
Auf den Pfaden des Luchses
von
Tanja Mikschi
Seiten: (ca.) 600
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 13.7.2016
ISBN: eBook 9783956072338
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Um 1830 wachsen in St. Peter zwei Jungen unterschiedlicher Herkunft auf: David ist der Sohn eines Kaufmanns und Silas der Sohn eines Trappers und einer Indianerin. Beide verbindet eine tiefe Freundschaft, die auch keinen Schaden nimmt, als Silas mit einer gemeinsamen Freundin durchbrennt. Die beiden verlieren sich aus den Augen, denn Silas flieht mit Charlotte bis zu den Cheyenne, um einem möglichen Racheakt ihrer Familie aus dem Weg zu gehen. Sein Herz sehnt sich immer wieder zurück zu seinen Eltern und den Ojibwe, doch die Cheyenne geben ihm und seiner Frau eine neue Heimat.
Erst nach langer Zeit führt das Schicksal die beiden Freunde wieder zusammen: denn nach Jahren des Friedens auf den Plains spitzen sich die Zusammenstöße zwischen Weißen und Indianern zu. Längst ist eine Abteilung Soldaten unterwegs zum Sand Creek, an dem die Cheyenne ihr Winterlager aufgeschlagen haben.
Details
- Titel
- Auf den Pfaden des Luchses
- Untertitel
- Von den Ojibwe zu den Cheyenne
- Autor
- Tanja Mikschi
- Seiten
- 600
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Preis (eBook)
- 5,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956072338
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Auf den Pfaden des Luchses, Tanja Mikschi
Copyright der E-Book-Neuausgabe © 2016 bei hey! publishing, München
Originalausgabe © 2015 bei Traumfänger Verlag, Hohenthann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat: Ilona Rehfeldt
E-Book-Herstellung: readbox, Dortmund
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-233-8
„Ein Volk ist unbesiegt,
solange die Herzen seiner Frauen nicht bezwungen sind.
Sind sie überwunden, dann ist es am Ende,
wie tapfer seine Krieger
und wie gut deren Waffen auch sein mögen.“
Sprichwort der Cheyenne
Im Grunde genommen war jene viel gerühmte Zeit keine großartige Zeit und bot den weißen Siedlern nur wenig Erstrebenswertes. Ganz entgegen ihrer Hoffnungen und Träume, die immerhin groß genug gewesen waren, um sie über das weite Meer zu tragen. Doch das Leben, das in der „neuen Welt“ auf sie wartete, war meist beschwerlich und karg, geprägt von Entbehrungen und kräftezehrender Arbeit und nicht zuletzt von einem hohen Maß an Unwissenheit, welche wiederum einem bedenklichen Maß an Aberglauben, Angst und Vorurteilen Raum und Leben verlieh.
Die Siedlungen waren klein in diesen Tagen, kaum dass sie auch nur die Bezeichnung Dorf verdient hätten, mit ihren wenigen Holzhäusern, elenden Hütten und nicht selten auch nur provisorisch aufgebauten Zelten, die ganze Großfamilien mehr schlecht als recht zu beherbergen vermochten.
Die kleine Ortschaft, in welcher sich ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Geschichte zutrug, machte hierin keine Ausnahme. Und wie manch eine andere Siedlung, war sie letztlich aus einem aufgeriebenen, erschöpften Siedlertreck entstanden, der sehnsuchtsvoll nach so etwas wie Heimat, wie Ruhe und Ordnung, wie Zukunft gierend, irgendwann einfach irgendwo Halt gemacht hatte, an dem Ufer eines trüben, aber gewaltigen Flusses. Und wenn St. Peter anfänglich auch ungemein schäbig war, erbärmlich so manche Hütte, weniger noch als notdürftig so manches Zelt, so hatte es doch Bestand gehabt. Hatte die gemeinsame Irrfahrt durch ein fremdes und auch beängstigend großes, unüberschaubares Land, die verbliebenen Mitglieder des Trecks ein Stück weit zusammengeschweißt und so ermöglicht, dass zumindest der eine oder andere seinen Traum von bescheidenem Wohlstand nach einigen harten Jahren auch tatsächlich verwirklichen konnte.
Einige Holzhäuser entstanden in dieser Zeit, später dann noch weitere und immer mehr. Die Zelte verschwanden nach und nach und die Siedlung verlor allmählich den Charakter des Behelfsmäßigen.
Die ersten Kinder St. Peters wurden geboren, sogar ein paar neue Siedler kamen hinzu und manch einem schien es damals so, als habe sie nun endlich begonnen, jene verheißene, lang ersehnte Zukunft, in diesem fremden, großen Land.
Es war eine trübe, verhältnismäßig kühle Nacht Anfang Juni.
Der hier oben im Norden noch immer junge Mississippi toste durch die Dunkelheit, üppig genährt von den Massen des Schmelzwassers. Er rauschte vorbei an der unbedeutenden Siedlung, mit ihren kleinen Holzhäusern und Baracken, der winzigen, behelfsmäßigen Schule und dem größeren, weit weniger behelfsmäßigen Saloon. Floss vorbei an der kleinen Mühle und den nun bereits im Wind wogenden Getreidehalmen und natürlich auch an dem erst kürzlich in freundlichem Weiß und Hellblau gestrichenen Gotteshaus mit seinem bescheidenen Gottesacker.
George Sattler gehörte zu den gut zweihundert menschlichen Seelen, die St. Peter zu jener Zeit beherbergte und zugleich gehörte er zu den ganz wenigen, die in jener kühlen Spätfrühlingsnacht nicht schon lange schliefen.
Im Hause der Sattlers schlief niemand, nicht einmal der Hund tat ein Auge zu. Und wie, um Himmels Willen, hätte da auch einer schlafen sollen! Sorgenvoll blickte Sattler in die trübe, dunstige Nacht. Es war zu kalt für diese Jahreszeit. Ein frostiger Schauer kroch ihm durch das feucht verschwitzte Hemd, klamm über den Rücken und arbeitete sich zu seinem Nacken empor.
Der über den Wolkenfetzen strahlende Vollmond präsentierte sich nur mehr als milchiger, heller Fleck im fahlen Anthrazit des verhangenen Himmels. Leichte Nebelschleier zogen dicht über dem Boden dahin und ließen die sonst so vertraute Umgebung fremd und unwirklich erscheinen.
Sattler trat einen weiteren Schritt hinaus auf die Veranda seines geräumigen Hauses und rieb sich erschöpft die Augen, während er es für den Bruchteil einer Sekunde einfach nur genoss, nichts zu hören und nichts zu sehen. Nichts hören und nichts sehen zu müssen!
Dabei fühlte er sich so hilflos, wie noch nie in den vergangenen dreiundvierzig Jahren seines Lebens, dazu verdammt tatenlos zusehen zu müssen, wie im Zeitlupentempo das Verheerende, das Entsetzliche geschah. Ganz langsam und unerbittlich.
„Herrgott! Wieso dauert das alles so lange! So tu doch endlich was, verflucht nochmal!“
Am liebsten hätte er diese Worte gebrüllt, in die Welt, in den Nebel hinausgeschrien, seinem Gott entgegengeschleudert. Doch das wagte er nicht, denn da drinnen lag Mary, seine Frau, seit geschlagenen siebzehn Stunden schon verzweifelt darum bemüht, der Schar von Kindern noch ein weiteres Geschwisterchen hinzuzufügen.
Sattler versuchte angestrengt, sich die vorangegangenen Geburten seiner Töchter und Söhne wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber er konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wie die Geburten der übrigen neun Kinder verlaufen waren, von denen nur eines, im zarten Alter von annähernd drei Jahren, sein letztes Bettchen in der kühlen Erde des kleinen Friedhofes gefunden hatte. Wie lange jede Geburt für sich gedauert hatte, hätte Sattler keinesfalls mit auch nur annähernder Sicherheit raten können und dennoch wusste er, spürte er ganz genau, dass sich das, was da drinnen vor sich ging, nicht mehr im Rahmen des Normalen bewegte. Das hier war nackter, bitterer Ernst, der ihm in unregelmäßig wiederkehrenden Wellen den Angstschweiß aus allen Poren trieb.
Sattler war gewiss nicht überbesorgt und doch hatte er bereits vor zwölf Stunden nach der Hebamme des Ortes geschickt. Und nun war sie also hier und bearbeitete seit Stunden schon mit sorgenvollem Blick, geübten Händen und einem beachtlichen Hörrohr den Bauch seiner Frau, verscheuchte ihn und die Kinder wie das Federvieh aus dem Zimmer und tröstete und sprach gut zu und kostete sein Geld.
Und dennoch war es ein Segen, dass diese kleine, resolute Gestalt hier das Zepter in die Hand genommen hatte und allen deutlich sagte, wer hier was zu tun oder zu lassen hatte.
Ohne ihr klares und keinerlei Widerspruch duldendes Regiment hätte George Sattler die Kontrolle verloren, über sich, seine Familie und vor allem über die noch anstehenden Ereignisse dieser langen, kalten Frühlingsnacht, in der er auf der Veranda stehend seit sehr vielen Jahren das erste Mal die Tränen brennend in seine Augen steigen spürte.
Ein leises Geräusch ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Hastig wischte er die Tränen weg, welche noch nicht ihren Weg in seinen dichten, krausen Bart gefunden hatten.
„Papa, wann kommt das Geschwisterchen denn endlich?“
George Sattler blickte voller Verzweiflung und Ratlosigkeit in die ängstlich geweiteten Augen seiner elfjährigen Tochter Elisa, die vor Kälte zitternd an seiner Seite stand und fragend zu ihm aufschaute, voller Vertrauen, als sei es ihm vergönnt, Datum und genaue Uhrzeit zu benennen.
„Das weiß nur Gott allein!“ Und was dieser wohl vorhatte, mit seiner Frau und seinem ungeborenen Kind? Sattler konnte es nicht verhindern, dass erneut Tränen in seine Augen traten, schmerzhaft und brennend und was weit schlimmer noch war, er konnte auch nicht verhindern, dass Elisa es bemerkte.
In seiner Hilflosigkeit tat Sattler etwas, was er bisher nur selten getan hatte. Er hob seine bebende Tochter hoch. Ganz fest drückte er sie an sich, wiegte sie hin und her und küsste ihr langes, seidiges Haar, während erneut Tränen verstohlen in seinen dunklen Bart rannen.
Federleicht erschien sie ihm, als er sie die steile Treppe hinauf in das kleine Zimmer trug, in dem das Bett stand, welches sie mit ihrer achtjährigen Schwester Clara teilte.
Behutsam legte er sie neben die kleine Schwester, die erwartungsvoll von Elisa zum Vater blickte, ohne jedoch die Frage zu wagen, die allen auf der Seele brannte, denn das fortwährende Wimmern und Schreien der Mutter war noch nicht verklungen.
„Betet zu Gott, meine beiden Engel, dass er eurer Mama jetzt hilft und dann versucht, ein wenig zu schlafen.“ Sorgsam deckte er die beiden Mädchen zu und blickte auch noch einmal in das Gitterbettchen in dem seine beiden Kleinsten, Sharon und Ruth, noch keine zwei Jahre alt, endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen waren.
Es war Edwin, der schließlich die Frage stellte, die Clara nicht zu stellen gewagt hatte, als Sattler schwerfällig in die geräumige Wohnküche trat. „Papa, sie wird doch nicht sterben, nicht wahr, es wird doch alles gut gehen!? Wie lange kann das denn um Himmels Willen noch dauern?“
Ja, wie lange sollte das noch so weitergehen? Oder schlimmer noch! Wie lange konnte das noch so weitergehen, ehe etwas viel Entsetzlicheres geschehen würde? Wie lange konnte seine Mary dies ertragen?
Beschwörend blickte Edwin, der älteste Spross der Familie und der einzige verbliebene Sohn, seinen Vater an. Mit seinen neunzehn Jahren war er bereits ein junger Mann. Er hatte die Geburten all seiner zahlreichen Geschwister miterlebt und wusste sehr wohl, dass da etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Unglücklich sah Sattler zu seinem Sohn, als markerschütterndes Geschrei aus dem Schlafzimmer drang, gefolgt von dem kläglichsten Wimmern, das in diesem Haus jemals von einem Baby vernommen worden war.
Kurze Zeit später öffnete sich die Tür. Verschwitzt und blutbeschmiert, aber mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, trat Molly Hedges, die Hebamme des Ortes, in den Raum.
„Ein Junge is‘ es, Mr. Sattler und ein ganz eigenwilliger dazu!“ Mit einem Auflachen, in dem ihre ganze Erleichterung mitschwang, fuhr sie zu sprechen fort. „Er hat der Welt zuerst mal seinen Hintern gezeigt!“
Energisch begann sich Molly nun Hände und Arme in der für sie bereitgestellten Waschschüssel zu säubern, während Sattler die Hebamme verständnislos ansah. Diese schaute ihm vergnügt ins Gesicht. Mit einem verschmitzten Lächeln sagte sie: „Na ja, er ist mit dem Hintern zuerst auf die Welt gekommen, verstehen Sie? Falsch rum! Deshalb hat es so lange gedauert.“
Ein Lachen gluckste in Sattlers Kehle. Irgendwo musste die Anspannung der vergangenen Stunden hin und die Erleichterung bahnte sich ihren Weg in kleinen Wellen durch seinen Bauch, welche, sobald sie seine Kehle erreicht hatten, in Gelächter übergingen, in das alle anderen in diesem Raum dankbar mit einfielen. Das Baby indes schlief bereits abgenabelt und völlig erschöpft an der Brust seiner nicht minder verausgabten Mutter.
Während Molly Hedges ihre Utensilien zusammenpackte, blickte sie Sattler noch einmal nachdenklich an, ehe sie leise zu sprechen begann: „Ich sag‘ Ihnen eins, wäre das nicht das zehnte, sondern das erste oder zweite Kind gewesen, na, ich weiß ja nicht …“
Sie seufzte leise, klappte energisch ihre Tasche zu, zog ihren Umhang über und verabschiedete sich, nachdem sie sich nochmals vom Wohlergehen ihrer beiden Patienten überzeugt hatte und Sattler endlich einen Blick auf seinen jüngsten Spross werfen ließ. Molly Hedges kleine, kompakte Gestalt entfernte sich forschen Schritts dem Ortseingang zu, während der leuchtende Vollmond endlich seine Strahlen ungehindert durch die nun immer weiter aufreißende Wolkendecke gen Erde schicken konnte und alles in sein fahles, silbriges Licht tauchte. Sie war hundemüde, aber sehr zufrieden mit sich und der Welt und sie ahnte nicht, dass sich gerade in diesem Moment noch ein weiterer Sohn St. Peters daran machte, das Licht der Welt zu erblicken.
2
Zu gleicher Zeit fiel das Mondlicht auch in den kleinen, nur durch ein Feuer erhellten Raum des außerhalb von St. Peter, am Waldrand gelegenen Holzhauses des Trappers und Fellhändlers Elias Morgan. Er selbst war jedoch nicht zu Hause, sondern bereits seit etwa zehn Wochen unterwegs.
Elias Morgan war den Bewohnern des kleinen Ortes immer rätselhaft geblieben, ein Einzelgänger, wortkarg und schwer zu begreifen.
Allein schon die Tatsache, dass er bei seinen Reisen offenbar immer wieder mit den glücklicherweise doch um einiges entfernt angesiedelten Indianerstämmen in Kontakt trat und sogar mehrere Tage, wenn am Ende nicht gar Wochen, in deren Lagern verbrachte, ließ ihn mehr als nur suspekt erscheinen.
Da er sich indes aber weiter nichts zu Schulden kommen ließ und zudem die meiste Zeit sozusagen gar nicht vorhanden war, konnte sich der Umgang miteinander auf „leben und leben lassen“ beschränken. Daran änderten auch die Verrücktheiten nichts, die Elias Morgan im Vollsuff von sich zu geben pflegte.
Als Elias Morgan jedoch vor ungefähr zwei Jahren von seinen Streifzügen, neben einer ansehnlichen Menge an Pelzen und Leder, mit einer jungen Wilden, einem zartgliedrigen, schwarzäugigen Wesen vom Stamm der Ojibwe, zurückkam und diese obendrein zu seiner Frau erklärte, hatte er in den Augen vieler die Grenzen des Anstands endgültig überschritten.
Besonders verwundert hatte das allerdings weiter niemanden, denn bereits als Elias im Alter von neunzehn Jahren mit diesem halbverrückten Saisongehilfen einfach verschwunden war und somit seinen alten Vater mit der vielen harten Arbeit im Stich gelassen hatte, war ein Raunen durch den Ort gegangen. Man war sich allgemein einig gewesen, dass es mit diesem eigentümlichen Sohn des Holzfällers ein schlimmes Ende nehmen würde.
Für ihn selber stellte sich das alles freilich ganz anders dar und er hatte seinen Entschluss damals gewiss nicht leichtfertig getroffen. Elias verband eine liebevolle Beziehung zur Mutter, während der Vater weder Verständnis dafür zeigte, dass sein Sohn sich bei jeder Gelegenheit hinter einem Buch verschanzte, noch für die Fragen und Gedankengänge seines Sohnes. Für ihn waren das verrückte Flausen, die es auszutreiben galt, mit Härte, Disziplin und Arbeit und letztere gab es in seinem Holzfällerbetrieb mehr als genug.
Die kleine Ortschaft war im Begriff, sich ordentlich zu vergrößern. Allein sieben Häuser befanden sich derzeit im Rohbau, er kam mit den Holzlieferungen bald nicht mehr hinterher und musste zusätzliche Gehilfen einstellen.
Doch die Rechnung des Vaters ging nicht auf. Elias arbeitete zwar ungeheuer hart, dennoch blieb es bei seinen Träumen und Gedanken an eine bessere Zukunft. Und da er niemanden hatte, der ihn so recht verstand, war er mit zunehmendem Alter immer verschlossener und einsilbiger geworden, hatte aufgehört von dem zu erzählen, was er in den mittlerweile vom Vater verbotenen Büchern heimlich las und auch von dem, was ihn in seiner Phantasie beschäftigte. Und zugleich war er den anderen immer seltsamer und verschrobener erschienen.
So war es viele Jahre gegangen, bis zu dem Tag, da sein Vater diesen abgerissenen, eigenartigen Burschen als Saisongehilfen angestellt hatte.
Dieser merkwürdige Kerl, Sam mit Namen, war ebenso alt gewesen, wie Elias und dennoch frei wie ein Vogel, so schien es zumindest. Auf alle Fälle aber stand er nicht unter dem Joch eines strengen und unerbittlichen Vaters, der nichts als Arbeit und nochmals Arbeit zu kennen schien. Und an diesem Punkt begann für Elias die eigentliche Faszination, welche ihn aus seinem Schneckenhaus heraustrieb: Sam war für sein Alter schon weit herumgekommen. Er hatte viel gesehen und erlebt und geizte nicht mit Geschichten und Anekdoten, die wiederum Elias Gedanken Nahrung gaben und seiner Sehnsucht Flügel. Immer tiefer wurzelte der Wunsch in ihm, dieser engen, begrenzten Welt seiner Eltern zu entfliehen. Neues, Schöneres und Besseres kennenzulernen und für sich zu gewinnen.
Und so reifte in ihm der Entschluss, seinen eigenen Weg zu gehen, der ihn, das fühlte er genau, weit weg von St. Peter bringen würde und dies in jeglichem Sinne.
Elias genoss es in vollen Zügen, seine freie Zeit mit Sam zu verbringen und der Vater ließ ihn gewähren, da er es für viel natürlicher hielt, dass ein junger Bursche mit einem anderen Unsinn redete, als dass er seine Nase stundenlang in dicke Bücher steckte. Hätte er geahnt, was aus diesen Abenden, die sein Sohn mit dem Gehilfen verbrachte, erwachsen würde, so hätte er sie nicht nur verboten, sondern Sam mit gezücktem Gewehr vom Hof gejagt.
Sams Pläne für die weitere Zukunft elektrisierten Elias geradezu und beschäftigten ihn Tag und Nacht.
Sam wollte seinen Lohn in Proviant und Waren eintauschen und dann weiter in den Norden ziehen, mitten hinein in die großen Wälder. Das Ziel seiner Wanderschaft aber war das eigentlich Interessante. Er wollte nämlich nicht die Siedlungen der Indianer sorgsam umgehen, sondern ganz im Gegenteil, geradewegs zu ihnen hin! Er wollte Indianer kennenlernen und sich von ihnen im Jagen und Fallenstellen unterweisen lassen und hoffte, mit Hilfe der mitgeführten Waren, welche er als Gastgeschenke und Tauschobjekte zu verwenden gedachte, in freundschaftlichen Kontakt zu den dort ansässigen Stämmen zu kommen. Und schon lange, bevor der Frühling und somit der Zeitpunkt von Sams Weiterreise gekommen war, hatte sich Elias ein Herz gefasst und Sam gefragt, ob er mit ihm gehen dürfe.
Sam war sichtlich begeistert gewesen und so waren sie, im späten März, wortwörtlich bei Nacht und Nebel, heimlich gemeinsam aufgebrochen.
Seinen Eltern hatte Elias einen Brief hinterlegt, dessen Inhalt sie mit Hilfe des Reverends herausfinden würden, da sie beide weder richtig lesen noch schreiben konnten.
Er hatte ihnen in diesem Brief geschrieben, dass er wohl wisse, dass er nicht auf ihr Verständnis hoffen dürfe, aber dennoch nicht anders habe handeln können. Auch versprach er ihnen zurückzukommen, sobald er genügend erwirtschaftet habe, um sie für ihren Verlust gebührend zu entschädigen. Und das nahm er sich auch fest vor, allein schon, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Sie waren auf ihrer Reise vom Glück begünstigt gewesen, spätere Jahre hatten Elias dies deutlich gelehrt, und er hatte bereits nach zwei Jahren seinen Eltern stolz einen ordentlichen Batzen Geld überreichen können, den er vor allem dem zu jener Zeit schwunghaften Handel mit Biberfellen zu verdanken hatte. Sie hatten tatsächlich, trotz all seiner Ängste und Bedenken, die ihn in manch einer Nacht umgetrieben hatten, die Begegnungen mit Indianern nicht nur ohne einen Pfeil in der Brust überstanden, sondern zumeist sogar sehr freundliche Aufnahme gefunden.
Elias war zutiefst fasziniert und berührt gewesen von der Andersartigkeit des Lebens in den Sommer- und Winterlagern, von der Offenheit und Freundlichkeit der Menschen, die in ihnen lebten.
Viele Wochen und zum Teil auch Monate hatten sie sich den verstreuten Untergruppen verschiedener Indianerstämme angeschlossen, waren zu Gast gewesen bei den Assiniboin, den Algoncin, den Cree und vor allem aber bei einem Unterstamm der Ojibwe.
Dort hatten sie ebenfalls teilhaben dürfen am Leben im Lager, aber darüber hinaus sogar auch manches Mal an der Jagd. Hier erhielten sie bereitwillig den gewünschten Unterricht im Fallenstellen und Heranpirschen, wobei die Indianer einige Male verzweifelt die Augen rollten, ohne jedoch etwas zu sagen, was ihre weißen Freunde vielleicht beleidigt hätte.
Sie hatten auch beim Bau eines Rindenkanus helfen dürfen, was einer ebenso großen Ehre gleichkam, wie die Teilnahme an einer Jagd, und natürlich hatten sie allerorten regen Tauschhandel betrieben.
Elias hatte in diesen Menschen endlich Gegenüber gefunden, die seine Sprache zu sprechen vermochten, obwohl die eigentliche Verständigung natürlich denkbar schwierig war und nur unter Zuhilfenahme von Händen und Gesten mit bald schauspielerischen Qualitäten vonstatten gehen konnte. Doch Elias genoss diesen Gedankenaustausch über die Maßen und war emsig bemüht, jene für ihn so gänzlich fremdartige Sprache zu erlernen. Der Lerneifer und Entdeckergeist seiner Kindheit war wieder erwacht und hatte zudem Nahrung in Hülle und Fülle erhalten.
Doch der erste Winter im Lager jenes Ojibweclans hielt nur wenig Erbauliches für ihn bereit. Die überaus eisigen Temperaturen, die knappe Nahrung und die Beschwerlichkeit der Jagd im hohen Schnee hatten ihm deutlich sein Versprechen an Vater und Mutter in Erinnerung gerufen. Er beschloss damals, den nächsten Winter in dem gemütlich warmen Blockhaus seiner Eltern zu verbringen. Und bis dahin wollte er die Zeit dazu nutzen, um ordentlich Geld zu verdienen. Eines jedoch stand für ihn außer Frage. Er würde, sobald der Frühling wieder seinen Einzug hielt, erneut aufbrechen und in den Norden ziehen, an die Großen Seen.
Sam ließ sich leider nicht dazu überreden, mit Elias den Winter in St. Peter zu verbringen.
So vereinbarten sie, ein Wiedersehen im kommenden Frühling zu feiern, im Sommerlager jenes Ojibweclans, mit dem sie mittlerweile eine besonders herzliche Freundschaft verband.
Als Elias wieder im Hause seiner Eltern angekommen war, fand er den Vater bitterer und wortkarger denn je und zudem erschreckend grau geworden vor. Die Mutter aber war hin und her gerissen zwischen der Freude und Erleichterung darüber, den verloren geglaubten Sohn wiederzusehen und dem Unverständnis und Vorwurf in ihrem Herzen, der zermürbenden Frage, wie er ihnen so etwas überhaupt hatte antun können. Seine Erzählungen und Berichte erfüllten sie mit großer Sorge, denn die Vorstellung, dass ihr Sohn unter den Wilden gehaust hatte und die Gesellschaft dieser Wilden auch noch über die der eigenen Leute zu stellen schien, war in ihren Augen schlicht sündhaft und geradezu ungeheuerlich.
Für den Vater allerdings lag die Sache ganz klar. Sein Sohn war geworden, was er immer befürchtet hatte. Ein Träumer, ein Taugenichts, ein Tunichtgut.
Sein Geld nahm er dennoch, denn angesichts des ihm entstandenen Verlustes, immerhin hatte er einen Arbeiter zusätzlich einstellen müssen, erschien es ihm nur recht und billig, vom Verursacher des Schadens auch entsprechend entschädigt zu werden.
Die Sehnsucht, mit der Elias den Frühling erwartete, war übergroß und sobald die Schneeschmelze es zuließ, machte er sich auf den Weg. Der Mutter aber versprach er, mit Einsetzen des Winters wieder zu Hause zu sein und erneut seinen Obolus zu entrichten. Und so hatte er es gehalten, Jahr für Jahr.
Als dann viel später der Vater starb, war es im Winter, wenn sich Elias bei der Mutter im Holzfällerhaus aufhielt, so bitter das auch klingen mag, richtig gemütlich geworden.
Die Mutter hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Sohn seine eigenen Wege ging und seine alljährliche Heimkehr erwartete sie stets sehnsuchtsvoll und das nicht nur aus Mutterliebe.
So hatte Elias den Winter über immer allerhand zu tun, während sie ihn ordentlich bekochte und verwöhnte. Es war eine wunderschöne Zeit gewesen, einige Jahre lang, doch dann war die Mutter im Alter zunehmend krank und gebrechlich geworden.
Elias hatte eine Frau aus dem Ort, welche der Mutter hin und wieder zur Hand gegangen war, dafür entlohnt, dass sie in seiner Abwesenheit täglich nach der Mutter schauen würde und ihr behilflich wäre. Allein schon die Vorstellung, selber in St. Peter zu bleiben und womöglich unter diesen engstirnigen Sturköpfen für sein und der Mutter nötiges Auskommen sorgen zu müssen, erfüllte ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit Beklemmung und Widerwillen. Doch es gab noch etwas anderes, was Elias weg vom Haus der Mutter trieb.
Elias hatte sich verliebt, wirklich verliebt. Und schien die Auserwählte ihm auch zum damaligen Zeitpunkt mit ihren fünfzehn Lenzen, die sie gerade einmal zählte, noch zu jung, um eine Ehe mit ihm einzugehen, so schien sie es ihm doch wert, um ihre Gunst zu werben und sich ansonsten in Geduld zu üben.
Als im darauffolgenden Jahr auch die Mutter starb und Elias den einsamsten Winter seines Lebens in dem alten Holzfällerhaus verbrachte, welches er nun sein eigen nennen konnte, wuchs in ihm der Entschluss, Shawaeghiizig - Ansteigender Himmel -, seinen liebsten Handelspartner unter den Indianern, seinen indianischen Freund, um die Hand seiner ältesten Tochter zu bitten.
Es kann nicht behauptet werden, dass Winonah - Mit der Brust nähren - sehr beglückt bei dem Gedanken war, einen Mann heiraten zu sollen, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können, doch andererseits mochte sie den weißen Freund ihres Vaters tatsächlich gern und mit seinen sechsunddreißig Jahren war er wiederum auch noch nicht so alt, dass sie das Grausen packte. Auch war Elias ein, wenn auch fremdartig, so doch durchaus nicht übel aussehender Kerl und er hatte sie zudem all die Jahre hindurch stets freundlich und mit Hochachtung behandelt, schließlich kannte sie ihn ja von Kindesbeinen an.
Außerdem war es ohnedies kein seltenes Schicksal, mit einem Ehemann, der wesentlich mehr Jahre auf dem Buckel hatte als Elias, beehrt zu werden. Ja, und vor allem war es Winonah sehr bewusst, welch eine vorteilhafte Absicherung diese Verbindung für ihre Familie, wie auch für den gesamten Clan, bedeuten würde. Sie würden in diesem weißen Mann einen festen, verlässlichen Handelspartner finden. Im Grunde genommen war Winonah gar keine andere Wahl geblieben, als in die Ehe mit Elias Morgan einzuwilligen, wollte sie nicht ihrem Vater die Schande bereiten, seinen weißen Freund zu schmähen und obendrein auch noch die Sorge, ihn als Handelspartner zu verlieren. So tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie im Notfall einfach all sein Hab und Gut aus dem gemeinsamen Wigwam werfen und somit die Verbindung für beendet erklären konnte.
Doch Elias, verliebt bis über beide Ohren, hatte dazu nun wirklich keinen Grund geliefert. Er war immer sehr freundlich und hilfsbereit gewesen und hatte, wenn auch denkbar unerfahren, nach bestem Wissen und Gewissen versucht, ein wirklich guter Gatte zu sein.
So hatten sie einen durchaus glücklichen und harmonischen Sommer im Lager der Ojibwe verbracht. Leider hatte dieser schöne Sommer ein jähes Ende gefunden, als Elias, zur Zeit der letzten sonnigen Tage, zum Aufbruch gemahnte und sie mitnahm, zu jenem Haus aus Holz, welches einst seinen Eltern gehörte.
Anfangs machte es ihr Angst, dieses dunkle Haus, so einsam gelegen, so weit weg von ihren geliebten Verwandten, dem vertrauten Wald und den erhabenen Großen Seen. Und hätte sie damals geahnt, dass Elias sie im nächsten Frühling nicht wieder mitnehmen würde, so wäre sie gewiss nicht mit ihm gegangen. Auch war Winonah, die noch niemals eine Siedlung der Weißen betreten hatte, nicht darauf gefasst gewesen, auf eine solch eiserne Wand der Ablehnung zu stoßen.
Sicherlich, es war auch in St. Peter bekannt, dass bereits einige hundert Meilen weiter in der Wildnis Eigenbrötler und Fallensteller in gar nicht so geringer Zahl anzutreffen waren, die Wilde heirateten und wer weiß was trieben.
Aber hier, in St. Peter, wo man gemeinhin vom Holzhandel, dem Fischfang und in bescheidenem Maße auch von der Landwirtschaft lebte, bemühte man sich redlich, nach dem zu trachten, was man als christlichen Anstand bezeichnete oder doch zumindest dafür hielt.
Menschen wie dieser Elias Morgan, von seiner „Braut“ ganz zu schweigen, hatten hier in dieser kleinen Gemeinde keinen Platz. Allseits mit Genugtuung aufgenommen wurde die Tatsache, dass diese Wilde meist unsichtbar in dem alten dunklen Holzfällerhaus verborgen blieb. Verborgen geblieben war jedoch natürlich keineswegs, dass sich dieses fremdartige Wesen mittlerweile zu allem Überfluss in anderen Umständen befand.
Spekulationen sowie die Feststellung, dass „bei so etwas nichts Gutes herauskommen könnte“, wobei man sich nicht selten über diese süffisante Doppeldeutigkeit vor Lachen ausschütten wollte, waren ein durchaus beliebter Zeitvertreib an den trüben und stürmischen Vorfrühlingsabenden gewesen und jede, der sich selten bietenden Gelegenheiten wurde genutzt, um einen verstohlenen Blick auf den beachtlich schwellenden Leib der jungen Frau zu werfen.
Der Umstand, dass Elias Morgan seine schwangere Frau offensichtlich bereits vor Wochen alleine in dem Holzhaus zurückgelassen hatte, war zwar Grund für beträchtliches Kopfschütteln und eifriges Getratsche gewesen, dennoch war die Neugierde nicht so groß gewesen, dass jemand einmal dorthin gegangen wäre, um „nach dem Rechten“ zu sehen, von dem nötigen Mut ganz zu schweigen.
Winonah kam jedoch auch ganz gut allein zurecht. Elias hatte an Vorräten alles Notwendige gelagert, sie litt von daher keine Not. Doch Einsamkeit nagte an ihrem Herzen und mehr noch bitteres Heimweh.
Voller Sehnsucht dachte Winonah an die Geselligkeit in den Winterlagern und an die lebendige Betriebsamkeit im Sommerlager ihres Volkes, in der Nähe des Gitchi Gami, des großen Sees.
Sie dachte an die wogenden Halme des Manomini, des wilden Wassergrases und ein ums andere Mal fragte sie sich, was Nigigo-quae - Otterfrau -, ihre Mutter, und Shawaeghiizig, ihr Vater, wohl gerade machten. Liebevoll dachte sie an ihre zahlreichen Geschwister, Onkel, Tanten und andere Verwandte und Freundinnen in ihrer Heimat und schmerzlich vermisste sie das Zusammensein mit ihnen, ihre Nähe, ihre Hilfe, ihren Rat. Gerade jetzt mehr denn je, denn seit Tagen schon fühlte Winonah, dass die Geburt ihres Kindes nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Das traditionell nach Art der Ojibwe gefertigte Wiegenbrett, eine Art Rückentrage mit einem hölzernen Gestell und einem weichen, aus Leder gefertigten Tragesack für das Baby, liebevoll mit bunten Glasperlen in Form von Blumenornamenten bestickt, stand schon seit vielen Wochen bereit. Sie hatte es gemeinsam mit Elias an den langen Winterabenden gefertigt, bevor er dann erneut aufgebrochen war, um dorthin zu gehen, wo sie so unbeschreiblich gerne geblieben wäre.
Je näher der Tag der Geburt rückte, desto schmerzlicher begann Winonah die Sicherheit und Geborgenheit ihres Clans zu vermissen. Dort wäre sie schon seit geraumer Zeit und gerade jetzt, in dieser Situation unmittelbar vor der Geburt ihres Kindes, niemals ohne Beistand und liebevolle Begleitung gewesen. Mit Sicherheit wäre Nigig-o-quae bei ihr gewesen sowie noch ein oder zwei weitere, in der Geburtsbegleitung erfahrene, Frauen.
Hier aber, in diesem dunklen Haus, war Winonah mutterseelenallein und dennoch erwartete sie die Geburt ihres Kindes mit Sehnsucht und ohne Angst. Es war der Monat des Ode’imini-Giizis, des Erdbeermonds, ein guter Monat für den Beginn eines neuen Lebens. Ein Monat, der Verheißung bedeutete.
Winonah ging schon seit geraumer Zeit mit bedächtigen Schritten im Raum auf und ab oder aber um jenen rohen Holztisch herum, der das Zentrum des Raumes war und stützte sich auf ihn, wenn eine neuerliche Wehe sie unwillkürlich in die Knie gehen ließ.
Ihr leiser eigentümlicher Singsang schwoll dann merklich an und verebbte wieder.
Eine heftige Welle des Schmerzes rollte über Winonah hinweg, drückte sie zu Boden, während sich das Fruchtwasser in einem großen Schwall über den Fußboden ergoss.
Die Geburt ihres ersten Kindes stand unmittelbar bevor.
Mit diesem lang ersehnten Moment würde ihre tiefe Einsamkeit ein Ende haben. Dieses Kind sollte ein Stern sein, der die Dunkelheit ihrer Einsamkeit mit dem Licht seines Daseins zu erhellen vermochte.
In den Adern dieses Kindes würde auch das Blut der Ojibwe fließen und mit ihrer Milch würde es den Geist der Ojibwe in sich aufnehmen, davon durchdrungen werden und daran wachsen. Hier in der Fremde würde dieses Kind zugleich Blüte und Wurzel ihres Lebens bedeuten. Ihm würde sie die Geschichten ihres Volkes erzählen, die Weisheiten ihres Stammes weitergeben können und all ihre Liebe, ihre ganze Zärtlichkeit.
