

Der Polizist überhörte Kuttes letzte Bemerkung geflissentlich und ging mit den Papieren zu seinem Streifenwagen, um sie über Funk zu überprüfen. Kutte beugte sich zu mir herunter und zischte: „Der hat doch ’n Ding anner Jondel!“

Nach einer Weile kam der mondgesichtige Polizist zurück, schaute sich kurz kopfschüttelnd mein aus dem Kofferraum herausragendes Fahrrad an und drückte dann Kutte die Papiere in die Hand.

Gerade als Kutte wortlos einsteigen wollte, sagte das Mondgesicht gehässig: „Hier, ein kleines Andenken“, und überreichte Kutte ein Strafmandat über 40 Euro wegen „Missachtung des Verbotes zur Benutzung von Handys während der Fahrt“.

Als wäre das alles noch nicht genug, sagte das Mondgesicht: „Und das mit dem Fahrrad – ich hoffe Sie haben es nicht weit? Sonst muss ich nämlich Ihr Fahrzeug stilllegen.“

Kutte schmiss sich kochend vor Wut auf seinen Fahrersitz, knallte die Tür zu, drückte mir das Strafmandat und Genscher in die Hand und startete den Motor. Dann fuhren wir eine Weile schweigend in Richtung Autobahnauffahrt. Nervös schaute Kutte alle paar Sekunden in den Rückspiegel, um zu sehen, ob der Funkwagen im folgte. Dann bog er zur Avus ab, wo er sich in den dichten Verkehr einfädelte.

Kutte hatte denkbar schlechte Laune. Als ihm ein Motorradfahrer in die Quere kam, brüllte er ihn an: „Fahr doch schon, mit deiner blöden Eierfeile!“

Ich starrte auf das Strafmandat. Mein Gerechtigkeitssinn war geweckt, und ich regte mich über das Strafmandat auf. Ich sagte zu Kutte: „Mann, Mann, Mann! Da legen wir natürlich Widerspruch ein, Kutte.“

„Mach ma nich so’n Menkenke, wejen dit Jeld, Jraf, dit krich ick schon wieda rinn.“

„Nein, das Ganze ist doch meine Schuld, Kutte. Das zahle ich selbstverständlich.“

„Genscher war schuld“, grinste Kutte. Ich war froh, dass seine schlechte Laune langsam wieder verflog.

Wir einigten uns darauf, dass Genscher schuld hatte.

„Aber Genscher hat kein Geld“, bemerkte ich.

Er nickte, dann schwiegen wir wieder eine Weile. Nur der Jaguarmotor schnurrte wie ein Kätzchen, und ich schaute auf meinem iPhone nach, was es gerade Neues bei Facebook gab. Für mich war das Soziale Netzwerk ideal. Facebook hat allerdings auch Nachteile. Früher konnte man auf der Straße oder in der U-Bahn nur erahnen, was dieser Idiot denkt, der einem gerade begegnet. Heute wird man gezwungen zu lesen, was dieser Idiot gerade denkt.

*

An der Raststätte Magdeburger Börde hielt Kutte an.

„Erst ma wat futtern, Jraf!?“

Und grinsend fügte er beim Aussteigen noch hinzu: „Bullenkontakt macht mich immer hungrig.“

Ich freute mich, denn so kam ich doch noch pünktlich zu meinem täglichen Stück Kuchen.

Seitdem ich einmal vor vielen Jahren das Couplé der Chanson-Sängerin Claire Waldoff „Warum soll er nich mit ihr mal Konditern geh’n?“ hörte, nenne ich es auch so – Konditern. Manchmal sitze ich träumerisch in einem Café und genieße eines dieser grandios designten kleinen Törtchen, oder besser gesagt Kunstwerke, wie sie im lichtdurchfluteten Museumscafé Surreale Welten oder in der protestantisch-bauhausig eingerichteten Patisserie Harry Genenz serviert werden und gerade voll im Trend sind. Oder ich sitze im Sommer draußen auf dem Trottoir beim Kult-Konditor Mr. Minsch in Kreuzberg. In einer skurrilen Mischung aus 70er-Jahre-Deko und Botanischem Garten mit Riesenpflanzen (wahrscheinlich Gimmicks aus den YPS-Heften), plätscherndem Springbrunnen und schrillen Wachstuchtischdecken verzehre ich von witzig bedruckten Sammelwandtellern meinen zuvor erstandenen Kuchen in XXL-Größe. Man sagt, dass die Tortenstücke von Mr. Minsch so groß sind, dass man sie sogar aus dem Weltall erkennen könnte.

Mit anderen Worten: Ich gehe gerne konditern, und da ich aus naheliegenden Gründen schon die eine oder andere Tortenkritik auf meinem Blog geschrieben habe, werde ich manchmal „der Torten-Graf“ genannt. Ich habe es unter diesem Spitznamen sogar in die Speisekarte des legendären Yorckschlösschen in Berlin-Kreuzberg geschafft. Dort stehe ich unter der Rubrik: „Stammgäste aus drei Jahrzehnten“ als „der Torten-Graf“. Auch stehe ich in dem Buch „111 Berliner, die man kennen sollte“ (im Emons Verlag). Auf das alles bin ich sehr stolz!

So, genug des Eigenlobes, das ja bekanntlich stinkt.

Mein tägliches Stück Kuchen oder Torte muss sein. Man nimmt davon, disziplinierter Lebenswandel vorausgesetzt, ja auch nicht zu. Später werde ich darauf noch ausführlich eingehen. Dazu passt mein etwas abgewandelter Lagerfeld-Spruch: Wer keine Torte isst, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Kutte parkte seinen Jaguar zwischen zwei dreckverkrusteten, ehemals weißen Sprintern ein.

Ich schnappte mir meine Collegemappe mit meinen Papieren und dem Klapprechner, stieg aus, sorgsam darauf bedacht, den dreckigen Sprinter nicht zu berühren, um meine teure Kleidung nicht zu versauen.

Dann ging ich erst mal „für kleine Grafen“.

Anschließend betrat ich die lichtdurchflutete Halle, die sinnigerweise „Stop & Shop“ hieß, in der man alles bekam: Butter, Käse, Wurst – außer Autozubehör, was bei einer Autobahntankstelle ja eigentlich nahe gelegen hätte. Und alles war überteuert. Dafür gibt’s dann bei Aldi Winterreifen. Es werden sogar Zigaretten verkauft, obwohl an Tankstellen das Rauchen verboten ist. Verkehrte Welt, dachte ich.