Als Winonah in der Hocke ihren kleinen Sohn gebar, umfing sie ihn mit sicheren Händen.
Ein leiser Schrei, mehr einem Seufzer gleich, entrang sich der Kehle dieses kleinen Wesens und veranlasste die junge Mutter augenblicklich ihr Baby in die Arme zu nehmen und sich mit ihm auf das Lager in die Wärme des Feuers zu legen.
Obwohl sie völlig erschöpft war, hätte sie niemals schlafen können. Fasziniert betrachtete sie dieses kleine Wesen. Zählte lächelnd seine Finger, seine Zehen.
Schließlich durchtrennte sie mit einem entschlossenen Schnitt die Nabelschnur und band sie mit einem schmalen Lederstreifen nahe dem winzigen Bauch ihres Sohnes ab. Der begann indes zielstrebig nach einer nahrhaften Quelle zu forschen und alsbald mit einer Festigkeit zu saugen, die Winonah völlig überraschte und staunen ließ.
„Mamaandaa!“, flüsterte sie, „Mamaandaa - Wunder -!“
Ein Mondstrahl fiel auf das feuchtglänzende, schwarze Haar und die olivbraune Haut des Babys. Winonah blickte durch das Fenster, dem am nun wolkenfreien Himmel prunkenden Gestirn entgegen, dem Mond direkt in das volle Gesicht.
„Mino dibik-giizis, mino nokomis! Guter Mond, gute Großmutter aller …!“, flüsterte sie und wendete den Blick erneut voll zärtlicher Faszination auf das kleine atmende und saugende Kind in ihren Armen. Sanft fuhr sie mit ihren Lippen über die Stirn dieses kleinen Geschöpfes, sog seinen Geruch tief in sich ein. „Mino-nokomis wird mein Name für dich sein.“
Als Elias Morgan beinahe fünf Monate später zurückkehrte, erregte die Tatsache, dass sein und auch Sattlers Sohn in der gleichen Vollmondnacht das Licht der Welt erblickt hatten, nur mehr ein paar abergläubische Gemüter.
Dass dieses unglückselige Halbblut jedoch immer noch nicht getauft worden war, sorgte für einen ausgemachten Skandal, der nun, da Morgan wieder einmal aufgetaucht war, umgehend die Aktivität des Reverends der kleinen Gemeinde erforderte.
Und so kam es, dass am darauffolgenden Sonntag, es war der 27. Oktober 1816, Elias Morgan gemeinsam mit seiner Familie die kleine Kirche betrat und Mino-nokomis, unter den neugierig äugenden Blicken der äußerst zahlreich versammelten Gemeinde, nach Elias Vater, auf den Namen Silas Morgan getauft wurde. Was durchaus eher einen provokanten Charakter hatte, denn einen sentimentalen Ursprung.
Man war sich übrigens gemeinhin darüber einig, dass sich Silas Morgan senior im Grabe herumgedreht hätte, wenn er von dieser geradezu unerhörten Namensgebung erfahren hätte.
Ansonsten aber hatte nun alles wieder seine rechte Ordnung gefunden, soweit dies unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war, und man konnte sich beruhigt seinen alltäglichen Geschäften zuwenden.
3
In den folgenden Jahren bekam St. Peter wenig von Elias Morgan und seiner kuriosen Familie zu sehen. Elias selbst machte sich Jahr für Jahr im späten März auf den Weg, erschien jedoch seit der Geburt seines Sohnes bereits im frühen Herbst wieder in St. Peter und blieb die ganze kalte Jahreszeit über dort.
Den kleinen Silas Morgan junior aber bekamen die Menschen des Ortes nach seiner Taufe erst im Alter von acht Jahren etwas ausführlicher zu Gesicht.
Es war ein goldener Oktobermorgen, die Wälder leuchteten in den üppigsten Gelb- und Rottönen und ein klarer, strahlend blauer Himmel breitete sich über das Tal des rauschenden Mississippi aus.
Mino-nokomis hatte hinter dem Haus gespielt, doch plötzlich horchte er auf.
Von irgendwoher erklang der wehmütige, eigentümlich verloren klingende Ruf eines einzelnen Ojiijaak, eines Kranichs, und noch etwas anderes drang an das feine Gehör des kleinen Jungen.
Aus dem Haus waren gedämpft die Stimmen seiner Eltern zu vernehmen. Zwar konnte Mino-nokomis nicht genau verstehen, was sie sprachen, doch dass sie stritten, vernahm er sehr wohl. Geradezu körperlich spürte er die heftig geführte Auseinandersetzung seiner Eltern. Eben wollte er leise das Haus durch die Hintertüre betreten, als sein Vater durch die Vordertür herauskam, um sich blickte und, nachdem er ihn schließlich entdeckt hatte, forschen Schritts auf ihn zumarschierte.
„Auf Silas, du kommst jetzt mit mir!“
„Wo gehen wir denn hin, Nimbaabaa?“
„Warts ab, das wirst du schon sehen.“
Entschlossen ergriff Elias die Hand seines Sohnes und zog ihn mit sich fort, geradewegs auf die entfernt gelegene Ansammlung von Hütten und Häusern zu.
Mino-nokomis war diesen Weg bisher noch nie gegangen. Seine Mutter wollte das nicht und hatte es ihm ausdrücklich nicht erlaubt.
„Jenseits der Häuser beginnt deine Welt, Ningozis - mein Sohn!“, hatte sie ihm gesagt.
Solange Mino-nokomis zurückdenken konnte, war Winonah mit ihm hinausgegangen, hinaus in den Wald.
Sie hatte ihn den Flug der Vögel genauso zu erkennen gelehrt, wie ihren Ruf, so dass Mino-nokomis, im Alter von vier Jahren bereits, Pitchi, das Rotkehlchen, schon im Anflug zu erkennen vermochte. Und so beständig wie ihn Winonah auf dieses oder jenes Gezwitscher aufmerksam machte, wies sie ihn auch auf die Pflanzen und Tiere des Waldes hin und lehrte ihn mit endloser Geduld die verschiedenen Fährten zu erkennen und zu unterscheiden.
Jedem Wesen gebührte gleichermaßen ihre Achtung und Anerkennung, alles war immer Inaendaugwut, war erlaubt, hatte seine Daseinsberechtigung.
Viele Male schon hatte Winonah Mino-nokomis so bei der Hand genommen, ihm mit jedem Tag einen weiteren kleinen Teil ihres Wissens geschenkt. Hatte ihn angewiesen im sorgsamen, vorsichtigen Ausgraben der Ojiibik, der Wurzel verschiedenster Heilpflanzen, ebenso wie im lautlosen Heranpirschen an die scheuen Wawashkaesh - Hirsche - oder an die nicht minder wachsamen und sprungbereiten Addik - Waldkaribus -. Vor allem aber hatte Winonah ihm beigebracht, dass jedes Wesen, jede Pflanze, jedes Tier eine Ojichaag besaß, eine Seele, einen Geist und somit auch über eine ganz eigene große Macht verfügte.
Sie hatte ihn gelehrt in all diesen Lebewesen seine Brüder und Schwestern zu erkennen.
Niemals durfte etwas unnötig genommen oder gar zerstört werden und für alles, was man nahm, dankte man dem Spender von ganzem Herzen.
Mit offenen Augen und Ohren nahm Mino-nokomis die Lehren und Erzählungen seiner Mutter und gleichermaßen auch die Eindrücke des Waldes tief in sich auf, prägte sich alles fest ein in seine offene, freie Kinderseele. Ließ sich prägen durch ihre Worte und mehr noch, durch das lebendige Vorbild seiner Mutter, welche niemals leere Phrasen drosch, sondern stets auch das lebte, von dem sie sprach.
Winonah bedeutete für Mino-nokomis Geborgenheit und Weisheit in einem, Schutz und Zärtlichkeit zugleich.
Die Geschichten und Mythen der Ojibwe, an langen Winterabenden vor dem Feuer erzählt und allabendlich an seinem Bettchen, vom leisen Klang Winonahs kleiner Handtrommel untermalt, waren seine zweite Heimat geworden, die erste Heimat aber war dort, wo immer auch seine Mutter sich gerade befand, an ihrer Seite unterwegs im Wald, genauso wie hier in diesem alten Holzfällerhaus.
Nun aber ging Mino-nokomis an der Hand seines Vaters auf jene fremden Häuser zu und zugleich von der Mutter weg, das spürte er wohl. Sein Herz pochte ihm ängstlich bis zum Hals. Ein Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht bemächtigte sich seiner Seele, ebenso wie ein Gefühl unbändigen Widerstrebens, welches ihn letztlich dazu veranlasste, sich wie ein störrischer Esel von seinem Vater ziehen zu lassen.
Doch Elias Morgan war ein Mann der Tat, eine schallende Ohrfeige machte Mino-nokomis ohne Weiteres wieder Beine. Und so stolperte er, mit den Tränen kämpfend, hinter seinem Vater her. Im Grunde war diese Ohrfeige bereits der erste Kontakt mit jener anderen Welt, von der sein Vater annahm, dass es an der Zeit sei, seinen Sohn mit ihr vertraut zu machen.
Winonah schlug ihren Sohn niemals. Sie hatte in den vergangenen Jahren einen Kokon aus Erinnerungen und Mutterliebe um Mino-nokomis gesponnen und es tatsächlich fertiggebracht, ihr Kind inmitten einer weißen Welt, wie einen Ojibwe zu erziehen. Handgreiflichkeiten hatten da in keiner Weise Berechtigung und Raum gehabt.
Entsprechend überrascht und bestürzt war Mino-nokomis, während er hinter dem Vater her auf das gelb gestrichene Haus der Sattlers mit ihrem Krämerladen zustolperte.
Als Elias Morgan die Tür des Krämerladens öffnete, erklang das helle Geläut der kleinen Glöckchen über der Tür. Mino-nokomis blickte erstaunt in die Höhe, entdeckte die tanzenden, schimmernden Glöckchen und streckte unwillkürlich seine Hand nach ihnen aus. Doch schon im nächsten Moment bestürmten ihn weitere bunte Eindrücke, dicht gedrängt im Inneren des Krämerladens und nicht zuletzt auch der Anblick der stämmigen, großen Frau hinter dem Tresen, mit ihrem üppigen, wogenden Busen und Haaren so hell wie der Weizen im Sommer.
Am Boden saß ein kleiner Junge, nicht viel größer als er selbst, mit geradezu unglaublich hellen Haaren und blauen Augen. Zum ersten Mal sah Mino-nokomis einen Menschen, der noch so klein, so jung war, wie er.
Beide Kinder starrten sich verdutzt an und ließen sich im Folgenden nicht mehr aus den Augen. Nach einer Weile, einigen aufmerksam forschenden Augenblicken, wagte Mino-nokomis ein zaghaftes Lächeln, das zögerlich erwidert wurde. Leise löste sich Mino-nokomis aus dem Schatten seines Vaters und trat zwei vorsichtige Schritte auf den anderen Knaben zu. Ohne Unterlass betrachteten sie sich gegenseitig mit unverhohlener Neugierde, sprachen dabei aber kein einziges Wort.
Als Elias Morgan mit seinem Sohn und einem Strang Tabak einige Minuten später den Laden wieder verlassen hatte, bestürmte David seine Mutter mit Fragen: „Was war das für ein seltsamer Junge? War das der Sohn der Wilden, von der immer geredet wird?
Wie heißt der Junge denn? Warum war er bisher noch nie hier?“
Fragen über Fragen! Mary Sattler seufzte aus tiefster Seele. Sie war von dieser unverhofften Begegnung keineswegs begeistert und wäre mit so etwas zu rechnen gewesen, sie hätte es, weiß Gott, zu verhindern gewusst!
Aber nun war es geschehen und das Glitzern in den Augen ihres Sohnes gefiel ihr ganz und gar nicht. Anstatt auf seine Fragen einzugehen, beeilte sie sich, ihn an seine Pflichten zu gemahnen und ihn aus dem Verkaufsraum zu scheuchen.
„Raus mit dir, im Lager wartet ein ganzer Berg Handschuhe auf dich und dass du sie mir ordentlich nach Größen sortierst!“
Gedankenversunken blickte sie ihrem Sohn hinterher: „Nichts als Flausen im Kopf, nichts als Ärger mit dem Jungen! Auf der anderen Seite darf ich mich wohl nicht beschweren. Wie oft schon hab‘ ich mir anhören müssen, dass David mir auf der Nase herumtanzt, dass er mich beständig um den kleinen Finger wickelt und das Schlimmste daran ist, dass es auch noch stimmt!“ Mary seufzte tief. Ach, sie konnte ihm einfach nicht wirklich böse sein! Vielleicht lag es ja tatsächlich daran, wie sie es selbst den anderen immer wieder entschuldigend entgegenhielt, dass er ihr jüngstes und wahrscheinlich auch ihr letztes Kind war, ihr Nesthäkchen und natürlich auch daran, dass sie beide bei der Geburt um ein Haar gestorben wären.
Vielleicht lag es aber auch einfach an David selbst. Er hatte eben eine so überwältigend unbekümmerte, lebensfrohe Art und zudem die äußerst nützliche und hilfreiche Gabe, im Bedarfsfall geradezu mitleiderregend zerknirscht und reumütig auszusehen, so dass er auch anderweitig manch eine verhärtete Seele dazu veranlasste, gegen alle Gewohnheit Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Der Gedanke an dieses Halbblut aber ließ Mary den ganzen Tag über nicht mehr los und ihren Sohn noch viel weniger. David hatte natürlich schon viele Male darüber tuscheln und tratschen gehört, dass es in dem am Waldrand gelegenen Haus des Fallenstellers eine Indianerin mit einem Kind gäbe. Aber bisher waren sie ihm noch nie zu Gesicht gekommen und er hatte sich seinerseits auch noch niemals bis dorthin getraut, um einmal nachzusehen und er durfte es ja erklärtermaßen auch nicht. Zudem wusste er sehr wohl, dass ein Kind alleine weder im noch am Wald etwas verloren hatte, keine Frage.
Nun aber war seine Neugierde geweckt, war stärker als jedes Verbot.
David beschloss, sich bei der nächsten Gelegenheit bis zu dem Holzhaus des Fallenstellers hinauszuwagen.
Gleich am kommenden Tag witschte er unbemerkt davon und machte sich auf den Weg.
Das kleine Holzhaus lag auf einer leichten Anhöhe, beinahe zur Hälfte im Schatten des Waldes verborgen. Es war weiter vom Ort weg gelegen, als David vermutet hatte.
Endlich angekommen, wusste er dann nicht recht, was er nun eigentlich tun sollte. Einfach hinzugehen und anzuklopfen war kein Gedanke, das wagte er nicht. Nach einigem hin und her beschloss er endlich, leise und mit gebührender Vorsicht, das Holzhaus im großen Bogen zu umrunden und dabei gründlich in Augenschein zu nehmen. Wie wild pochte sein Herz, als er auf Zehenspitzen begann, um das Haus zu schleichen.
„Waenaesh k‘doadem?“
Sehr leise, kaum wahrnehmbar vernahm David eine flüsternde Stimme und fuhr erschrocken herum. Nur einige Schritte hinter ihm stand dieser fremdartige Junge, blickte ihn sichtlich überrascht aus großen, dunklen Mandelaugen an und stellte ihm erneut in flüsterndem, beinahe atemlosen Ton jene für David vollkommen unverständliche Frage: „Waenaesh k‘doadem?“
Mino-nokomis stellte diese Frage, ohne weiter darüber nachzudenken, in jener Sprache, die ihm die geläufigste war, und er stellte sie, weil genau diese Frage immer die erste sein sollte, wenn man einem Unbekannten begegnete, so hatte es ihn seine Mutter gelehrt. Als er jedoch das Unverständnis in den blauen Augen des anderen Knaben sah, besann er sich und wiederholte seine Frage ein drittes Mal, nun aber in der Sprache seines Vaters: „Was ist dein Totem?“
Doch auch jetzt wusste David nicht, was er erwidern sollte. Schweigend musterten sich die beiden Knaben, der eine unsicher, doch äußerst fasziniert von der Andersartigkeit seines Gegenübers, der andere überrascht und beglückt von dem Umstand einen Jungen in seinem Alter vor sich zu haben. Nur um etwas zu sagen, stellte David eine Frage, deren Antwort ihm bereits bestens bekannt war: „Du wohnst hier?“
Der andere nickte: „Ja, ich wohne hier, in dem Haus.“
„Aber warum bist du nie bei uns unten im Dorf?“ Mit gesteigertem Interesse begutachtete David sein Gegenüber und wartete gespannt auf dessen Antwort. Mino-nokomis zuckte mit den Schultern und sagte: „Nimaamaa sagt, das ist nicht gut, sie sagt ich bin fremd dort.“
„Und was machst du hier dann so, den ganzen Tag?“ David sah ein Leuchten durch die dunklen Augen gehen, und mit einer fließenden Handbewegung wies dieser seltsame Knabe in Richtung des Waldes und flüsterte: „Der Wald, er ist mein Freund.“
„Na, ich weiß ja nicht, im Wald ist es verdammt gefährlich! Meine Mutter hat mir streng verboten, alleine in den Wald zu gehen. Hüten soll ich mich davor, hat sie gesagt!“
Erstaunt betrachtete Mino-nokomis das gewichtig dreinblickende Gesicht des anderen.
Winonah war gewiss immer um Mino-nokomis besorgt, das wusste er ganz sicher und doch hatte sie niemals Sorge um ihn, wenn er seine kleinen, sich aber ganz allmählich immer mehr ausweitenden Streifzüge in den Wald hinein unternahm.
Auf ihren unzähligen gemeinsamen Wanderungen hatte er den Wald niemals als bedrohlich empfunden, sondern ganz im Gegenteil als Schutz, als Hort seiner selbst und so vieler verschiedener Lebensformen, als großzügigen Spender all dessen, was ein jeder zum Überleben brauchte. Es war ihm durchaus vorstellbar, sich im Schutz des Waldes verbergen zu wollen, sich aber vor dem Wald selbst zu fürchten, ihn aus Angst zu fliehen, lag jenseits von Mino-nokomis Vorstellungskraft.
Verständnislos sah er in das Gesicht des blonden Jungen.
„Kennst du dich aus, ich mein‘ im Wald?“, fragte dieser zweifelnd und doch von Neugierde erfüllt.
„Ein bisschen, ja! Und jeden Tag ein bisschen mehr.“
„Würdest du mich mal mitnehmen?“
Ein Leuchten huschte über Mino-nokomis Gesicht, als er mit glänzenden Augen und einem Nicken einwilligte.
„Gut! Fein! Aber heute leider nicht mehr, ich muss jetzt nämlich schleunigst nach Hause.“ Verschwörerisch senkte David seine Stimme: „Du darfst aber keinem verraten, dass ich hier draußen war und so, hörst du? Keiner Menschenseele, in Ordnung und großes Ehrenwort?! Ich komme wieder, sobald es geht.“
David drehte sich auf dem Absatz um und lief eilig nach Hause. Die Gedanken wirbelten in ihm durcheinander und in dieser Nacht wanderten seine Träume durch dunkle, unergründliche Wälder und er ging immer an der Seite dieses eigenartigen Jungen mit diesem seltsamen Blick aus warmen, dunklen Augen und obwohl David im Traum darüber selber verwundert war, verspürte er an seiner Seite, auf den zwielichtigen, verwunschenen Pfaden des Waldes, keine Angst.
Es war Mary Sattler nicht entgangen, dass David sich in den letzten Wochen immer wieder aus dem Staub machte und auf Stunden nicht wieder aufzufinden war. Sie hatte so ihre Ahnungen, ihre düsteren Befürchtungen, wo er sich herumtrieb und vor allem aber mit wem! Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster, es begann bereits dunkel zu werden und ihr Jüngster war wieder einmal nirgendwo in Sicht.
Als David dann gerade noch rechtzeitig zum Abendbrot erschien, hielt sie es einfach nicht mehr aus und fing ihn noch vor der Haustüre ab.
„David! Du treibst dich doch mit diesem Halbblut herum! Sei ehrlich!“ Streng und forschend blickte Mary, unübersehbar erfüllt von Sorge und Tadel, ihrem Sohn in die Augen.
Dieser war sich gänzlich unschlüssig, ob nun ein reumütiger oder besser ein vollkommen unwissender Blick hilfreich wäre und betrachtete seinerseits forschend das aufgebrachte Gesicht seiner Mutter.
Einer inneren Eingebung folgend, sagte er schließlich: „Er ist sehr nett, Mama, wirklich!“
„Himmel Herrgott, ich hab‘s ja geahnt! David, das muss aufhören, hörst du?! Und zwar heute noch!“
„Aber wieso denn, Mama?“ Unglücklich und zerknirscht richtete David einen fragenden und gekonnt von kindlicher Unschuld durchzogenen Blick auf die Mutter, die in ihrer Ratlosigkeit seufzend die Hände rang.
„Das ist einfach kein Umgang für dich, David, wo kämen wir denn da hin!“
„Aber warum?“
„Dann sieh ihn dir doch einmal an! Dieser Junge ist ein halber Wilder, ein Bastard. Er gehört nicht zu uns, glaub mir, von so einem kommt nichts Gutes!“ Beschwörend sah Mary Sattler ihren jüngsten Sohn an.
„Er ist wirklich sehr nett“, sagte dieser, beharrlich wie er war, einfach noch einmal.
Mary ahnte in diesem Moment, dass sie sich in ihrem Bestreben zu retten, was noch zu retten war, auf verlorenem Posten befand. Dennoch war sie nicht bereit, so schnell aufzugeben. Es blieb einzig die Frage, wie sie nun am besten vorgehen sollte.
4
Das kalte, regnerische Herbstwetter ging nahtlos über in einen verschneiten und klirrend kalten Winter. Der strenge Frost ließ selbst die Säfte in den Baumstämmen gefrieren, so dass es unaufhörlich im Wald knackte und krachte und manch ein Baum zerbarst.
Mino-nokomis lag in seine warmen Decken gekuschelt in seinem Bett, an der Seite der Eltern und lauschte den Geräuschen des Waldes. Die dichte Schneedecke veränderte jeden Laut auf eigentümliche Weise. Alles klang seltsam dumpf und klar zugleich.
Mino-nokomis‘ Gedanken wanderten durch den Wald des Schnees und weg dann von dessen tief verschneiten Pfaden, hinein in den bunten Wald des Herbstes und während er noch in Gedanken die Wege des Waldes der bunten Blätter betrat, schlief er ein.
Seite an Seite ging er mit David durch den bunten Herbstwald. Ein silbergrauer Luchs saß nur ein Stück entfernt von ihnen auf dem Pfad und blickte beide Jungen abwartend und nachdenklich an.
Mino-nokomis bedeutete seinem Freund mit einer sanften Berührung innezuhalten und wies voller Ehrfurcht auf Bizhiu, den Luchs, das Totemtier seiner indianischen Familie.
Als Mino-nokomis am nächsten Morgen erwachte, brannte er darauf, Winonah von seinem Traum zu erzählen. Zärtlich schmiegte er sich an ihren Rücken, während sie vor dem Kamin kniete und Holzscheite im Halbrund vor dem wärmenden Feuer aufschichtete, um sie dort trocknen zu lassen.
„Nimaamaa, ich habe heute Nacht von Bizhiu geträumt.“
Winonah blickte einen Moment lang aufmerksam in das Gesicht ihres Sohnes und als sie sich langsam wieder den Holzscheiten zuwandte, fragte sie: „War es ein guter Traum, hm, was meinst du?“
„Ja, ich glaube schon. Ich ging mit David durch den Wald der bunten Blätter. Bizhiu saß ein gutes Stück vor uns und blickte uns an.“
„Er blickte euch an, euch beide?“
„Ja, und als er uns eine Weile nachdenklich angesehen hatte, stand er langsam auf und ging in aller Seelenruhe davon.“
Zärtlich strich Winonah eine Strähne des seidig glänzenden, bald schulterlangen Haares aus dem Gesicht ihres Sohnes. „Dieser Traum ist ein Geschenk, mein Sohn, du musst ihn in Ehren halten.“
Winonah lächelte nachdenklich und strich erneut über Mino-nokomis‘ tiefschwarzes Haar. Sie spürte tief in ihrem Innersten, dass der von ihr gewobene, watteweiche Kokon, der Schutzmantel ihrer kleinen gemeinsamen Welt, Risse bekam und sie fühlte ebenso, dass dies auch weiterhin unvermeidbar geschehen würde, ja, sogar geschehen musste. Und dieser Traum war ein Zeichen dafür.
Als dann im späten März die ersten Sonnenstrahlen den Schnee in viele kleine Schmelzbäche verwandelten, erschien Davids Blondschopf vor Elias Morgans Holzhaus. Doch diesmal schlich er nicht ängstlich um das Haus herum, nein, diesmal fasste er sich ein Herz und klopfte laut und vernehmlich an die Tür. Als Winonah vorsichtig einen Spalt weit öffnete, zögerte er nur einen kurzen Augenblick und sagte dann beherzt: „Wünsche einen schönen Tag, Mrs. Morgan. Ob ich Silas wohl besuchen dürfte?“
„Ja natürlich, komm nur herein!“ Winonah bedeutete David mit einer freundlichen Geste einzutreten. Die behagliche Wärme des Feuers umfing ihn angenehm, und nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel des Raumes gewöhnt hatten, machte er ein dunkles Paar Mandelaugen aus, das ihn glücklich anstrahlte.
Das Innere des Holzhauses war für David allerdings eine arge Enttäuschung. Er hätte nicht direkt zu sagen vermocht, was er eigentlich erwartet hatte, aber er wusste ganz genau, dass es gewiss nicht das gewesen war, was sich ihm nun im Holzhaus der Morgans darbot, nämlich nichts weiter, als eine einfache Behausung, wie es tausend andere gab.
Ein grober Holztisch nahm die Mitte des Raumes ein, umrahmt von lediglich drei Stühlen, woraus leicht zu schließen war, dass Gäste in diesem Haus nicht gerade eben erwartet wurden.
Auf einem dieser Stühle saß breitbeinig Elias und sagte schmunzelnd: „Na, wen haben wir denn da?“
Ein ordentliches Feuer prasselte im Kamin, vor dem einige Felle lagen und auf einem dieser Felle saß Silas und strahlte ihn an. Auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch.
David konnte es nicht fassen! Das war ja nun tatsächlich eine kleine Sensation. Also, dass jemand freiwillig las und ganz besonders, dass es Silas war, der da freiwillig sein Gesicht in einem Buch vergrub, verblüffte David enorm, nie und nimmer hätte er so etwas erwartet. Offen gestanden hätte er es nicht einen Moment lang für möglich gehalten, dass Silas überhaupt lesen konnte.
Mino-nokomis hatte in der Zwischenzeit längst sein Buch beiseite gelegt und David mit einer einladenden Geste aufgefordert, sich zu ihm an das wärmende Feuer zu setzen.
Erneut zog ein strahlendes Lächeln über sein freundliches Gesicht. Eine gute Weile saßen sie umhüllt von der Wärme des prasselnden Feuers und erzählten sich einander dies und das. Sie alberten herum und später bauten sie ein kleines Dorf aus dem aufgestellten Kaminholz, was Winonah, zu Davids grenzenlosem Erstaunen, nicht weiter zu stören schien.
Als David sich wieder gründlich aufgewärmt hatte, bekam er Lust, mit Silas hinaus in den Schnee zu gehen. „Silas, lass uns rausgehen, ja?“
Fragend blickte Mino-nokomis zunächst seine Mutter, dann seinen Vater an. Während der Vater seinem Sohn aufmunternd zunickte, machte die Mutter eine auffordernde Handbewegung zur Tür hin, lachte und sagte etwas in einer Sprache, die David nicht verstand. Nun hatte Mino-nokomis nichts Eiligeres zu tun, als in seine dicken Stiefel zu schlüpfen, seine warme Jacke anzuziehen, seine Mütze nicht zu vergessen und mit dem Freund schleunigst nach draußen zu verschwinden.
Obwohl bereits Mitte März, schlug ihnen die Luft schneidend kalt entgegen. Es schmerzte fast zu atmen und zugleich tat es so wohl, die klare Luft tief in sich hineinzusaugen und die Sonnenstrahlen in den verbliebenen Schneefeldern glitzern zu sehen, so hell, so stark, dass sie die Augen blendeten.
Mit einem hellen Schrei durchschnitt Mino-nokomis die gedämpfte Stille ringsumher und ehe David es sich versah, hatte ihn Mino-nokomis lachend mit einer guten Handvoll Schnee beworfen. David war hier in seinem Metier und nahm begeistert die Herausforderung an. Sofort war eine spielerische Rauferei im Gange, das erste Kräftemessen zwischen zwei Freunden, mit kindlichem Eifer und Ernst betrieben.
David musste im Verlauf dieser übermütigen Rangelei voller Verwunderung feststellen, dass er Silas unterlegen war. Zwar war David ein ganzes Stück größer als er, vielleicht war er auch stärker als der Freund, aber dieser legte dafür eine derartige Geschicklichkeit und Wendigkeit an den Tag, dass David ihm beim besten Willen nicht gewachsen war. Mit geröteten Wangen und noch vollkommen außer Atem, betrachtete David seinen Freund mit einer guten Portion neu hinzugewonnenen Respekts.
Bester Laune klopfte David einen Rest Schnee von seiner schon mehrfach geflickten Hose, einem uralten Erbstück von seinem Bruder Edwin, klopfte dann Silas anerkennend auf die Schulter und lachte ihn dabei sehr zufrieden an.
Gemeinsam marschierten sie zurück zum Haus und hingen, erhitzt und zufrieden mit sich und der Welt, eine Weile schweigend ihren Gedanken nach.
David zog geräuschvoll die Nase hoch, ehe er Silas die Frage stellte, die ihm gerade durch den Kopf gegangen war: „Sag mal, was war denn das für ein Buch vorhin?“
Mino-nokomis blickte einen kurzen Moment lang in das Gesicht des Freundes, dann konzentrierte er sich wieder auf den von tückischen Eispfützen durchzogenen Weg.
„Es ist nicht direkt ein Buch. Es sind ganz viele einzelne Zeitschriften, von einem ganzen Jahr, irgendjemand hat sie gesammelt und wie ein Buch binden lassen.“
Erstaunt blickte David Silas an: „Aber wer macht denn so was?!“
Das Unverständnis in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Mino-nokomis überlegte einen Augenblick und antwortete dann: „Ich weiß es nicht. Vielleicht war es ja jemand, der keinen Teil von der Geschichte verlieren wollte, aber nein, dann wären sicherlich auch die letzten Teile dabei, nicht wahr?“ Er seufzte bedauernd.
„Was für eine Geschichte denn?“ David begann allmählich neugierig zu werden.
„Es ist die Geschichte eines Jungen, nicht viel älter als wir, in einer anderen Welt, mit Häusern und Herzen aus Stein. Der Junge heißt Oliver, Oliver Twist.“
Na, das klang ja nun nicht gerade aufregend …
„Und wo hast du das Buch her?“
„Mein Vater hat es mir geschenkt. Er hat es irgendwo für mich gegen etwas anderes eingetauscht.“
„Dein Vater schenkt dir Bücher?“ Ungläubig sah David Silas an. Dieser lachte nur und antwortete: „Nein! Er hat mir nur dieses eine geschenkt, sonst keins. Er hat gesagt, dass es von den Menschen handelt, die hinter den großen Wassern leben. Er sagt, dass von dort seine Eltern gekommen sind.“ Leise und nachdenklich fuhr Mino-nokomis zu sprechen fort: „Meine Wurzeln umfassen die halbe Welt und deshalb bin ich auch überall zu Hause, sagt er, ich bin ein Ojibwe und ein Weißer zugleich.“
Grübelnd runzelte er die Stirn und blickte mit zusammengekniffenen Augen in das strahlende, wolkenlose Blau des Himmels, seufzte leise und sagte dann: „Ich weiß nicht recht, ob das so stimmt, was er da sagt.“
Fragend blickte Silas zu David, doch dieser, solch tiefschürfende Gespräche überhaupt nicht gewöhnt, schaute ratlos zu Boden, um dem Blick des Freundes zu entgehen und kickte bei jedem Schritt ein Häufchen Schnee vor sich her.
Mino-nokomis spürte die Befangenheit seines Freundes und fragte ihn deshalb kurz entschlossen: „Was hältst du davon? Wir gehen jetzt gleich zu mir nach Hause und ich lese dir am Feuer ein bisschen von der Geschichte aus meinem Buch vor und Nimaamaa macht uns etwas Warmes zu trinken.“
Erleichtert löste David seinen Blick vom Boden und willigte ein, äußerst dankbar für den unverfänglichen Themenwechsel: „Gerne! Mir wird auch langsam kalt.“
Behaglich von der Wärme des Kaminfeuers umfangen, den Bauch mit heißer Brühe gefüllt, lauschte David der Geschichte, die sein Freund ihm da erzählte.
Mino-nokomis war schnell davon abgekommen, die abenteuerliche Geschichte von Oliver Twist vorzulesen. Stattdessen hatte er begonnen, sie dem Freund mit seinen eigenen Worten zu erzählen, und er erzählte sie ihm nicht nur mit Worten, nein, alles an ihm schien zu sprechen, seine Augen, seine Hände, sein ganzer Körper.
Fasziniert lauschte David der spannenden Geschichte, verfolgte sie mit seinen eigenen Augen. Er sah Oliver, Miss Nancy, den alten Juden und Charley Bates und wie sie alle hießen, so deutlich vor seinem inneren Auge, dass er fast meinte, nach ihnen greifen zu können. David ließ sich von Mino-nokomis Erzählung entführen, durchlebte mit ihm und Oliver Twist Freud und Leid, bis dann, sehr zu Davids Bedauern, der Augenblick gekommen war und Mino-nokomis die Geschichte, in Entbehrung der letzten Kapitel, auf seine Weise zu einem Ende führte.
Es herrschte für einen Moment atemlose Stille im Raum, nachdem Mino-nokomis seine Erzählung beendet hatte.
David griff nach dem bereits reichlich abgegriffenen dicken Buch mit dem speckigen Ledereinband, wog es eine Weile in beiden Händen und fragte schließlich nachdenklich: „Woher kannst du eigentlich lesen?“
„Mein Vater hat es mir beigebracht. Von ihm habe ich eure Sprache gelernt und von meiner Mutter die Sprache der Ojibwe.“
David nickte langsam, als sein Blick durch das kleine, beschlagene Fenster auf den mittlerweile schon dunkel gewordenen Himmel fiel.
„Oh, verflucht! Ich muss sofort heim! Verdammter Mist, das gibt Ärger!“ Entsetzen hatte sich im Nu in Davids Gesicht und Herzen breitgemacht und schon im nächsten Augenblick war er aufgesprungen, zog sich hastig Stiefel und Jacke an, grapschte sich schnell noch seinen Hut und verabschiedete sich, während er schon halb aus der Türe gestürmt war.
Keuchend rannte er nach Hause. Oh, verflucht! Er hatte die Zeit einfach vergessen. Wie spät mochte es wohl sein? Was sollte er zu Hause nur erzählen?
Seine Lungen schmerzten erbärmlich, als er endlich mit rotgefrorener Nase und völlig atemlos zu Hause ankam.
Wie er es sich bereits gedacht hatte, empfing ihn an diesem Abend der Vater persönlich, was unmissverständlich bedeutete, dass das Maß nun voll war und die in so einem Fall unvermeidliche Abreibung durch den Vater erfolgte stehenden Fußes.
Schmerzhaft und demütigend wie immer, wurde sie diesmal auch noch mit der unangenehmen Frage nach seinem Aufenthalt garniert.
„Wo warst du!“, brüllte der Vater ein ums andere Mal.
David wiederum, vollauf damit beschäftigt, den Schlägen des Vaters zu entgehen, verlegte sich darauf zu winseln und zu betteln, während er die immer wieder gestellte Frage des Vaters einfach zu ignorieren versuchte. Was hätte er ihm auch antworten sollen? Irgendwann war seine Mutter dazugekommen und hatte versucht, dem Vater Einhalt zu gebieten. In ihrem fruchtlosen Bemühen platzte sie schließlich mit der Wahrheit heraus: „Jetzt hör schon endlich auf, George! Ich kann Dir genau sagen, wo unser Herr Sohn sich rumtreibt!“
Mit einem Mal war Stille. Abrupt hielt Sattler inne und blickte seine Frau erstaunt an, während diese unbeirrt damit fortfuhr, Davids schlimmste Befürchtungen in die Tat umzusetzen.
Klagend hob sie erneut zu sprechen an: „Beim Fallensteller treibt er sich rum! Mit dem seinem Sohn treibt er sich rum! Er lässt‘s einfach nicht, was ich auch sag‘!“ Hilflos hob sie ihre Hände und ließ sie wieder sinken.
Augenblicklich versuchte David erneut seinen Kopf mittels beider Arme in Deckung zu bringen, doch dann spürte er, dass sich etwas verändert hatte, die knisternde Spannung in der Luft war weg, war verschwunden.