Ich ging zu Kutte ans kalte Buffet, wo er sich gerade mit lüsternem Blick einen Berg Kartoffelsalat auf seinen Teller schaufelte und dann noch ein paar armdicke Bockwürste dazu legte. „Na? Ein paar leckere Jungfrauenträume, Jraf?“

Ich schüttelte angewidert den Kopf und ging weiter zur Kuchentheke. Voller Vorfreude auf sein Essen rief Kutte mir nach: „Lieba een bisken mehr, aba dafür wat Jutes“. Ich musste über Kuttes Spruch grinsen. Aber als ich die Schwarzwälderkirschtorte in der Kuchenvitrine sah, verging mir das Grinsen, denn sie sah ganz so aus, als hätte man sie aus DDR-Zeiten ins Hier und Jetzt herübergerettet.

Während ich noch so das Kuchenangebot studierte, hatte ich das blöde Gefühl, beobachtet zu werden. Aber nicht von Enten. Unauffällig drehte ich mich um. An einem Tisch saßen etwa fünf bis sechs unsympathische junge Männer, die Kutte und mich feindselig musterten. Ich versuchte möglichst keinen Augenkontakt zu bekommen. So machen das die Touristen bei den Berggorillas in Uganda auch immer.

Ich wollte aus hygienischen Gründen lieber doch keine Torte und nahm sicherheitshalber ein klebriges Plunderstück und dazu einen Cappuccino, zahlte an der Kasse einen gesalzenen Preis dafür und suchte mir, möglichst ganz weit von den jungen Männern, einen Tisch, während Kutte am Salatbuffet noch mit einer Zange gegen wehrhafte Cherry-Tomaten kämpfte.

Am Nachbartisch saßen zwei Punks mit silbernen Nasen-piercings. Gerade als ich in meiner Tasche nach Stevia für meinen Cappuccino suchte, wurde ich von einem seltsamen metallischem Geräusch abgelenkt. Als ich hinüberschaute, sah ich, wie die gepiercten Punks ihre Teller ableckten, wobei ihre Nasenpiercings scheppernde Geräusche machten.

Ich checkte noch rasch auf meinem iPhone ein paar Emails, fotografierte das Stück Kuchen und lud es bei Facebook hoch, als Kutte seinen vollbeladenen Teller auf den Tisch knallte und sich ächzend zu mir setzte.

„Wer nich arbeitet, soll wenigstens jut essen“, sagte Kutte launig und fing an, alles gierig und mit viel Appetit in sich hinein zu schaufeln.

Das Plunderstück schmeckte wie Hupe und ich aß mit langen Zähnen nur die Hälfte davon und trank den Cappuccino, der auch nicht besser war. Er schmeckte nach allem anderen, nur nicht nach Kaffee. Wie ausgekochte Schlacke, oder so. Entsprechende Kommentare zu dem schlechten Kuchen postete ich bei Facebook, was sofort zu Recht hämisch von meinen Facebook-Freunden kommentiert wurde.

Kutte war mit dem Essen fertig, wischte eifrig mit einem Stück Weißbrot seinen Teller blank, so dass man ihn ohne weiteres wieder so in den Schrank hätte stellen können. Dann rülpste er laut und sagte zur Entschuldigung: „Der Vater rülpst, die Kinder lachen, so ist billig Freude machen“.

Als wir zurück zu Kuttes Jaguar kamen, erstarrte ich vor Schreck. Die jungen Männer aus der Raststätte standen dort so gruppiert, wie man es aus den einschlägigen Filmen kennt: breitbeinig und feindselig. Zwei andere lümmelten sich dahinter gelangweilt auf der Motorhaube von Kuttes Auto herum. „Clockwork Orange“ pur!

Die Physiognomien, welche ich nun studieren konnte, sahen keineswegs Vertrauen erweckend aus.

Ein blasser schwammiger Bursche mit militärischem Haarschnitt, sauber gezogenem Scheitel und unruhigen Augen, fragte Kutte: „Na, du linke Zecke? Wo willst du denn hin“ – er zeigte angewidert auf mich, „mit der geschniegelten Schwuchtel da?“

Er schien der Anführer zu sein und war ein aufgedunsener Lümmel Ende Zwanzig. Er trug eine Goldrandbrille, die ihm zwar ein leicht intellektuelles Aussehen verlieh, wenn nicht auf seinem blauen T-Shirt in heller Schrift „Thor Steinar“ gestanden hätte. Seine Haare waren so fettig wie die Paellapfanne von Villabajo.

Kutte und ich gaben in der Tat ein seltsames Paar ab. Er im schwarzen Zuhälter-Look und ich wie ein Graf, mit nougatbraunem Designer-Sakko, heller Hose aus Chino-Twill, roter Seidenkrawatte, passendem Einstecktuch und rahmengenähten cognacfarbenen Budapester Schuhen, die eine offene 5-Loch-Schnürung hatten.

Ich dachte, heiliger Mohnkuchen, hier kommen wir erst mal nicht so schnell weg. Und wenn, dann nur liegend im Notarztwagen und mit Tatü-tata.

Ich hielt mir meine Collegemappe mit dem Klapprechner wie ein Schild vor die Brust. Die Angst lag wie Mehltau über Kutte und mir, obwohl wir uns beide bemühten, möglichst gleichgültig zu wirken.

Als Kutte einen Schritt auf den Anführer machen wollte, zog ein rattiger Typ mit „Lonsdale“-Sweatshirt und Tarnhose im hinteren Glied, der Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Martin Semmelrogge hatte, sofort ein Schnappmesser und machte sich damit betont langsam die Fingernägel sauber.

Kutte verharrte. Mir schauderte es. Ich wollte nicht durch einen rattigen Neonazi mit Messer gewaltsam sterben. Wenn schon gewaltsamer Tod, dann im Morgengrauen am Ufer des Landwehrkanals erschossen werden – aber von mir selbst. Nur im Augenblick noch nicht.

Ein anderer Typ, mit Pickeln im Gesicht und gerade mal etwas größer als eine Tüte Schrauben, der auf seinem Arm ein ungelenk tätowiertes, seitenverkehrtes Hakenkreuz hatte, zog ganz langsam einen Baseballschläger aus seiner schwarzen Sporthose, auf der eine „88“ aufgedruckt war. Die „88“ stand für „HH“ (H ist der 8. Buchstabe im Alphabet) = „Heil Hitler“. Das wusste ich durch meine regelmäßige Lektüre von „Spiegel“ und „Stern“.