Lange blickte Sattler seinen Sohn schweigend an und es gelang David einfach nicht, diesen Blick zu deuten. „Stimmt das?“ Die Stimme des Vaters war verdächtig leise und ruhig. Vorsichtshalber senkte David schuldbewusst und ergeben den Blick zu Boden. Als vom Vater jedoch keine weitere Reaktion erfolgte, riskierte er einen erneuten forschenden Blick in dessen bärtiges Gesicht. Die Miene des Vaters war undurchdringlich, nach wie vor.
David wagte, vom Mut der Verzweiflung getrieben, einen Vorstoß und sagte, so zerknirscht und unterwürfig es ihm möglich war: „Ja, es stimmt, aber Pa …“, bittend, nein, flehentlich sah er zu seinem Vater auf und blickte dann verständnissuchend seine Mutter an, „Ma, ihr müsstet ihn erst einmal kennenlernen, er ist gar nicht so viel anders als wir, er …“ David überlegte fieberhaft, was er bloß, in den Augen der Eltern Lobenswertes, für seinen Freund ins Feld führen könnte. „Er liest sogar! Ganze Bücher, wirklich! Und …“
„Es interessiert mich einen Dreck, was er macht und wer er ist! Es gibt genügend Jungen im Ort und ich will nicht, dass du dich da draußen herumtreibst!“, fuhr ihm sein Vater energisch ins Wort. „Schluss und aus damit und kein Wort mehr will ich davon hören, ich warne dich!“
Damit war das Thema erledigt. Zumindest für diesen Tag und natürlich für George Sattler, der es, in seiner männlichen Naivität befangen, tatsächlich für möglich hielt, dass das leidige Thema endgültig vom Tisch war.
Mary kannte ihren Sohn da weit besser und überlegte bereits angestrengt, was nun wohl am besten zu tun sei. In ihrer Not und Ratlosigkeit suchte sie den Pfarrer auf, denn Mary war eine überzeugte und bibelfeste Kirchgängerin, gut- und strenggläubig zugleich und was lag da näher, als den Rat eines Geistlichen einzuholen?
Der Reverend des Ortes war ein gemütlicher Mann in schon deutlich fortgeschrittenem Alter. Er war vom Drang des Missionierens beseelt in die neue Welt aufgebrochen, doch das war schon lange Zeit her. Nun aber hatte er sich hier in diesem kleinen Ort, mit dieser kleinen, eifrig betriebsamen Gemeinde ein bescheidenes, aber durchaus auch beschauliches Dasein gesichert und blickte dem Alter sorglos ins Gesicht.
Geduldig und milde lächelnd hatte er Marys Nöten gelauscht und hin und wieder freundlich und verstehend genickt.
Mary war jetzt schon etwas wohler zumute. Zwar war weiter eigentlich nichts geschehen, als dass sie diesem freundlichen, gelehrten Herren, mit seinem schütteren, immer noch fuchsroten Haar, ihren Kummer geklagt hatte und dennoch hatte sie das Gefühl, bereits einen Schritt weitergekommen zu sein. Nun aber, da sie tatsächlich nichts mehr vorzubringen hatte, wartete sie gespannt auf das, was Reverend Leary zu sagen hatte.
Dieser blickte eine Weile nachdenklich auf Mary und nickte bedächtig. Dann sagte er in ruhigem, mildem Ton: „Ja, ja, Mary, ich kann dich gut verstehen. Es ist nicht leicht in diesen Tagen zu bestehen und die ‚lieben Kleinen‘ bereiten einem noch zusätzliche Sorgen.“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf, blickte dann aber sogleich erneut in Marys aufmerksames Gesicht, blickte fest in ihre Augen und sprach: „Doch Mary, glaube mir, es geschieht nichts umsonst auf Gottes weiter Flur! Unablässig sucht der Herr seine verirrten Schäflein heimzuführen und dafür benötigt er seine treuesten Seelen als Hirten! Hast du dir schon einmal überlegt, dass Gott sich vielleicht eines Tages auch deiner bedienen könnte? Und bist du bereit dazu? Wärest du, Mary, bereit, Gott zu dienen?“ Sein Blick bekam etwas Eindringliches, Beschwörendes. „Hast du dir schon einmal überlegt, dass die verirrte Seele dieses Kindes niemanden hat, ihm den rechten Weg zu weisen? Du wirst mir recht geben, wenn ich sage, dass der Vater dieses unglückseligen Geschöpfes, dass dieser Elias Morgan denkbar ungeeignet dafür ist und die Mutter dieser bedauernswerten Kreatur ist eine gottlose Heidin! Hast du das schon einmal bedacht, Mary?“ Milde und freundlich abwartend blinzelte der alte Mann durch die dicken, runden Gläser seiner Brille und lächelte ein geduldiges Lächeln.
„Hast du schon einmal daran gedacht, dass es unser aller Christenpflicht ist, die Heiden auf den Pfad der Keuschheit und Tugend zu führen? Möglicherweise bist du dazu ausersehen, dieses arme, verirrte Menschenkind mit barmherziger, christlicher Nächstenliebe auf den rechten Weg zu leiten. Und bedenke auch, der Herr sagt: ‚Wolltet ihr nur jene lieben, die euch lieben, welches Verdienst habt ihr davon? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes erweisen, welches Verdienst habt ihr davon? Dasselbe tun ja auch die Sünder. Wenn ihr nur denen leiht, von denen ihr es wieder zu bekommen hofft, welches Verdienst habt ihr davon? Auch Sünder leihen ja einander, um den gleichen Betrag dafür zu erhalten. Liebt vielmehr eure Feinde, tut Gutes, leihet, ohne etwas zurückzuerwarten. Alsdann wird euer Lohn groß sein, ihr werdet Söhne des Allerhöchsten sein, der selber gütig ist gegen Undankbare und gegen Böse. So seid also barmherzig, wie euer Vater auch barmherzig ist.‘ “
„Lukas, Kapitel 6, Vers 32 bis 36 …“, murmelte Mary automatisch, ohne dass sie es selber recht bemerkt hätte, während sie den Reverend nachdenklich anblickte und nickte.
Von dieser Seite hatte sie das Ganze bisher noch gar nicht betrachtet, und einmal abgesehen davon, dass die Worte des Pastors für sie seit jeher unumstößliches Gebot waren, hatten sie für Mary auch etwas geradezu bestechend Logisches. Und der Gedanke, ob ihrer Tugendhaftigkeit ausersehen zu sein, die verirrten Schäfchen einzusammeln, oder so doch zumindest eines davon, schmeichelte ihr ungemein und erfüllte sie insgeheim auch mit Freude und Stolz, rührte zudem an ihr mütterliches, gluckendes Herz und setzte ganz allmählich einen Prozess des Umdenkens in Gang. Eben noch wild entschlossene Beschützerin ihres jüngsten Sohnes, wurde sie mehr und mehr zur barmherzigen Erretterin dieses halbwilden Knabens.
David fühlte instinktiv, dass ein anderer Wind zu wehen begann, leise zunächst, doch deutlich spürbar. Schon geraume Zeit hatte er keine der sonst so zahlreichen Ermahnungen mehr zu hören bekommen. Im Gegenteil hatte seine Mutter, vollkommen unauffällig und beiläufig wie sie zumindest zu glauben schien, damit begonnen, ihn über Silas auszuhorchen.
Zu Marys großem Bedauern änderte sich allerdings noch einmal das Wetter und der Winter kehrte zurück, mit Schnee und Eis. Ein schneidender Wind wehte erneut die Pfade und Wege zu, so dass Mary ein Durchkommen für einen kleinen Jungen ganz und gar unmöglich schien. Sie würde sich also noch eine ganze Weile gedulden müssen, ehe sie ihre selbstlosen, von christlicher Nächstenliebe erfüllten Vorsätze in die Tat umsetzen konnte.
Doch Mary kannte Mino-nokomis nicht. Sie rechnete nicht mit seinem Mut und seiner Entschlossenheit, ebensowenig, wie sie mit der Tiefe seiner Sehnsucht gerechnet hätte.
Eines Tages öffnete, am frühen Nachmittag, ein abgekämpfter, halb erfrorener Knabe die Tür des Krämerladens, all seinen Mut zusammennehmend.
Wieder ertönte das wundersame Klingeln und Mino-nokomis erblickte zum zweiten Mal das bunte, dichtgedrängte Allerlei in Sattlers Laden.
Vor einigen Tagen noch hätte Mary Sattler nun die günstige Gelegenheit genutzt und dieses Halbblut ein für alle Mal zum Teufel gejagt. Nun aber schien ihr das ganz unmöglich zu sein.
So schüchtern und verfroren wie dieser Junge da stand, rührte er ganz erheblich die ohnehin stark ausgeprägte Seite ihres mütterlichen Herzens. Mary trat kurzentschlossen hinter der Ladentheke hervor, zog den Knaben in die Wärme des Raumes hinein und schloss energisch die Tür.
„Du meine Güte, halb erfroren bist du! Jetzt komm erst einmal mit!“
Ohne zu zögern schob sie Silas vor sich her, durch eine weitere Tür hindurch, in einen kleinen, fensterlosen Raum hinter dem Laden und schloss sorgsam auch diese Tür. Der Kundschaft musste ja schließlich nicht unnötig Stoff zum Tratschen geboten werden! Mary nahm sich vor, diesen Silas Morgan einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, während er sich im Hinterzimmer, selbstverständlich unter ihrer Aufsicht, ein wenig aufwärmte.
„Dürfte ich vielleicht David besuchen, bitte, ehm, Mrs. Sattler?“
Überrascht betrachtete Mary den Jungen, dessen schlicht unmöglich langes Haar in glänzendschwarzen, wirren, feuchten Strähnen bis auf seine Schultern fiel.
Es juckte Mary förmlich in den Händen, am liebsten hätte sie augenblicklich die Schere geholt und ein erstes barmherziges Werk christlicher Nächstenliebe vollbracht.
Es rührte sie irgendwie, dass dieser halbwilde Junge ein so klar verständliches Englisch sprach und nicht, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre, irgendein grässliches Kauderwelsch. Dennoch angenehm war ihr der Gedanke immer noch nicht, sich ihren David mit diesem fremdartigen Knaben, zu allem Überfluss auch noch hier, in ihrem Haus, beisammen vorzustellen. Das leise Klingeln der Ladenglocke schreckte Mary aus ihren Gedanken.
„Warte hier einen Moment!“, sagte sie hastig und begab sich rasch in den Laden hinter die Theke.
Während Mino-nokomis den Geräuschen aus dem Verkaufsraum lauschte, vernahm er, von der anderen Seite her, leise, federleichte Schritte, hörte sie immer näher kommen, auf jene Tür zu, welche sich an der Stirnseite des nur spärlich beleuchteten, kleinen Raumes befand. Die Tür wurde geöffnet und ein lang bezopftes Mädchen, nur wenig älter als er selbst, trat in den Raum.
„Mama …“ Als sie Silas erblickte, verstummte sie jäh, blieb einen kurzen Moment mit offenem Mund stehen, den überraschten Blick starr auf ihn gerichtet und machte dann schleunigst auf dem Absatz kehrt und lief dorthin, wo sie hergekommen war.
Etwas weiter entfernt, im Inneren des Hauses, hörte Mino-nokomis wie Ruth ihre sämtlichen Geschwister zusammentrommelte und rief: „Stellt euch vor! Im Hinterzimmer sitzt der halbwilde Sohn vom Fallensteller!“
Noch ehe Mino-nokomis über diesen Satz nachdenken konnte, hörte er erneut Schritte sich dem Zimmer nähern, schnellere und festere Schritte diesmal und schon im nächsten Augenblick steckte David erwartungsvoll seinen Kopf durch die Tür. Ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Mensch, Silas! Das ist ja eine Überraschung! Du musst unbedingt mit nach hinten kommen. Ditch, unsere Hündin, kriegt bald Junge! Mann, die hat sooo einen Bauch!“
David zog Silas durch einen geräumigen Flur, in den für damalige Verhältnisse geradezu lichtdurchfluteten Wohnraum der Familie. Unter dem beachtlich großen Tisch lag eine ebenso beachtlich große sandfarbene Hündin mit gutmütigen dunkelbraunen Augen, die immer ein bisschen besorgt und betroffen zu blicken schienen. Hierfür hatte sie allerdings nicht den geringsten Anlass. Im Gegenteil, gehörte sie gewiss zu den verwöhntesten Hunden des Ortes, denn sie wurde von vielen Händen gestreichelt, von vielen Herzen geliebt und von Mary mit Essensresten und obendrein manch einem Knochen großzügig bedacht.
Mino-nokomis wusste nicht, was ihn mehr faszinierte, der große, so ungeheuer weich und behäbig aussehende Hund oder die vielen Mädchen um den großen Tisch herum. Da er bisher noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, ein Mädchen aus der Nähe betrachten zu können, war er richtiggehend verwirrt. Wohin er auch schaute, schienen ihm erstaunte, neugierige weibliche Augen entgegenzublicken, floss langes Haar in allen Schattierungen, mal in offenen Wellen, mal zu strengen Zöpfen geflochten, den Rücken hinunter bis zu den Bändern der gestärkten, sauberen Schürzen.
„Du bist also, Silas Morgan jr.“ Aufmerksam betrachtete Clara den fremdartigen Jungen. Mit ihren siebzehn Jahren war sie eigentlich schon eine junge Frau und zudem auch die älteste noch im Haushalt befindliche Tochter der Familie. Sie hatte, als erste der fünf verbliebenen Schwestern, die Sprache wiedergefunden und wandte sich nun, nachdem ihr Blick forschend über Silas hinweggeglitten war, an ihren jüngeren Bruder: „Ja, was ist, kleiner Bruder?! Willst du uns deinem Freund nicht vorstellen?“
Sie hatte ihre Näharbeit sinken lassen und blickte David erwartungsvoll an.
Die Stunden in dem behaglichen Wohnraum der Sattlers hatten in Mino-nokomis ein warmes, glückliches Gefühl hinterlassen.
Als er mühsam, mit Hilfe der aus Holz und Leder von Winonah liebevoll für ihn gefertigten Schneeschuhe, einen zugewehten Pfad unter Aufbietung all seiner Kräfte entlangstapfte, sang er Lieder von langen Zöpfen, hellen, klaren Stimmen, die lachten und viele Fragen stellten, von warmer Milch mit Honig und einer großen, lieben Hündin, die bald ihre Kinder zur Welt bringen würde. Und natürlich sang er auch von seinem Freund, dessen Haar so blond und golden war, dass man im Winter schon einen Hauch des Sommers erahnen konnte.
Mino-nokomis war sehr glücklich und zufrieden und weil es ihm so gut ging, sang er gleich noch ein Lied, ein Lied für den kalten Wind und die Sonne, die trotzdem zu scheinen vermochte, strahlend in seinem Herzen, rotgolden am Himmel über ihm. Und als dann auch noch die Silhouette seines Vaters am Horizont auftauchte, empfand Mino-nokomis das Leben als einfach durch und durch schön und lebenswert.
David schlief an diesem Abend mit dem satten Gefühl des Triumphes ein.
Er hatte es geschafft! Und er hatte seine Schwestern für Silas begeistern können. Die Mutter, so wunderbar verwandelt, schien ihm nunmehr keine bedeutende Schwierigkeit darzustellen, bei seinem Vorhaben, dem Freund bei sich zu Hause Respekt zu verschaffen.
Er würde unter der Dorfjugend auf jeden Fall schon einmal gehörig angeben!
Indianerblut! Mann, das klang nach Aufregung und Abenteuer!
Im Frühling verbreitete es sich daher wie ein Lauffeuer im Ort, dass David freundschaftliche Beziehungen zu dem Sohn des Fallenstellers unterhielt.
Argwöhnisch und wenig angetan registrierten die meisten Menschen des Ortes, dass Silas Morgan jr. anscheinend nicht gewillt war, es seinen Eltern gleich zu tun und angenehm im Verborgenen zu bleiben.
Mary Sattler versuchte, um dem Getratsche bereits im Voraus zu begegnen, im wahrsten Sinne des Wortes, aus ihrer Not eine Tugend zu machen und sparte nicht mit passenden Bibelzitaten, wenn möglich mit einem beschämenden und zugleich ermahnenden Unterton versehen.
„Man bedenke doch!“ Ohne es zu bemerken, fiel Mary bei diesen Gelegenheiten immer wieder in den Tonfall von Reverend Leary.
„Er ist ja noch ein Kind und dann, den ganzen Sommer allein mit einer Wilden! Und der Vater ist auch nicht gerade ein Gewinn! Da ist es doch unsere unausweichliche Christenpflicht, dem etwas entgegenzusetzen. Dieses Kind ist ja schließlich getauft!“
Wie das meistens so ist, dauerte es dann auch nicht allzu lang und das Spektakuläre an Silas Anblick begann sich allmählich abzunutzen und nicht mehr länger das öffentliche Interesse für sich allein zu beanspruchen. Die Aufmerksamkeit, zumindest der erwachsenen Bewohner St. Peters, wendete sich wieder anderen Dingen zu, Dingen die wichtiger waren, als ein wirklich gänzlich unbedeutendes Halbblut von knapp neun Jahren.
Der Frühling hatte endgültig Einzug gehalten, als David an einem warmen Nachmittag mit Silas gemeinsam die Dorfstraße entlangging. Die Sonne blinzelte ihnen verheißungsvoll entgegen, die ersten Schmetterlinge gaukelten sorglos in der klaren Luft und ein Raubvogel zog ruhig und scheinbar vollkommen mühelos seine Kreise im tiefen Blau des Firmaments. Das Zwitschern der Vögel hatte etwas ansteckend Fröhliches.
In diesem Moment kam Charly Benhaven, der schon fast dreizehnjährige Sohn des Dorfschmiedes, um die Ecke. Verächtlich grinsend baute er sich vor David und Silas auf, musterte die beiden mit provokant abschätzendem Blick von Kopf bis Fuß und spuckte dann demonstrativ vor Silas auf den Boden.
Mit einer knappen Kopfbewegung wandte er sich um und blickte grinsend sein Gefolge an, welches aus vier weiteren Jungen und dem kleinen Samuel bestand, der aber noch nicht wirklich für voll genommen werden konnte.
„Da schau sich doch mal einer diese dreckige Rothaut an!“ Charly richtete seinen Blick erneut mit deutlich zur Schau gestelltem Missfallen auf Silas. „Wohl seit Wochen nicht gewaschen, oder warum siehst du so verflucht dreckig aus? He?!“
Ohne eine Reaktion von Silas abzuwarten, beehrte Charly nun David mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit, untermalt von einem derart abfälligen Grinsen, dass bei seinem bloßen Anblick bereits das Blut in Davids Ohren zu rauschen begann.
Ganz allmählich aber verflüchtigte sich dieses Grinsen, gefror sozusagen in Charlys Gesicht und mit gespieltem Erstaunen fragte er: „Sag‘ mal, David, du wagst es tatsächlich, am helllichten Tag mit diesem Bastard herumzuspazieren? So was wie der da gefällt dir?!“ Mit theatralischer Geste wies er auf Silas. „Ja?! David Sattler?!“
„Ach Charly, …“, David bemühte sich möglichst gelassen zu klingen, „… wenn du den Mund aufmachst, kommt doch nur Mist raus. Lass uns mit deinem blöden Geschwätz bloß in Ruhe!“
Charly lachte hell auf und schüttelte den Kopf. „Ich kann‘s kaum fassen!“ Er versetzte David einen kleinen Schubser vor die Brust. „Du beleidigst mich‘?!“ Wieder ein Schubser. „Du verteidigst allen Ernstes diesen Hurensohn … und beleidigst ‚mich‘?!“ Ein dritter Schubser. „Pfui Teufel!“ Charly spuckte mit angewidertem Gesicht vor Davids Füße.
David bebte innerlich vor Wut und seine Ohren begannen förmlich zu glühen, was Charly nicht entging.
„Hey! Schaut mal, …“ Ein Einvernehmen fordernder Blick in die hinteren Reihen. „Och nee, jetzt schämt er sich, er kriegt schon ganz rote Ohren! Ha, ha, ha!“ Charly wollte sich beinahe ausschütten vor Lachen. Hämisch grinsend wartete er auf Davids Reaktion, wohl wissend, dass sie allein schon vom Alter und von der Größe her sehr unterschiedliche Gegner waren.
Atemlos verfolgten die Umstehenden, wie sich die Beiden gleich zwei Tanzbären zu umkreisen begannen, als sich David plötzlich mit einem wütenden Schrei auf den gut einen Kopf größeren Charly stürzte, ihn richtiggehend ansprang und zu Boden riss. Charly hatte nicht mit einer solchen Heftigkeit des Angriffs gerechnet und war ziemlich überrascht und überrumpelt. Eben noch siegesgewiss, lag er bereits im nächsten Augenblick im Dreck und Davids Faust flog ihm just in diesem Moment mit beachtlicher Wucht ins Gesicht, traf schmerzhaft seine Nase, die sogleich zu bluten begann.
Gleichzeitig aber weckte dieser durchdringende Schmerz Charly wie ein Donnerschlag aus seiner Verwirrung, ließ ihn seine überlegenen Kräfte zur Gegenwehr mobilisieren. Er rappelte sich auf und zischte: „Du mieses Stück Dreck, dir werd‘ ich‘s zeigen!“, packte David am Kragen und schleuderte ihn zu Boden, mit siegessicherem Gefühl, zumal er natürlich für die Not noch einen Trumpf im Ärmel hatte. Denn seinem Busenfreund Dan juckte es ganz offensichtlich bereits in den Fingern.
Womit Charly jedoch überhaupt nicht rechnete war, dass auch David so seine beflügelnden Hintergedanken hatte. Und noch weniger rechnete er damit, dass Davids Trumpf im Ärmel Silas hieß, denn der, bald einen halben Kopf kleiner noch als David, kam in Charlys Rechnung eigentlich gar nicht vor. Silas war absolut kein ernst zu nehmender Gegner für ihn und zudem beabsichtigte Charly auch keineswegs, sich die Finger an einem Bastard dreckig zu machen.
Der Rest der versammelten Jungen, und es versammelten sich stetig mehr und mehr, bildete das gaffende und johlende Publikum und dabei würde es mit Sicherheit auch bleiben, denn die Sympathien für jene sich im Staub wälzenden Kontrahenten waren durchaus gleichermaßen vorhanden.
Charly genoss beträchtliches Ansehen unter den Jungen, großen wie kleinen, gepaart mit beinahe schon ehrfürchtiger Bewunderung, denn er war, selbst für sein Alter, groß und stark und hatte zudem zwei noch größere und stärkere Brüder bei der Hand, wenn es einmal darauf ankam. Charly sagte, was er wollte und ließ sich von niemandem etwas gefallen.
David hingegen erfreute sich bei den meisten der Umstehenden größter Beliebtheit und da er obendrein alles andere als knickrig war - als Sohn des einzigen Krämerladenbesitzers in weitem Umkreis, ein nicht zu unterschätzendes Plus auf Davids Seite - war der größte Teil der hier anwesenden Knaben durchaus bereit, ihm etwaige Extravaganzen, wie jene seltsame Freundschaft zu diesem Halbblut, nachzusehen. Manch einer unter ihnen bewunderte und beneidete ihn sogar insgeheim dafür. Entsprechend gespannt starrten die umstehenden Jungen, deren Anzahl mittlerweile schon auf knapp zwanzig gestiegen war, auf die sich im Staub wälzenden Kontrahenten. „Gib’s ihm! Gib’s ihm!“ war der Schlachtruf, mit dem sie den Kampf anfeuerten, wobei sie es in geschickter Weise offen ließen, wem von den beiden ihre Zustimmung eigentlich galt.
Gerade kassierte Charly eine ordentliche Abreibung von David, der rittlings auf ihm saß, da näherte sich nun doch Dan von hinten. Bereits im nächsten Augenblick wurde David unsanft emporgerissen und Charly kam frei. Mit einem Satz war er auf den Beinen, bereit dem von Dan im Schwitzkasten gehaltenen David eine ordentliche Lektion zu erteilen.
„Jetzt bist du reif!“ Langsam und bedrohlich kam er auf David zu. An Silas, welcher ja eigentlich als Anstoß des Ganzen hatte herhalten müssen, verschwendete Charly keinen einzigen Gedanken mehr und so bemerkte er auch nicht, dass dieser nur noch einen Schritt entfernt, seitlich hinter ihm stand, bereit seinem Freund zu helfen.
Charly begriff nicht recht, was nun im Folgenden mit ihm geschah. Kaum war er aufgesprungen und hatte sich in Positur gebracht, da versetzte ihm Silas hinterrücks einen so kräftigen Stoß, dass er ins Wanken geriet. Ein darauffolgender Tritt tat sein Übriges und Charly fiel abermals auf den staubigen Erdboden.
Dan, einen kurzen Moment lang irritiert, lockerte seinen Griff, nur für einen Augenblick, doch David gelang es, einen Tritt nach hinten, gegen das Schienbein seines Peinigers, zu setzen und seine Freiheit wieder zu erlangen. Nun konnte er das tun, was er sich die ganze Zeit über brennend gewünscht hatte und Dan ordentlich eine reinhauen.
Im Handumdrehen war die schönste Keilerei im Gange und ihr Ausgang war genauso wie es sich David nach seiner ersten Schneeballschlacht mit Silas erträumt hatte. Er ging ruhmreich und respektvoll bestaunt als Sieger hervor.
David war äußerst zufrieden, als er den Staub von seiner Hose klopfte und mit dem Handrücken das aus seiner Nase strömende Blut wegzuwischen versuchte, was jedoch sein geschundenes Aussehen nur verschlimmerte.
„Den Idioten haben wir’s gezeigt! Oh Mann!“ David kicherte in sich hinein. „Charly hat vielleicht blöde geguckt, als du ihn auf den Boden befördert hast! Und dann nochmal auf die Nase, gleich zweimal hintereinander! Heieiei! Da wird er noch ein Weilchen seine Freude dran haben!“
Er blickte zufrieden die Dorfstraße entlang. In der Ferne konnte man sich Charly und Dan trollen sehen und in David machte sich das Hochgefühl des Triumphes breit.
Silas hatte bei dem Ganzen, außer ein paar Schrammen und einer schmerzenden Hand, kaum etwas abbekommen und David war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er bemerkt hätte, dass sein Freund die Rauferei keineswegs so genossen hatte wie er. In Silas regten sich ganz andere Empfindungen als Triumph und Befriedigung. Bestürzung machte sich stattdessen in ihm breit und auch ein seltsam beklemmendes Gefühl, denn nicht nur die Worte, auch die Augen, die Blicke mit denen ihn dieser fremde Junge bedacht hatte, ließen keinen Zweifel daran, dass er sich hier in St. Peter zumindest einen erbitterten Feind zugelegt hatte. Doch was er auch immer befürchtet hatte, dieser Charly Benhaven schien für sich beschlossen zu haben, es damit fürs Erste einfach bewenden zu lassen und ihn im Folgenden lediglich mit geringschätzigen Blicken und abfälligen Bemerkungen zu bedenken, sofern er seiner angesichtig wurde. Was allerdings nur äußerst selten geschah, denn Silas war sehr darum bemüht, ihm nicht unnötig über den Weg zu laufen.
Im späten Frühjahr war Mino-nokomis mit einem kleinen Hundewelpen nach Hause gekommen. Mit leuchtenden Augen hatte er Winonah das winzige, wollige Geschöpf in den Schoß gelegt, die sichere Gewissheit im Herzen, dass sie, die ihm schon so viel über ihre Liebe zu den zahlreichen Hunden im Lager der Ojibwe erzählt hatte, nicht „nein“ sagen würde, einfach nicht „nein“ sagen konnte!
„Nimaamaa? Ich darf sie doch behalten, nicht wahr? Mr. Sattler hat sie mir geschenkt, ist das nicht nett von ihm?“
Mino-nokomis blickte glücklich in das Gesicht seiner Mutter und dann wieder auf das kleine, knuddelige Wesen auf ihrem Schoß. Voller Zärtlichkeit strichen seine schmalen Finger über den Kopf des kleinen Hundes.
„Ist sie nicht süß? Schau doch nur! Die Pfoten! Sie ist jetzt schon zwölf Wochen alt. Mr. Sattler sagt, sie braucht ihre Mutter nicht mehr. Meinst du, dass er recht hat?“
Winonah lächelte und blickte nachdenklich und auch ein wenig ratlos auf den kleinen, tapsigen Hund auf ihrem Schoß.
„Ja“, bedächtig nickte Winonah, „ich denke schon.“
Wieder glitt ihr Blick von ihrem Sohn zu dem wirklich goldigen, sandfarbenen Welpen, der beharrlich und lustvoll an einem ihrer mit Lederbändern umwundenen Zöpfe zu saugen und kauen begann.
Dieser kleine, unschuldige Hund war für Winonah der lebendige Beweis dafür, dass Mino-nokomis, ihr einziges Kind, Teil einer fremden Welt zu werden begann, ja wahrscheinlich sogar schon geworden war. Er hatte Freundschaft geschlossen und Geschenke entgegengenommen und war somit auch Verpflichtungen eingegangen.
Seit dem Zeitpunkt, da Mino-nokomis begonnen hatte, den Kinderschuhen zu entwachsen, fragte sich Winonah häufig, welche Schuhe es wohl einmal sein würden, in die ihr Sohn, ihr Liebstes auf der Welt, im Begriff war hineinzuwachsen und insgeheim befürchtete sie, dass es vielleicht keine Mokassins sein würden.
Mit einem unterdrückten Seufzer fuhr Winonah durch das dichte, flaumweiche Fell des kleinen Hundes, worauf sich dieser wohlig auf ihrem Schoß zurechtrollte und unbeirrt weiter ihren Zopf bearbeitete. Winonah dachte an die vielen Hunde, mit denen sie in ihrer Kindheit und Jugend zusammengelebt hatte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Mit einem weiteren Seufzer blickte sie ihrem Sohn in das abwartende und zugleich auch erwartungsvolle Gesicht.
„Natürlich kannst du den Hund behalten.“
Mit einem überglücklichen Strahlen drückte Mino-nokomis erst seine Mutter und dann den kleinen Hund an sein Herz.
„Aber du wirst für den Hund verantwortlich sein!“
„Ja, Nimaamaa!“ Voller Eifer und Freude versprach Mino-nokomis: „Du wirst sehen, ich werde alles für sie machen und werde immer bei ihr sein, mein Ehrenwort!“
Als Winonah am Abend mit ihrer kleinen Trommel an Mino-nokomis Bett saß, fragte sie leise: „Habe ich dir schon einmal erzählt, wie in den alten Tagen die Geschichte zwischen den Hunden und den Menschen begann?“
Mino-nokomis kuschelte behaglich in seinem Bett. Das kleine Hundemädchen lag zufrieden in seinen Armen, den pelzigen Hunderücken fest und entschieden an seinen Bauch gedrückt und schlief.
„Nein, ich glaube davon hast du mir noch nicht erzählt.“
Kurze Zeit betrachtete Winonah nachdenklich ihren Sohn und den Welpen in seinem Arm. Dann schloss sie für einen Moment die Augen und begann zu erzählen, während ihre Finger manch ein die Geschichte untermalendes Geräusch auf der kleinen Trommel erzeugten.
„Du wirst dich erinnern, Ningozis. Es war zu der Zeit, als die Himmelsfrau daranging, das Versprechen des Lebens zu erfüllen und sie gebar am Morgen eines wolkenlosen Tages zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Diese Kinder waren anders als alle anderen Kinder der Himmelsfrau, denn sie bestanden nicht nur aus einer Substanz, nein! Sie bestanden aus zweierlei, aus einer körperlichen Substanz und einer Ojichaag, einer Geist-Seele-Substanz. Diese Ojichaag durchtränkte den Körper der Kinder, jede Faser ihres Körpers durch und durch und zeigte sich darüber hinaus als Chibowmun, als Aura. Hierin glichen sich diese beiden Kinder vollkommen und doch waren sie natürlich von unterschiedlicher Gestalt, eben ein Junge und ein Mädchen.
Im ersten Lebensjahr wurden diese Kinder, die Anishnabeg, und ihre Mutter von den Tieren ernährt und versorgt, denn sie konnten ohne ihre Hilfe nicht bestehen. In allen ihren Bedürfnissen waren sie auf die Großzügigkeit, die Güte und die Hilfsbereitschaft der Tiere angewiesen. Bären und Biber, Wölfe, Füchse und Hirsche sorgten für ihre Nahrung. Die Eichhörnchen, Katzen und Wiesel und auch der Waschbär sorgten dafür, dass die Anishnabeg an den langen Winterabenden über Spiele für ihren Zeitvertreib in ausreichendem Maße verfügten. Die Vögel aber erfüllten mit ihrem Gesang die Luft und die Herzen mit Fröhlichkeit und die Schmetterlinge brachten mit ihrem bunten, gaukelnden Flug die Kinder zum Lächeln.
Einzig der Hund wusste nicht, wie er den Anishnabeg und ihrer Mutter dienen könnte. Er war weniger flink als der Fuchs und zugleich schwächer als der Wolf. Er konnte es an List mit keinem Wiesel aufnehmen und an Geschicklichkeit mit keinem Hirsch, ebenso gab es zahlreiche Tiere, die weit besser schwimmen konnten als er. Auch mit seinem Gesang vermochte er die Herzen der Anishnabeg nicht zu erfreuen, denn seine Stimme klang viel zu dumpf und rau. Nicht einmal irgendeine besondere Farbe konnte er aufweisen, nichts schillerte an ihm, nichts war farbenfroh.
Ach, es schien vollkommen hoffnungslos zu sein! So wie es aussah, gab es einfach nichts, für das der Hund besser begabt war, als eines der anderen Tiere! Dies erfüllte ihn mit großer Traurigkeit. Gar zu gerne hätte auch er den Menschen geholfen.
Lange Zeit grübelte er nach und tat vor lauter Kummer kein Auge zu. Schließlich aber beschloss er, da er gar nichts anderes zu geben hatte, den Menschen einfach seine Liebe zu schenken. Und seit dieser Zeit blieb der Hund stets treu an der Seite der Menschen, er wachte an den Wiegen ihrer Kinder, solange sie klein waren und wenn sie größer wurden, spielte er mit ihnen.“
6
Nicht ohne Sorge beobachtete Winonah, dass es Mino-nokomis mit jedem Frühling und Sommer, der ins Land ging, häufiger zu den Häusern der Siedler zog. Fast täglich verbrachte er jede seiner freien Minuten gemeinsam mit seinem weißen Freund, natürlich stets in Begleitung seiner Hündin, die er mit Winonah „Eshkebug“ genannt hatte - Neues Blatt. Zwar war es immer noch so, dass die beiden stundenlange Streifzüge im Wald unternahmen, doch mindestens genauso häufig trafen sie sich auch unten im Ort. Was dort geschah, konnte Winonah nur den Erzählungen ihres Sohnes entnehmen, sie selber würde gewiss nicht hinunter zu den Siedlern gehen. Allzu lebendig noch waren ihr die Gesichter dieser weißen Menschen in Erinnerung. Voller Argwohn und Geringschätzung hatten sie sie unablässig angestarrt. Damals im Haus ihres Gottes, vor dessen Augen doch angeblich alle gleich waren, hatten sie Winonah mit ihren Blicken durchbohrt, schmerzlich verletzt, während ihr kleiner Sohn einen weiteren, einen weißen Namen erhielt. Und war dies nun auch bald schon dreizehn Jahre her, so würde sie es doch niemals vergessen können.
Zudem waren für Winonah Mino-nokomis Berichte Quelle des Wissens genug. Ihr Sohn wurde dort unten lediglich geduldet, er war jedoch keineswegs erwünscht, darin war sich Winonah ganz sicher, denn er war ihr Sohn.
Die Menschen von St. Peter verachteten ihr Blut, das in seinen Adern floss und das tat ungeheuer weh und machte, bei aller Trauer, manchesmal auch ganz schön wütend.
Einzig David und seine Familie, die Sattlers, schienen eine Ausnahme zu bilden und mit ihnen begann nun ihr Sohn immer festere Bande zu knüpfen. Auf der Grundlage seiner Freundschaft zu David öffnete sich Mino-nokomis mehr und mehr einer Welt, die Winonah fremd, feindselig und gefräßig erschien, und ihr wurde bange zumute, bei dem Gedanken, dass diese Welt ihren Sohn eines Tages verschlingen könnte.
Mary Sattler, die sich unter anderem damit zu trösten versucht hatte, dass der gute Einfluss ihres Sohnes diesem halbwilden Jungen sicher sehr gut tun würde und zudem der Erfüllung der christlichen Nächstenliebe dienlich sei, hatte schnell bemerkt, dass dieser „Halbwilde“ Silas Morgan jr. einen mindestens ebenso guten Einfluss auf ihren eigenen Sohn hatte.
Silas war, im Gegensatz zu David, ein zurückhaltender, besonnener Mensch, hilfsbereit und gewissenhaft. All dies waren Eigenschaften, für welche Mary Sattler dem Herrn auf Knien gedankt hätte, hätte er sie auch nur in annähernder Ausprägung ihrem David zugedacht. So aber hoffte sie nun insgeheim, dass diese Gottesgaben zumindest indirekt ihrem Jüngsten zugute kommen könnten und vielleicht sogar etwas auf ihn abfärben würden. Anlass für diese verwegene Hoffnung war durchaus gegeben, denn Silas hatte es sich über die Jahre hin zur Gewohnheit werden lassen, in Gefolgschaft seiner Eshkebug, bereits dann bei den Sattlers aufzutauchen, wenn sich David noch, in Erfüllung seiner täglichen Pflichten, im Pferdestall abplagte.
So auch an diesem Tag. Wie immer war Silas erst einmal bei Mary im Laden erschienen, hatte sie freundlich begrüßt: „Schönen Tag, Mrs. Sattler! Wär’s Ihnen recht, wenn ich David im Stall ein bisschen zur Hand gehe?“
„Aber ja, mein Junge, nur zu! David wird sich freuen, …“ Und bei sich dachte sie: „Vor allem, wenn du ihm wieder dieses schwarze Rabenaas versorgst! Black Desert, weiß Gott, dieser Name hätte George damals auf der Auktion eine Warnung sein sollen!“
Durchaus nachdenklich stand sie auf ihrem allabendlichen Kontrollgang vor Black Deserts Box. Wenn David Black Desert versorgte, dann tat er stets nur das Allernötigste und das führte er dann zudem auch noch in größter Hast und Eile aus, was natürlich am Endergebnis unschwer festzustellen war. Doch Mary sah darüber immer gnädig hinweg, denn nach ihrem Dafürhalten war Black Desert an seiner liederlichen Versorgung schlicht selber schuld, denn er war bissig, heimtückisch, störrisch und insgesamt bösartig! Jawohl! Mary wusste es aus eigener Erfahrung! Doch seine Mähne war offensichtlich gebürstet worden und das Pferd sah ungewöhnlich sauber aus, richtiggehend gepflegt. Mary wusste genau, dass dies nicht Davids Verdienst war, sondern das Werk jenes halbblütigen Burschen. Eingehend betrachtete Mary das pechschwarze Pferd, dessen Fell im Licht der untergehenden Sonne sanft schimmerte.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dieses Tier jemals so sauber, so glänzend gesehen zu haben. Nun aber stand Black Desert in tadellosem Zustand vor ihr in seiner Box und fraß genüsslich Heu und Hafer aus seiner Raufe, sofern er Mary nicht gerade misstrauisch beäugte.
Es war eigenartig, aber dieser Silas Morgan jr. schien ein besonderes Gespür im Umgang mit dieser Kreatur zu haben.
Mary beschloss in diesem Moment, mit ihrem Mann darüber zu sprechen, dass Silas erfahren sollte, dass ehrliche Arbeit nicht nur gottgefällig ist, sondern obendrein auch anderweitig rentabel, schließlich und endlich hatte sie ja einen Auftrag an dem Kind zu verrichten!
Als sie abends dann mit ihrem Mann beisammen saß, fragte sie ganz beiläufig: „Ist dir auch schon aufgefallen, wie gut Black Desert in letzter Zeit immer aussieht?“
George Sattler blickte einen Moment lang auf und brummte zustimmend: „Mmh, ja, und er ist auch nicht mehr ganz so nervös.“
Nachdenklich sah er seine Frau an, ehe er erneut zu sprechen begann. „Ich frage mich, ob da nicht diese merkwürdige, kleine Rothaut dahintersteckt. Ist dir mal aufgefallen, dass sogar die Katzen ständig um ihn herum scharwenzeln, auch die ganz scheuen, und unsere alte Ditch, die himmelt ihn geradezu an! Ich glaube sie hätte ihm jedes ihrer Jungen bedenkenlos überlassen …“
Sattler schüttelte den Kopf, während Ditch, die ihren Namen gehört hatte, behäbig auf ihn zutrottete und sich mit einem tiefen Seufzer vor ihm niederplumpsen ließ. Bereitwillig tätschelte er das dichte, sandfarbene Fell, während sein Blick forschend das Mienenspiel seiner Frau betrachtete, ob er nicht zumindest eine Spur der Belustigung bezüglich seiner Rede darin zu erkennen vermochte.
Doch stattdessen nickte sie und sagte schließlich: „Ja, mir kommt es auch so vor. Auf alle Fälle, was das schwarze Rabenaas da draußen im Stall betrifft, habe ich mit David gesprochen. Er hat Silas Black Desert sozusagen zur Pflege überlassen und dem Pferd tut das augenscheinlich mehr als gut. Also, ich denke, wenn er uns dieses Höllenvieh versorgt und es dabei vielleicht sogar ein wenig zu besänftigen vermag, sollte er auch ordentlich dafür entlohnt werden.“
„Mmh …“ George Sattlers Brummen signalisierte nun Nachdenklichkeit, schließlich sagte er nach einer Weile: „Das ist gar keine schlechte Idee …“
„Ja, nicht wahr?“
„Ich meine auch, dass er was davon haben soll, wenn er dieses Vieh tatsächlich besänftigt. Er könnte zum Beispiel auf ihm reiten lernen.“
„Aber George! Das ist doch kein Lohn, das ist eine Strafe!“
„In deinen Augen vielleicht, außerdem muss er ja auch nicht unbedingt gleich auf Black Desert damit anfangen, wenn er sich nicht traut. Aber glaub mir, der wird sich trauen, verlass dich drauf!“
Von der Bande der kleinen Koppel aus beobachtete Sattler wenig später, wie Silas seine ersten Runden drehte. Dieser Knabe besaß vielleicht nicht eben sonderlich viel Übung, dafür aber Talent, sogar unverschämt viel Talent!
Sattler nickte brummend und im Weggehen rief er Silas zu: „Wenn du willst, kannst du es das nächste Mal mit Black Desert versuchen!“
Mino-nokomis war sprachlos, doch er strahlte über das ganze Gesicht. Mensch, das war immerhin mal eine richtige Aufgabe! Denn der Gedanke daran, dieses menschenscheue, im Grunde seines Herzens vollkommen verängstigte Pferd zu reiten, ihm eines Tages vielleicht vermitteln zu können, dass es vertrauen durfte, dass die Hand, die es leitete, sicher und wohlwollend war, ja, das war eine wirkliche Herausforderung für Mino-nokomis und auch für Black Desert.
Black Desert wurde nur im äußersten Notfall geritten und dann ganz sicher nicht ohne ordentliche Sporen und einem Spatengebiss, welches dem Pferd bei nur geringfügig stärkerem Zügeldruck, mittels eines kleinen scharfen Metallplättchens über der Zunge, arge Pein bereitete und so den nötigen Gehorsam erzwang. Dies hatte unweigerlich zur Folge, dass Black Desert bereits angesichts des Zaumzeuges im höchsten Maße nervös zu werden begann, tänzelte, mit den Ohren spielte und die Zähne bleckte. Das wiederum verstärkte natürlich das unbehagliche Gefühl des Reiters, so dass sich ein unheilvoller Kreislauf bereits in Gang setzte, noch ehe das Pferd überhaupt gesattelt und aufgezäumt war.
Was Mino-nokomis dann in den folgenden Tagen mit Black Desert unternahm, hatte mit Reiten an sich nicht viel zu tun.
Er begann zunächst lediglich damit, Black Desert an einem Halfter über die kleine Koppel zu führen. Er ließ ihn grasen, wenn er wollte, tätschelte ab und zu sachte seinen Hals und sang ihm leise einige seiner seltsamen Lieder vor. Mino-nokomis sang für sich, für Black Desert und für das Leben selbst. Die Lieder flossen einfach so aus ihm heraus und er war überzeugt davon, dass es stimmte, was Winonah immer zu sagen pflegte: „Lieder sind die Sprache der Seele. Über sie vermögen die Seelen miteinander zu sprechen. Alle Seelen, die Seelen der Pflanzen genauso, wie die der Tiere und Menschen, alle verstehen sie die Sprache der Musik.“
Ruhig und gleichmäßig waren die Lieder, welche er in seinem Innersten für Black Desert fand und alles andere was er tat, war ebenso. Jede seiner Bewegungen war von angenehmer Ruhe und Vorhersehbarkeit. Folglich genoss Black Desert diese abendlichen Spaziergänge mit jedem weiteren Mal immer mehr und begann sich bereits nach einigen Tagen sichtlich zu freuen, als er Minonokomis zur gewohnten Stunde im Stall erscheinen sah.
Es dauerte noch weitere zwei Wochen ehe Mino-nokomis, einer Eingebung folgend, auf einem dieser Spaziergänge mit einem federleichten Satz auf Black Deserts Rücken sprang.
Black Desert war sich zunächst nicht ganz sicher, ob es ihm so recht gefiel, diesen Menschen plötzlich nicht mehr in seinem Blickfeld, sondern sozusagen im Nacken sitzen zu haben. Da er jedoch bereits ein gewisses Maß an Vertrauen zu Mino-nokomis gefasst hatte, der ihn ja schließlich und endlich seit Monaten schon versorgte und ihm nun auch noch diese vergnüglichen und äußerst geruhsamen Abendstunden bescherte, entschloss sich Black Desert dazu, ihn fürs Erste auf seinem Rücken zu dulden und abzuwarten, was nun als nächstes geschehen würde.
Und da partout nichts Beunruhigendes geschah, ließ er es sich auch weiterhin gefallen, dass dieser Mensch fortan auf seinem Rücken zu sitzen pflegte, zumal sein Gewicht ohnedies keine Last darstellte, erst recht nicht für ein so stattliches und kräftiges Pferd, wie Black Desert eines war. So gingen die Tage und Wochen dahin und ganz unmerklich hatte Mino-nokomis irgendwann damit begonnen, nicht mehr nur auf Black Desert zu sitzen, sondern ihn auch tatsächlich zu reiten. Erst gemächlich im Schritt hierhin und dorthin zu dirigieren, dann auch im Trab und schließlich im Galopp, alles ohne Sattel und Zaumzeug, denn beides war Black Desert verhasst und machte ihm viel zu viel Angst. Silas spürte, dass es noch eine gute Weile dauern würde, ehe Sattel und Zaumzeug für dieses Pferd vom Zeichen der Knechtschaft zu den schlichten Hilfsmitteln eines Freundes werden konnten.
Den Anfang dazu machte er, indem er eines Tages Black Desert eine leichte Satteldecke auflegte, ehe er ihn mit nach draußen nahm.
Viel später erst nahm er auch den Sattel selbst hinzu. Da Black Desert keinerlei Anstalten machte, sich über den zusätzlichen Sattel weiter aufzuregen, versuchte er kühn, Black Desert auch gleich aufzuzäumen.
Er entschied sich für eine Hackamore, welche gemeinhin zum Zureiten verwendet wurde und nicht aus Metall gefertigt war, sondern aus fest geflochtenem Hanf und zudem ohne Gebissteil auskam.
Als Silas mit der Hackamore in der Hand auf Black Desert zutrat, verriet ihm dessen Ohrenspiel sowie das leichte Tänzeln seiner Hufe deutlich die Nervosität und aufkeimende Angst des Pferdes.
Black Desert war hin und her gerissen, einerseits war er beinahe schon gewillt gewesen, diesem Menschen hier sein Vertrauen, ja mehr noch, sogar sein treues Herz zu schenken, andererseits aber war seine schlechte Erfahrung mit diesem Zaumzeug, seine unbändige Furcht vor den zu erwartenden Schmerzen beinahe übermächtig und drohte ihn zu überwältigen.
Leise drang diese beruhigende Melodie an seine Ohren, sacht strichen sanfte Hände über seine Nüstern, seinen Hals. Warm und sicher waren diese Hände, ruhig und freundlich diese leisen Töne, Zauberhände, Zaubertöne, die Kraft und Sicherheit zu geben vermochten. Abwartend und auch ein wenig überrascht gewahrte Black Desert, dass bei diesem einen Menschen hier alles möglich zu sein schien, dass alles gut und richtig war, was dieser eine hier tat. Selbst mit dem Zaumzeug hatte er keine Schmerzen!
In diesen Augenblicken brach das letzte Eis, schmolz dahin und von diesem Moment an gab es ein großes Pferdeherz, das fortan voller Wärme und Zuneigung für einen bald dreizehnjährigen Jungen zu schlagen begann.
Mino-nokomis wurde zum strahlenden Lichtblick in dem trostlosen und angstdurchsetzten Leben jenes ungeliebten und gründlich missverstandenen Arbeitstieres und Black Desert dankte es ihm mit seinem von diesem Tage an schier unerschütterlichen Vertrauen, seiner zärtlichen Liebe und treuen Ergebenheit.
Mino-nokomis hatte es in monatelangem Bemühen wahrhaftig geschafft, dass dieses große, stattliche Pferd alle Qualitäten eines prachtvollen Reit - und Arbeitspferdes hervorbrachte!
Jedoch profitierte davon niemand weiter sonst, als nur sie beide. Denn die Haltung des Pferdes den restlichen Zweibeinern gegenüber blieb vollkommen unverändert und entschieden negativ. In Erwartung des Allerübelsten, von Angst und Argwohn bestimmt, ließ Black Desert auch weiterhin keinen anderen Menschen als Mino-nokomis gerne an sich heran.
Lediglich David bekam von Black Desert gewisse Chancen eingeräumt, was natürlich einzig und allein daher kam, dass er und Mino-nokomis wie die Kletten zusammenhingen und einander so nahe waren, dass es häufig keinerlei Worte zur Verständigung der beiden brauchte.
Auch lernte David mit der Zeit besonnener und auch einfühlsamer mit sich und den ihn umgebenden Kreaturen umzugehen.
Davon profitierten bei Weitem nicht nur die Pferde, sondern auch die zahlreichen Frauen der Familie Sattler.
Mino-nokomis, geprägt durch viele, viele Monate der ausschließlichen Zweisamkeit mit Winonah, war ausgesprochen gerne mit Mädchen oder Frauen zusammen, denn der Umgang mit ihnen war seinem Innersten wesentlich vertrauter, als alles andere sonst.
Auch wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, das Werk einer Frau für geringer zu achten, als das eines Mannes, geschweige denn ihre Gedanken und Gefühle oder gar ihre Person an sich! Im Gegenteil brachte er allem Weiblichen ganz selbstverständlich seine Hochachtung entgegen, wie er es von klein auf von seiner Mutter gelernt hatte. Denn schließlich vermochte ja einzig das weibliche Wesen, gleich der Himmelsfrau, zu gebären und Leben zu schenken, entsprang ja alles Leben letztlich der guten Mutter Erde, lebte auf ihr und wurzelte fest in ihrer allumsorgenden Unergründlichkeit.
Diese positive Grundeinstellung allem Weiblichen gegenüber, in Silas‘ ungekünstelter Art dargebracht, bezauberte die gesamte Weiblichkeit der Familie Sattler in geradezu beeindruckenden Ausmaßen, so dass sich Silas in der glücklichen Lage sah, in diesem Hause ein wirklich gerne gesehener Gast zu sein.
7
Es begann eine herrliche Zeit und für Mino-nokomis zogen die vielleicht unbeschwertesten Sommer seines Lebens ins Land.
Mit Hilfe der Pferde hatten die beiden Jungen ihren Radius beträchtlich erweitert, und es kam eine Zeit, in der ihnen ein Abend ohne einen gemeinsamen ausgedehnten Ausritt schier undenkbar vorkam.
Das unbeschwerte Gefühl der Freiheit, das sich umgehend in ihren Herzen einzustellen pflegte, sobald sie dem Fluss folgend dahingaloppierten oder aber bedächtigen Schrittes durch den Wald ritten, hatte etwas Erhebendes und auch Berauschendes an sich.
Gemeinsam wurden sie dreizehn und vierzehn Jahre alt, und ehe sie es sich versahen, nahte auch schon ihr fünfzehnter Geburtstag. Es war eine Zeit gemeinsamer Phantastereien und abenteuerlicher Pläne. Die Welt schien ihnen offen zu stehen, damals mit annähernd fünfzehn Jahren, alles schien denkbar, schien irgendwie möglich zu sein! David und Silas genossen ihre gemeinsamen Stunden sehr. Vor allem aber liebten sie die Zeit der Zweisamkeit, weit weg von allen anderen. Sie liebten es, miteinander allem Ungemach dieser Welt einfach davonzugaloppieren, sei es leibhaftig oder auch nur mit ihren Gedanken. Häufig suchten sie sich ein gemütliches, verschwiegenes Plätzchen am Mississippi und versuchten sich im Angeln. Es gab dann nichts Schöneres für sie, als dem Plätschern der Wellen zu lauschen und das knisternde, flackernde Spiel der Flammen zu beobachten, in dem auf Stöcke gespießt, verheißungsvoll die frisch gefangenen Fische zu duften begannen.
Dies waren Abende, die einfach nicht lange genug sein konnten, und deren Zeit, wie zum Hohn, auch noch doppelt so schnell zu vergehen schien.
So auch an diesem lauen Sommerabend. David lauschte gerade, vom züngelnden Licht des Feuers beschienen, ganz gebannt und fasziniert einer von Silas‘ Erzählungen, welche ihn in eine andere Welt zu entführen vermochten.
Ein ums andere Mal erstaunte es David, wie gänzlich anders und auch um wie viel positiver die Rolle eines jeden Wesens in Silas‘ Geschichten beschrieben wurde, vollkommen anders als es in den Erzählungen seiner eigenen Kindheit der Fall gewesen war. Der Wolf zum Beispiel, in den meisten Erzählungen, die er selber kannte, als arglistiger Bösewicht und Menschenfeind verschrien, wurde in Silas‘ Geschichten mit einem Mal zum Bruder und Helfer des Menschen, dessen Name Myeengun stets mit Zuneigung und Ehrfurcht genannt wurde und der eines der mächtigsten Totems der Verteidigung darstellte.
Ein jedes Lebewesen hatte in jenen Geschichten Herausragendes zu bieten. So war es auch diesmal gewesen, denn in der Geschichte, die Silas gerade zum Besten gegeben hatte und in der es um nichts Geringeres als den Fortbestand der gesamten Menschheit gegangen war, hatte am Ende eine Ratte, eine kleine Wasserratte, die ganze Angelegenheit noch einmal zum Guten wenden können. Denn nur die Ratte allein verfügte über ausreichend große Entschlossenheit, das Vergebliche zu wagen, sich mit dem wilden Mut der Verzweiflung in die nötige Tat zu stürzen, so dass ihr das scheinbar Unmögliche doch noch gelingen konnte.
Wie in allen Geschichten, die Silas an solchen lauschigen Sommerabenden am knisternden Feuer zu erzählen pflegte, steckte auch in dieser eine Botschaft, die David tief in seinem Innersten berührte und Anschluss fand an seine eigene Erlebniswelt. Als kleiner Junge hatte er einmal den verzweifelten und vollkommen hoffnungslosen Kampf einer jungen Ratte mit einem der abgerichteten Dorfhunde beobachtet. Niemals würde er diese schrillen Schreie vergessen können und auch nicht den entschlossenen Kampf dieses Tieres, dessen beinahe schon aberwitzigen Angriffe auf den übermächtigen Feind, die David damals sehr erschreckt hatten. Das ganze Schauspiel hatte ihn mit entsetzlichem Grausen erfüllt und keineswegs seine Sympathie für Ratten erwecken können. Nun aber erschien ihm dieses Erlebnis plötzlich in einem anderen Licht und ein Hauch der Anerkennung, sogar der Bewunderung des verzweifelten Mutes dieses kleinen Wesens, begann ihn zu erfüllen.
„David, …“, sprach Silas in dessen Gedanken hinein, „wir sollten wohl besser zurückreiten.“
„Ach, ‘s wird ohnehin Ärger geben“, sagte David leichthin und winkte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
Es begann ihm allmählich zu Hause einfach zu eng zu werden und das tägliche Einerlei aus Arbeit und Pflichten, Nörgeleien, Vorhaltungen, Ver- und Geboten verstärkte seinen ohnedies sehr ausgeprägten Freiheitsdrang zusätzlich.
„Ja, David, vielleicht wird es Ärger geben, aber wir müssen es ja trotzdem nicht übertreiben, oder?“
David seufzte laut und vernehmlich, blickte verdrießlich in den funkelnden Sternenhimmel, rappelte sich dann aber doch hoch und sagte: „Na gut, du hast ja recht. Dann lass uns halt die Glut löschen und nach Hause reiten.“
Der Herbst ließ sich Zeit in diesem Jahr. Anfang Oktober hingen erst vereinzelt rote und gelbe Blätter an den Bäumen und der Wind wehte mild und lau über die bereits abgeernteten Felder.
Silas erschien spät an diesem Tag, viel später als gewöhnlich und war so schweigsam und geistesabwesend, wie ihn David bisher noch nie erlebt hatte. Zudem waren seine Augen verdächtig gerötete. Nachdenklich beobachtete David seinen Freund, der gerade damit beschäftigt war, Black Deserts Hufe zu säubern.
„Silas, sag‘ mal, ist irgendetwas?“
David ging einige Schritte auf Silas zu, aber dieser blickte nur einen kurzen Moment lang in das fragende Gesicht seines Freundes, um dann schweigend mit seiner Arbeit fortzufahren. Es schien David eine Ewigkeit zu dauern, ehe sein Freund sich wieder aufrichtete und ihn eine ganze Weile stumm und mit unglücklichen Augen betrachtete. Endlich begann Silas zu sprechen. Sehr leise fragte er: „Meinst du, dein Vater würde uns Black Desert verkaufen?“
Davids Augen weiteten sich und er fragte verwundert: „Was? Wie kommst du denn jetzt auf die Idee?“
„Mein Vater ist gestern Abend zurückgekommen, er …“, Silas zögerte, „er hat gesagt, wir bräuchten ein weiteres Pferd …“ Er seufzte tief, ehe er weitersprach: „Mein Vater hat gesagt, … nein …“, Silas lachte leise und bitter in sich hinein, „er hat verkündet, dass ich ihn im nächsten Frühling auf seiner Reise begleiten werde, so einfach ist das! Kein ‚möchtest du‘ oder ‚würdest du gerne‘, nein, einfach: ‚Silas, nächstes Jahr kommst du mit! Du bist dann bald sechzehn und da ist es höchste Zeit, dass du auch mal was Vernünftiges machst!‘“
Elias Morgan stattete nur wenige Tage später tatsächlich einen seiner seltenen Besuche im Ort ab.
Es war zur frühen Abendstunde, als Elias bei den Sattlers erschien, und er kam, wie das so seine wortkarge Art war, unumwunden und direkt zur Sache.
„Sattler, ich werde meinen Jungen im nächsten Jahr mitnehmen. Wir brauchen also ein zweites Pferd. Silas liegt mir damit in den Ohren, dass er kein anderes Pferd will, als deinen Schwarzen.“ Elias dunkle Augen blickten fragend unter seinem schwarzen Lederhut hervor. „Wie ist‘s? Verkaufst du ihn? Viel Glück hat er dir ja wohl nicht gebracht.“
„Nee, wahrhaftig nicht! Zum Abdecker wollte ich ihn schon mehr als einmal bringen!“
„Also?“
„Mmh.“ Sattler brummte nachdenklich. Eigentlich hätte er Morgan ohne Weiteres den störrischen Gaul als Lohn für die über Jahre geleistete Arbeit seines Sohnes geben können, aber Sattler wusste durchaus, dass gerade Menschen wie Elias Morgan, die so viel weniger besaßen als er selbst und dennoch keine Hungerleider waren, nur sehr schwer etwas anzunehmen vermochten, ohne auch dafür zu bezahlen.
Deshalb brummte Sattler nach einer Weile: „Mmh, ihr könnt den elenden Gaul ruhig haben, gerne sogar. Frag’ den Abdecker, was er derzeit für einen zähen Gaul zu bieten hat. Diesen Preis zahlst du mir dann und Black Desert gehört euch. Einverstanden?“
Mit einem Handschlag willigte Elias ein.
Als schließlich der Winter seinen Einzug hielt, mit Schneegestöber und grimmigem Frost, stand Black Desert bereits im kleinen Stall, der dem Haus des Fallenstellers angeschlossen war.
Seine Behausung war nun bei Weitem nicht mehr so hell und geräumig und dennoch war Black Desert mehr als zufrieden. Hatte er doch seinen jungen Beschützer zur Seite, verbrachte dieser doch jede seiner freien Minuten, gemeinsam mit Eshkebug, hier bei ihm im Stall.
Für Mino-nokomis war Black Desert der einzige Trost bei dem Gedanken an das kommende Frühjahr und all das, was es vielleicht noch mit sich bringen würde.
Seine Eltern aber erlebte er in diesen Tagen in einer trauten Einigkeit, wie selten zuvor.
Winonah war, seitdem ihr Mann verkündet hatte, dass er ihn mitzunehmen beabsichtige und sie somit den gesamten Frühling und Sommer über mit dem Hund alleine zurücklassen würde, wie verwandelt. Doch war sie keineswegs betrübt, wie man das vielleicht hätte erwarten können, sondern ganz im Gegenteil voller Schwung und guter Laune.
Die Aussicht darauf, dass ihr Sohn auf diese Weise sein Volk, ihre Familie endlich kennenlernen würde und zugleich weit, weit weg von den Behausungen der Weißen war, hatte sie mit neuer Kraft und Hoffnung erfüllt.
Nun endlich würde Mino-nokomis erleben, würde sehen, riechen, hören, fühlen und schmecken können, was sie ihm bisher nur hatte schildern und vermitteln können!
Zu ihrem Sohn aber sagte sie: „Die Häuser der Weißen hast du nun zur Genüge kennengelernt. Jetzt ist es an der Zeit, die Wigwam der Ojibwe, unseres Volkes, kennenzulernen. Mino ta kijah, ningozis - so ist es gut, mein Sohn -, glaube mir, kä get mino ta kijah - alles ist sehr gut!“
Mino-nokomis selber fühlte sich innerlich völlig zerrissen. Sicherlich brannte er einerseits regelrecht darauf, endlich das sehen und erleben zu können, was durch Winonah tief mit seinem Innersten verflochten war.
Gleichzeitig aber erfüllte ihn diese Aussicht auch mit einer gewissen Scheu und Ängstlichkeit. Wie würde er dort aufgenommen werden? Würde er es mit den Menschen dort genauso schwer haben, wie mit denen hier in St. Peter? Würde er womöglich auch dort jemanden finden, den er seinen Freund würde nennen können?
Zu diesen widerstreitenden Fragen und Gefühlen gesellten sich obendrein noch zwei weitere, nicht minder aufwühlende Emotionen hinzu und das waren tiefe Zweifel und ein Gefühl beinahe unbändiger Trauer.
Größte Zweifel hegte er bezüglich des Vorhabens seines Vaters, ihn fortan im Beruf des Fallenstellers und Fellhändlers zu unterweisen, denn er hatte eine ziemlich realistische Vorstellung von dem, was da auf ihn zukommen würde und diese Vorstellung erfüllte ihn keineswegs mit Zuversicht oder gar Vorfreude.
Ja, und dann war da dieses tieftraurige Gefühl bei dem Gedanken daran, seine Mutter, Eshkebug und David bald auf viele Monate nicht mehr sehen zu können.
Es war an einem späten Vormittag Mitte März, als David die Stalltür öffnete und das Halbdunkel des bescheidenen Stalles betrat. „Hallo Silas!“ David versuchte möglichst heiter und unbeschwert zu klingen. Es war seltsam, aber je näher dieser verfluchte März gekommen war, desto heiterer war sein Gruß geworden, sein ganzes Gehabe, dabei wurde ihm beträchtlich schwer ums Herz und bange auch zumute, vor einem Frühling, der keinen Reiz zu haben schien und erbarmungslos von einem ebensolchen Sommer abgelöst werden würde.
David ging neben Silas in die Hocke und richtete seinen Blick auf die zwei Tiere, die friedlich miteinander im Stall standen.
„Mann, das ist echt ein Ding mit den beiden! Ich hätte wirklich nie geglaubt, dass Black Desert mit einem anderen Pferd so friedlich zusammen gehalten werden könnte.“
„Ja, nicht wahr?“
Nachdenklich betrachtete David den Freund, der seinen Blick erneut den friedlich beieinander stehenden Pferden zugewandt hatte.
Ein Gesprächsfetzen, vor einigen Tagen im Laden der Eltern bei der Kundschaft aufgeschnappt, ging ihm durch den Kopf.
Zwei Kunden, Mrs. Lancy und Mr. Wright, hatten sich mal wieder laut und vernehmlich über Silas ausgelassen und Mr. Wright hatte von sich gegeben, dass seiner Meinung nach dieser „Knabe“ am besten zur Gänze dort oben bei den anderen Rothäuten bleiben sollte und seine Mutter anständigerweise gleich mitnehmen könnte. Mrs. Lancy hatte ihm entschieden zugestimmt und bestätigend hinzugefügt, dass man diesem Jungen den Ort, wo er hingehöre, nämlich die Wildnis, unschwer schon auf den ersten Blick ansehen könne. Er habe einfach rein gar nichts von einem Weißen.
Nun blickte David forschend in das Gesicht des Freundes, zerlegte dessen Gesichtszüge zum ersten Mal bewusst in weiße und rote Anteile.
Silas‘ Gesicht war deutlich schmaler als das seiner Mutter, das hatte er vom Vater, eindeutig, doch die Wangenknochen standen genauso hoch und seine Haut war beinahe genauso dunkel, nur eine Nuance heller als die ihre. Auch seine Augen hatten denselben katzenhaften Schwung nach oben, dasselbe tiefe Dunkelbraun, beinahe schon Schwarz, genauso wie seine Haare ebenso glatt, schwarz und bläulich glänzend waren wie Winonahs Haar. Das Haar von Silas‘ Vater hingegen war wesentlich heller, haselnussbraun und gelockt.
‚Ja“, dachte David, „vielleicht hat dieser alte Idiot im Laden insoweit tatsächlich recht, dass Silas seiner Mutter verdammt viel ähnlicher sieht, als seinem Vater. Und er ist ihr auch sonst viel ähnlicher als ihm, in allem, das stimmt schon, aber was ist eigentlich so verkehrt daran? Er gehört doch trotzdem hierher, oder?“
Ein beängstigender Gedanke überkam David. Hoffentlich würde sich Silas am Ende nicht umbesinnen und tatsächlich einfach dort oben im Norden bleiben! Dieser Gedanke war David so urplötzlich gekommen und hatte ihn in diesem Augenblick derart erschreckt, dass er ihn umgehend wieder loswerden musste.
„Du kommst doch aber bestimmt wieder zurück, Silas?! Ich mein, auch wenn es dir dort oben wirklich gefällt. Nicht wahr?“
Silas blickte David direkt und unumwunden in das helle Blau seiner Augen und legte mit einem freundlichen Lächeln seine Hand sanft und warm auf dessen Arm.
„Natürlich, komme ich zurück! Ach, David, ich wollte, es wäre schon so weit! Glaub mir, ich will nicht weg! Je näher der Zeitpunkt rückt, desto weniger kann ich mir das Ganze überhaupt vorstellen.“
8
Es war noch sehr früh am Morgen, die Sonne schickte eben gerade die ersten Strahlen des Tages gen Erde und begann, die über dem Fluss schwebenden Nebelschleier in sanftes Rosa zu tauchen.
Schweigend ritt Silas hinter seinem Vater her. In Gedanken ging ihm der vergangene Tag durch den Kopf.
Noch einmal war er bei den Sattlers zu Besuch gewesen. Er hatte sich von David und der ganzen Familie verabschieden wollen. Es hatte so wohlgetan, noch einmal dort gewesen zu sein, in diesem lichten, hellen Holzhaus, in dem es immer nach Bohnerwachs und Backwerk zu duften schien.
Silas liebte dieses Sammelsurium an Gerüchen, genauso wie er das leise Klingeln der Ladenglöckchen liebte und beides war ihm noch nie so deutlich zu Bewusstsein gekommen wie nun in diesem Augenblick, da er im Begriff war, sich von all dem und noch viel mehr, das ihm ans Herz gewachsen war, zu entfernen.
Wieder glitten seine Gedanken zum vergangenen Tag zurück.
Mary Sattler hatte ihn tatsächlich fest und herzlich an ihren üppigen Busen gedrückt und ein ums andere Mal „Pass nur gut auf dich auf, mein Junge!“ geseufzt und ihn mit dieser Herzlichkeit überrascht und mehr noch erfreut. „Mein Junge“, das hieß doch, dass er tatsächlich dazugehörte!
Ruth hatte ihn an diesem Tag beiseite gezogen und ihm einen wunderschönen, türkisblauen Stein gezeigt.
„Schau mal, Silas!“ Mit einem erwartungsvollen Lächeln streckte sie ihm ihre rechte Hand entgegen. „Nimm ihn ruhig! Ist er nicht wunderschön? Mein Vater hat ihn in einer der Handelsstationen gekauft. Der Stein heißt genauso, wie er aussieht.“ Sie lächelte zufrieden. „Es ist ein Türkis und, also lach jetzt bitte nicht, aber er soll angeblich den beschützen, der ihn bei sich trägt.“
„Warum sollte ich da lachen, Ruth? Der Stein ist wirklich wunderschön und ich hoffe, dass er dich sehr gut beschützen möge.“
Silas machte Anstalten, den Stein zurück in Ruth‘ Hand zu legen, doch sie wehrte entschieden ab und sagte: „Nein, Silas, ich möchte, dass du ihn mitnimmst. Ich denke, du brauchst ihn ganz gewiss dringender, als ich hier in St. Peter!“
Ruth‘ Gesicht erschien vor Silas innerem Auge und verschwamm ganz allmählich mit den geliebten Zügen seines Freundes. Ruth sah David unglaublich ähnlich, sie sah ihm weitaus ähnlicher, als ihrer Zwillingsschwester Sharon, die das Kraushaar des Vaters geerbt hatte. Ruth hingegen hatte ebenso seidiges, blondes Haar wie David.
„Silas, …“
Silas schreckte aus seinen Gedanken hoch, sein Vater blickte ihn an und wies mit seiner rechten Hand den Flusslauf entlang.
„Wir werden dem Fluss noch mindestens diesen und den nächsten Tag folgen. Am Abend werden wir jedes Mal in der nächstgelegenen Siedlung haltmachen und nach einem anständigen Bett Ausschau halten. Dann geht’s weiter in nordöstliche Richtung, so direkt wie möglich auf die Großen Seen zu.“
Morgan sah seinen Sohn aufmunternd an: „Na, nun mach doch nicht so ein Gesicht.“
Silas hatte seinem Vater durchaus zugehört und doch auch wieder nicht. Seine Gedanken waren wie Vögel in einem Käfig hin und her geflattert. Nun aber versuchte er sich bewusst zu konzentrieren und blickte seinem jetzt neben ihm reitenden Vater in das abwartende Gesicht.
„Wie groß sind die Großen Seen, Nimbaabaa?“
„Oh, sie sind unbeschreiblich groß, man kann von dem einen Ufer das andere nicht mehr sehen. Und sie sind wunderschön, erhaben und wild, Silas, das lässt sich einfach nicht in Worte fassen, du wirst es selber sehen.“
Eine Weile ritten sie erneut schweigend nebeneinander her, bis Elias zum zweiten Mal versuchte, die Stille zwischen ihnen zu brechen.
„Wir werden, sobald wir die Seen erreicht haben, mit dem Kanu weiterreisen.“
„Mit dem Kanu?“ Fassungslos sah Silas seinen Vater an, „Und die Pferde? Was ist mit den Pferden?! Und was für ein Kanu überhaupt?!“
Beschwichtigend hob Morgan seine Hand und sagte: „Am unteren Abschnitt des Gitchi Gami gibt es eine kleine Bucht, an der ein guter Freund von mir sein Blockhaus errichtet hat. Ich mache auf meiner Reise immer Station bei ihm, Sam heißt er übrigens. Ich besuche ihn in jedem Jahr für einige Tage und habe bei ihm auch mein Kanu untergestellt. Wenn wir bei Sam ankommen, werden wir uns ein Weilchen ausruhen und erholen können. Dann erst geht es mit dem Kanu weiter. Sam wird sich solange wir weg sind um die Pferde kümmern und er wird es ganz gewiss hervorragend tun.“
Silas antwortete eine ganze Weile nichts, doch in ihm rasten die Gedanken und das Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf. Verzweifelt krampften sich seine Hände um die Zügel.
„Ich werde Black Desert nicht alleine lassen!“
„Was hast du gesagt?“ Die Stimme des Vaters hatte einen drohenden Unterton.
Silas wiederholte seinen Satz noch einmal, diesmal aber überdeutlich Wort für Wort betonend: „Ich werde Black Desert nicht alleine lassen!“ Fest und entschlossen sah er seinen Vater an.