Alle trugen schweres Schuhwerk. Mein Herz schlug mittlerweile bis zum Hals, aber ich versuchte trotzdem möglichst unbeteiligt auszusehen. Als würde Altmeister Alfred Hitchcock gerade Regie führen, schob sich jetzt auch noch passend zur Situation eine dunkle Wolke vor die Sonne und unterstrich dadurch noch die Gefährlichkeit der Situation. Im Hintergrund hörte man das Vorbeirauschen der Autos auf der Autobahn. Es kam ein leichter Wind auf, und die Blätter an den Bäumen schienen vor Angst zu zittern. In der Luft lag der Geruch nach Autoabgasen, nach Reifengummiabrieb und dem typisch starken hormonbedingten Körpergeruch von fünf nachpubertierenden jungen Männern.

Ich warf einen schnellen Blick hinüber zu Kutte, der sich auch nichts anmerken ließ. Obwohl Kutte groß und kräftig war und auch ich mich bei Gefahr leidlich wehren konnte (ich bin nämlich weit über Berlins Stadtgrenzen bekannt dafür, dass ich eine Berliner Schrippe mit bloßen Händen zerbreche), hatten wir beide gegen diesen testosterongeladenen, bewaffneten Haufen von Schwachköpfen null Chancen.

In weiter Ferne sah ich langsam einen Polizeiwagen über den Parkplatz rollen, der gemächlich weiter auf die Autobahn fuhr. Ich glaubte, dass die Polizei uns auch nicht hätten helfen können. Denn es ist ja bekannt, dass die Polizei in Brandenburg auf dem rechten Auge blind ist.

Und dann noch Kuttes Polizistenhass – das wäre eine tödliche Mischung gewesen und nie gut gegangen.

Plötzlich sagte Kutte resolut und unverhofft mit lauter militärischer Stimme: „Wat ist denn das hier für’n Sauhaufen? Nehm’Se ma Haltung an!“

Dem Anführer fiel fast die Kinnlade auf das Kopfsteinpflaster herunter. Mir allerdings auch, denn mit dieser Reaktion von Kutte hatte ich nicht gerechnet.

Alle nahmen jetzt eine stramme militärische Haltung ein.

„Was ist euer Auftrrrag?“ fragte Kutte auf Hochdeutsch den Anführer.

„Ähhh, … Auftrag?“ fragte der unsicher zurück.

„Sie müssen doch einen Auftrrrag haben, Kamerrrad!“ Kutte hatte die typisch schnarrende Stimme mit dem rollenden „R“ von Adolf Hitler angenommen.

„… äh … nicht direkt … wer bist du denn?“ stammelte der Typ.

„Ich wüsste nicht, dass wir schon mal zusammen im Schützengrrraben gelegen haben!“, sagte Kutte maliziös. „Für dich immer nochSie! Verstanden?“

„Jawoll!“

Kutte nahm nun ebenfalls eine militärische Haltung ein und stellte sich vor.

„Stabsleiter Axmann, aus unserer schönen Reichshauptstadt Berlin.“

Jetzt nahmen alle noch mehr Haltung an.

„Geheime Kommandosache!“ Kutte schaute feldwebelhaft einem nach dem anderen tief in die Augen.

„Das hier ist …“ – Kutte zeigte auf mich und flüsterte dem Anführer konspirativ zu: „Kann ich euch vertrauen?“

„Selbstverständlich, Kamerad!“, kam zackig die Antwort. Kutte schaute zufrieden in die Runde.

„Und ist auch niemand vom Verfassungsschutz unter euch?“

Alle schüttelten geflissentlich ihre Köpfe und schauten Kutte gespannt an.

„Wirklich nich?“

Wiederholtes heftiges Kopfschütteln. „Nee, bestimmt nich. Wir schwör’n!“, tönte es aus der Truppe. „Solche Schweine wollen wir nicht!“

„Und das hier ist,“ sagte Kutte feierlich, während er mir kameradschaftlich stolz die Hand auf meine Schulter legte, „das hier ist kein Geringerer als Jürgen Todt.“

Was hatte Kutte vor? Und wie kam er auf Jürgen Todt?

„Kenn’wa nich“, sagte der Anführer enttäuscht.

„Was?“ fragte Kutte entsetzt.

Verunsichert schauten alle zu Boden.

„Schon mal was von Dr. Todt gehört?“

„Äh, meinst du, ähh … meinen Sie etwa den Dr. Todt?“

„Rrrichtig! Derrr die Autobahnen im Deutschen Rrreich gebaut hat“.

Kutte zeigt auf die Autobahn.

„Auch diese hier.“

„Und er hier ist der Sohn?“, fragte der Anführer skeptisch.

„Korrrekt, du Schlaumeier“, sagte Kutte selbstsicher.

„Das ist kein Geringerer als Dr. Jürrrgen Todt Junior, der Sohn.“

„Und wo fahrt ihr hin?“, fragte der Anführer.

„Samma, seh ick aus wie ne Infosäule?“ berlinerte Kutte. Ich dachte, hoffentlich hält er seine Rolle durch.

Dann fing er sich gottseidank wieder und sagte auf Hochdeutsch mit Hitlerstimme: „Ich stelle hier die Frrragen, capito?“

„Jawoll“, antwortete der Anführer gehorsam.

Ich bewunderte Kuttes schauspielerisches Talent. Er schaffte es tatsächlich, die Bande auf seine Seite zu ziehen.

„Ich muss mich aber schon sehr wundern über euer Geschichtswissen“, sagte Kutte vorwurfsvoll in die Runde.

Dann sah er verschwörerisch in die strunzdummen Gesichter und flüsterte: „Geheime Rrreichssache.“

„Aha.“

Kutte versuchte nun das Thema zu wechseln.

„Und werrr seid ihr? Bin es gewohnt, dass man sich mirrr vorrrstellt.“

„Jawoll! Sturmwehr Magdeburg …“, antwortete der Anführer militärisch, „… also …“, der Anführer ging zu jedem einzelnen hin. „Das ist Enrique, der Antonio, das Silvio und der hier Sandro. Ich heiße Marko.“

Unerwartet setzte Kutte ein überraschtes Gesicht auf.

„Häh? Seid ihr keine Arrrier?“ fragte Kutte.

Der Anführer antwortete mit angewidertem Gesicht und schaute Kutte und mich mit seinen unsteten Augen an.

„Wie kommen’se denn da drauf?“

„Weil ihr alle ausländische Namen habt. Ick heiß Siegfried. Dit is’n deutscher Name, wa?“

Kutte schlug dem Rattengesicht auf die Schulter, das sofort ängstlich zusammen zuckte und hilflos zu seinem Anführer schaute.

„Deutscher geht’s nich, wa?“

„Jo a…“ sagte das Rattengesicht kleinlaut.

„Und welche Farbe hat mein Auto?“ Kutte beantwortete sich die Frage selbst. „Braun! Richtig!“ Er zwinkerte mir konspirativ zu.