„Oh doch, das wirst du, mein Sohn, ganz gewiss sogar!“
„Oh nein, Nimbaabaa, das werde ich ganz gewiss nicht. Ich habe Black Desert versprochen, ihn niemals in fremde Hände zu geben und ich werde es auch nicht!“ Silas hatte diese Worte leise, doch mit Bestimmtheit gesprochen und mit einem aufbegehrenden Unterton, der dem Vater ganz und gar nicht gefiel.
„Nimbaabaa, ich habe wegen dem Ganzen hier mein Versprechen an Eshkebug nicht halten können, aber bei ihr weiß ich wenigstens, dass sie bei Winonah in besten Händen ist und zudem in ihrer vertrauten Umgebung. Aber Black Desert wird nicht in seiner vertrauten Umgebung sein und dieser Sam ist ein Fremder für mich und auch für ihn.“
Nun platzte Elias, der sich bis dahin mühsam beherrscht hatte, endgültig der Kragen: „Sag‘ mal, bist du noch zu retten?! Du schwafelst hier von Treueschwüren an einen Hund und ein Pferd! Ich fass es nicht! Aber ich will dir mal was sagen und das ein für alle Mal! Wir zwei befinden uns hier nicht auf einem Vergnügungsritt, sondern auf dem direkten Weg in die Wildnis und du wirst genau das tun, hörst du, ganz genaus das, was ich dir sage!“
Morgan war einigermaßen ruhig geblieben, doch seine Stimme hatte jenen schneidend scharfen Klang, den Silas nur allzu gut kannte. Er wusste, dass es seinem Vater absolut ernst damit war und zudem jener Augenblick erreicht, der jeden Widerspruch, jeden Einwand zwecklos, ja sogar äußerst riskant werden ließ. Und dennoch versuchte es Silas ein weiteres Mal, wobei er mühsam das Beben seiner Stimme, ebenso wie die aufsteigenden Tränen, zu unterdrücken versuchte.
„Nimbaabaa, bitte! Du weißt doch genau, dass sich Black Desert von niemandem richtig versorgen lässt, nur von mir und reiten kann ihn sowieso kein anderer! Nimbaabaa! Black Desert wird vor die Hunde gehen, wenn ich ihn einfach irgendwo alleine lasse! Ich hätte ihn niemals mitgenommen, wenn ich gewusst …“
„Jetzt ist aber Schluss!“
Elias hatte sein Pferd abrupt zum Stehen gebracht und sich Black Deserts Zügel gegriffen, so dass auch dieser zum Stillstand gezwungen war. Fest und entschlossen sah er in das Gesicht seines Sohnes und stellte mit äußerster Missbilligung fest, dass Silas nicht nur verstockt und verschlossen an ihm vorbeiblickte, sondern zur Krönung des ganzen Theaters auch noch Tränen in den Augen hatte.
„Sieh mich verdammt noch mal an, Silas!“
Silas zog geräuschvoll die Nase hoch und wendete dann mit sichtbarem Widerwillen sein Gesicht dem Vater zu.
„Silas, wir können und wir werden die Pferde nicht mitnehmen! Punkt, aus, fertig!“
Der Tonfall des Vaters bekam zusehends eine aggressive und auch verächtliche Färbung. „Ich hab‘ dich wahrhaftig viel zu lange mit deiner Mutter alleine gelassen! Mein Gott! Heult fast wegen einem Gaul, für den nicht mehr verlangt werden kann, als der Abdecker bezahlt! Wo gibt’s denn so was! Aber Silas, eins sag ich dir!“ Morgan fixierte seinen Sohn mit einem eisigen Blick, doch Silas hielt diesem tapfer und trotzig stand. „Wenn du auf die Idee kommen solltest, hier einfach umzudrehen, um zu Mamas Rockzipfel zurückzureiten, dann muss ich dich leider enttäuschen. Denn, Silas, wenn du das zu tun versuchst, dann brauchst du in meinem Haus niemals wieder aufzutauchen, niemals! Hörst du, Silas?! Denn dann bist du für mich gestorben, für alle Zeit!“
Ohne ein weiteres Wort ließ Elias Black Deserts Zügel los und ritt weiter, ohne sich auch nur einmal noch nach seinem Sohn umzusehen.
Silas, der ganz genau jenen besagten Gedanken gehegt hatte, schwieg. Was sollte er auch weiter sagen oder tun? Ohnmächtige Wut erfüllte ihn und eine beinahe überwältigende Enttäuschung über den Vater und mehr noch über sich selbst.
Es lag auf der Hand, er würde wieder einmal klein beigeben.
In diesen Augenblicken fühlte sich Silas so winzig klein und so erbärmlich wie selten zuvor.
Schweigsam ritten sie die sanften Windungen des Mississippi entlang und hatten beide doch kaum einen Blick für die wunderschöne, von sanften Hügeln durchzogene Landschaft, deren zahlreiche Bäume und Sträucher im ersten zarten Frühlingsgrün das Auge zu umschmeicheln suchten.
Die Ortschaft, welche sie am späten Abend dann erreichten, war im Vergleich zu St. Peter bedeutend kleiner, schäbiger und vor allem auch weitaus dreckiger. Zielsicher steuerte Elias Morgan einen Saloon an, an dessen Tür ein Schild versprach, dass noch Zimmer, angeblich sauber und günstig, zu haben wären.
Silas bestand darauf, sein Pferd selbst zu versorgen und bat seinen Vater, danach zu Bett gehen zu dürfen.
„Nur, wenn du vorher was Ordentliches isst.“
Morgan versuchte, seiner Stimme etwas Versöhnliches zu geben, doch Silas, der dies wohl bemerkte, ging nicht weiter darauf ein, nickte lediglich kurz, ohne den Vater dabei auch nur eines Blickes zu würdigen und begab sich eiligst zu Black Desert in den Stall.
Es dauerte einige Zeit bis er sich dann zu seinem bereits essenden Vater an den Tisch setzte. Silas bekam kaum einen Bissen hinunter und mit seinem Vater sprach er an diesem Abend kein Wort.
Als er sich endlich in ein Bett verkriechen konnte, hüllte sich Silas in seine wunderschöne, warm und dicht gewebte dreieckige Decke ein und dachte voller Sehnsucht und Wehmut an Winonah.
Er sah sie wieder vor sich, wie sie an diesem frühen Morgen vor dem Haus gestanden hatte, leicht zitternd in der morgendlichen Kälte. Der im Gras hängende Morgentau hatte auf ihren Mokassins nasse Flecken hinterlassen.
All das sah Silas wieder vor sich. Voller Zärtlichkeit und Zuversicht hatte ihn Winonah noch einmal fest in ihre Arme geschlossen und ihm dann feierlich diese dreieckige, reich verzierte Decke geschenkt, die einen jeden Knaben der Ojibwe symbolisch in den Stand eines jungen, wenn auch noch keineswegs vollwertigen, Mannes erhob.
Jene dreieckige, also gewissermaßen halbierte Decke symbolisierte die schon zur Hälfte vonstatten gegangene Abnabelung. Sie bedeutete einerseits, dass der stolze Besitzer jener Decke fortan nicht mehr als Kind zu betrachten war und unabhängig und frei über sein Leben entscheiden durfte, ja sogar seinen eigenen Hausstand zu gründen vermochte. Aber genauso symbolisierte diese Decke auch den immerwährenden Fortbestand der innigen Verbindung, der Liebe zwischen Mutter und Sohn, deren ihr Besitzer ebenso bedurfte, wie er noch den Schutz seiner Familie zum Überleben brauchte und jederzeit ein Recht darauf hatte, warm und liebevoll von den Seinen umfangen zu werden. Dankbar kuschelte sich Silas in jene Decke und schnupperte hoffnungsvoll an ihr, von dem Wunsch beseelt, einen Hauch von Winonahs zartem Duft an ihr wahrnehmen zu können. Leider roch er jedoch nichts weiter als den warmen Geruch der Wolle und war darüber derart enttäuscht, dass es ihm nur mit Mühe gelang nicht laut aufzuschluchzen.
Fast unmerklich hatte sich die Landschaft um sie herum zu verändern begonnen.
Seit sie die fruchtbaren Ufer des Mississippi verlassen und sich immer weiter in nordöstliche Richtung vorwärts bewegt hatten, begann der Boden zunehmend feuchter zu werden, streckenweise sogar sumpfig und von zahlreichen kleinen Wasserläufen durchzogen. Niedrige Felsformationen erhoben sich aus dem Erdboden, hin und wieder mit einigen Bäumen bewachsen. Vornehmlich handelte es sich dabei um flach wurzelnde Nadelhölzer, wie Zypressen oder Balsamtannen. Die mächtigen Waldabschnitte, die sie auf ihrer Reise durchquerten, gewannen merklich an Dichte und Größe und waren reich an Wild und vielfältiger Vegetation, von zahlreichen Bächen und kleineren Seen durchsetzt.
Die vergangenen Tage waren an Silas gleich einem unwirklichen und bösen Traum vorübergezogen. Zwar hatten er und sein Vater wieder begonnen, vereinzelte und weitgehend belanglose und möglichst unverfängliche Sätze miteinander zu wechseln, doch täuschte dies keinen von beiden über das hinweg, was zwischen ihnen geschehen war.
Elias spürte, dass er seinen Sohn zwar dieses eine Mal noch in seiner Gewalt zu halten vermochte, dass es ihm dieses eine Mal noch gelungen war, seine väterliche Macht auszuspielen und den Sohn dazu zu zwingen, gegen seinen Willen und seine Überzeugung zu handeln. Doch Elias ahnte ebenso, dass ihm dies womöglich zum letzten Mal gelungen sein könnte und dass der Preis für dieses eine letzte Mal vielleicht in keinerlei Verhältnis zu dem zu erwartenden Gewinn stehen würde.
Deutlich spürbar hatten die ohnehin zwischen ihnen nur bruchstückhaften Bande Schaden genommen und Elias hoffte inständig, dass dieser Schaden doch noch zu beheben sei.
Genau genommen hatte er es niemals auch nur annähernd geschafft, mit seinem Sohn wirklich vertraut zu werden, von Anfang an war das schon so gewesen.
Als ganz kleines Kind bereits hatte sich Silas stets scheu von ihm abgewandt und sich schutzsuchend an die Beine seiner Mutter geklammert, wenn er sich nicht gleich ganz hinter ihnen versteckt hatte. Sogar als Baby hatte er stets zu weinen begonnen, wenn ihn Elias einmal hochnehmen wollte, was zugegebenermaßen selten genug vorgekommen war. Er hatte mit diesem schreienden, kleinen Menschenbündel einfach nichts Rechtes anfangen können.
Später dann hatte er feststellen müssen, dass ihm sein Sohn weiterhin fremd geblieben war und zudem war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass dieser mit seiner Mutter eine umso engere Verbindung eingegangen war.
Silas hatte mit seiner Mutter über viele Jahre in derartig verwobener Einheit gelebt, dass es Elias schon manches Mal richtiggehend unheimlich geworden war. Und alles, was er seither unternommen hatte, um seinen Sohn doch noch nahe zu kommen, hatte stets nur das Gegenteil davon bewirkt. Genau wie dieses Mal.
Elias hatte so sehr darauf gehofft, dass diese gemeinsame Reise Silas und ihn verbinden würde. Doch das glatte Gegenteil schien nun der Fall zu sein und Elias hatte weder eine Ahnung, was er jetzt daran noch ändern könnte, noch verstand er so recht, was in seinem Sohn wohl vorging und was das ganze Theater mit dem alten Pferd überhaupt sollte. Trotzdem versuchte er es noch einmal und sagte betont geduldig und freundlich zu ihm: „Silas, glaub mir, Sam ist im Umgang mit Pferden wirklich erfahren. Du musst dir keine Sorgen machen.“
Silas antwortete nicht und ritt an seinem Vater vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen.
Als sie Stunden später im Windschatten einer niedrigen, von einigen Bäumen umsäumten Felsformation das Lager für die Nacht errichtet hatten, saßen sie immer noch schweigsam beisammen am Feuer.
Elias blickte mit gerunzelter Stirn auf seinen Sohn. Silas schien seine ganze Aufmerksamkeit auf das knisternde, züngelnde Flammenspiel gerichtet zu haben. Der Schein des Feuers gab seiner Haut einen rotgoldenen Schimmer, die dunklen Augen blickten unergründlich und versunken in das flackernde Licht, während seine schlanke Gestalt scheinbar in vollkommener Gelassenheit in sich zu ruhen schien. Die schwarzen Haare waren schon mehr als schulterlang.
Ein paar Haarsträhnen fielen ihm in das feingeschnittene Gesicht und Silas wischte sie mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite. Ohne seinen Vater anzusehen, fragte er leise und zu dessen vollkommener Überraschung in die Stille hinein: „Warum sind wir dann nicht gleich mit dem Boot los? Es gibt hier so viele Bäche und Seen, wir hätten die Pferde doch überhaupt nicht gebraucht!“
Elias widerstand gerade noch dem Impuls, Silas entnervt entgegenzuschleudern, dass er das Wort „Pferd“ aus seinem Mund nicht mehr hören wolle und zwar für alle Zeit. Denn ihm war durchaus bewusst, dass die Frage seines Sohnes, bedeutete sie einerseits auch erneute Auseinandersetzungen, doch auch gleichbedeutend einer zum Frieden gereichten Hand zu verstehen war. „Ja, sicher, wir hätten im Prinzip auch gleich mit dem Kanu aufbrechen können, doch hätte es immer wieder ganz ordentliche Strecken gegeben, die wir zu Fuß hätten zurücklegen müssen und glaub mir, ein Kanu nebst Proviant und Gepäck zu schleppen ist nicht gerade die wahre Freude! Ich hab mir da weiter keine Gedanken gemacht, ich hab‘s immer so gehalten und sehe auch keinen Grund, es diesmal anders zu machen.“
Erneut herrschte drückende Stille, die erst einige Minuten später von Silas durchbrochen wurde: „Nimbaabaa, …“ Zum ersten Mal seit Tagen sah er seinem Vater offen in die Augen. „Ich weiß nicht, ob du mich verstehen wirst, aber ich …“, nachdenklich blickte Silas in den sternenübersäten Himmel, „ich habe bisher wirklich nicht viele Menschen für mich gewinnen können, aber ich habe dennoch ein paar wenige, dafür aber umso wertvollere Freunde gefunden. Freunde, Nimbaabaa, deren ganzes Wohlwollen auf meiner Seite steht, die mich so lieben und achten, wie ich bin. Diese Freunde bedeuten mir unendlich viel. Verstehst du das?“ Silas unterbrach seinen plötzlichen Redefluss für einen kurzen Augenblick, verzog unglücklich das Gesicht und seufzte leise: „Ich habe alle zurückgelassen, alle meine Freunde und alle die mir lieb und teuer sind, um mit dir zu gehen, alle außer Black Desert und nun soll ich ihn irgendwo …“
„Nicht irgendwo, bei Sam, das ist nicht irgendwo!“
„… soll ich ihn irgendwo bei einem Sam, den ich gar nicht kenne, lassen“, vollendete Silas unbeirrt seinen Satz.
„Aber es sind doch nur ein paar Wochen!“, wandte Elias ein.
„Ein paar Wochen können eine Ewigkeit sein.“
Silas hatte, noch während er diese Worte sprach, den Blick bereits wieder dem nun schon deutlich niedriger brennenden Feuer zugewandt.
Elias spürte, dass sein Sohn ihm erneut zu entgleiten drohte und beeilte sich etwas zu sagen: „Aber sie gehen vorüber.“
„Warum können wir denn nicht mit den Pferden um die Seen herumreiten?“
„Das ist gefährlicher, beschwerlicher und langsamer, alles was du willst! Silas, ich selber ziehe das Pferd dem Kanu immer vor! Aber je weiter nördlich wir kommen werden, desto schwieriger wird der Weg zu Pferde sein, glaube mir!“
Elias stockte, deutlich fühlte er, dass seine Erklärungen Silas nicht wirklich erreichten. Verflucht noch mal! Er wollte ihn aber erreichen!
Dies hier war schließlich sein Sohn, sein einziges Kind und dies hier war vielleicht die letzte Gelegenheit! Bloß, wie sollte er sie um Himmels Willen nutzen?! So wie es jetzt war, konnte und durfte es nicht weitergehen, auf keinen Fall! Jeder weitere von Abgrenzung und kargem Wortwechsel erfüllte Tag würde die Mauer zwischen ihnen weiter verfestigen, bis man sich schließlich eines Tages am Ende sogar an sie gewöhnt hatte.
„Silas, …“ Elias hielt inne, denn was er nun ausdrücken wollte, ging ihm nur ungeheuer schwer über die Lippen. Er war es überhaupt nicht gewohnt, seine Gefühle in Worte zu kleiden und entsprechend ungeübt und unsicher war er darin. „Silas, ich habe mir gewünscht, sehr sogar, dass wir uns auf dieser Reise ein wenig besser kennenlernen würden und ich, weißt du, du bist doch schließlich mein Sohn und …“ Elias lachte ein leises, trauriges Lachen. „Ich denke oft, wir sind uns so fremd. Ich hatte gehofft, das würde sich vielleicht ändern können und nun, tja, …“ Er schnaubte bedauernd und zuckte ratlos mit den Schultern.
Die Unsicherheit und Wärme in Elias‘ Worten hatten Silas veranlasst, erneut und überrascht das Gesicht seines Vaters zu betrachten.
„Gibt es denn keine Möglichkeit?“, fragte er ihn schließlich.
Elias seufzte und sagte mit bemühter Geduld: „Es gibt natürlich immer irgendeine Möglichkeit, es ist nur die Frage, ob es eine gute Möglichkeit ist.“ Er überlegte einen Moment und sagte dann schließlich: „Hör mal, Silas, ich mache dir einen Vorschlag. Wir reiten gemeinsam zu Sam und bleiben eine ganze Woche dort. Du kannst dich in dieser Zeit ausgiebig davon überzeugen, dass es Black Desert bei ihm wirklich gut gehen wird.“
„Und was ist, wenn ich mich davon nicht überzeugen kann? Was ist, wenn ich denke, dass es Black Desert dort nicht gut gehen wird?“
„Ich weiß es wirklich nicht. Entweder bleibst du dann bei ihm und Sam oder wir reiten eben mit den Pferden weiter, obwohl das tatsächlich eine Dummheit wäre!“
Silas antwortete nicht, er nickte nur, doch seine Augen strahlten bedeutend wärmer noch, als die Glut des nun bald heruntergebrannten Feuers.
9
Der Tag war noch jung, als Elias nachdenklich am Ufer eines kleinen Sees stand und auf die Morgennebel schaute, die sanft und leicht über dem Wasser zu tanzen schienen.
Obwohl der Frühling nun schon beträchtlich weit fortgeschritten war, war es hier oben immer noch empfindlich kalt, vor allen Dingen des Nachts und am frühen Morgen.
Fröstelnd verschränkte Elias seine Arme vor dem Körper, ein Kälteschauer durchfuhr ihn. Er entschloss sich, ein Feuer zu entfachen und darüber so etwas Ähnliches wie Kaffee zu kochen. Silas schlief noch. Der Junge konnte einfach überall schlafen, wie ein Stein. Ein glückliches, zufriedenes Lächeln umspielte Elias‘ Lippen. Sie waren bereits ein beträchtliches Stück vorangekommen auf ihrem Weg und das durchaus im doppelten Sinne. Die letzten drei Wochen mit Silas kamen ihm vor wie ein Geschenk, eine überraschend dargebotene Kostbarkeit, so wertvoll und belebend, wie er es nicht zu hoffen gewagt hatte.
Gemeinsam waren sie in immer tiefere Wildnis geritten und hatten über viele Tage schon keinen anderen Menschen mehr gesehen. Den größten Teil ihres mitgeführten Proviants hatten sie bereits aufgebraucht und lebten deshalb schon seit einigen Tagen fast ausschließlich vom Fischfang und von der Jagd.
Der schier unendlich scheinende Wald in diesem Landstrich bestand sowohl aus Ahornbäumen und gewaltigen Kiefern, als auch aus den zum Teil beachtlich großen und mächtigen Hemlocktannen, aber auch Birken und Erlen, Fichten und Zypressen und vereinzelte Haselnusssträucher prägten das sich ihnen bietende Bild.
Die Gegend hier war durchaus artenreich, hier lebte Rotwild verschiedenster Art und auch das scheue Waldkaribu. Es gab Wölfe, Bären und Luchse und an den zahlreichen Bächen und Wasserläufen tummelten sich die Waschbären und Biber, wobei letztere regelmäßig durch ihre Staudämme auf sich aufmerksam machten.
Wenn auch das Wild einem nicht gerade vor der Flinte herumzutanzen pflegte, sondern sich bisweilen sogar ziemlich rar machte, so hatte Elias dennoch in schöner Regelmäßigkeit die Gelegenheit gehabt, seinem Sohn sein vielseitiges Wissen zu vermitteln. Elias hatte Silas beigebracht, wie er schnell und ohne allzu viel Aufwand ein trockenes Nachtlager, einen kleinen Wigwam errichten konnte, ebenso wie er ihn fortwährend im zielsicheren Gebrauch des Gewehres unterwies und auch im Fallenstellen und im Häuten und Zerlegen der Beute und in dem was sonst noch notwendig war, um das Fell der erbeuteten Tiere haltbar zu machen oder zum Gerben vorzubereiten. Was allerdings das Fährtenlesen betraf, so merkte Elias sehr schnell, dass ihm Silas darin von vornherein deutlich überlegen war und auch das Heranpirschen, diese atemlose, angespannte und äußerste Konzentration erfordernde Kunst, beherrschte Silas weit besser.
Die meisten der Fertigkeiten, die Elias Morgan seinem Sohn weiterzugeben vermochte, hatte er seinerseits von den Indianern, vornehmlich in den Lagern der Ojibwe, gelernt.
Elias registrierte, einerseits mit tiefer Zufriedenheit und andererseits aber auch mit einiger Verwunderung, dass all dies, was er sich einstmals mühselig angeeignet hatte, seinem Sohn einfach zuflog. Die Jagd schien Silas im Blut zu liegen, und das obschon sein Wesen für Elias teilweise geradezu befremdlich sanft und sensibel war und unverkennbar jedes Mal ein Teil seiner Seele zu bluten schien, wenn er ein Tier tötete. Es gab keinen Zweifel daran, dass Silas an der Jagd lediglich eines genoss und das war, der Fährte eines Tieres zu folgen, sich unbemerkt an dieses Tier heranzupirschen, um es hernach aus dem Verborgenen heraus beobachten und bewundern zu können. Der Rest war für ihn nur eine notwendige und grausame Pflicht. Doch wenn es nun einmal nötig war, tötete Silas ohne zu zögern, sicher und schnell. Den Vater in Elias erfüllten diese Fähigkeiten seines Sohnes mit beträchtlichem Stolz, den Trapper und Fallensteller in ihm aber mit dem beruhigenden Gefühl, in Silas eine wirklich entlastende, tatkräftige Unterstützung zur Seite zu haben.
Doch dies alles war noch immer nicht das Wesentliche für Elias, was ihm solche Freude bereitete. Das Wesentliche ging weit darüber hinaus und bestand darin, dass sie beide tatsächlich im Begriff waren, diese gemeinsame Zeit zu genießen und sie sich auf eine Art partnerschaftliches Miteinander zu einigen vermocht hatten. Nach und nach hatte Elias gemerkt, dass er anscheinend damals am Lagerfeuer, mit der ungelenken Offenlegung seiner eigenen Hilflosigkeit vermocht hatte, was ihm vordem trotz all seiner Bemühungen nicht recht gelungen war.
Auf jeden Fall hatte sein Sohn von diesem Abend an tatsächlich damit begonnen, nun seinerseits die Luken zu öffnen und Elias infolge dessen mit reichlich vielen und zum Teil auch sehr unbequemen Fragen zu überhäufen. Eine Frage der besonders unangenehmen Sorte war jene gewesen, die ihm Silas kurz vor dem Schlafengehen am vergangenen Abend gestellt hatte: „Warum hast du Nimaamaa eigentlich von ihren Leuten und ihrem Zuhause weggeholt? Sie hätte doch auch bei den Ojibwe bleiben können. Ich glaube, das hätte sie viel glücklicher gemacht.“
Beschämt hatte Elias feststellen müssen, dass es nichts weiter als der blanke Eigennutz gewesen war, der ihn dazu gebracht hatte, Winonah mit in sein Holzhaus zu nehmen, da er die Winter nicht in der Kälte der Indianerdörfer verbringen wollte. Auch liebte er die Landschaft am Mississippi und wollte sich nicht zur Gänze von dem Ort seiner Kindheit und Jugend verabschieden.
Doch das hatte er sich Silas gegenüber wohlweislich nicht so direkt zu sagen gewagt und so war seine Antwort denkbar kurz und oberflächlich ausgefallen. Dennoch hallte das Gespräch in seinen Gedanken noch lange Zeit nach. An Winonah, an das, was sie selbst vielleicht gewollt oder nicht gewollt hatte, hatte er damals eigentlich kaum einen Gedanken verschwendet und das wurde ihm nun zum ersten Mal bewusst.
Er begann so ganz allmählich zu erahnen, was er damit seiner Frau wohl angetan haben mochte, ja, sogar immer noch antat. Er begann nun auf dieser Reise, an der Seite seines Sohnes, gewahr zu werden, dass echtes, wahrhaftes Miteinander nur auf einer gleichberechtigten Ebene entstehen konnte und nur durch die Achtung des anderen und seiner Grenzen sich dieses Miteinander mit wirklicher Nähe und liebevoller Wärme füllen ließ.
Silas kam gerade aus dem kleinen Wigwam heraus und gähnte. Verschlafen rieb er sich die Augen und zog fröstelnd seine umgehängte Dreiecksdecke zusammen.
„Morgen, Nimbaabaa!“ Verschlafen lächelte Silas seinen Vater an. Der schenkte ihm einen Becher dampfenden Kaffee ein und reichte ihn Silas mit den Worten: „Morgen, mein Junge! Wenn wir heute wieder so gut vorankommen, schaffen wir es vielleicht, am späten Nachmittag bei Sam zu sein.“
„Woher kennst du ihn eigentlich?“
„Oh, ich kenne Sam schon verdammt lange. Wir zwei sind viele Jahre gemeinsam durch die Wälder gezogen. Ich denke, er ist für mich wahrscheinlich so in etwa dasselbe, was David für dich ist. Einer, der irgendwie zu einem gehört, der einen kennt und versteht, bei dem es egal ist, wie lange man sich nicht sieht oder wie weit weg der andere gerade ist, weil man immer genau da wieder anfangen kann, wo man das letzte Mal aufgehört hat.“ Mit einem Lächeln im Gesicht schüttelte Elias seinen Lockenkopf. „Wir haben verdammt viel zusammen erlebt!“
Silas blickte seinen Vater über seinen Becher Kaffee hinweg freundlich an. „Nimbaabaa, du hast mir aber meine Frage gar nicht beantwortet.“
„Was?“
„Ich hatte dich gefragt, woher du ihn kennst.“
Elias nickte brummend und sagte dann schließlich: „Ich habe ihn ein Jahr bevor ich das erste Mal von zu Hause fortgegangen bin kennengelernt. Damals hieß das Haus noch nicht ‚das Haus des Fallenstellers‘, …“, Elias lachte leise, „damals hieß es noch ‚das Haus des Holzfällers‘ und lag nicht wie heute am Waldrand verborgen, sondern war ein gutes Stück weit im Wald gelegen. Das ist mittlerweile alles gerodet. Sam hatte als Gehilfe bei meinem Vater angeheuert. Er war neunzehn Jahre damals, genauso alt wie ich. Aber Sam war schon eine ganze Weile alleine unterwegs gewesen und hatte sich mit allem Möglichen über Wasser zu halten versucht. Wir sind damals gemeinsam losgezogen, gegen den Willen meiner Eltern, genau genommen auch ohne ihr Wissen. Doch während ich damals nur auf Abenteuer und Abwechslung aus war, war Sam tatsächlich heimatlos.“
Nach einer kurzen Pause fügte Elias nachdenklich hinzu: „Sam hat seine Heimat gefunden, hier in den Wäldern des Nordens an den Ufern des Gitchi Gami. Einen großen Teil meiner Felle setze ich bei ihm um, er nimmt sie mit zum alljährlichen Rendezvous. Und glaube mir, er erzielt jedes Mal einen stattlichen Preis dafür. Nur den kleinsten Teil an Leder und Fellen bringe ich dann Jahr für Jahr mit nach St. Peter.“
„Zu welchem Rendezvous?“
„Einmal im Jahr im Sommer treffen sich unglaublich viele Trapper, Voyageure, Abenteurer und Fallensteller und feiern gemeinsam ein riesiges Fest. Dort wird gezecht, gespielt und gerauft, und natürlich gehandelt und getauscht. Ich war selber einige Male dort, aber … ich weiß nicht, ich bin wohl kein allzu geselliger Mensch.“
Silas betrachtete seinen Vater mit einem warmen, aber auch nachdenklichen Ausdruck in den Augen und nickte. Niemals hätte er gedacht, dass sein Vater ihm eines Tages mehr bedeuten würde, als es die Achtung vor dem eigenen Vater eben verlangte. Aber nun gab sein Vater seiner Ojichaag Tag für Tag Nahrung, gab ihm die Möglichkeit, ihn als Menschen kennen und auch lieben zu lernen.
An einem anderen Ort gestaltete sich das Leben nicht so erfreulich. Die Sonne begann zusehends an Kraft zu gewinnen und doch vermochten ihre warmen Strahlen und selbst das ausgelassene Zwitschern der Vögel nicht, David von seinen missmutigen und trübseligen Gedanken zu befreien. Er begann damit den Stall auszumisten. Alles was er tat, geschah seltsam mechanisch und gänzlich ohne Freude und er hatte es dennoch nicht eilig, die verhasste Stallarbeit hinter sich zu bringen, wozu auch, was wartete schon auf ihn?! Andererseits erschien David insbesondere die Arbeit im Stall ohne Silas beinahe unerträglich und vollkommen leer zu sein. David stützte sich seufzend für einen Moment auf die Mistgabel, blickte auf das kleine, trübe Fenster und beobachtete die in den Sonnenstrahlen tanzenden Staubpartikel, als Ruth die Stalltür öffnete und auf ihn zutrat.
„Fehlt er dir auch so sehr?“
„Ja, ziemlich!“
David fuhr fort, das verschmutzte Stroh in eine Karre zu wuchten. Schweigend blickte sich Ruth im Stall um und ergriff dann kurzerhand den Besen und begann damit, den hinteren, bereits ausgemisteten Teil des Stalles zu kehren.
„Dave, hättest du nicht Lust, einmal mit mir zusammen auszureiten?“
David hielt abrupt in seiner Bewegung inne und blickte seine Schwester erstaunt an. Auf diese Idee wäre er wahrhaftig nicht gekommen! Im Allgemeinen pflegte er nicht mehr als unbedingt nötig mit seinen Schwestern zu unternehmen, denn sie waren ihm auf der einen Seite meistens zu albern und auf der anderen wieder zu vernünftig, sorgsam und um Sicherheit bedacht. Das eine fand er nervtötend und anstrengend, das andere langweilig und fad, die Kombination von beidem war jedoch gar nicht auszuhalten. Doch Ruth war ihm letztendlich noch die Liebste von allen seinen Schwestern und zumeist nicht ganz so unerträglich, wie der Rest von ihnen. Von daher, warum eigentlich nicht?
Mit neuem Elan begann David seine Stallarbeit zu verrichten. Er antwortete lässig über seine Schulter hinweg, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt: „Na gut, in Ordnung, können wir machen.“
„Au fein!“ Beglückt strahlte Ruth ihren Bruder an, was dieser jedoch nicht bemerkte, da er seiner Schwester immer noch den Rücken zugewandt hatte, „Ich helfe dir, bis Pa und Edwin mit den Pferden zurückkommen, umso schneller können wir dann wieder los!“
„Die Pferde brauchen aber eine Pause.“
„Das weiß ich doch!“
Ruth lachte ihn voller Vorfreude an und verwundert registrierte David ein weiches, warmes Gefühl in seiner Brust. Er spürte es ganz deutlich, fühlte mit einem Mal, wie dankbar er seiner Schwester für die gebotene Aussicht war, die sie ihm mit ihrer Frage eröffnet hatte und er spürte auch, wie schön es doch war, eine Schwester zu haben, zumindest so eine wie Ruth.
Als David sich zwei Stunden später gemeinsam mit Ruth daran machte, die Pferde zu satteln, erreichte Silas zur gleichen Zeit mit seinem Vater die weitläufigen, häufig felszerklüfteten Ufer des Gitchi Gami.
Silas hatte mit einem sehr, sehr großen See gerechnet, aber eben mit einem See, oder besser gesagt mit dem, was er unter einem See verstand.
Doch das, was der Gitchi Gami seinen Augen darbot, war weitaus gigantischer, als es sich Silas jemals hätte vorstellen können. Das, was er da sah, entsprach in etwa dem, was er sich unter den Ozeanen vorgestellt hatte, mit ihrem schaumgekrönten Wellengang und den vom Mond regierten Gezeiten.
Die Vorstellung, dieses Wasser mit einem Kanu zu durchqueren, erschien ihm abwegiger denn je, doch andererseits baute er darauf, dass sein Vater genau wusste, was er tat. Elias schien mit den Gegenden, die sie durchquerten, bestens vertraut. Je weiter sie sich in die Wälder, in die Wildnis hinein bewegt hatten, desto freier und gelöster war er geworden. Auf den einsamen Pfaden, die Silas gemeinsam mit seinem Vater entlanggeritten war, hatte er in einer ungeahnten Deutlichkeit erlebt, dass Mutter Erde ihm zwar alles zu geben vermochte, was er zum Leben brauchte, doch zugleich auch, dass sie einem nichts davon in den Schoß legte und zuweilen unerbittlich sein konnte. Nicht an jedem Tag war er wirklich satt geworden und an vielen Tagen und in noch weitaus mehr Nächten hatte er jämmerlich gefroren.
Und dennoch hatte ihm dieses anstrengende, karge Leben, dieses absolute Angewiesensein auf die eigenen Fähigkeiten und nicht zuletzt auch das erhebende Gefühl des tatsächlichen Bestehenkönnens, Glücksgefühle von einer Intensität beschert, wie er sie bis dahin noch nicht erlebt hatte.
Vor einiger Zeit, sie waren in etwa drei Wochen unterwegs gewesen, ritten sie, seit Tagen bereits, durch ein felsiges Waldgebiet, welches weder einen oberirdischen Wasserlauf, noch einen See aufwies, zumindest fanden sie keinen und somit auch keine Gelegenheit zum Angeln. Auch hatten sie schon den fünften Tag kein Jagdglück gehabt und die letzten Vorräte waren trotz aller Sparsamkeit zur Neige gegangenen. Da es zu dieser Jahreszeit weder Nüsse noch Beeren zu finden gab, stellte sich unweigerlich der Hunger ein. Alle Geräusche des Waldes drangen in seltsamer Deutlichkeit an Silas‘ Ohr.
Er fühlte sich vollkommen erschöpft und zugleich ruhelos und aufgekratzt. Doch in dem Augenblick, da er sie sah, die Fährte jenes Weißwedelhirsches, war seine Erschöpfung plötzlich verschwunden, waren die Gedanken mit einem Schlag voller Anspannung nur mehr auf eines konzentriert gewesen. Die Fährte war frisch! Eindeutig!
Silas wurde von einem bisher nie geahnten Jagdfieber erfasst, welches ihm unendliche Energien zu verleihen schien. Er bedeutete seinem Vater sich still zu verhalten, während er selbst lautlos zu Fuß auf der Fährte des Hirsches zu schleichen begann. Der Hirsch konnte noch nicht allzu weit weg sein! Silas fühlte in sich ein fieberndes Brodeln, eine Anspannung, die ihn schier zu zerreißen drohte und gleichzeitig spürte er die kühle Macht seines Verstandes. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers das Raubtier in sich, spürte seine absolute Entschlossenheit zu töten, um das eigene Leben zu erhalten.
Als er nach gar nicht allzu langer Zeit den Hirsch sah, so stolz und schön, mit seinem wie mit Samt überzogenen Geweih, zögerte er nicht einen Augenblick und ehe das Tier die drohende Gefahr überhaupt zu erkennen vermochte, sank es bereits von Silas‘ Kugel tödlich getroffen zu Boden und das Licht seiner noch überrascht blickenden braunen Augen erlosch. Doch diesmal überfielen Silas nicht die üblichen gemischten Gefühle, nein, nicht eine einzige Sekunde lang! Jubel erfüllte ihn! Jubel und ein Gefühl unendlichen Triumphes, wie er es in dieser Form niemals gekannt hatte.
Diese Jagd war seine erste große, wirkliche Jagd gewesen, ein weiterer unverzichtbarer Meilenstein auf seinem Weg ins Erwachsensein.
Seinem Bruder Hirsch gegenüber aber verspürte er tiefste Dankbarkeit und höchste Achtung dafür, dass dieser sein Leben gegeben hatte, und sorgsam war er darauf bedacht gewesen, alles so zu machen, wie Winonah es ihn gelehrt hatte und nichts zu unterlassen, was nötig war, um die Ojichaag des Hirsches zu ehren und zu versöhnen.
10
„Nimbaabaa! Ist das wirklich ein See?!“ Silas blickte immer noch fassungslos auf die sich schier endlos erstreckenden Wassermassen des Gitchi Gami.
„Wenn du es nicht glaubst, dann probier doch mal das Wasser! Es ist nicht salzig!“ Elias lachte vergnügt. „Na, hab ich dir zu viel versprochen? Es ist unbeschreiblich, nicht wahr?!“
Silas ließ seine Augen über die scheinbar unendliche Weite des Sees gleiten, dessen Wasser sich in rauschenden Wellen seinen Weg zum Ufer suchte, um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen und es alsbald abermals zu versuchen. Die Schönheit des Sees und der Naturkulisse, erhaben und grandios, rau und doch auch voller Anmut, hatte ihn vollends in ihren Bann gezogen.
Ein Geräusch ließ Silas seinen Blick zu einem etwas weiter entfernt gelegenen Uferabschnitt wenden.
„Nimbaabaa! Da hinten!“
Etwa zwanzig Meter entfernt hatte Silas einen Vogel ausgemacht, der mit Sicherheit den beachtlichsten Schnabel besaß, den er jemals gesehen hatte.
„Das ist ein Nashornpelikan, du wirst noch öfter welche sehen.“
„Wie lange werden wir noch brauchen, Nimbaabaa?“
„Oh, es sind vielleicht noch sechs oder sieben Meilen, mehr nicht.“
„Weiß er eigentlich, dass ich mitkomme?“
„Nein!“ Elias lachte und schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß, dass er verdammt neugierig auf dich ist und schon eine Ewigkeit darauf brennt, dich endlich einmal zu Gesicht zu bekommen!“
Als sie dann, gut zwei Stunden später, das geräumige Blockhaus erreichten, fanden sie es leer und verschlossen vor.
Von ferne hatte das aus rohen Holzstämmen errichtete Haus auf Silas wie ein geducktes riesiges Tier gewirkt, das inmitten einer kleinen Bucht auf den See zu blicken schien.
„Was machen wir nun?“
Silas blickte seinen Vater angesichts der verschlossenen Türe fragend an, doch Elias lachte nur und kramte in seiner Satteltasche herum. „Hast du gedacht, Sam würde hier sitzen und auf uns warten?“
Er zog er mit einem zufriedenen Lächeln einen Schlüssel aus der Tasche. Als Silas aber auf die Türe zutrat, schüttelte Elias grinsend den Kopf: „Hinten geht’s lang. Das ist der Schlüssel zum Stall.“
Nun erst wurde Silas gewahr, dass der rechte Teil des Hauses eine angegliederte Stallung darstellte, nicht besonders groß, jedoch gerade ausreichend für zwei Pferde.
„Sam hat selber kein Pferd“, erläuterte Elias seinem Sohn, als er dessen Verwunderung bemerkte.
„Aber warum hat er dann einen Stall?“
„Er hat gar keinen Stall, ich habe einen! Wir haben dieses Haus hier vor Jahren gemeinsam gebaut und dieser Stall geht auf meine Rechnung.“
Nachdem sie die Pferde versorgt hatten und das Gepäck in einer Ecke des Stalles verstaut, schlug Elias seinem Sohn vor gemeinsam angeln zu gehen.
Doch Silas, der sich danach sehnte, wieder einmal ganz für sich allein sein zu können, bat den Vater, die Gegend ein wenig in Augenschein nehmen zu dürfen. Da Elias keinerlei Einwände hatte, wendete sich Silas dem hinter dem Haus beginnenden Wald zu. Allmählich begann er ruhiger zu werden, ruhiger und ruhiger auf seinem Weg, Schritt für Schritt. Hier waren nur er und der Wald. Er begann wieder dieses Gefühl in sich aufsteigen zu fühlen, dieses unbeschreiblich beglückende und erwärmende Gefühl ein Teil des Ganzen zu sein.
Silas blickte den Stamm einer besonders hohen Kiefer empor, berührte mit seinen Handflächen zart die schuppige Borke, versuchte die Kraft des Baumes zu fühlen, als ein leichtes Knacken ihn jäh aus seinen versunkenen Gedanken riss und augenblicklich herumfahren ließ.
Ein hünenhafter, verwegen aussehender, struppig bärtiger Mann befand sich nur wenige Meter von ihm entfernt. Sein Gewehr hatte er bereits im Anschlag auf Silas gerichtet.
In äußerst barschem Ton, rief er ihm eine Frage zu, und, noch ehe Silas, zu Tode erschrocken, die erste Frage beantworten konnte, gleich eine zweite.
„Waenaesh k‘ doadem?! Waenaesh kiin?!“
„Das, … das Totem meiner Familie ist Bizhiu,“ stammelte Silas, die Hände erhoben, in der Hoffnung, dann vielleicht nicht einfach über den Haufen geschossen zu werden, „der Luchs, und ich heiße Silas Morgan, Sir!“
„Morgan? Silas Morgan? Ha, ha, ha! Du bist Elias‘ Sohn? Ha, ha, ha! Ich hab dich für einen waschechten Ojibwe gehalten! Junge, lass dich mal genauer betrachten!“
Silas ließ seine Hände erleichtert wieder sinken. Das war also Sam!
Sam hängte sein Gewehr wieder um und trat auf Silas zu, legte seine breiten Hände auf dessen Schultern und musterte ihn lange und eingehend. Ein Schmunzeln durchzog sein Gesicht, während er Silas‘ Gesichtszüge studierte.
Silas seinerseits sah in das wettergegerbte Gesicht eines Mannes, dessen Alter nur schwer zu schätzen war. Wilde Locken umrahmten sein von vielen Fältchen durchzogenes Gesicht. Dieser Mann hatte unzählig viele Lachfältchen, das gefiel Silas auf Anhieb, und auch dass seine grünbraunen Augen Tiefe und Klarheit ausstrahlten.
„Jetzt bist du also wahrhaftig da, Silas Morgan, sei herzlich willkommen! Wurde ja auch langsam mal Zeit, dass du dich hier blicken lässt!“
Ohne ein weiteres Wort machte jener in Leder gekleidete Hüne kehrt und ließ Silas einfach dort stehen, wo er ihn aufgestöbert hatte.
Im Kamin des Blockhauses prasselte bereits ein behagliches Feuer und die vom Vater gefangenen Fische würden ein ganz ansehnliches Abendessen für sie abgeben.
„Na, Silas! Du hast Sam ja bereits kennengelernt, wie ich gehört habe!“ Elias konnte sich eines Grinsens nicht erwehren.
„He, Elias! Was macht der Fisch! Ich hab Hunger!“, ließ sich da Sams tiefe und geräuschvolle Stimme vernehmen.
Nach dem Essen überfiel Silas eine bleierne Müdigkeit und er schlief in seine Decke gekuschelt augenblicklich tief und fest ein. Elias und Sam aber saßen noch lange beieinander, gossen sich ordentlich einen hinter die Binde und erzählten und lachten die halbe Nacht.
„Bei Gott“, dröhnte Sam, „mit dem Jungen steht dir noch was bevor! Das sag ich dir, der wird den Weibern gleich scharenweise den Kopf verdrehen!“
„So‘n Unsinn“, brummte Elias und schnaufte dabei verächtlich durch die Nase. „Wie kommst du denn auf so einen ausgemachten Mist?“
Sam grinste süffisant und betrachtete seinen Freund eine Weile schweigend, ehe er antwortete: „Weil der Knabe verdammt gut aussieht.“ Er wartete kurz, bis sich das ungläubige Gelächter seines Freundes gelegt hatte. „Es ist dir noch gar nicht aufgefallen, nicht wahr? Das sieht dir ähnlich, mein Freund. Wart‘s ab, Elias, du wirst noch an mich denken!“
Als Silas am nächsten Morgen erwachte, war Sam bereits auf den Beinen. Die vergangene Nacht schien ihm keineswegs nachzuhängen und während Elias noch schnarchte, hatte Sam bereits die Spuren der vergangenen Nacht beseitigt, Kaffee und einen Brei aus Getreide und getrockneten Heidelbeeren zum Frühstück gekocht. Silas, welcher in Anbetracht der vergangenen Wochen wahrhaftig nicht verwöhnt war, hatte mit so etwas wie einer Fischsuppe gerechnet. Der Anblick des Getreidebreis, der zarte Duft, der aus der blubbernden Masse aufstieg, erfüllte ihn mit einer solchen Dankbarkeit, dass es ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb.
„Komm Silas, setz dich, wir fangen schon einmal an. Dein Vater wird heute wohl noch ein Weilchen brauchen.“
Silas probierte von dem Brei, in dem immer wieder kleine, schwarze Kügelchen auftauchten. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, da er etwas so Köstliches gegessen hatte. Schweigend füllte Sam Silas Schüssel erneut bis zum Rand und sagte für seine Verhältnisse sehr leise: „Es ist ganz schön hart da draußen, vor allem beim ersten Mal und erst recht für so einen Jungen, so ein Greenhorn wie dich. Aber trotzdem, sag‘ selbst, ist das Leben in den Wäldern nicht das Schönste, das Großartigste, was es gibt auf der Welt!? Also, ich möchte nirgendwo anders sein!“
Sam erhob sich schwerfällig und sagte: „Wenn du mit dem Essen fertig bist, gehen wir beide mal zusammen in den Stall zu deinem Black Desert. Elias sagt, er wäre ein bisschen heikel und ich dachte, dass Gescheiteste wäre sicherlich, wenn du uns beide miteinander bekannt machst.“
Bevor sie gemeinsam den Stall betraten, hielt Sam jedoch einen Moment inne, sah Silas eindringlich an und sagte: „Silas, das alles hat nur einen Sinn, wenn du auch selber dahinterstehst. Dein Pferd wird ganz genau spüren, wenn du auch nur den leisesten Zweifel hegst. Du selber musst es wollen, von dir hängt es ab! Du bist es, der ihm da drinnen zeigen muss, dass alles gut und richtig so ist, dass du mir vertraust. Ansonsten werde ich dich hier wohl eine Weile beherbergen müssen und du wirst die Lager der Ojibwe niemals zu Gesicht bekommen! Also, was ist, bist du bereit?“
Silas atmete tief durch und willigte mit einem entschlossenen Kopfnicken ein.
11
Silas stand vor dem Haus und blickte auf den See. Er fühlte sich in Sams gemütlichem Blockhaus und besonders in dessen Gegenwart äußerst wohl und ganz ähnlich schien es auch Black Desert zu ergehen. Silas spürte den Wind, der an seinen Kleidern zerrte und seine Haare zauste. Dieser Wind war zwar nicht unbedingt kalt, dennoch aber gewaltig. Fasziniert lauschte er auf sein brausendes Lied und den rauschenden Gesang der brechenden Wellen. Ein grell zuckender Blitz, dem kurz darauf ein drohend grollender Donner folgte, veranlasste Silas, zurück zu seinem Vater und Sam in den Schutz des Blockhauses zu gehen. Er fand die beiden damit beschäftigt, ihre Gewehre zu reinigen und zu ölen.
„Komm Silas“, sprach ihn der Vater an, „hol dein Gewehr und setzt dich zu uns. Eine Waffe muss immer gepflegt werden, sonst kann das einmal übel enden!“
Sam zog die Augenbrauen hoch und grinste Silas wortlos an.
„Da draußen braut sich was Ordentliches zusammen!“, sagte Silas mit einer Kopfbewegung zum Fenster hin.
„Wird schon so schlimm nicht werden“, antwortete Sam gleichmütig.
Doch er sollte nicht recht behalten. Das Gewitter, ungewöhnlich heftig und lang, zwang sie alle, den ganzen Tag im Schutz des Hauses zu verbringen.
Silas war nicht traurig drum. Ein Tag in behaglicher Ruhe und Wärme, während draußen der Sturm tobte und der Regen prasselte, war genau das, was er dringend benötigte.
Die Anstrengungen der Reise hatten, seit sie an Sams Blockhaus angekommen waren, keineswegs ein vorübergehendes Ende gefunden.
Neben den Stunden, die er und Sam täglich damit verbrachten, gemeinsam die Pferde zu versorgen und so nebenbei Black Desert an Sam zu gewöhnen, waren weitere Stunden nötig gewesen, um Elias Kanu wieder flott zu machen. Zudem stand, um Silas auf die Weiterreise vorzubereiten, fast jeden Tag ausgiebiges Kanufahren auf dem Programm, was auf der teilweise ganz schön rauen und schaumgekrönten Oberfläche des Sees ein ziemlich anstrengendes und gerade am Anfang auch reichlich feuchtes Unterfangen war. Dies hier war wirklich kein Vergleich zu einer gemütlichen Bootsfahrt auf einem gemächlich dahinfließenden Mississippi! Gejagt und geangelt werden musste selbstredend auch und die erlegten Tiere mussten gehäutet und ausgenommen werden. Das Fleisch, das nicht alsbald verzehrt werden würde, musste an der Luft getrocknet oder aber geräuchert und die Felle zudem zur weiteren Verarbeitung haltbar gemacht werden.
Es gab also ständig alle Hände voll zu tun und so beschloss Silas, die zwangsweise auferlegte Ruhepause aus tiefster Seele willkommen zu heißen und nur für eines zu nutzen und das war schlafen.
Als Silas am nächsten Tag erwachte, fühlte er sich eigenartig matt und schwindelig. Sein Kopf schmerzte, außerdem fror er ganz erbärmlich. Das Gewitter musste die Temperatur um einiges nach unten gedrückt haben. Der Schmerz in seinem Kopf wurde den Tag über nicht besser, hinzu gesellte sich stattdessen ein heißes, kratziges Gefühl im Hals. Das Kanufahren, dass ihm bisher trotz der Anstrengung wirklich Spaß gemacht hatte, wurde an diesem Tag zu einer Qual für ihn und die kritischen Nörgeleien und Ermahnungen des Vaters, die schier kein Ende nehmen wollten, drangen kaum noch an sein Ohr.
„Was ist denn mit dir los! Man könnte ja meinen, du wärst in deinem Leben noch nie Kanu gefahren!“, herrschte ihn Elias ärgerlich an.
Das war zwar um einiges übertrieben, aber Silas hatte sich tatsächlich den einen oder anderen Schnitzer erlaubt, der das Kanu leicht zum Kentern hätte bringen können. Er fühlte sich hundeelend und die Vorwürfe seines Vaters trafen ihn zudem ungeahnt schmerzlich. Als Sam ihnen später strahlend eine zwar kleine, dafür aber bereits gehäutete, ausgeweidete und zerlegte Hirschkuh präsentierte, fühlte sich Silas unendlich erleichtert. Für das Abendessen war augenscheinlich bereits gesorgt und auch die nächsten Tage würden gesichert sein.
Silas aß abends mit Mühe ein wenig von dem aus den Innereien des Tieres bereiteten Eintopf und bat schon bald, sich schlafen legen zu dürfen.
Die Träume schienen in wirrer Weise zu kommen und zu gehen, herumzuflattern, nicht greifbar und unendlich zermürbend und anstrengend.
David kam lachend auf Silas zu, Eshkebug an seiner Seite, doch je näher er kam, desto seltsamer lachte er, desto fremder wurde sein Gesicht und als er schließlich in Silas‘ Nähe war, war er ein gänzlich anderer geworden und nur mit Mühe gelang es Silas, in dem seltsam entstellten Gesicht, den Freund wiederzuerkennen.
Dann wieder sah er seinen Hund an Winonahs Seite im Wald umherspringen. Düster und dicht war der Wald, durchzogen von kleinen Wasserläufen. Nebelschwaden strichen zwischen den dicht gedrängten Baumstämmen entlang.
Silas fühlte sich ängstlich und allein, von einer beinahe überwältigend schmerzhaften Sehnsucht erfüllt. Er wünschte nichts mehr, als zu den beiden zu gelangen, doch so sehr er sich auch anstrengte, so schnell er auch lief, vergrößerte sich doch der Abstand zwischen ihnen mehr und mehr, bis er beide kaum noch zu erkennen vermochte und sie schließlich vollkommen im Nebel zu verschwinden drohten. Weinend sank er auf die Knie und rief voller Verzweiflung und mit all seiner verbliebenen Kraft nach seiner Mutter.
Mit diesem Schrei erwachte Silas schweißgebadet. Er zitterte erbärmlich, alles tat ihm weh und seine Haut, fieberheiß, empfand jede Berührung als dumpfen Schmerz. Silas fiel wieder in einen unruhigen Schlaf und als er abermals erwachte, war kaum eine Stunde vergangen. Er hatte entsetzlichen Durst, seine Kehle fühlte sich rau und trocken an und ein schmerzhafter Husten quälte ihn. Er musste tatsächlich wieder eingeschlafen sein, denn als er erneut die Augen aufschlug, war es bereits taghell. Von seinem Vater oder Sam war keine Spur zu sehen, kein Laut zu hören. Wer weiß, wie spät es bereits war!
Silas versuchte eilig aufzustehen und aus dem kleinen Schlafraum in den angrenzenden Wohnraum zu gehen. Der Boden unter seinen Füßen schwankte ein bisschen und seine Beine drohten ihren Dienst zu versagen, als Sam den kleinen Raum betrat und ihm zu Hilfe kam.
„Na Junge! Dich hat‘s ja ganz schön erwischt!“
„Oh, es geht schon.“ Silas versuchte ein Lächeln, das aber so unsicher und gequält in seinem Gesicht erschien, dass es seine Worte Lügen strafte. „Wo ist Nimbaabaa?“
„Elias ist gerade draußen, um Holz zu holen. Und du versuchst jetzt etwas zu essen.“
Sam verfrachtete Silas an den Tisch in die geräumige Wohnküche. „Sam, ich hab‘ keinen Hunger. Aber könnte ich etwas zu trinken bekommen?“ Ein trockener Husten schüttelte ihn.
Sam schob Silas einen Becher heiße Brühe zu. Glasig blinzelten ihn die darauf schwimmenden Fettaugen an.
Silas glaubte im ersten Moment, sich allein schon beim Geruch der undefinierbaren Flüssigkeit übergeben zu müssen. Er riss sich jedoch zusammen und begann mühsam, das heiße Gebräu in langsamen Schlucken zu trinken. Es schmeckte durchaus nicht besser, als es roch und Silas hatte auch nichts anderes erwartet. Der Geruch ausgekochter Knochen hatte in Silas seit jeher Übelkeit hervorgerufen und so war es letztendlich auch kein Wunder, dass er nach einigen, mühselig hineingewürgten Schlucken alles in einem großen Schwall wieder erbrach. „Oh, verdammt! Tut mir leid! Ich mach das sofort weg, ich …“
„Nee, nee, Silas! Das einzige was du jetzt machst, ist dich auszuziehen und draußen waschen zu gehen. Oder halt, wart mal! Lass das mal besser. Ich hol dir einen Eimer Wasser rein und du bleibst schön hier drinnen.“
Zitternd und bibbernd wartete Silas auf Sam, der einen Kübel mit eiskaltem Wasser hereinbrachte und ihm dazu ein großes Tuch reichte, damit er sich abtrocknen konnte.
„Ich hol dir was zum Anziehen. Wo hast du deine Sachen?“
„Auf dem Boden liegt ein Hemd, aber das dürfte von gestern noch nass und dreckig sein“, sagte Silas unglücklich.
„Dann kriegst du eben eins von mir.“
Sam kam mit einem Hemd wieder, dicht und weich und viel zu groß. Es war ungemein tröstlich, etwas so Sauberes und Gemütliches zu bekommen, einfach so, ohne dafür auch nur einen Finger rühren zu müssen und obendrein tatenlos zusehen zu können, wie dieser flüssige, stinkige Graus da auf dem Fußboden erst nach und nach im Eimer verschwand und schließlich mitsamt dem Eimer und Sam nach draußen. Silas saß an dem groben Holztisch und blickte Sam hinterher.
Das Gefühl, dass da jemand für einen sorgte, hinterließ einen kleinen Hoffnungsschimmer in der Erbärmlichkeit seines Zustandes. Silas sehnte sich plötzlich mit einer solchen Intensität nach Winonah und zu Hause, dass er zu weinen anfing wie ein kleines Kind. So fand ihn Sam, als er mit sauberen Händen und ohne den Eimer wieder zurückkam.
In diesem Augenblick fing die ganze Geschichte an, ihn wirklich bedenklich zu stimmen. Daran änderte es auch nichts, dass Silas versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und mit einem hilflosen, entschuldigenden Schulterzucken murmelte: „Ich weiß auch nicht …“
Sam beschloss, sich Elias nochmals zur Brust zu nehmen. Der Junge war ernsthaft krank. Selbst wenn er in ein paar Tagen wieder einigermaßen auf den Beinen sein sollte, was Sam deutlich bezweifelte, so wäre es der reine Wahnsinn, mit ihm die Weiterreise anzutreten. Sam dachte angestrengt nach. Der Junge gehörte ins Bett, soviel war klar. Ins Bett …, das hieß, dass es wohl angebracht wäre, das eigene Bett, solide gebaut und mit Stroh gut gepolstert, zu räumen. Sam seufzte bedauernd und machte sich dann großmütig ans Werk.
Nachdem er Silas beinahe mit Gewalt dazu hatte bringen müssen, das Angebot anzunehmen und sich in das verhältnismäßig große und bequeme Bett zu legen, sagte Sam aufmunternd zu ihm: „Du musst etwas trinken, Silas, ein ordentlicher Schnaps würde dir jetzt bestimmt guttun!“
Als er jedoch den gequälten Ausdruck in Silas‘ Augen sah, beeilte er sich zu fragen: „Oder was könntest du dir denn vorstellen?“
„Ein Becher Wasser wäre schön.“
„Gut, dann hol ich dir welches.“
Sam stand auf und beschloss, einen guten Schluck Whiskey in das Wasser zu kippen, das würde gewiss nicht weiter auffallen und dem Jungen guttun!
Er blickte sich, ehe er den Raum verließ, noch einmal um und lächelte Silas aufmunternd zu und dieser lächelte matt und sehr dankbar zurück.
Als Sam kurz darauf mit einem Becher zurückkam, schlief Silas bereits. Vorsichtig stellte Sam den Becher auf das Tischchen neben seinem Bett und betrachtete Silas einen Augenblick.
Sanft zog er die Decke zurecht und konnte es sich nicht verkneifen, seine grobe, von Schwielen bedeckte Hand auszustrecken, um mit ungeahnter Zartheit über das schwarze Haar zu streichen. Die Gefühle, die dabei in ihm hochstiegen waren für ihn von gänzlich ungewohnter Natur und rührten seltsam an der empfindsamen Seite in ihm. Sam glaubte in diesem Moment zu erahnen, von welcher Gestalt wohl die Gefühle einer Mutter waren, die besorgt auf ihr krankes Kind blickte. Er stellte erstaunt fest, dass er, welcher die Gesellschaft der meisten Menschen nicht unbedingt genießen konnte, diesen Jungen, in geradezu atemberaubend kurzer Zeit, in sein Herz geschlossen hatte.
Als er Elias den vorderen Raum betreten hörte, ging er ihm gleich entgegen.
„Wie geht es ihm?“
„Elias, ich glaub, es geht ihm verdammt dreckig. Er hat nichts bei sich behalten, sondern alles auf den Boden gespuckt. Und dann hat er noch geheult und jetzt schläft er wieder.“
Sam blickte Elias an, dessen Gesichtsausdruck sich verhärtet hatte und fügte eilig hinzu: „Nee, nee Elias! Du verstehst das falsch! Der Junge stellt sich nicht an und jammert hier rum, ganz im Gegenteil! Wenn du mich fragst, der reißt sich verdammt am Riemen, aber der kann einfach nicht mehr! Der ist krank, richtig krank! Und ich sag‘ dir noch was, wo ich schon mal dabei bin. Wenn du ihn wieder mit nach Hause bringen willst und nicht riskieren möchtest, Winonah mitteilen zu müssen, dass ihr Kind leider unterwegs das Zeitliche gesegnet hat, dann solltest du jetzt mal eins begreifen. Ich glaube du vergisst, dass Silas kein erwachsener Mann ist, auch wenn er auf dem besten Wege dahin ist, verstehst du? Du verlangst verdammt viel von dem Jungen und ich wette, das war unterwegs kein Deut besser! Du hattest nicht für ausreichend Proviant gesorgt, allein das! Mein Gott, Elias, mit Härte kannst du ein Stück rohes Fleisch weichklopfen, aber nicht einen halbwüchsigen Burschen. Und wozu auch?! Na ja, das Ergebnis kriegst du jetzt ja präsentiert!“
„Ach! Ich bin also schuld daran, dass Silas krank geworden ist?“
„Ja! Herrgott noch mal!“ Sam war einem Moment lang ziemlich laut geworden, dämpfte nun aber seine Stimme und fügte beträchtlich leiser hinzu: „Nein, natürlich nicht! Aber du hättest nicht genauso planen dürfen, wie für den Alleingang, sondern irgendwie großzügiger!“
Ein trockener, bellender Husten aus dem Nebenraum veranlasste Elias, Sam einfach stehen zu lassen und hinüberzugehen.
Silas saß im Bett und hustete sich die Seele aus dem Leib. Es hörte sich einfach grauenvoll an. Erschrocken setzte sich Elias an Silas‘ Bettrand und strich ihm beruhigend über den Rücken.
„Möchtest du einen Schluck Wasser?“
Silas nickte und trank das Glas zur Hälfte leer, dann sank er erschöpft zurück. Der Whiskey brannte in seinem Hals. „Nimbaabaa, ich …, es tut mir so leid, ich bin bestimmt bald wieder auf den Beinen und dann könnt ihr wieder auf mich zählen, ich versprech‘s!“
„Ist schon gut, Silas. Hör mal, Junge, du musst jetzt nur eines, und das ist wieder ganz gesund werden. Wir können Gott danken, dass uns das nicht unterwegs passiert ist, sondern hier mit einem Dach über dem Kopf und einem Feuer im Kamin. Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder werden.“
Sam hatte im Grunde recht! Warum eigentlich das Ganze? Was war denn so wichtig, dass es nicht noch etwas Zeit hatte? Das war es doch immer gewesen, was für ihn sein Leben, so lebenswert gemacht hatte. Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was immer er wollte! Oder war er am Ende gar nicht so frei gewesen? Hatte er die Fesseln seiner Familie etwa nur durch eigene ersetzt? Bei diesem Gedanken versank Elias ins Grübeln.
„Ach nichts, ich hab nur über was nachgedacht.“
Nachdem Elias eine Weile schweigend die Falten auf Silas‘ Decke studiert hatte, sprach er sehr leise und wie zu sich selbst: „Vielleicht hab‘ ich ein paar Fehler gemacht, das täte mir dann sehr leid.“
Er stand auf und ging zur Tür. Bevor er aber das Zimmer verließ, schaute er noch einmal zurück und fragte: „Möchtest du nicht doch etwas essen?“
Silas schüttelte müde den Kopf und schloss die Augen.
„Fichtennadeln und Salbei!“ Mit diesem Ausruf und leuchtenden Augen empfing Sam seinen sorgenvoll blickenden Freund. „Fichtennadeln, Salbei und Bärenfett! Also, was Besseres fällt mir nicht ein.“
Sam hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie man Silas wieder auf die Beine bekommen könnte. Bärenfett war äußerst gehaltvoll und vitaminreich und zudem sehr gut verträglich, das wusste er.
Die Indianer pflegten es für vielerlei Zwecke zu verwenden, als leicht verdaulichen Kalorienspender ebenso, wie zum Einreiben des Körpers. Fichtennadeln wiederum halfen bei so mancherlei Ungemach. Man könnte sie gemeinsam mit dem Salbei in Ahornsirup auskochen oder gleich im Bärenfett sieden lassen. Das gefilterte Fett würde man Silas zu trinken geben und einreiben konnte man ihn damit auch. Er hatte jedoch nicht mehr besonders viel davon, nur einen kleinen Rest dessen, was er vor einem guten halben Jahr bei den Indianern eingetauscht hatte. Den Winter über war es gefroren gewesen und da dieses Fett besonders haltbar war, konnte man davon ausgehen, dass es sich noch gut verwenden ließ.
„Bleib du hier bei ihm, Elias, ich werde draußen junge Fichtentriebe und Salbeiblätter sammeln. Du kannst ja schon mal damit anfangen, dass Bärenfett zu erwärmen.“
„Und wo finde ich das?“
„In der Grube hinter dem Haus.“
Sam hatte hinter dem Haus einen vielleicht zweieinhalb Meter tiefen Schacht ausgehoben und sehr sorgfältig abgedeckt. Öffnete man eine Art Falltür, so erschien eine kleine selbst gezimmerte Leiter, welche hinunter in die Tiefe führte. Beim Hinuntersteigen spürte man deutlich, dass es stetig kälter wurde.
Unten angekommen, war unschwer zu erkennen, dass ein Teil des Erdreiches nur locker aufgeschüttet war. Darunter befand sich eine Truhe mit Sams leicht verderblichen Vorräten. So auch ein aus Wigass - aus Birkenrinde - gefertigtes Behältnis mit dem besagten Bärenfett.
Elias nahm das Gefäß, schloss den Truhendeckel und schüttete das Loch sorgsam wieder mit Erde zu.
Als Sam mit einem Tuch voller noch zartgrüner Fichtenspitzen und einem großzügigen Bündel Salbei wiederkam, begann Elias das Feuer hochzuschüren, um das wertvolle, den Indianern heilige Fett vorsichtig zum Sieden zu bringen.
Sam hatte weit mehr gesammelt, als das Fett aufzunehmen vermochte. Deshalb entschlossen sie sich, die restlichen Blätter und Spitzen in Ahornsirup zu kochen und über einige Zeit in der Wärme des Feuers ziehen zu lassen. Sam opferte hierfür einen Großteil seines Vorrates und somit das einzige Süßungsmittel, das ihm zur Verfügung stand.
Nachdem Silas endlich wieder aufgewacht war, blieb ihm nichts anderes übrig, als die eifrigen Bemühungen der zwei Männer über sich ergehen zu lassen. Silas wurde von Kopf bis Fuß sorgfältig mit einer warmen und unerwartet angenehm nach Fichten duftenden Flüssigkeit eingerieben und danach erneut ins Bett gepackt.
Kaum war dies geschehen, so wurde er auch schon dazu genötigt, einige Schlucke von dieser öligen Flüssigkeit zu trinken, was ihm verblüffender Weise gelang ohne sich zu übergeben. Und damit nicht genug, denn als Silas das alles hinter sich gebracht hatte, musste er noch einen Becher heißen Tee trinken, welcher großzügig mit Ahorn-Fichten-Salbeisirup versehen worden war und infolgedessen vor Süße ein pelzig, klebriges Gefühl auf seiner Zunge hinterließ. Silas ertrug alles tapfer und ohne zu murren.
Er fühlte sich viel zu schwach, um sich zu wehren und eigentlich war ihm auch alles vollkommen egal.
Gegen Abend dann begann er im Fieber zu phantasieren und Elias wurde angst und bange zumute. Als sich Silas‘ Zustand auch nach Stunden einfach nicht bessern wollte, wurde er zum ersten Mal in seinem Leben von Panik erfasst. Plötzlich begriff er, dass es tatsächlich grausame Realität werden könnte, dass sein Sohn, sein einziges Kind, hier in diesem Blockhaus sein Leben aushauchen würde.
12
Als David gerade gemeinsam mit Ruth an seinem und Silas‘ Lieblingsplatz saß und zwei Fische über dem Feuer briet, ahnte er nicht, wie es um seinen Freund stand, über den sie gerade gesprochen hatten.
David hatte gar nicht gewusst, wie gerne seine Schwester Silas mochte, genauso wenig wie er geahnt hatte, wie viel Spaß es machen konnte, mit ihr gemeinsam davonzureiten, wie viel Witz und Erfindungsgeist sie doch besaß.
Seit jenem Tag vor vielen Wochen, als sie zum ersten Mal gemeinsam die Pferde versorgt hatten, um dann zusammen auszureiten, war Davids Lebenslust zumindest ein Stück weit zurückgekehrt. Zwar vermisste er Silas nach wie vor, doch hatte er in Ruth jemanden gefunden, mit dem er sogar sein Leid und seine Sehnsucht zu teilen vermochte und zu alledem hatten sie eine Menge Spaß miteinander.
„Dave …“ Ruth blickte über die Flammen hinweg fragend in das Gesicht ihres Bruders. „Könntest du dir vorstellen, dass uns Charly einmal begleiten würde?“
„Charly?”
„Ja, Charly Benhaven.“
„Du bist wohl vollkommen übergeschnappt!“ David betrachtete seine Schwester fassungslos.
„Nein, Dave, doch nicht Charles! Charlotte, seine Schwester!“
„Was hast du denn mit der zu schaffen?!“ Der Vorwurf in Davids Stimme war nicht zu überhören, genauso wenig wie seine Überraschung.
Ruth blickte unschlüssig auf ihre ineinander verschränkten Hände. Schließlich gab sie sich einen Ruck und blickte ihren Bruder unverwandt an. „Es ist ein Geheimnis“, flüsterte sie verschwörerisch, „aber dir vertrau ich‘s an!“
Im Folgenden setzte Ruth David lang und breit auseinander, dass Charlotte Benhaven, ihre langjährige Busenfreundin sei, aber ganz und gar im Geheimen, da es Charlotte strengstens verboten war, mit den Sattlers etwas zu tun zu haben, das über das Tätigen nicht vermeidbarer Einkäufe hinausging. Grund hierfür war Davids Freundschaft mit Silas sowie dessen beständig drohende Anwesenheit.
Ruth lachte ihr glockenklares Lachen und erzählte, in ihrem Redefluss kaum zu bremsen, mit immer leuchtenderen Augen weiter: „Weißt du noch, damals, als du dich mit Charles so furchtbar geprügelt hast, da hat er ihr verboten, sich jemals mit irgendeinem von unserer Familie abzugeben. Bis dahin hatten Charlotte und ich eigentlich gar nicht so viel miteinander zu tun gehabt. Ich fand sie nett, so wie andere auch. Aber dann bekam ich in der Kirche dieses Briefchen von ihr zugeschoben, in dem stand, dass sie von ihrem Bruder verboten bekommen habe, sich mit einem von uns Sattlers abzugeben. Und dass sie gerade dadurch erst so richtig gemerkt habe, dass sie ganz genau dazu große Lust hat und ob wir beide uns nicht einmal heimlich treffen wollen.“
Ruth schwieg einen kurzen Moment, doch dann sprach sie, mit einem Schmunzeln im Gesicht, weiter: „Weißt du, was sie damals, als wir uns dann zum ersten Mal getroffen haben, zu mir gesagt hat?“ Sie wartete Davids Antwort gar nicht erst ab, sondern fuhr fort: „Sie hat gesagt, dass sie sich von ihrem Bruder sowieso nichts verbieten lasse, zumal sein einziger Beweggrund nämlich der sei, dass er sich in Grund und Boden schäme, weil er von dir und dem ‘kleinen roten Zwerg‘ verdroschen wurde und dass das nach ihrer Meinung schon lange einmal fällig gewesen wäre. Ja und seitdem treffen wir uns ab und zu. Das geht natürlich nicht allzu oft, aber Charlotte findet irgendwie immer eine Gelegenheit oder Ausrede, um es doch möglich zu machen. Ach Dave! Sie ist so nett und lustig! Mit ihr zusammen zu sein macht wirklich Spaß und sie würde so gerne einmal mitkommen! Bitte, es wird auch niemand erfahren! Ganz sicher nicht! Komm, Dave, sag ja!“
David seufzte und sah alles andere als begeistert aus. Wenn das so weiterginge, würde er am Ende umschart von einer Horde gackernder Hühner sein und zum Gespött der gesamten Ortschaft werden. Was alles passieren könnte, wenn Charles etwas davon erführe, oder einer seiner älteren Brüder oder am Ende gar der alte Benhaven selbst, wollte sich David gar nicht erst ausmalen.
„David, nur einmal und keiner erfährt was!“ Bittend sah Ruth in das Gesicht ihres Bruders.
„Nein, Ruth, also alles, was recht ist, aber dazu hab‘ ich wirklich überhaupt keine Lust!“
„Ach David, warum denn nicht?“
Doch statt einer Antwort sagte David nur in gleichgültigem Tonfall: „Reite doch alleine mit ihr aus.“
Die Augen seiner Schwester begannen wütend zu funkeln und ihr bittender, umschmeichelnder Tonfall wurde scharf und anklagend zugleich: „Du bist richtig gemein! Du weißt ganz genau, dass Mutter und Vater mich niemals alleine mit Charly davonreiten lassen würden!“
Und damit hatte sie allerdings recht. David seufzte mit unüberhörbarem Unbehagen auf, legte sorgenvoll die Stirn in Falten und blickte seine Schwester mit dem leidenden Ausdruck eines getretenen Hundes in die Augen.