Wer A sagt, muss auch schloch sagen.

„Schloch?“, fragte das Rattengesicht mit einem debilen Gesichtsausdruck.

Kutte ignorierte die Frage.

„So, Kamerrraden, wir müssen weiterrr zu einer Gauleiterrrsitzung, auf der Dr. Todt eine seiner berühmten flammenden Rrreden halten wirrrd.“

„Ach ja? Und was ist das hier?“, kam plötzlich eine Stimme vom hinteren Teil des Jaguars.

Sandro hatte sich unbemerkt zum Kofferraum geschlichen, wo das Vorderrad meines alten Fahrrades herausschaute. Er drehte an dem Vorderrad. Sein Mund sah aus wie ein Bleistiftstrich. Meister Hitchcocks Regie ließ nun wie auf Geheiß einen Sonnenstrahl auf meine Fahrradspeichen scheinen und brachte sie zum Glänzen.

Der Anführer drehte sein blasses, fleischiges Gesicht in Richtung Kofferraum. Seine unruhigen Augen flackerten nervös, und ein Ausdruck der Verwunderung trat auf sein Gesicht.

„Aha?“

Für ein paar Sekunden war es ganz still. Selbst von der nahegelegenen Autobahn kam kein Geräusch. Nur der Vorderreifen drehte sich und kam immer nach einer Weile an eine Bremsbacke, so dass ein Schleifgeräusch entstand, „pft … pft … pft“, das immer langsamer wurde.

Die Blätter an den Bäumen schienen jetzt vor Angst noch mehr zu zittern.

Ich schaute Kutte aus den Augenwinkeln an und sah, wie sein selbstsicherer Gesichtsausdruck kurz für einen Augenblick einer Unsicherheit wich. Ich sah, dass es in ihm arbeitete wie in einem Atomkraftwerk kurz vor dem Supergau. Ich dachte, jetzt ist alles aus. Jetzt fliegen wir auf. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals, und auf meiner Stirn entstanden gerade kleine Schweißtröpfchen. Die Situation schien zu kippen.

Alle schauten gebannt hinüber zu Sandro. Eisige Stille.

Kutte schien sich wieder gefangen zu haben, ging mit selbstsicheren Schritten zum Fahrrad und hielt mit einem festen Griff das sich drehende Vorderrad an, so dass das „pft, pft“ abrupt endete.

Sandro wich ängstlich zur Seite.

„Kommt ma alle her!“ rief Kutte. Er schien sich wieder gefangen zu haben. „Silvio, du auch, du schwule Hupe.“ Kutte wartete, bis alle eng beieinander standen und verschwörerisch ihre Köpfe zusammen steckten.

„Noch nie was vom Führer-Fahrrad gehört?“, flüsterte Kutte verschwörerisch.

Mich traf fast der Schlag. Jetzt war Kutte aber etwas zu weit gegangen. Wenn das mal gut ging.

„Nö – der Führer fuhr kein Fahrrad.“ sagte Anführer Marko selbstbewusst. „Das weiß ich!“

„Der fuhr Mercedes!“, rief Sandro frech.

Mein Zweifel schien sich zu bestätigen. Doch da hatte ich die Rechnung ohne Kutte gemacht. Er warf einen gequälten Blick auf den schwammigen Rädelsführer.

„Da täuschste dich aber gewaltig, Freundchen. Oder warste etwa dabei?“, polterte Kutte los.

Marko schüttelte bedröppelt den Kopf.

„Na siehste! Unser Führrrerrr war nämlich begeisterter Rrradfahrrrer. Das ist Fakt.“

Marko hakte vorsichtig nach: „Aber dann hätte man bestimmt mal ein Foto des Führers auf dem Fahrrad gesehen.“

„Die wurden alle von der Gestapo einkassiert und vernichtet“, entgegnete Kutte knapp.

„Damit der Feind kein Schindluder damit treiben konnte“.

„Jau, wegen der feindlichen Propaganda“, sagte Marco, als wäre er Klassenbester im Schulunterricht.

Alle Nazis glotzten nun Kutte ausdruckslos an. Kutte schaute triumphierend in die Runde. „Und soll ich mal was verraten?“

Alle nickten schläfrig.

„Aber das bleibt unter uns, ja?“

Alle nickten.

„Unser großer Führer plante sogar ein Volksfahrrad.“

„Echt?“, fragte Marko.

Sandro hielt die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Aus seinen Augen blitzte pure Ungläubigkeit.

Kutte schaute ihn scharf an: „Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf. Und: errrst mal Hände aus den Hosentaschen!“

Kutte legte grinsend nach: „Oder spielste etwa gerade Taschenbillard?“ Sandro wurde rot und schüttelte den Kopf: „Nö …“ Er zog blitzschnell die Hände aus seiner Tarnhose.

Hoffentlich erzählte Kutte ihnen jetzt nicht noch, dass Genscher der Lieblingsteddy des „Führers“ war.

Nun standen alle vor meinem alten Miele-Fahrrad, das aus dem Kofferraum ragte und staunten es ehrfurchtsvoll an. Auch Sandro sah jetzt interessiert aus.

„Und was haben Sie jetze damit vor?“, fragte Silvio unterwürfig.

„Nach der Gauleitersitzung fahren wir weiter nach Braunau.“ Kutte flüsterte nun: „Es kommt dort in das geheime Deutsche Nationalmuseum. Es befindet sich noch im Aufbau.“

Es ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Nazitruppe, und sie schauten Kutte jetzt so respektvoll an, als hätten sie den „Führer“ persönlich vor sich stehen.

„Ihr dürft es alle noch mal berrrühren, bis es für immerrr hinter Panzerrrglas verrrschwindet.“ Alle gingen nun im Gänsemarsch an meinem ITS vorbei und streichelten es kurz und andächtig.

„Voll cool“, flüstert Antonio seinem Kumpel Silvio zu, „ich habe das Fahrrad des Führers berührt!“

„So“, drängelte Kutte nun und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, „wirrr müssen.“

„Dürfen wir Ihnen ein Stück des Weges Geleitschutz geben, Stabsleiter?“, fragte Anführer Marko devot.

„Aber gerrrn …“, antwortet Kutte. Ich wusste, ohne ihn anzugucken, dass er nun log.

„Silvio, den Wagen!“, befahl Marko streng, und seine unruhigen Augen schauten in die Runde.

Kutte ging auf Silvio zu und zeigte auf sein Hakenkreuz am Arm. „Das ist seitenverkehrt. Bitte unverzüglich ändern. Ich erwarte in drei Wochen Meldung!“

„Jawolll!“, sagte Silvio verwirrt. Er nahm eine Habachtstellung ein, und ich erwartete jeden Augenblick, dass er salutierte.