„Ach Ruth, ich hab‘ wirklich keine Lust kleine Mädchen spazieren zu führen.“
Was in Ruth‘ Augen nur drohend gefunkelt hatte, brach nun aus ihr heraus und sie fauchte ihn wie eine wildgewordene Katze an: „Sag mal David! Ich glaube, du bist von allen guten Geistern verlassen! Ich bin schließlich älter als du! Du, eingebildeter Kerl!“
Voller Vorwurf und heller Empörung blitzten ihre Augen in dem vor Wut verzerrten Gesicht. David spürte sehr deutlich, dass er mit seiner unachtsamen Bemerkung ein Stück zu weit gegangen war und in Anbetracht der Tatsache, dass Ruth für ihn, zumindest momentan, den Platz eines Freundes einnahm, wollte er es sich mit ihr auf gar keinen Fall verscherzen.
In ihm kämpfte der Wille einzulenken mit dem Unwillen, sich mit Charles Benhaven anzulegen.
Mit deutlichem Widerwillen, einem unbehaglichen Gefühl im Herzen und einem tiefen, ergebenen Seufzer auf den Lippen sagte er schließlich: „Also gut, aber das darf wirklich niemand erfahren Ruth, niemand!“
„Natürlich nicht! Was denkst du denn?“
Ruth konnte das Gefühl heiteren Triumphes nicht ganz verbergen und lächelte David verstohlen an. Das wütende Blitzen in ihren Augen war so schnell verschwunden wie eine Schneeflocke unter dem Brennglas. David registrierte es verblüfft und erleichtert zugleich und lächelte freimütig zurück.
Auf dem Ritt nach Hause war David schweigsamer als gewöhnlich. Er versuchte beständig, sich Charles Benhavens Schwester in Erinnerung zu rufen. Sicherlich war er ihr schon mehr als einmal begegnet, aber er hatte sie natürlich nie eines Blickes gewürdigt. Infolgedessen war sein Bild von ihr nur schemenhaft. Das einzige, was er mit Gewissheit sagen konnte war, dass sie ebenso dunkle, beinahe schwarze Haare wie ihr Bruder hatte. Ein Gesicht bekam David vor seinem inneren Auge jedoch beim besten Willen nicht zustande. Nun ja, sei‘s drum! Er würde Charles‘ Schwester ohnehin zur Genüge in Augenschein nehmen können und insgeheim begann ihm der Gedanke daran, Charles auf diese Weise hinters Licht zu führen, sogar ein bisschen Spaß zu bereiten.
Bereits am übernächsten Tag verkündete Ruth strahlend, dass sie „ihre Charly“ am Flussufer treffen würden.
David zuckte bei der Erwähnung des Namens „Charly“ zusammen. Eigentlich konnte dieser seltsame Umstand, dass beide Geschwister auf denselben Spitznamen hörten, nur bedeuten, dass sie sich sehr ähnlich waren. Er hatte plötzlich ein ganz eigentümliches Gefühl, ganz seltsam tief in der Bauchgegend erhob es dumpf und leise seine warnende Stimme. Hätte er in diesem Moment seinem inneren Gefühl Folge geleistet, so hätte er, Versprechen hin oder her, in letzter Minute seine Zusage zurückgenommen. Da er aber auf sich hielt, ein Mann zu sein, der zu seinem Wort stand, sagte er nichts und versuchte stattdessen, dieses beunruhigende Etwas in seinem Inneren zu ignorieren.
David wunderte sich immer wieder darüber, wie elend langsam Tage vergehen konnten, wenn man sich auf ein bestimmtes Ereignis freute und es sich sehnsüchtig herbeiwünschte. Stand aber etwas bevor, auf dass man gut und gerne verzichten konnte, so verging die Zeit wie im Fluge.
Und genauso war es auch diesmal wieder. Ehe er es sich versah, war es soweit und er ritt an der Seite seiner Schwester, deren Wangen vor freudiger Erwartung zartrosa gefärbt waren, zum gemeinsamen Treffpunkt am Mississippi.
David klammerte sich insgeheim an die Hoffnung, dass es Charlotte vielleicht nicht gelingen könnte von zu Hause wegzukommen und sie infolgedessen gar nicht erst am vereinbarten Ort erscheinen würde. Doch natürlich war das nicht der Fall.
In der Schmiede herrschte um diese Uhrzeit noch Hochbetrieb und der alte Benhaven war mit seinen drei Söhnen vollauf beschäftigt. Die Mutter Benhaven lebte nicht mehr und Charlotte musste infolge dessen nur dafür sorgen, dass sie zu Hause war, wenn es allmählich dunkel zu werden begann und das Essen auf dem Tisch stand, wenn die Brüder und der Vater nach Hause kämen.
Sie hatte das Essen bereits am Vortag vorbereitet und würde es lediglich ausreichend früh auf den Herd schieben müssen. Sie betete insgeheim, dass das Feuer nicht vollkommen erlöschen möge, denn bis der schwere gusseiserne Ofen wieder aufgeheizt wäre, würde es sicherlich ein Weilchen dauern.
Charlotte war an diesem heiß ersehnten Tag bereits weit vor Morgengrauen aufgestanden und hatte heimlich, still und leise damit begonnen ihr Tagewerk zu verrichten. Als nun leider einzige Frau im Haus, mit den vier Männern, hatte sie wahrhaft alle Hände voll zu tun. Dabei stand ihr der Sinn doch nach ganz anderen Dingen, als nach Hausarbeit, nach kochen, waschen, Boden schrubben, Hühner rupfen, Socken stopfen, Hosen flicken. Über viele Stunden am Tag war sie vollkommen allein mit der ganzen Arbeit und solange die Hose geflickt und das Essen auf dem Tisch war, scherte sich keiner auch nur einen Deut darum, wie es ihr eigentlich ging.
Charlotte hatte sich in ihrer Phantasie ihre eigene Welt kreiert, eine Welt in der sie nicht alleine war, in der ihre Meinung etwas zählte. An manchen Tagen wurde diese Welt, wurden ihre Tagträume so reell, dass sie sogar mit den imaginären Personen zu sprechen begann. Aber auch in der wirklichen Welt hatte sie eine geheime Verbündete und Charlotte hatte bewusst genau diejenige dazu auserwählt, welche ihren Brüdern bestimmt am allerwenigsten gefallen hätte. Dies war ihre Art, gegen all das aufzubegehren. Sie wollte fort von hier!
Manchmal hasste sie das alles hier, inbrünstig, aus tiefster Seele heraus. Sie glaubte nicht atmen zu können, in diesem Haus, in dem es beständig scharf nach schmutzigem Männerschweiß und Alkohol roch, egal wie sie auch putzte und wienerte. Es reichte schon, dass einer von ihnen im Haus war und alle ihre Mühen waren dahin.
Und genau aus diesem Grund war schon allein die Vorstellung, gemeinsam mit Ruth und diesem Erzfeind ihrer Brüder heimlich hinauszureiten, sich ein Stück vorzuwagen in die Wildnis, in neue, unbekannte Gefilde, eine äußerst befriedigende Genugtuung für Charlotte. Ein Hochgenuss, der ihr die Arbeit leicht von der Hand gehen ließ.
Charles konnte machen was er wollte, er war nur scheinbar der Sieger!
Nach dem Mittagessen, als die Brüder gemeinsam mit dem Vater endlich wieder in der Schmiede verschwunden waren, hatte sie ihre restlichen Aufgaben erledigt.
Sie hatte Wasser geholt, den Abwasch besorgt, den Boden geschrubbt, den kleinen Kräuter- und Gemüsegarten und die Hühner versorgt und das Abendessen vorbereitet. Zu guter Letzt griff sie sich einen Beutel mit dreckiger Wäsche, eine Bütte und das Waschbrett und lief hinunter zum Fluss.
Auf diese Weise konnte sie jederzeit begründen, sollte ihr Fehlen tatsächlich einmal bemerkt werden, warum sie nicht zu Hause gewesen war, wenn sie sich heimlich mit Ruth traf.
Die alte Schmiede und alles was dazugehörte, von der Dreckwäsche einmal abgesehen, lag nun endlich weit hinter ihr, denn Charlotte befand sich in der wärmenden, gleißenden Sonne am Flussufer, dem ersehnten Treffpunkt und war eifrig dabei, verschwitzte und rußgeschwärzte Hemden und Hosen zu waschen. Sie würde die nassen Sachen einfach in der Bütte verstauen und im angrenzenden Wald verstecken.
Sonst half Ruth ihr oft mit der Wäsche und sie hängten sie dann gemeinsam in einer Waldlichtung an den Bäumen zum Trocknen auf, während sie sich unterhielten.
Heute aber würde alles anders sein, ganz anders! Und noch viel aufregender als sonst würde es werden! Sie würde tatsächlich einmal von hier wegkommen, zumindest ein Stück weit und das würde herrlich sein!
Es war Charlotte gelungen, beim Wäschewaschen selbst nicht allzu nass zu werden und so wartete sie nun ungeduldig darauf, dass Ruth und ihr Bruder kommen würden, während die Sonnenstrahlen allmählich damit begannen, die Feuchtigkeit aus ihren Kleidern zu saugen.
Charlotte blickte auf die gemächlich dahinfließenden Wassermassen des Mississippi und beobachtete die glitzernden, glänzenden, hin und her irrenden Lichtreflexionen auf seiner von Wellen und Strömungen durchzogenen Oberfläche.
Huftritte ließen sie aufblicken und hinter sich schauen.
Ruth strahlte über das ganze Gesicht. Sie stieg von ihrem Pferd und sagte mit einem glücklichen Lachen: „Charlotte, wie schön! Fein, dass du da bist!“
David sah weit weniger begeistert aus. Er blieb auf seinem Pferd sitzen und ließ ihrem freundlichen Gruß lediglich ein kurzes Nicken folgen.
Charlotte hatte den Eindruck, als suche er irgendetwas, denn Davids Blick begann forschend in die Runde zu schweifen. Ruth, welche den Blicken ihres Bruders gefolgt war, fragte: „Sag mal, hast du was verloren?“
„Nein! Aber, wo ist ihr Pferd?“, antwortete David sichtlich irritiert mit einem leichten Kopfnicken in Charlottes Richtung. Sein dezent ungehaltener Unterton war nicht zu überhören.
„Charlottes Pferd?“ Ruth lachte und sagte leichthin: „Aber Charlotte hat doch gar kein Pferd! Hab ich das nicht gesagt?“
„Nein! Verdammt, das hast du nicht!“
Obwohl sich Davids Miene deutlich verdüsterte, fügte Ruth unbekümmert hinzu: „Na so was, dann hab ich das wohl vergessen…! Ach Dave, das ist doch nun wirklich kein Problem! Charlotte steigt bei mir mit auf.“
An Charlotte gewandt, welche den Wortwechsel mit angehaltenem Atem verfolgt hatte, sagte sie: „Komm Charly, wir verstauen erst einmal die Bütte mit der Wäsche und dann geht’s los!“
Charlotte lächelte sie dankbar an und schenkte auch David ein zaghaftes Lächeln, das dieser jedoch nicht erwiderte, ergriff dann den einen Henkel und schleppte mit Ruth gemeinsam die schwere, voll Wasser gesaugte Holzbütte mitsamt der nassen Wäsche Richtung Wald.
David sah den beiden mit einem verständnislosen und auch ärgerlichen Kopfschütteln hinterher. Das fing ja wahrlich prächtig an! Wirklich, ganz famos!
13
Silas verlor zusehends an Gewicht, es war nicht zu übersehen. Die meiste Zeit befand er sich in einem eigenartigen, halb wachen, von Fieberphantasien durchzogenen Dämmerzustand. Elias saß vollkommen in sich zusammengesunkenen an Silas‘ Bett und betrachtete angstvoll dessen beinahe schon durchscheinendes, schweißnasses Gesicht, welches sich in Fieberträumen unruhig hin und her bewegte. Er war so erschreckend schmal geworden, dass die Haut dünn und papieren die Knochen seines Schädels nur mehr zu umspannen schien. Seine Augen, diese schönen tiefbraunen Augen, die so warm und freundlich strahlen konnten, wurden nun von dunklen Schatten und tiefen, scharf abgegrenzten Ringen umrahmt. Sie schienen ein Stück zurück in ihre Höhlen gesunken zu sein, was seinen Zügen etwas Fremdes und beinahe schon Gespenstisches verlieh.
Als Silas plötzlich und unvermittelt seine Augen aufschlug, erschrak Elias geradezu.
Scheinbar ohne etwas um sich herum wahrzunehmen, ohne wirklich das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, blickte Silas durch seinen Vater hindurch. Der einstmalige Glanz seiner Augen war dahin, ihr Feuer erloschen. So sehr sich Elias auch dagegen zu wehren versuchte, kam ihm doch immer wieder der Gedanke, dass sein Sohn bereits begonnen hatte, den Weg von den Lebenden hin zu den Toten zu gehen. Dass sein Körper am Dahinschwinden war, seit Tagen schon.
Er, der doch nichts weiter hatte erreichen wollen, als sein einziges Kind für sich zu gewinnen, würde es nun für immer verlieren, kaum dass er sich ihm überhaupt genähert hatte. Diese Erkenntnis und der unbändige Schmerz, der ihn in ihrer Gefolgschaft überfiel, waren so aufbegehrend und ohnmächtig zugleich, dass Elias, welcher Tränen schlicht verabscheute, die Hände vor das Gesicht schlug und hilflos von rauen Schluchzern geschüttelt wurde.
Warm und ruhig fühlte er da die Hand seines Freundes auf der Schulter und leise vernahm er dessen beinahe beschwörend geflüsterte Worte: „Es ist noch nicht alles verloren, Elias, solange er atmet, besteht auch noch Hoffnung!“
Tief seufzend holte Elias Luft und versuchte mühselig seine Fassung wiederzufinden, als er gewahr wurde, dass sein bärbeißiger Freund seinerseits bemüht war, die hartnäckig wiederkehrende Flüssigkeit in seinen Augen wegzuzwinkern und schließlich verstohlen über seine Augen wischte.
„Er wird sterben, nicht wahr?“ Elias‘ Stimme bebte, klang für ihn selber eigenartig fremd, rau und tonlos.
„Ich weiß es nicht, Elias, ich weiß es wirklich nicht.“
Mit Verzweiflung im Herzen betrachtete Sam den Sohn seines Freundes und er hatte mit einem Mal das sichere Gefühl, dass Elias recht hatte.
Der Tod saß hier bereits irgendwo friedlich in einer Ecke des Raumes und wartete, geduldig und ruhig. Und gleichermaßen fühlte Sam, dass er noch nicht an Silas‘ Bett saß. Vielleicht gab es also doch noch eine, wenn auch noch so winzig kleine Chance. Nur woraus konnte sie bestehen? Wie nur diesen ungebetenen Gast zum Weiterziehen bewegen?!
Gedankenverloren blickte Sam durch das kleine Fenster nach draußen. Die Sonne tauchte alles in ein warmes, verheißungsvolles Licht, verlieh der Umgebung etwas Anmutiges, beinahe Heiteres, was die Schwere in seinem Herzen nur umso bedrückender erscheinen ließ. Sie mussten Hilfe holen! Nur wo? Die nächste Siedlung eines Ojibweclans mochte an die zwei Tagesreisen entfernt sein. Dies bedeutete vier Tage des Weges und das nur, insofern alles glatt ginge. Doch würde überhaupt ein Midewiwinini - Medizinmann -, eine Midewiquae - Medizinfrau - mit ihm hierherkommen? Silas selber irgendwohin zu transportieren, war aus vielerlei Gründen nicht zu verantworten. Grundsätzlich einmal war es mehr als fraglich, ob er die Strapazen einer Reise, egal wie umsichtig sie auch geplant und gestaltet wäre, überhaupt überleben würde. Auch war es undenkbar, das Risiko und die Verantwortung auf sich zu nehmen, Silas und somit auch seine Krankheit in ein Indianerdorf zu tragen, denn Sam wusste, dass die Indianer mit den vielen Erkrankungen, welche die Weißen mit sich brachten, nur denkbar schlecht zu Rande kamen. Nein, weder das eine, noch das andere schien ihm wirklich praktikabel zu sein.
„Sam …“
Sam fuhr, durch die heisere Stimme seines Freundes aufgeschreckt, herum und blickte in dessen verweintes Gesicht.
„Sam, ich will nicht, dass der Junge geht, ohne noch einmal die Sonne gespürt und frische Luft geatmet zu haben.“
Voller Zweifel wandte Sam ein: „Elias, ich glaube Silas merkt gar nicht, ob irgendwo die Sonne scheint. Du würdest ihm damit wahrscheinlich keinen Gefallen tun.“
„Doch Sam, ich glaube ganz sicher, dass Silas es gerne so haben würde. Er würde bestimmt nicht hier in der Dunkelheit dieser Kammer krepieren wollen.“
Erstaunlich entschieden und fest klang Elias‘ Stimme, während sein Blick in weite Ferne schweifte. Nach einer Weile fügte er leise und wie zu sich selber hinzu: „Er muss einfach den freien Himmel über sich spüren können, er war immer draußen, weißt du? Wenn es ging, wenn es irgendwie ging, dann war mein Silas immer draußen.“ Wieder begannen Elias’ Tränen zu fließen, doch diesmal versuchte er gar nicht erst sich dagegen zu wehren.
Sam schwieg. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, sagte er entschlossen: „Gut, wenn du meinst. Aber dann müssten wir ihm eine Art Bett für draußen zimmern, auf einen Stuhl wirst du ihn ja wohl nicht setzen wollen.“
„Ich dachte an mein Kanu, man könnte es mit Stroh auspolstern.“
Sam schwieg einen Moment und dachte nach, dann nickte er und murmelte: „Mmh, ja, das könnte geh‘n … Elias, dann kümmer‘ du dich jetzt um das Kanu und lass mich solange bei Silas wachen. Es wird dir bestimmt guttun, da draußen an der frischen Luft etwas zu schaffen zu haben.“
Elias nickte nach kurzem Zögern und erhob sich langsam von seinem Stuhl, ohne jedoch den Blick von Silas abwenden zu können. Es fiel ihm ungeheuer schwer, von der Seite seines Sohnes zu weichen, doch er wusste, dass Sam vollkommen recht hatte. Er musste für ein Weilchen raus hier und die Gelegenheit dafür war wie geschaffen, denn er würde nun ja da draußen etwas für seinen Sohn unternehmen können.
Als Elias bereits im Begriff war das Haus zu verlassen, trat Sam noch einmal auf ihn zu, legte beinahe beschützend den Arm um die Schultern des Freundes und sagte sanft, doch sehr eindringlich: „Elias, gib deinen Jungen nicht auf, nicht so schnell. Es sieht jetzt zwar wirklich verdammt übel für ihn aus, aber trotzdem … oder vielleicht sogar gerade deshalb.“
Elias betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Freundes, nickte dann kaum merklich und wendete sich schweigend zum Gehen. Als er vor die Tür trat, empfing ihn heiterer Sonnenschein, das Grün der Bäume kam ihm beinahe unnatürlich intensiv und leuchtend vor und die im Wind schaukelnden Wipfel schienen ihn in seiner Trauer und Verzweiflung neckend locken und aufmuntern zu wollen. Seufzend wandte er seinen Blick ab vom üppigen Grün und nahm stattdessen das Kanu in Augenschein. Es erschien ihm plötzlich viel zu schmal, wie in einem Sarg würde Silas darin liegen. Ein Schauer ließ ihn zittern, kroch mit klammer, kalter Hand seinen Rücken empor, um sein Genick zu erfassen. Unwillkürlich spannte Elias sämtliche Muskeln seines Körpers krampfhaft an und biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte, doch er bemerkte es kaum.
Gerade war er dabei, sein Kanu sorgfältig mit Stroh auszupolstern, als Sam aus dem Haus kam und eiligen Schrittes auf ihn zulief.
„Elias!“
Alarmiert schreckte Elias hoch. Der aufgeregte Tonfall in der Stimme seines Freundes fuhr ihm mit bitterem Schmerz durch alle seine Glieder und entsetzt, ließ er alles fallen, was er gerade in Händen hielt und rannte in wilder Panik seinem Freund entgegen. Doch Sam packte ihn an den Schultern, hielt ihn fest, schüttelte ihn ein wenig und verkündete strahlend: „Ich habe mich an was erinnert! Als Kind hat meine Mutter mir nasse Tücher umgewickelt, wenn ich hohes Fieber hatte, ich werde das jetzt sofort ausprobieren, wenn du damit einverstanden bist.“
Elias‘ schreckgeweitete Augen blickten verdutzt in das Gesicht seines Freundes, es dauerte einen Moment bis er zu begreifen begann, dann aber redete er unnötig laut auf ihn ein: „Sam, du hast ja recht! Ich erinnere mich! Diese furchtbar kalten, nassen Wickel, ich erinnere mich genau! Es war entsetzlich, aber es hat geholfen, es hat das Fieber gesenkt! Mein Gott, ja, mach das! Worauf wartest du noch?“
Abrupt und ohne ein Wort zu erwidern, drehte sich Sam um und rannte zurück in das Haus, während sich Elias mit neuem Elan daran machte, das Kanu in eine möglichst bequeme Liegestätte zu verwandeln. Als er dann endlich mit dem Endergebnis seiner Bemühungen zufrieden war, beeilte er sich zu Silas und Sam zu kommen, um zu sehen, wie es seinem Sohn ging und ob die Wickel die erhoffte Wirkung taten.
Tatsächlich gewann Elias den Eindruck, dass Silas etwas ruhiger war und seine Stirn sich nicht mehr gar so heiß anfühlte.
Sorgsam deckte Sam Silas zu und sprach in gedämpftem Ton zu Elias: „Wir lassen ihn jetzt besser schlafen. Wenn er wach wird, fütterst du ihn mit dem Brei, der auf dem Ofen steht. Ich werde jetzt versuchen etwas zu jagen und vielleicht ein paar erste Beeren zu finden. Wenn ich zurück bin, tragen wir ihn gemeinsam raus.“
Später dann, als Elias seinen Sohn stützte, ihn sicher in seinen starken Armen hielt und mit Brei fütterte, wurde er mit einem Mal gewahr, dass er gerade dabei war, etwas zu tun, was bisher mit seinen Vorstellungen vom Vatersein nicht im Geringsten zu tun hatte. Dennoch hatte er das befriedigende Gefühl, etwas ungeheuer Wichtiges nachzuholen. Er fühlte sich in diesen Minuten als Vater durch und durch, mit jeder Faser seines Körpers. Als Silas nichts mehr essen wollte, säuberte Elias sorgsam dessen Gesicht, half ihm aus den nassen Wickeln, trocknete den dünn und knochig gewordenen Körper, zog ihm ein frisches Hemd über und hob ihn dann schließlich kurz entschlossen hoch, um ihn nach draußen zu tragen. Elias erschrak furchtbar darüber, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelang, seinen bald ausgewachsenen Sohn zu tragen. Behutsam legte er ihn in das umfunktionierte Kanu, welches im Schatten eines gewaltigen Ahornbaumes stand und deckte ihn zu.
Silas blinzelte in das Sonnenlicht. Gleißend hell und blendend erschien es ihm, selbst im Schatten des Baumes schmerzte die ungewohnte Helligkeit in seinen Augen. Wie von selber schlossen sich seine Augenlider und erwachten scheinbar zu gleicher Zeit seine Ohren zu neuem Leben. Überdeutlich stürmte das Zwitschern der Vögel, das Kreischen der Möwen, das Rauschen der Wellen und das Wispern, der im Wind hin und her schaukelnden, aneinander reibenden Blätter auf ihn ein, vermengten sich zu einer einzigen Geräuschkulisse, die mehr und mehr eine beruhigende, wellenartige Gleichförmigkeit aufzuweisen begann.
Als Silas kurz darauf wieder eingeschlafen war, trat Sam leise von hinten an sie heran. „Wie geht es ihm?“
Elias antwortete ohne seinen Blick von Silas zu wenden: „Ich weiß nicht, aber ich glaube, es geht ihm ein bisschen besser. Er schläft so ruhig wie seit Tagen nicht.“
An diesem Tag endlich begann das Fieber zu sinken und obwohl Silas wirklich erschreckend schwach und dünn war, gewann er doch wieder sein Interesse am Leben zurück. Die Dankbarkeit, die Elias‘ Herz erfüllte, war schier grenzenlos. Elias war so glücklich und froh, dass er den ganzen Tag irgendeine Melodie auf den Lippen hatte. Er hatte seinen Sohn zurück! Wahrhaftig! Die Welt war wieder sein, das Leben stand ihm wieder offen und alles, wirklich alles, erschien Elias gut, so wie es war.
Silas selbst aber, der nach und nach wieder Herr seiner Sinne geworden war, bemerkte mit wachsendem Erstaunen die Veränderung, die in seinem Vater vorgegangen war. Spürte seine Nähe und Fürsorglichkeit, wurde gewahr, mit welcher Umsicht er von seinem Vater behandelt wurde. Silas war überrascht und dankbar zugleich, denn er fühlte sich schrecklich schwach und hilflos, wie ein kleines Kind und hatte dennoch nicht das Gefühl, sich zusammenreißen und für seine Bedürftigkeit schämen zu müssen.
Es war bereits Ende Mai, als Silas soweit wiederhergestellt war, dass er in bescheidenen Maße seinen Teil zur Bewältigung all der Anforderungen, die das Leben in der Wildnis mit sich brachte, beitragen konnte.
Elias fragte sich, ob nicht langsam die Zeit gekommen sei, da man die Weiterreise ins Auge fassen müsse. Der ursprünglich geplante Zeitpunkt war nun schon mehr als sechs Wochen überschritten und schließlich mussten sie sich ja bereits im frühen September wieder auf die Rückreise begeben, wollten sie nicht unterwegs von den grimmigen Nachtfrösten und am Ende sogar von einem frühzeitig einsetzenden Schneegestöber heimgesucht werden.
Es würden also jetzt schon ohnehin nicht mehr als lumpige drei Monate der sonst immerhin fünf Monate dauernden Saison verbleiben und das auch nur, wenn sich der Aufbruch nicht noch mehr verzögerte. Elias machte sich ganz beträchtliche Sorgen, ob die diesjährige Ausbeute auch ausreichen würde, um seine Familie einigermaßen sorgenfrei und bequem über den Winter bringen zu können. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, er würde mit seinem Sohn über die Weiterreise sprechen müssen, am besten heute noch.
Die Sonne schien gerade in einem wahren Feuerwerk aus leuchtenden Rot- und Orangetönen in den Wellen des Gitchi Gami untergehen zu wollen, als Elias leise hinter Silas trat, der versunken in das prächtige Farbenspiel der Natur am Ufer stand.
Einer spontanen Regung folgend legte Elias einen Arm um Silas‘ Schultern und zog ihn für einen Moment dicht an seine Seite. Elias spürte Silas‘ elastischen, jungen Körper, seine Wärme und er genoss es ungemein all das zu spüren. Immer wieder überkamen ihn, seitdem Silas dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war, derart befremdlich zärtliche Gefühle für seinen Sohn. Er wusste selber nicht recht, was da in ihm vorging, was da mit ihm in den vergangenen Wochen geschehen war. Seine Gefühle verunsicherten ihn beträchtlich und machten ihn zugleich doch auch ungeheuer glücklich.
Silas staunte seinerseits auch an diesem Abend wieder über die Anwandlungen seines Vaters, dessen Zuwendungen früher über ein väterliches Schulterklopfen niemals hinausgegangen waren. Nachdenklich und fragend blickte er in Elias‘ Gesicht, dessen Züge im Widerschein der untergehenden Sonne in sanftem Orange schimmerten.
Der Blick des Vaters aber wanderte über die Weite des Sees und blieb auch dann noch von Silas abgewandt, als er zu ihm sprach: „Was meinst du Silas, bist du soweit, dass wir die Weiterreise in Angriff nehmen können?“
Unsicher blickte Elias zu Boden und schubste ein Steinchen mit der Schuhspitze ins Wasser. Dabei bemerkte er nicht, dass Silas‘ Lippen von einem liebevollen Lächeln umspielt wurden und sein Blick warm und verstehend auf dem Vater ruhte.
„Ja, Nimbaabaa“, antwortete er schließlich, „ich denke es ist so weit, dass wir uns wieder auf den Weg machen können.“
Elias atmete erleichtert auf und sagte: „Gut, dann lass uns morgen unsere Sachen und Vorräte zusammenpacken und heute Abend schon alles Notwendige mit Sam besprechen.“ Elias stockte einem Moment und blickte Silas fragend an. „Oder geht das alles jetzt doch zu schnell für dich?“
Silas‘ Gesicht wirkte immer noch reichlich spitz, die Krankheit hatte unübersehbar ihre Spuren hinterlassen, doch seine Augen hatten ihren alten Glanz zurück gewonnen und strahlten wieder, wie von einem inneren Feuer erwärmt.
„Nein, Nimbaabaa, das ist schon in Ordnung so. Übermorgen, das ist ein guter Tag!“
Und während Silas seinen Blick erneut der untergehenden Sonne zuwendete, begann er ganz leise eines seiner Lieder zu singen. Er sang von den Sonnenstrahlen, die golden auf dem Wasser tanzten und ihm den Weg wiesen zu seinem Volk, das er kannte und doch nicht kannte, das ihm Heimat war und Fremde zugleich.
Und Elias, dem die ewige Singerei seiner Frau und erst recht die seines Sohnes, so manches Mal ganz ordentlich auf die Nerven gegangen war, lauschte nun zufrieden und beglückt, ja beinahe andächtig, dem ersten Lied seines Sohnes nach so unendlich langer Zeit und erstaunt stellte er fest, wie tief und wunderschön Silas‘ Stimme klang.
14
David vernahm zu diesem Zeitpunkt ganz andere Klänge als Elias.
Im Moment war er gerade im Begriff sich den ersten Vollrausch seines Lebens anzutrinken, wobei er darum bemüht war, das flaue Gefühl in seiner Magengrube zu ignorieren und mit dem Rest der Runde mitzuhalten.
Edwin hatte David nach getaner Arbeit mit der Einladung überrascht, gemeinsam mit ihm den ein wenig schäbigen Saloon des Ortes zu besuchen. Und David hatte rote Ohren vor Freude darüber bekommen, dass nun offensichtlich der Moment gekommen war, da endlich anerkannt wurde, dass er mit seinen sechzehn Jahren kein kleiner Junge mehr war, sondern auf dem besten Wege ein Mann zu werden. Mit Freuden hatte er die Einladung seines Bruders angenommen.
Die Tatsache, dass auch Charly Benhaven mit seinen Brüdern anwesend war, störte David dabei nicht im Geringsten. Vom Whiskey berauscht, hatte er das Gefühl, es im Notfall gleich mit allen Dreien auf einmal aufnehmen zu können und abgesehen davon fühlte er sich auch viel zu selig und beschwingt, viel zu zufrieden mit sich und der Welt, um an einen Streit oder am Ende sogar an eine Schlägerei zu denken. Im Gegenteil, die ganze Zeit über gluckste ein Lachen in seiner Kehle, dummerweise vor allen Dingen dann, wenn er Charly ansah und an all das dachte, was dieser noch nicht einmal erahnen konnte. Fast schon zwanghaft wanderte sein Blick immer wieder an den Tisch, an dem sein Erzfeind gemeinsam mit seinen Brüdern und noch einigen anderen saß und nicht eben selten erwischte er Charly dabei, wie er seinerseits zu ihm hinüberstarrte. David musste sich enorm zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten, was ihm jedoch bedauerlicherweise mit zunehmender Alkoholmenge seines Blutes immer weniger gelingen wollte. Beim vierten Whiskey angelangt, war David bereits so weit, dass er Charly mit einem süffisanten Grinsen zuprostete. Glücklicherweise behielt Edwin seinen kleinen Bruder die ganze Zeit über im Auge. Zwar hatte er keinen blassen Schimmer davon, was da eigentlich zwischen seinem Bruder und dem jüngsten der Benhaven-Brüder in der Luft lag, doch dass es etwas Knisterndes und möglicherweise Hochexplosives sein könnte, war ihm ziemlich schnell klar geworden. Trinkfest und saloonerfahren, wie er mit seinen gestandenen fünfunddreißig Jahren war, beeilte er sich David nach Hause zu manövrieren, um zu verhindern, dass gerade der erste gemeinsame, feuchtfröhliche Ausflug mit dem kleinen Bruder in einer Massenschlägerei endete. Allerdings war dies kein einfaches Unterfangen, denn David schwankte beträchtlich und stütze sich schwer auf ihn.
Es war seltsam, eben noch hatte sich David pudelwohl und ausgelassen gefühlt, doch kaum hatte ihn sein Bruder in die Senkrechte gehievt, da begann auch schon der Boden unter ihm zu schwanken. Als er dann aus dem rauchigen Saloon in die kühle Nacht hinaustrat, traf ihn die frische, klare Luft wie ein Keulenschlag. Es gelang David gerade noch, an einem der Holzpfosten vor dem Saloon Halt zu finden, ehe er in einem großen Schwall so ziemlich alles wieder von sich gab, was sein Magen an vornehmlich Hochprozentigem beinhaltete. David hatte das Gefühl, sich wahrhaftig die Seele aus dem Leib zu kotzen und es dauerte eine ganze Weile, ehe er, von Edwin gestützt, den Heimweg anzutreten vermochte.
Am nächsten Morgen erwachte David mit fürchterlichen Kopfschmerzen, die dumpf und brummend seinen Schädel erfüllten, scheinbar fest dazu entschlossen, ihn irgendwann auseinanderbersten zu lassen. Die spärlichen Sonnenstrahlen in der halbdunklen Kammer blendeten ihn und taten in seinen Augen weh. Verkatert und griesgrämig blickte David um sich. Edwin war scheinbar bereits aufgestanden.
Mit einem tiefen Seufzer ließ David sein gemartertes Haupt auf sein Kissen sinken. Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben, doch das war unmöglich. Was sagte sein Vater immer?
„Wer Kraft hat zu feiern, der hat auch Kraft zu arbeiten!“
Was für ein Unsinn! Aber dennoch, es half alles nichts. Also quälte er sich mühselig aus dem Bett und zog seine Hose über.
Als erstes begegnete ihm seine Schwester Sharon, die gerade dabei war Speck für das Frühstück anzubraten. Der fettige Dunst brachte Davids Eingeweide erneut in Wallungen und er befürchtete, sich am Ende schon wieder übergeben zu müssen.
Mit spöttischem Blick musterte Sharon ihren jüngeren Bruder, blickte abschätzend in seine rotgeränderten Augen und sagte mit einem unverkennbar verächtlichen Unterton: „Na, kleiner Bruder! Du hast ja wahrhaftig ein wunderbares Bild abgegeben, als du mit Edwin nach Hause getorkelt bist. Mann oh Mann, wie ein kleines Kind haben wir dich ins Bett bringen müssen und vollgekotzt warst du auch, wie ekelhaft!“
Missbilligend schüttelte sie ihren duftigen, mit einer dunkelblauen Samtschleife versehenen Lockenkopf und rümpfte ihr kleines Näschen.
Als sich nur wenige Minuten später dann die gesamte Familie zum Frühstück um den großen Tisch versammelt hatte, fühlte David so manch einen abschätzenden, forschenden und manches Mal auch spöttischen Blick auf sich ruhen, doch wurde zu seiner Erleichterung das klägliche Ende seines ersten Saloonbesuches gnädigerweise von niemandem erwähnt. Auf anderweitige Schonung konnte er allerdings nicht hoffen, im Gegenteil, er ahnte bereits, dass „zufälligerweise“ gerade heute besonders viel Arbeit auf ihn warten würde. Und genau so war es dann auch. Zu der üblichen Stallarbeit bekam er noch einen ordentlichen Posten im Warenlager zugeteilt und obendrein die Aufgabe, zwei Klafter Holz zu hacken.
Später dann kam zu allem Überfluss auch noch sein Vater hinzu und konnte anscheinend nicht umhin, ihm grinsend auf die Schulter zu klopfen und seine Weisheiten zum Besten zu geben.
„Mach dir nichts draus, David, weißt du, das ist wie mit der Reiterei. Ein guter Reiter ist auch im Absturz geübt, …“
„Oh Dad! Bitte! Würdest du mich einfach in Ruhe lassen?“ Gequält blickte David seinen Vater an, um sich dann erneut seiner Arbeit zuzuwenden.
Es dauerte nicht allzu lange und da kam auch Ruth in den Stall. Doch wenigstens sprach sie ihn sehr leise und vorsichtig an: „Dave? Heute wird es wohl nichts werden mit dem Ausreiten, oder?“
„Ruth, nein, ich denke, also heute wird es ganz sicher nichts damit, wirklich nicht!“
„Schade, na ja, ich hab‘s mir fast gedacht …“ Ruth wandte sich bereits zum Gehen, zögerte aber einen Augenblick und sagte dann: „Es ist wirklich schade, weißt du, Charlotte hätte heute vielleicht mitgekonnt …“
Versunken blickte David, krumm und schwer auf seine Mistgabel gestützt, seiner Lieblingsschwester hinterher und spürte verwundert, dass eine Spur des Bedauerns durch die Nebel in seinem Kopf zu sickern begann. Ob er heute am späten Nachmittag nicht wieder munter genug sein würde, um ein bisschen in der Gegend herumzureiten? Schließlich war da ja nun wirklich nichts weiter dabei!