Ich konnte es noch nicht richtig glauben. Schafften wir es tatsächlich, aus dieser brenzligen Situation herauszukommen?

Silvio verschwand eilig hinter der Tankstelle, um kurz darauf mit einem olivfarbenen Kübelwagen zurückzukommen. Aus dem Auspuff kamen blaue, stinkende Abgase. Die ganze Truppe sprang hinein, und sofort brausten sie sprotzend los.

„Nu schieb mal`n Riemen uff de Orjel!“, rief Kutte ihnen hinterher. Rasch stiegen wir in den Jaguar und folgten ihnen. Nun war Kutte wieder der Alte und berlinerte wie sonst auch.

Ich war immer noch sehr angespannt von dem Erlebten. Kutte sah das.

„Komm, mach dir ma locker, Jraf!“

Ich schaute Kutte an – er schaute mich an. Er grinste. Ich auch. Wir machten „Gib mir Fünf“ und lachten erleichtert lauthals los.

„Puh!“, sage ich zu Kutte. „Das war knapp.“

„Jau.“

„Aber das haste gut gemacht, Kutte.“

Kutte warf mir einen stolzen Seitenblick herüber.

„Ick hab schließlich das große Schlawinum.“

Wir amüsierten uns köstlich über Kuttes Kabinettstückchen.

Nach ein paar Kilometern auf der Autobahn begann es bei uns im Wagen unangenehm nach Auspuffabgasen zu riechen, weil der qualmende Wagen der Nazitruppe direkt vor uns fuhr und seine Emissionen bei uns durch die Lüftung in das Wageninnere kam. Kutte begann zu husten. „Dit pfeif ick ma hier nich rin, scheenen Dank och für det Backobst.“

Kutte gab Gas und setzte sich neben den Kübelwagen. Dann machte er den Insassen Zeichen.

„Die Mühle verreckt denen sowieso demnächst“, sagte Kutte fachmännisch. Dann rief er der braunen Truppe zu: „Ick fahr mal vor – ihr stinkt.“

Marko auf dem Beifahrersitz des Kübelwagens nickte und machte das Daumen-hoch-Zeichen.

„… und zwar nicht nur eure Nuckelpinne“, fügte Kutte leise zu mir gewandt hinzu und setzt sich nun vor den Kübelwagen. Nun war Kutte wieder der Alte. Ich erzählte ihm aufgeregt, wie gut ich ihn als Schauspieler fand. Und wie toll er sich die Geschichten ausgedacht hat.

„Nicht ausgedacht. Im Keller von meene Oma im Wedding hab ick beim Aufräumen nicht nur Genscher, sondern auch ein altes Zigarettenbildsammelalbum aus der Nazizeit gefunden. Da hab ick das her. Mit Dr. Todt und so …“ Er grinste.

Als wir Helmstedt erreichten, schaute ich mich um. Der qualmende Kübelwagen war nicht mehr zu sehen. Kutte atmete sichtlich auf.

„Die hatten Jesichter wie'n paar Latschen – Rintreten und Wohlfühlen.“

Wir fuhren gemächlich über die Autobahn, und rechts und links zogen sich sanfte, apfelgrüne Hügelketten vorbei, die bestimmt schön aussähen, wenn auf ihnen nicht sich lustlos drehende, hässliche Windkrafträder gestanden hätten, die die Landschaft verschandelten.

„Ich komm mir vor wie in dem Film ‚Zwei verrückte Hunde unterwegs‘“, brummelte Kutte nach einigem Schweigen.

„Den Film kenn ich nicht“, sagte ich.

„Ist ja auch noch nich jeschrieben, Jraf. Wir könn ja dit Drehbuch schreiben“, grinste er.

Ich musste lachen. Warum nicht? Oder vielleicht erst mal einen Roman?

Leider wird unser Kontakt zu den Neonazis nicht so schlimme Auswirkungen haben wie die Touristen auf die Berggorillas in Uganda, dachte ich gehässig, während Kutte das Autoradio lauter stellte. Udo Lindenberg sang: „Hinter’m Horizont geht’s weiter …“.

Hinter Magdeburg fuhren wir von der Autobahn ab. Kutte sagte auf einmal: „Hitler war gar eigentlich nicht so schlimm!“ Ich wollte ihm gerade protestierend ins Wort fallen, da fügte er grinsend hinzu: „… ich meine, schließlich hat er hat Hitler umgebracht!“

Wir fuhren noch eine halbe Stunde durch hässliche Straßendörfer und unterhielten uns aufgeregt über Neonazis in Deutschland. Diese Begegnung hätten wir uns gerne erspart.

Als wir am späten Nachmittag das Dorf erreichten, fiel schon eine Ahnung auf mich, dass mein Buchprojekt noch eine besondere Wendung nehmen würde …

3.
Meine Ankunft wird neugierig beobachtet

Wir fuhren die schmale Landstraße entlang, die sich wie ein graues Band durch das freundliche Grün der Wiesen schlang, rechts und links gesäumt von knorrigen Bäumen. Später erfuhr ich, dass es Apfelbäume waren. Ein Traktor kam uns entgegen, und der Fahrer schaute mit seinem wettergegerbten Gesicht unserem Jaguar neugierig hinterher.

Auf einer Weide grasten Schafe mit ihrem wollig dicken Fell.

Wir fuhren schweigend die Landstraße entlang, und die versilberten Grashalme am Straßenrand wogten im Wind.

„Weit und breit nüscht wie Jegend …“, durchbrach Kutte unser Schweigen und kratzte sich am Hinterkopf, was für ihn bedeutete, dass etwas ihm nicht behagte. Der Berliner braucht eben seine Großstadt.

Das Navi kündigte mit monotoner Stimme an, dass man nach 200 Metern links abbiegen solle. Wir bogen wie befohlen nach links ab und fuhren nun über eine noch schmalere Landstraße, die üppige, von Unmengen von Schmetterlingen bevölkerte Wildwiesen durchschnitt.

Die Straße hatte einen hellgrauen Belag, der mit etwas dunkleren Belag schon an vielen Stellen ausgebessert war, so dass die Stoßdämpfer des Jaguars noch kurz vor dem Ziel schwer ächzend arbeiten mussten. Wir störten einen Fasan auf, der hektisch die Straßenseite wechselte und sein Leben aufs Spiel setzte.

Nach einer Weile erblickten wir hinter Fliederbüschen ein paar rote Häuserdächer mit einem geduckten Kirchturm. Ein gelbes verwittertes Ortseingangsschild tauchte wie aus dem Nichts auf: Schwenkow.

Kutte schwebte langsam in den Ort ein. Die Reifen trommelten dumpf auf das mittelalterliche Kopfsteinpflaster. Am Straßenrand rechts und links sah man kleine, geduckte, gepflegte Einfamilienhäuser mit eben solchen Gärten. Die meisten der ursprünglich schönen Häuser hatten allerdings hässliche Aluminiumhaustüren mit geriffeltem Sicherheitsglas, wie sie im Westen in den 1970er-Jahren modern waren.

Eine Frau ohne Kinn fegte den Bürgersteig, unterbrach ihre Tätigkeit, als sie uns vorbeigleiten sah und warf uns einen langen, neugierigen Blick hinterher. Sie trug eine Kittelschürze, und ihre blonden Haare sahen aus wie ein Bündel faulendes Heu.

In der Ortsmitte an der verwitterten Kirche – von Efeu und Flechten überwuchert, mit Kirchturmuhr und einstmals goldenen Zeigern – befand sich ein idyllischer Teich mit Seerosenblättern, die aussahen wie achtlos hingeworfene Münzen. Eine grob zusammengezimmerte, verwitterte Holzbank stand in der Nähe des Wassers. Links lag eine Gaststätte namens „Zur Glocke“, und rechts in einem rot geklinkerten, zweistöckigem Haus befand sich ein kleines Lebensmittelgeschäft, über dessen Schaufenster ein großes gelbes Schild prangte. In blauer Schrift stand darauf: „Aktiv Frischemarkt Matschke“. Ich musste über den Namen schmunzeln.

Wir fuhren weiter an der pittoresken Kirche vorbei und an in die Abendsonne getauchten Vorgärten, in denen man Beete mit leuchtenden Pflanzen in allen Schattierungen sah. Einige Rasensprenger waren an, und ich war wie hypnotisiert von dem Farbenspiel des ionisierenden Lichts in den treibenden Wasserschwaden.

Am letzten Haus ertönte es aus meinem iPhone: „Sie haben ihr Ziel erreicht!“ Ich schaltete die Navi-App aus. Der Akku war auf 9 Prozent Ladekapazität. Auch das war gerade noch mal gut gegangen. Ich sagte: „Da wären wir.“

Kutte war nicht sehr begeistert und murrte nur: „Na ja, zumindest ham’se hier ne Kneipe!“

Wir stiegen aus, und ich dehnte erst mal meine eingeschlafenen Gliedmaßen und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Die Luft roch sauber. Ich genoss den betörenden Blumenduft, der in der Luft lag. Es war eine Mischung aus Rosen, Flieder, Kräutern, Heu und Kiefern. Der Leibarzt des Preußenkönigs Wilhelm IV. sagte einmal über den Ort Buckow: „Majestät, in Buckow geht die Lunge auf Samt.“ So fühlte sich im Augenblick auch meine Lunge an.

„Jetzt jehn war ma een zischen, Jraf!“, unterbrach Kutte meine Träumerei.

„Erst mal einchecken“, sagte ich und schaute zum Haus hinüber, das mich für die nächsten Wochen beherbergen sollte. Es war mit wildem Wein bewachsen und sah mit seinen grün gestrichenen Fensterläden und dem Jägerzaun, der es umsäumte, ganz romantisch aus. Im Vorgarten wucherten Brennnesseln. Aber die störten mich nicht, im Gegenteil – sie ziehen Schmetterlinge an.

Im Giebel prangte ein protziges Hirschgeweih. Es war mal ein ehemaliges Försterhaus, und mein Bekannter hatte es irgendwanneinmal preisgünstig erstanden, weil es niemand haben wollte und es dadurch immer mehr verwahrloste.

Zum Bier trinken hatte ich eigentlich nicht richtig Lust. Ich wollte lieber erst einmal meine neue Umgebung erkunden. Aber ich wollte Kutte nicht enttäuschen, weil er immer so hilfsbereit ist. „Später geh’n wir einen zischen, Kutte.“

Kuttes Gesicht erhellte sich. „Jut, meene Kehle is nämlich so trocken wie die Atacamawüste.“ Neckisch entgegnete ich ihm: „Woher kennst denn du denn die Atacamawüste?“

Ich ging zum Kofferraum, um als allererstes mein geliebtes ITS herauszunehmen. Doch Kutte schob mich sanft aber energisch zur Seite. „Dit mach ick schon, Jraf.“ Mit wenigen Handgriffen hatte er die Expandergurte gelöst, und mein geliebtes Miele-Fahrrad lehnte am Jägerzaun. Ich schaute die Straße entlang. Kein Mensch war zu sehen. Nur an einigen Fenstern der umliegenden Häuser bewegten sich die Gardinen oder ein Schatten verschwand huschend hinter einer Hausecke.

Dann nahm Kutte, elegant wie ein Hausdiener eines Nobelhotels, meinen Koffer und folgte mir zur Haustür, vor der zwei Katzen dösten, eine grauer als die andere. Als ich näher kam, streckten sie sich ohne Scheu, strichen mir schnurrend um die Beine und verschwanden dann im verwilderten Garten. Ich schloss auf, und wir betraten das Haus. Hinter der Tür lagen diverse Werbebroschüren und Werbezettel, die ich auflas, um sie später zu entsorgen.

Es roch etwas muffig, aber es war gemütlich eingerichtet. Ich warf den Werbemüll in die Mülltonne und öffnete erst mal alle Fenster und Türen. Eine Holztreppe führte nach oben in ein Schlafzimmer mit einem großen Bett, auf dem buntkarierte Bettwäsche lag. Nachdem ich ausgepackt hatte, entdeckte ich im Bad neben der Dusche eine Personenwaage. Ich zog mich rasch bis auf meine Boxershorts aus und stellte mich darauf: 85 Kilogramm! Puh! Ich musste unbedingt wenigstens auf 75 Kilogramm herunter kommen!

Ich zog mich frustriert wieder an und ging hinunter ins Wohnzimmer. Dort entdeckte ich an der Wand sogar einen Objektkasten von mir, mit dem Titel „Ruheplätzchen“, den ich meinem Bekannten einmal zu einem runden Geburtstag geschenkt hatte. Es war eine kleine Miniaturfigur eines schlafenden Mannes, der auf einem Keks lag.

Ich zeigte mit dem Finger darauf und sagte stolz: „Hier, schau mal, Kutte. Von mir.“

„Kenn ick schon“, antwortete Kutte unwirsch.

Ich wusste – Kutte wollte jetzt sein Bierchen tanken und war ungeduldig. Die Begehung dauerte ihm schon viel zu lange, und dann wird er ungemütlich

Ich steckte mein Ladekabel für mein iPhone ein (um es in der Kneipe aufzuladen) und wir verließen zu Kuttes Erleichterung das Försterhaus und schlenderten die Straße entlang. Jedes Mal, wenn man zu einem Haus schaute, bewegten sich die Gardinen und man sah einen Schatten verschwinden. Wir wurden beobachtet.

Im Vorgarten eines zweistöckigen Hauses mit einstöckigem Bungalow-Anbau stand ein Schild, auf dem in schiefen gelben Klebebuchstaben auf rotem Untergrund „Nagelstudio – Inhaberin: Sabella Kuhn“ zu lesen war. Kutte grinste dreckig und machte eine eindeutige obszöne Handbewegung.

„Nageln, vastehste?“

Ich schaute ihn fragend an. „Du meinst …?“ Kutte nickte breit grinsend. „Na klar, dit is garantiert ne Vaginalfachverkäuferin.“

„Glaub ich nicht.“

„Doch, gloob es mir, det is een Café Röckchenhoch.“

„Nee, hier in diesem Dorf? Das sieht ganz nach einem ganz normalen Nagelstudio aus.“

„Det kannste eenen erzehlen, der keene Krempe am Hut hat“, maulte Kutte. „Wer soll sich denn hier die Nägel aufpimpen lassen?“

Da hatte er auch wieder Recht.

Mit Klebeband war noch eine Klarsichthülle mit einem Zettel auf das Schild aufgeklebt. Darauf stand in einer ungelenken Handschrift: „Jetzt NEU! Hotjoga!“

„HOTJOGA! Ha! Nachtigall ick hör dir trapsen!“, gluckste Kutte.

Dabei zog er sich mit dem Zeigefinger sein linkes unteres Augenlid herunter.

Wir gingen weiter. An manchen Häusern sah man Schilder mit „Fremdenzimmer frei“. Das kam mir nicht gerade einladend vor.

Warum nicht „Gästezimmer“?

Am Dorfplatz fiel mein Blick wieder auf den „Aktiv Frischmarkt Matschke“. Mir fiel ein, dass wir für den nächsten Morgen nichts zum Frühstück hatten. Ich konnte Kutte überreden, noch einen Sprung in den Laden zu machen, obwohl er in Gedanken schon in der Gaststätte war und ein Bier an den Lippen hatte.

Als wir hereinkamen, nickte uns eine freundliche Frau in Kittelschürze und wattiger maisgelber Dauerwelle freundlich zu.

Sie unterhielt sich gerade mit einem vierschrötigen, unrasierten Mann mit Dr.-Fu-Man-Chu-Schnurrbart und quietschbuntem Hawaiihemd. Er kaufte Paketklebeband. Es schien sich um eine beiläufige Konversation ohne Tiefgang zu handeln. Sie: „Und wie geht’s?“ Er: „Muss ja.“ Sie: „Schönes Wetter heute, was?“ Er: „Ja, wurde auch langsam Zeit.“

Mir fiel auf, dass der Mann, obwohl er unrasiert war, nach billigem Aftershave stank. Na ja, vielleicht benutzt er es, um seinen Schweißgeruch zu kaschieren.

Während ich noch fasziniert der Konversation lauschte, über absurdes Hygieneverhalten nachdachte und dabei eintretenden Kunden höflich auswich, rief Kutte: „Jraf!“ und holte mich in die Realität zurück.

„Ey, wir kaufen hier sofort für dich ein paar Sachen mehr ein, damit du die nächsten Tage was im Haus hast.“ Gute Idee, fand ich und schnappte mir einen Einkaufswagen.

Als ich eine Salatgurke in den Einkaufswagen legte, sagte Kutte: „Watt willste denn mit der Gärtnerwurst?“

Ich kannte Kutte zwar schon lange, aber den Ausdruck hatte ich noch nie von ihm gehört und bekam einen Lachanfall.

An der Kasse packte Kutte die bezahlten Lebensmittel in vier große Plastiktüten, auf denen stand „Wir lieben Lebensmittel“. Was für ein blöder Spruch, dachte ich. Ich kenne niemanden, der Lebensmittel hasst. Als Kutte den Spruch las, sagte er breit ginsend: „Ick och – Bier is ooch een Lebensmittel!“

Und während ich bezahlte, sagte Kutte zu der Verkäuferin in der Kittelschürze auf Hochdeutsch: „So, unser Graf ist jetzt erst mal versorgt.“ Sie nickte freundlich, als verstände sie, was Kutte meinte.

Dann rief sie dem Mann im Hawaiihemd, eine Oktave höher als vorher, lächelnd zu: „Tschüssi, Herr Meier“, als der den Laden verließ.

Wir nahmen jeder rechts und links die Plastiktüten und gingen zur Ladentür. Dort hielt ich einer dicken Frau mit schlaffem Stoffbeutel in der Hand so gut es ging die Tür auf: „Bitte, nach Ihnen.“ Die Frau kam durch die Tür, bedankte sich aber keineswegs, sondern bedachte mich mit einem leerem Kuhblick. Ich nahm es ihr nicht krumm – sie hatte hier auf dem Lande wahrscheinlich mit meiner Höflichkeit gerechnet.

Als wir den Dorfplatz betraten, sah ich den Hawaiihemdler mit einer alten, schwarz gekleideten Frau mit Kopftuch zusammenstehen. Als die alte Frau mich sah, starrte sie mich an und bekreuzigte sich. Ich nickte ihr freundlich zu, aber sie reagierte nicht auf mein Lächeln. Ich folgte Kutte irritiert, der mit seinen beiden Plastiktüten schon über das blankglänzende Kopfsteinpflaster vorgegangen war und zielstrebig die Gasstätte „Zur Glocke“ auf der anderen Seite des Dorfplatzes ansteuerte. Was sie wohl hatte, dachte ich. Vielleicht weil sich Fremde hier in dieses Dorf selten verirren?

„Mann, hab ick nen Durst. Als wär ick tagelang durch die Wüste Kalahari jelatscht“, sagte Kutte, vor der Kneipe stehen bleibend.

„Ach, die Kalahariwüste kennste auch?“, grinste ich.

Er ignorierte meine Frage und wurde ungeduldig: „Komm inne Puschen“, rief er mir ungeduldig zu. „Darf aber heute nicht so spät werden. Muss morgen früh raus. Punkt 12 Uhr muss meine Hosekalt neben dem Bett hängen!“

Von draußen hörte man schon lautes Stimmengewirr aus der Kneipe tönen. An der Tür rempelte uns ein mürrisch blickender Mann an, der einige russische Worte vor sich hin brummelte. Als wir den Gastraum betraten, wurde es plötzlich abrupt still, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Mir beschlug sofort die Brille. Als ich sie abnahm, bemerkte ich, dass sie gar nicht beschlagen war. Es war dichter Zigarettenqualm, der uns entgegen schlug. Alle Köpfe schauten regungslos in unsere Richtung. Sogar der Wirt vergaß den Bierhahn zuzudrehen, so dass das zu befüllende Pilsglas überlief. Es war, als hätten wir ein Wachsfigurenkabinett betreten.

Wir suchten uns einen freien Tisch am Fenster, stellten unsere Aktiv-Markt-Tüten auf freie Stühle, setzten uns und schauten uns erst einmal verunsichert unauffällig um. Alle Blicke waren immer noch auf uns gerichtet.

Der Gastraum hatte rustikale Kassettenwände aus dunklem Holz, und an der Decke waren dicke schwarze Eichenbalken zu sehen. Auf kleinen Abstellborden über den Kassettenwänden war Zinngeschirr abwechselnd mit hässlichem Brauereireklamekitsch als Deko aufgestellt.

Neben dem Tresen war ein großer runder Tisch, auf dem ein Messingschild mit dem Wort „Stammtisch“ stand. An ihm saßen drei pfannkuchenhafte Senioren in den klassischen Geriatrie-Farben: Beige, Hellgrau, Mittelgrau, Dunkelgrau und Kanalisationsalgengrün. Ich verstand das noch nie, wieso Menschen ab Sechzig plötzlich die normale Farbwelt verlassen.

Die Senioren spielten konzentriert Karten und rauchten um die Wette, als wollten sie ins Guinness-Buch der Rekorde. Über dem Stammtisch schwebte eine besonders dichte blaue Zigarettenwolke.

Am Tresen, über dem eine Glocke aus Messing hing, saß ein ebenfalls grau gekleideter Greis mit krummem Rücken, der stur geradeaus sah. Er wirkte wie direkt aus einem 50er-Jahre-Heimatfilm entsprungen – und zwar aus einem Schwarzweiß-Film: Um seinen kahlen Schädel hatte er noch einen grauen Kranz schütterer Haare, graues Gesicht mit grauen Altersflecken, graue Joppe und anthrazitfarben,e ausgeleierte Jogginghose mit Gummizug. Ab und zu schaute er mal gelangweilt nach links auf einen laufenden Spielautomaten. Ich hörte, wie er sich etwas bestellte: „Honigschnaps“.

Neben ihm stand der Mann im Hawaiihemd, der uns einen schnellen, scharfen Blick zuwarf.

Schlurfend kam der glatzköpfige Wirt zu uns an den Tisch. „N’abend“.

Er war schlank wie eine Lanze und hatte eine breite grobporige Nase. Seine vorgeschobene Unterlippe sah aus wie eine verklemmte Schublade, und seine Augenringe waren fast größer als seine Ohren. Aus seinem offenen, karierten Sporthemd quollen büschelweise Brusthaare heraus. Wir bestellten zwei Buletten mit Senf und zwei Pilsbiere. Ich schilderte ihm, dass mein Handy dringend aufgeladen werden musste – das alles ständig beobachtet von den übrigen Gästen. Er erlaubte mir, mein iPhone aufzuladen und deute auf eine Steckdose neben unserem Tisch.

Als der Wirt wieder zum Tresen schlurfte, furzte er laut und erinnerte uns daran, dass wir hier nicht im Hotel Adlon waren. Als wäre sein Furzen das Zeichen zum Weitermachen, unterhielten sich die Gäste auf einmal wieder wie vorher und wendeten sich dem zu, was sie vorher auch schon getan hatten. So, als hätte man einen Filmprojektor kurz angehalten und dann wieder eingeschaltet. Ich steckte das Ladekabel in die Steckdose neben unserem Tisch.

Kutte beugte sich konspirativ zu mir herüber und machte eine Kopfbewegung in Richtung Wirt: „Dem iss der Kopp janz durch die Haare jewachsen.“ Ich kicherte unauffällig in mich hinein.

Nach einer Weile brachte uns der Wirt unsere Bestellung. Kutte und ich stießen mit den tulpenförmigen Pilsgläsern an und unterhielten uns über dies und das, so dass wir gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Immer wenn wir die Gläser halb ausgetrunken hatten, machte Kutte in Richtung Wirt stumm eine kreisförmige Handbewegung, und nach einer Weile standen wieder frisch gezapfte Pilstulpengläser vor uns.

Der Wirt wurde immer freundlicher, weil er merkte, dass wir gute Zecher waren. „Rauchen Sie?“, fragte er uns in seinem orgelnden Bass und hielt uns eine gelbe Schachtel Zigaretten der Marke „Jin Ling“ hin. Wir schüttelten unsere Köpfe und ich fragte: „Warum?“ Er sagte knapp: „Nur so – weil alle hier rauchen.“

Ich hatte eigentlich schon vor einer Weile gehen wollen, weil mich der Zigarettenqualm störte, aber Kutte wollte noch einen Moment bleiben. Es wurde ein sehr elastischer Moment.

Zunehmend servil stellte uns der Wirt wieder zwei Pils hin. Als ich zufällig auf die Uhr schaute, erschrak ich. Es war schon gleich elf, und die meisten Gäste waren bereits, von uns unbemerkt, gegangen. In diesem Augenblick läutete der Wirt die Glocke, als wäre er auf einem Kirmeskarussell und rief mit seinem tiefen Bass: „Letzte Runde!“

Wir bestellten noch mal zwei schnelle Pils.

„Säufste, stirbste, säufste nich, stirbste ooch – also säufste“, sagte Kutte. Ich lachte und zog mein Notizbuch mit dem roten Lesebändchen hervor, um mir den Satz in krakeliger Alkoholschrift zu notieren.

Kutte war eine unerschöpfliche Quelle für mich und meine Texte. Den einen oder anderen Spruch von ihm hatte ich schon gut verwenden können und zeichnete manchmal Cartoons davon.

Kutte stand auf. „Ick jeh noch ma ins Urinsteinzimmer“, ging in Richtung Toiletten und ließ mich prustend vor Lachen zurück. Ich zog mein kleines Notizbuch noch einmal aus der rechten Innentasche meines Sakkos hervor, um mir auch dieses lustige Wort zu notieren.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956071515
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Humor Unterhaltung Graf Adel Torte Abnehmen Dorfleben Prominente Autobiografie
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Titel: Abnehmen mit Torte