Er ließ seine Mistgabel stehen, um sich direkten Weges zu Ruth in die Wohnküche zu begeben. Erst als er den äußerst tadelnden Blick seiner Schwester bemerkte, welcher vom Fußboden hin über seine Schuhe glitt, wurde ihm bewusst, dass diese, dreckverschmiert wie sie waren, ihre Spuren hinterließen, wo immer er gerade auch ging und stand.
Eine kleine Weile blieb ihr Blick an seinen schmutzstarrenden Stiefeln hängen, doch dann arbeitete er sich allmählich nach oben zu seinem Gesicht empor, um am Ende mit bitterem Tadel seine strahlend blauen Augen zu fixieren, sichtlich darum bemüht, an diesem heiklen Punkt der Angelegenheit, nichts von ihrer Wut verrauchen zu lassen, … doch es gelang ihr nicht.
David kannte dieses Phänomen nur zu gut, seit frühester Kindheit schon war es ihm wohl vertraut und er hatte gelernt, damit umzugehen und auch zu spielen. Nicht auszudenken wie viel Prügel er sich auf diese Weise schon erspart hatte! Nachdem er allmählich der Macht seiner Blicke gewahr geworden war, hatte er irgendwann damit begonnen, diese Macht auch bewusst einzusetzen, ganz gezielt zu erproben, wie weit er damit gehen konnte und hatte beglückt feststellen dürfen, dass es ziemlich weit war. Die strengen Regeln, die für alle seine Geschwister galten, vermochte er mit einem Augenaufschlag aus den Angeln zu heben und das Beste daran war, keiner nahm es ihm übel, auch die Geschwister nicht und niemand sonst.
Er spielte ein Spiel mit den anderen, ein erhebendes Spiel, dessen Regeln niemand kannte außer ihm, ja von dessen Existenz keiner auch nur ahnte! Das funktionierte tatsächlich überall, nicht nur in seiner Familie, auch bei seinen Kumpels auf der Straße funktionierte es und sogar der Reverend war nicht davor gefeit.
Es war Silas gewesen, der ihn schließlich davon abgebracht hatte allenthalben seine Spielchen zu spielen, genauso wie er es war, der paradoxerweise ganz allmählich Davids guten Ruf, vielleicht nicht gerade ruinierte, so aber doch beträchtlich schmälerte und das durch seine bloße Anwesenheit.
Was seine Spielchen aber betraf, so hatte ihn Silas wohl über lange Zeit schweigend beobachtet und er hatte David ganz offensichtlich bereits im ersten Jahr ihrer Freundschaft durchschaut. Gesagt hatte er damals noch nichts, lange noch nicht, aber es war irgendwie von Anfang an klar gewesen, dass diese Spiele nichts, aber auch rein gar nichts, in ihrer Freundschaft zu suchen hatten. Es hatte bei diesem stillschweigenden Übereinkommen keiner Worte bedurft.
Lachend fuhr Ruth ihm in einer Aufwallung schwesterlicher Zärtlichkeit durch das wirre Haar und sagte: „David, du schläfst ja im Stehen!“ Sogleich schob sie ihm liebevoll einen Stuhl unter den Hintern und sagte in mitfühlendem Ton: „Jetzt setz dich erstmal hin und ich braue dir schnell einen starken Kaffee, wart’s ab, danach geht’s dir wieder besser. Aber zieh um Gottes Willen endlich diese verdreckten Stiefel aus, bevor ich den ganzen Boden schrubben muss.“
Folgsam setzte sich David, zog seine Stiefel aus und stellte sie neben sich, wobei sie wiederum einige Klümpchen und Bröckchen verstreuten.
Doch Ruth war bereits mit Eimer und Lappen, Schaufel und Besen angerückt und eifrig dabei, die Dreckspuren zu beseitigen, die er hinterlassen hatte. Als sie sich dann auch noch seine Stiefel griff, um sie vor die Tür zu stellen, teilte David ihr mit, dass es möglicherweise mit dem Ausritt doch noch etwas werden könnte.
Erstaunt wendete sich Ruth ihrem Bruder zu, blickte ungläubig in seine trüben Augen und sagte: „Den Eindruck hatte ich gerade aber wirklich nicht!“
„Ach, wart’s nur ab, ein starker Kaffee ist alles, was ich brauche, du wirst schon sehen!“
David versuchte zur Bekräftigung seiner Worte ein einigermaßen munteres Lächeln zustande zu bringen und so viel Zuversicht wie möglich in seinen Blick zu legen, so dass der Zweifel aus den Augen seiner Schwester verschwand und einem glücklichen Strahlen die Bühne überließ. Ruth‘ Herz tat einen freudigen Hüpfer bei dem Gedanken an den wider Erwarten geretteten Feierabend.
„Oh David, du bist ein Schatz! Wart nur, ich koche dir den besten Kaffee der Welt!“
Auch Davids Herz klopfte schneller bei dem Gedanken an den gemeinsamen Ausritt und mehr noch bei dem Gedanken an Charlotte.
Zum vierten Mal würde sie nun mit von der Partie sein. Und es hatte nicht einmal aller drei gemeinsam verbrachten Nachmittage bedurft, um David zu der Überzeugung kommen zu lassen, dass Charlotte Benhaven, entgegen all seiner Befürchtungen, das liebenswerteste Geschöpf unter Gottes Himmel war. Wahrhaftig, sie war etwas ganz Besonderes und …, ach, sie war einfach wunderschön! Wie unbegreiflich, ja eigentlich beinahe unverzeihlich, dass ihm das jetzt erst aufgefallen war! David glaubte in manchen Augenblicken, in denen er sie betrachtete, einfach dahinfließen zu müssen. Beinahe schmerzhaft schon war in diesen Momenten sein Wunsch, sie zu berühren, über ihre Wange, ihr dunkles, beinahe schwarzes Haar zu streichen, das im Licht der Sonne kastanienrot schimmerte. Und dann diese Augen! Groß, rätselhaft, zärtlich verspielt und doch so voller Ernst und Konzentration. Von einem ganz eigenen dunklen Blaugrün waren diese Augen, wie das Wasser eines Sees, so tief und unergründlich, dass er sich manchesmal darin zu verlieren glaubte.
Bei dem Gedanken daran, dass sie heute wieder hinter ihm aufs Pferd steigen, ihre schlanken Arme um seine Taille legen und ihren zierlichen, warmen Körper an den seinen schmiegen würde, durchrieselte ihn das gleiche beunruhigend warm pulsierende Gefühl, wie bei ihrem letzten Treffen vor sechs Tagen.
Damals hatte er für sich beschlossen, Charlotte „großmütig“ auf seinem Pferd mitzunehmen, natürlich „nur“ weil seine Rosy größer und kräftiger war als das Pferd seiner Schwester.
Doch als sie dann hinter ihm Platz genommen und haltsuchend ihre Arme um ihn geschlungen hatte, da hatte ihn ihre körperliche Nähe mit ungeahnter Heftigkeit getroffen.
Nach getaner Arbeit wusch und rasierte sich David mit äußerster Sorgfalt und ritt mit Ruth zum vereinbarten Treffpunkt.
Seine Enttäuschung war riesengroß, als Charlotte auch nach einigem Warten nicht auftauchte.
„Meinst du, sie kommt noch?“ Fragend blickte er seine Schwester an. Die zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Keine Ahnung! Eigentlich ist sie immer schon da, wenn ich komme, aber manchmal wird sie auch aufgehalten und kommt später oder gar nicht. Ein bisschen sollten wir schon noch warten.“
Als David nach einigen Minuten angestrengten Ausschauhaltens immer noch keine Spur von Charlotte erspähen konnte, fragte er, mit mühsam unterdrückter Ungeduld und Anspannung erneut: „Meinst du sie kommt noch?“
Ruth, seine spürbare Ungeduld missdeutend, antwortete unwirsch: „Also wirklich, ein bisschen können wir doch wohl noch hier sitzen bleiben! Sie macht das ja schließlich nicht mit Absicht!“
David senkte den Blick, nickte mit gerunzelter Stirn und begann schließlich in seiner Not damit, flache Steinchen über die Wasser des Mississippi flippen zu lassen, was bei dessen bewegter Oberfläche ein kleines Kunststück war.
„David, wie machst du das nur? Bei mir sinken die Steine immer sofort wie ein …“
„Wie ein Stein?“ David musste schmunzeln.
Ruth lachte: „Ja genau, wie ein Stein!“
„Du wirfst falsch, mein Schwesterlein, schau, so …“ David trat hinter Ruth und griff nach ihrer rechten Hand. „So musst du werfen, flach und aus dem Gelenk heraus …“ Sanft und doch bestimmt führte seine Hand die ihre und gemeinsam warfen sie einen imaginären Stein, der vor Ruth‘ innerem Auge wenigstens dreimal in die Höhe sprang.
David liebte es, ab und an in die Rolle des großen Bruders zu tauchen, wo er doch eigentlich immer der kleine Bruder war. Er liebte es, seinen Schwestern, am liebsten aber Ruth, irgendetwas zu zeigen oder beizubringen, sei es nun nützlich oder unnütz und er genoss es, bei ihren gemeinsamen Unternehmungen, im Auftrag der Eltern, die Rolle des Beschützers für Ruth zu übernehmen und natürlich auch die des Aufpassers, was ihm die wunderbare Möglichkeit gab, sich für seine Schwester als stets loyaler Komplize zu erweisen.
Als Charlotte dann abgehetzt und außer Atem angelaufen kam, bemerkten sie sie zunächst gar nicht, so vertieft waren sie darin, Steine abwechselnd springen und versinken zu lassen, wobei es immer noch meist Davids Steine waren, die da sprangen, aber keineswegs ausnahmslos!
„Ihr habt gewartet, das ist aber schön!“ Charlotte ließ sich völlig außer Puste und sichtlich erleichtert zu den beiden auf den Boden sinken. Ihre Wangen waren vom Laufen erhitzt und zart gerötet und das Leuchten in ihren Augen schien David wie ein Blitz zu durchfahren, bis tief in seine Magengrube hinein, so dass er unwillkürlich den Blick zu Boden senkte und zugleich diese vermaledeite Röte in seine Ohren steigen spürte. In diesem Augenblick beschloss er für sich feierlich, felsenfest und unumstößlich, dass er seine Haare wachsen lassen würde, mindestens bis sie seine Ohren vollkommen bedecken würden, wenn nicht sogar noch länger, mochten seine Eltern auch noch so wenig davon begeistert sein!
Wieder einigermaßen gefasst blickte er erst Ruth und dann Charlotte an und brachte sogar ein lässiges Lächeln zustande, als er sie fragte: „Na, keine Wäsche heute?“
Charlotte lächelte ihn freundlich an: „Nein, keine Wäsche heute!“ „Na, worauf warten wir dann noch?“ Ruth war bereits aufgestanden. „Wenn wir noch ein bisschen wegkommen wollen, sollten wir nicht mehr so lange hier herumtrödeln!“
David nickte zustimmend und sagte dann ganz beiläufig: „Wenn du‘s so eilig hast hier wegzukommen, sollte Charlotte vielleicht besser wieder bei mir aufsteigen, dann sind wir auf alle Fälle schneller.“
Als Charlotte hinter ihm Platz genommen hatte, bemerkte sie dankbar, dass David sich anscheinend auch dieses Mal frisch gewaschen hatte. Ein sauberer Mann war eine absolute Rarität, ein seltener Hochgenuss, der keinesfalls verschmäht werden durfte! Deshalb wagte sie es, sich vollends an seinen Körper zu schmiegen und schnuppernd zu genießen, was es zu genießen gab und das war immerhin die durchaus angenehme Nähe eines wohlriechenden und hübschen jungen Mannes, der noch dazu sowohl die Nummer Eins auf der Liste der begehrenswerten Junggesellen unter ihren Altersgenossinnen war, als auch auf der heimischen Verbotsliste. Und das war doch immerhin allerhand! Drei Fliegen mit einer Klappe sozusagen!
Auf die Idee aber, dass Davids Reinlichkeit etwas mit ihr selbst zu tun haben könnte, kam sie gar nicht.
Eben begann die Sonne erste flammend rote Streifen am Horizont zu bilden und ganz gemächlich und erhaben die Schatten der tiefschwarzen Neumondnacht zu vertreiben.
Dichte Frühnebel tanzten über dem Wasser, hingen wie undurchdringliche Schleier über dem See und an seinen Ufern, verfingen sich in den Ästen der Bäume und dämpften jeden Laut.
Silas war gerade dabei, im Schein einer Fackel gemeinsam mit Elias und Sam das Kanu zu bepacken, wobei sie höllisch aufpassen mussten, das Gewicht ihres Gepäcks möglichst optimal zu verteilen. Anfangs war sich Silas absolut sicher gewesen, dass es niemals gelingen würde, ihre gesamte Ausrüstung, den Proviant und die mitgeführten Waren in dem zierlichen Gefährt zu verstauen, doch nach einigem Hin und Her war es ihnen tatsächlich geglückt.
Und so war er unweigerlich herangerückt, der Augenblick, da es wieder einmal Abschied nehmen hieß, von Sam und vor allem aber von Black Desert. Doch so schwer ihm dieser Abschied auch fiel, so hatte er doch keine Bedenken, sein Pferd Sam anzuvertrauen, denn er war sich gewiss, dass Black Desert bei ihm in besten Händen sein würde.
Und als dann schließlich die Sonne mit Macht den Tag zu erhellen begann und sich die Nebel in Nichts auflösten, kniete Silas bereits hinter seinem Vater im Kanu und glitt mit ihm über die Wellen des Sees dahin.
Ein Gefühl unergründlicher Sehnsucht erfüllte ihn und trieb ihn fort von den bekannten Ufern, fort von Black Desert und Sam, der ihm lieb und teuer geworden war, und der nun winkend am Ufer stand und alsbald nur noch als immer kleiner werdender Fleck auszumachen war.
Aber Silas blickte nicht lange zurück, sondern richtete all seine Sinne auf das, was ihn gerade umgab und das, was ihn noch erwarten würde. Jetzt würde für ihn das eigentliche, das entscheidende Abenteuer beginnen.
Voller Ungeduld sehnte er den Augenblick herbei, da er endlich die Familie seiner Mutter und somit seine eigene Familie, seine Wurzeln, kennenlernen würde. Unzählige Male schon hatte er sich diesen Moment ausgemalt, hatte sich vorgestellt, wie es wohl sein würde, seinen zahlreichen Verwandten gegenüberzutreten, wie es überhaupt sein würde, auf einmal eine große Familie zu haben, Onkel und Tanten, einen Großvater und eine Großmutter, gesetzt den Fall, sie akzeptierten ihn überhaupt als Familienmitglied. In weniger hoffnungsfrohen Momenten fragte er sich dann, ob er nicht am Ende auch im Lager der Ojibwe ein Außenseiter sein würde, einer der nirgends so recht dazugehörte, einer der kein Weißer war und auch kein Indianer, einer der schon Besonderes leisten musste, um anerkannt zu werden.
Auch Elias hatte mehr als einmal schon in Gedanken den Augenblick durchgespielt, da er gemeinsam mit Silas Shawaeghiizig und Nigig-o-quae gegenübertreten würde und Vorfreude und Stolz hatten bei diesen Gedankenspielen warm sein Herz durchflutet.
Für Elias stand es außer Frage, dass sein Sohn nicht nur mit offenen Armen aufgenommen werden würde, sondern auch mit äußerstem Wohlgefallen, das sich mit Sicherheit noch mehren würde, wenn erst einmal offenbar geworden war, dass Silas, dank Winonahs hervorragender Erziehung und Unterweisung, ein würdiger Enkel eines hochangesehenen Kriegers und einer mächtigen und verehrten Midewiquae war. Seine zahlreichen Kenntnisse würden ihr Übriges tun. Vor allem aber hatte sich sein Sohn bereits als äußerst geschickter und erfolgreicher Jäger erwiesen und würde sein Können bei seiner nächsten Jagd unter Beweis stellen. Nein, für Elias gab es keinen Zweifel daran, dass Silas ihm und auch Winonah alle Ehre machen würde.
Gegen Mittag steuerten sie das nächstgelegene Ufer an und machten Rast, aßen Fisch und dösten dann ein Weilchen in der Sonne. Silas spürte, dass er trotz des ausgiebigen Trainings einen ordentlichen Muskelkater in den Armen bekommen würde. Er ärgerte sich darüber, wie viel an Ausdauer und Energie sein Körper durch diese Erkrankung eingebüßt hatte. Silas drehte sich auf die Seite und betrachtete seinen Vater, der, den Hut tief in das Gesicht geschoben, an einen Baum gelehnt ein Nickerchen zu machen versuchte.
„Nimbaabaa?“
Ein Brummen war die Antwort.
„Was glaubst du, warum wird man wohl krank? Warum geschieht so etwas? Warum bin ich krank geworden, warum habe ich soviel von meiner Kraft weggeben müssen?“
Langsam schob Elias seinen Hut zurück und blickte Silas nachdenklich an. „Ich weiß es nicht, Silas! Ich weiß vieles nicht und das gehört leider dazu.“
Silas blickte über die Wipfel der Bäume hinweg, während er leise und wie zu sich selbst sagte: „Winonah sagt, dass Krankheit oftmals den trifft, der sein Leben nicht im Einklang lebt mit sich und allem anderen, dessen Herz schwer ist von geheim gehaltener Schuld.“
Unvermittelt sah Silas in das Gesicht seines Vaters, fragend und forschend war sein Blick, aber auch bedrückt und besorgt. Elias war wirklich betroffen bei dem Gedanken, dass sich sein Sohn womöglich mit Schuldgefühlen plagte und darüber grübelte, welches Verbrechen er wohl begangen haben könnte, dass er so furchtbar krank geworden war.
Er selber wäre niemals auf derartige Ideen gekommen, wahrhaftig nicht! Krankheiten kamen und gingen wieder und nicht selten nahmen sie gerade die Besten mit sich fort. Warum das so war, wusste nur Gott allein. Aber sicher, ja, er erinnerte sich, dass für die Ojibwe, wie für viele andere Indianerstämme auch, Krankheit vielleicht nicht unbedingt eine zwangsläufige, so doch aber eine durchaus zu erwartende Folge geheim gehaltener Verfehlungen war. Um eine solche Heimsuchung abzuwenden, bedurfte es natürlich nicht nur einer umfassenden Beichte, bei einem auserwählten Freund oder Medizinmann. Alle, restlos alle, sollten es hören, sollten davon erfahren, die Erwachsenen aus dem Mund des reumütigen Übeltäters, die Kinder aus dem Mund der eifrig darüber diskutierenden Erwachsenen. Allerdings war es nicht so, dass man unbedingt davon ausging, dass eine Krankheit ausschließlich den Missetäter selbst betreffen müsse. Es konnte auch passieren, dass sie einen Menschen traf, der mit dem Missetäter in enger Beziehung stand, vornehmlich verwandtschaftlicher Natur. Es wäre dementsprechend nach Ansicht der Ojibwe also durchaus ratsam, auch bei der Erkrankung eines nahestehenden Menschen einige Gedanken auf die Frage zu verwenden, ob nicht vielleicht eigenes Fehlverhalten zu dieser Erkrankung geführt haben könnte. Gelangte man dann tatsächlich zu einer solchen Annahme und wollte Schlimmeres verhindern, so blieb einem nichts weiter übrig, als seine beschämenden Erkenntnisse allen anderen mitzuteilen und es hernach besser zu machen.
„Ich glaub das nicht, Silas. Nein, wirklich nicht. Schlag dir das ganz schnell wieder aus dem Kopf, das ist alles ausgemachter Unsinn!“
„Nimaamaa glaubt nicht, dass es Unsinn ist!“
„Nein sicher, sie glaubt nicht, dass es Unsinn ist, aber ich glaube das! Und außerdem ist es angeblich auch nicht so, dass es unbedingt immer den Schuldbeladenen …“, Elias gab dem Wort eine spöttische Note, „erwischen muss, es könnte beispielsweise auch eines der Kinder oder Enkelkinder treffen.“
Silas sagte nichts darauf, doch sein Blick war sehr nachdenklich.
16
Es dauerte noch weitere drei Tage, ehe sie die von einem dichten Wald aus Wassergras umgürteten Ufer erreichten, in deren Nähe Winonahs Familie ihr Sommerlager für gewöhnlich errichtete.
Dicht wuchsen die grünen, schilfartigen Halme aus dem Wasser empor, nicht selten gut zwei Meter hoch.
„Manomini! Nimbaabaa! Das ist Manomini, nicht wahr?“
„Mmh …“ Elias brummte nur zustimmend und nickte. Er wusste, dass es für seinen Sohn keiner weiteren Erläuterungen bedurfte. Winonah hatte ihm mit Sicherheit in aller Ausführlichkeit erzählt, was es mit dieser Pflanze auf sich hatte, denn Manomini stellte das zentrale Nahrungsmittel der Ojibwe dar.
Die etwa sechs Wochen dauernde Erntezeit der reiskornartigen Samen des Manomini war der von vielen Ritualen und Festlichkeiten bestimmte Höhepunkt eines jeden Jahres. Die auserwählten Kanus wurden festlich geschmückt, ehe sie unter feierlichem Gesang zu Wasser gelassen wurden. Mit Hilfe von Stöcken wurden dann die meterhohen Halme über die Ränder der Kanus gebogen und mit einem Zedernholzstab ausgedroschen. Viele Körner fielen auf diese Weise auf den Boden des Kanus und beim Zurückschnellen der Halme fielen viele Körner daneben und landeten im Wasser des Sees. Doch niemand scherte sich um das kostbare, scheinbar verlorene Korn, denn es war nur gut und richtig, dem See auf diese Weise einen Teil der Ernte zurückzugeben, denn er lohnte es einem schon im darauffolgenden Jahr mit jungen, üppig sprießenden Halmen. Schwer lagen die Kanus bei ihrer Rückkehr im Wasser und reich war die Ernte Jahr für Jahr. Die wertvolle Fracht der Kanus galt als Besitz der gesamten Gemeinschaft. Sorgfältig wurden die Körner auf Unterlagen aus Wigass getrocknet und hernach in eisernen Kesseln geröstet. Anschließend wurden die gerösteten Körner in lehmbestrichene Erdgruben befördert und durch Treten gedroschen. Eine extrem anstrengende Tätigkeit, weshalb sie gemeinhin von den Männern ausgeführt wurde, während bei der Ernte und der sonstigen Verarbeitung des Manomini beide Geschlechter beteiligt waren.
Dann endlich kam der große Tag der ersten Mahlzeit aus dem frisch zubereiteten Manomini. Ein Mitglied der Midewiwin, des Bundes der Medizinmänner und Medizinfrauen, leitete das große Fest des Dankes und segnete die mit Manomini gefüllten Behältnisse der einzelnen Familien.
Den von den Weißen immer wieder herangetragenen Gedanken, dieses segensreiche Wassergras zu kultivieren und auch anderweitig Ackerbau zu betreiben, lehnten die Ojibwe als absolut unvertretbaren, schmerzhaften Eingriff in das Gefüge der Natur rundheraus ab.
Vorsichtig manövrierten sie ihr Kanu weiter durch den dichten Gürtel aus Wassergrashalmen, bis sie endlich dem steinigen Ufer nahe genug gekommen waren, um an Land gehen zu können.
„Sind wir jetzt da? Ich meine, sind wir jetzt wirklich da, wo …“
„Ja Silas, genau dort sind wir.“
Silas schluckte, plötzlich wurde ihm eigenartig flau und bange zugleich. Sein Herz pochte so aufgeregt, dass er meinte, ein jeder müsse es hören können. Seine Knie fühlten sich seltsam weich und zittrig an und er war sich ziemlich sicher, dass dies nicht einzig an der langen Kanufahrt lag.
Nur zu gerne hätte er sich für einen Moment irgendwo hingesetzt, um sich wieder einigermaßen zu fassen und innerlich zu sammeln, bevor er seinen Verwandten zum ersten Mal begegnen würde.
Doch kaum dass sie das Kanu sicher aus dem Wasser gezogen hatten, standen da plötzlich drei Männer vor einer kleinen, schroffen Felserhebung, keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, an der sie an Land gegangen waren. Still standen sie dort, regungslos, die Blicke auf Silas und Elias gerichtet, dann begannen sie leise miteinander zu sprechen. Silas konnte zwar keines ihrer Worte hören, doch ihre Gesten und Blicke ließen in ihm das Gefühl aufkommen, dass er selbst Anlass und Gegenstand jener Unterhaltung war.
Es waren drei Männer unterschiedlichen Alters, der Jüngste mochte kaum älter als zwanzig Jahre sein, der andere vielleicht dreißig, der Älteste aber hatte die Sechzig schon weit überschritten. Der alte Mann trug einen hohen schwarzen Filzhut, ganz offensichtlich das Werk weißer Hände, an dem ein ansehnliches Bündel Federn befestigt war, . Das ergraute lange Haar trug er zu Zöpfen geflochten, und seine aus weichem Karibuleder gefertigte Kleidung war reich verziert mit Fransen und kunstvoll gefertigten Blumenornamenten, aus winzigen, überwiegend pastellfarbenen Glasperlen.
Ehe Silas die anderen zwei Männer ein wenig in Augenschein nehmen konnte, hatte sein Vater bereits alles stehen und liegen gelassen und war den dreien freudestrahlend entgegengegangen. Augenblicklich hatte sich daraufhin auch der alte Mann in Bewegung gesetzt, gefolgt von den beiden jüngeren.
Mit klopfendem Herzen folgte Silas seinem Vater in einigem Abstand. Der aber marschierte unbefangen auf die Männer zu und umarmte erst den alten, lange und sehr herzlich und dann die beiden jüngeren.
Gebannt beobachtete Silas die ganze Szene, versuchte sich nicht die kleinste Kleinigkeit davon entgehen zu lassen.
Der etwa dreißigjährige Mann war der größte von den dreien. Seine langen Haare trug er zu Zöpfen geflochten, die mit schmalen Fellstreifen umwunden waren. Auch seine Kleidung war weitgehend traditionell, allerdings trug er anstelle eines Wildlederhemdes ein weißes Stoffhemd, darüber jedoch eine wirklich prächtige, mit Perlen verzierte Lederweste. Der jüngste Mann aber war von einer ganz eigenen Schönheit und faszinierte Silas auf Anhieb. Seine natürliche Anmut, die beinahe schon weibliche Feinheit seiner Züge, die noch unterstrichen wurde durch sein geradezu unglaublich langes und dichtes schwarzes Haar, paarte sich mit einer gewissen Härte und Verschlossenheit seines Blickes. Auch lag äußerste Wachsamkeit in diesem Blick und der Mut eines stets zum Äußersten entschlossenen Menschen hinterließ einen beinahe herben Zug um seine weichen, wohlgeformten Lippen.
Schließlich ergriff der Alte das Wort: „Niikaanis, - Mein Freund -, du kommst spät in diesem Jahr und ich sehe, du kommst nicht alleine.“
Mit einem freundlichen Lächeln wies der Alte auf Silas und augenblicklich richteten sich vier Augenpaare auf ihn, der vollkommen verunsichert seinen Blick zu Boden senkte, dann aber tapfer wieder erhob, um sich den aufmerksamen und prüfenden Blicken zu stellen, welche zu seiner Erleichterung durchaus wohlwollend waren.
„Ist das Mino-nokomis?“
Mit vor Stolz geschwellter Brust bejahte Elias.
„Nimishoomis -Mein Großvater“, flüsterte Silas beinahe unhörbar, als der alte Mann ihm bereits entgegentrat. Mit forschendem Blick betrachtete er Silas eingehend, legte eine Hand unter dessen Kinn und wendete seinen Kopf bald nach links, bald nach rechts und flüsterte, wie zu sich selber: „Waenaesh kiin?“ -„Wer bist du?“-
Dann aber nickte er bedächtig und lächelte schließlich ein so warmes, freundliches Lächeln, dass seine dunklen Augen plötzlich von innen heraus zu strahlen schienen, und sagte in bestimmtem, beinahe andächtigem Ton: „Ototeman! - Ein Verwandter! - “
Sachte tätschelte er Silas‘ Wange und sagte, immer noch nickend: „Häa -ja-, häa, ototeman! Mino ta kijah, Mino-nokomis!“
An seine Söhne gewandt aber sagte er: „Gebegwan, Kiniu! Ondaas! - Lange Feder, Kriegsadler! Kommt her! - Begrüßt Mino-nokomis, den Sohn eurer Schwester!“
Silas wusste nicht, was er denken und fühlen sollte, während er sich in den starken Armen Gebegwans, seines ältesten Onkels wiederfand, dessen Hände herzlich auf seine Schultern klopften und dessen Augen gewinnend lächelten.
Als letzter näherte sich ihm Kiniu, der Jüngste unter Shawaeghiizigs Kindern. Und eindrucksvoll hatte sich sein Blick verändert, hatte einer warmen, willkommen heißenden Herzlichkeit Raum geschaffen, die Silas so in dieser Ausprägung nie und nimmer erwartet hätte und die ihn in ganz beträchtliche Verwirrung stürzte, auf sehr angenehme Weise.
So wie ihn im Moment eigentlich alles verwirrte, ihn all die vielen Eindrücke mit sich fortzureißen drohten. Ein bisschen erging es ihm wie damals, als kleiner Junge, in dem Moment, da er zum ersten Mal die kleinen Glöckchen an Sattlers Ladentür vernommen hatte und angesichts der ihn überflutenden Eindrücke des bunten Sammelsuriums im vollgestopften Krämerladen nicht gewusst hatte, wohin er blicken, was er sagen, ja, was er überhaupt denken sollte. Doch er war schließlich kein kleiner Junge mehr und blickte deshalb mutig und entschlossen in das ernste und edle Gesicht Kinius, über das ein einnehmendes Lächeln glitt, freundlich und hintergründig zugleich.
Er zog Silas an sich heran, schloss ihn in seine Arme und drückte ihn für einen kurzen Moment beinahe zärtlich an seine Brust.
Silas war auf diese fast schon innige Umarmung nicht gefasst, ließ es überrascht und verwirrt, aber auch beruhigt und erfreut geschehen. Er atmete Kinius so fremden, warmen und würzigen Geruch, spürte die Nähe und Kraft seines Körpers, ließ sich umfangen von der Wärme und Freundlichkeit, von der intensiven Ausstrahlung dieses herausragenden, jungen Kriegers. Denn ein solcher war er, was unzweifelhaft durch seine stets mitgeführten, liebevoll gepflegten Waffen und vor allem aber durch die nur den Herausragenden gewährte Zier der Adlerfedern in seinem Haar bezeugt wurde. Und auch sein Name, Kiniu - Kriegsadler -, sprach von Entschlossenheit und Mut.
Gemeinsam schulterten sie das Gepäck und begaben sich ein kurzes Stück weit in den Wald hinein, geradewegs zum Sommerlager der Gamini - des Volkes am See - wie sich die Gemeinschaft jener Ojibwe nannte, zu welcher auch Shawaeghiizigs Familie gehörte. In Silas Kopf rasten die Gedanken. Er freute sich auf das Neue, das vor ihm lag.
Nicht allzu weit vom Ufer entfernt, vielleicht eine Viertelstunde des Weges, eröffnete sich der Wald zu einer weitläufigen, von einigen Birken, Kiefern und unterschiedlichen Sträuchern bestandenen Lichtung. Zahlreiche Wigwams, es mochten an die vierzig Stück gewesen sein, scharten sich großzügig verteilt um einen freien Platz, in dessen Mittelpunkt eine luftige, geräumige Hütte stand, das Gemeinschaftshaus der Gamini.
Es waren sowohl klassische Sommerwigwams in konischer Form darunter, wie auch kuppelförmige Winterwigwams. Alle aber waren sie aus Holzstangen und mehrschichtigem Wigass, behutsam vom Baum geschälter Birkenrinde gefertigt. Sie besaßen eine runde Öffnung gen Himmel, um Licht und Leben, Sonne und Mond herein- und zugleich den Rauch des Feuers hinauszulassen, und eine weitere, gen Osten gerichtete Öffnung, um Menschen und Hunden Eintritt zu gewähren und allmorgendlich auch mit den ersten hereinscheinenden Strahlen der aufgehenden Sonne einen jeden neuen Tag zu ehren und willkommen zu heißen.
Einige Wigwams waren mit reichverzierten, hoch aufragenden Medizinpfählen versehen, die eine Opfergabe waren an die geheimnisvolle, unergründliche Macht des Lebens, des allumfassenden Universums, Gitchi Manitus.
Zwischendrin aber gab es reichlich Platz zum Gehen und Arbeiten, zum Spielen und Herumtollen.
An einigen niedrigen Ästen waren Webrahmen errichtet. Decken wurden da gewebt und Matten aus Binsen, denen schmale Streifen aus Zedernrinde geometrische Muster verliehen. Der Geruch von Feuer und Rauch und der Duft von frisch bereitetem Pemmikan und anderen Speisen erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem feuchten Geruch des Waldes. Alles roch so ungewohnt und zugleich doch so vertraut, roch nach Winonah, roch nach zu Hause, Heimat, Geborgenheit.
Unwillkürlich blieb Mino-nokomis stehen. Er musste einfach innehalten, einen Augenblick nur sich Zeit geben, dieses Gefühl, diese Gerüche, den Anblick dieser vielen geschäftigen Menschen, dieses Stimmengewirr auf sich wirken zu lassen, die Gesamtheit jenes ersten Eindrucks in sich aufzunehmen und zugleich selbst darin aufzugehen.
Elias und Kiniu waren ein gutes Stück von Mino-nokomis entfernt stehengeblieben, scheinbar warteten sie auf ihn, während Gebegwan und Shawaeghiizig bereits irgendwo seinen Blicken entschwunden waren. Mino-nokomis holte noch einmal tief Atem, ehe er sich einen Ruck gab und entschlossen seinen Weg fortsetzte. Als er seinen Vater und Kiniu schließlich erreicht hatte, fand er die beiden in ein leise geführtes Gespräch vertieft. Zum ersten Mal vernahm er Kinius Stimme, die einen unerwartet tiefen, einschmeichelnd sanften Klang hatte. Ihm wurde bewusst, wie erstaunlich wenig bisher eigentlich gesprochen worden war. Keiner hatte viele Worte gemacht und doch war alles Wichtige mitgeteilt worden.
Kaum hatten sie die ersten Wigwams erreicht, als ihnen Shawaeghiizig und Gebegwan bereits wieder entgegenkamen, diesmal aber waren sie nicht allein.
An Shawaeghiizigs Seite stand eine kleine, untersetzte Frau, deren graues Haar noch von einigen schwarzen Strähnen durchzogen wurde. Ihre dunklen Augen hatten etwas Wachsames, ein wenig Verschmitztes, was durch die zahlreichen Lachfältchen noch unterstützt wurde.
Neben ihr war eine junge Frau, die Winonah so frappierend ähnlich sah, dass es Mino-nokomis kaum gelang, sie nicht immerfort anzustarren. An Gebegwans Hosenbein hing ein kleiner Junge, einen anderen etwas größeren, hatte er an der Hand.
Gebegwan sagte leise zu seinen Söhnen: „Kommt, wir wollen unserem Bruder helfen und ihm seine schwere Last ein wenig erleichtern!“
Der kleinere der beiden Jungen lugte scheu hinter den Beinen seines Vaters hervor und verschwand sofort wieder, sobald er sich beobachtet wusste.
Nur zu gerne übergab Mino-nokomis die ihm wahrlich bleischwer gewordene, geschulterte Last an Gebegwan und den erwartungsvoll ausgestreckten Händen des vielleicht siebenjährigen Knaben das Bündel mit seinen wenigen Kleidungsstücken, das er noch zusätzlich umgehängt hatte. Als er dann aber die bekümmerten Augen des noch nicht ganz Dreijährigen sah, beeilte er sich, auch sein kleines, ihm heiliges Bündel, das seine wenigen Habseligkeiten, sein Buch, Ruth‘ Stein und seine dreieckige Decke enthielt, dem kleinen Jungen zu geben, der sofort damit kehrt machte, um mit strahlenden Augen und stolzgeschwellter Brust eifrig hinter seinem Vater und seinem großen Bruder herzuwieseln.
Ohne die drückende Last auf seinen Schultern fühlte sich Minonokomis im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich erleichtert und befreit. Vollkommen ungetrübt und unbeschwert genoss er nun die sich ihm bietenden Eindrücke, gab sich den Bildern, Gerüchen und Geräuschen hin und genoss all dies beinahe selbstvergessen in vollen Zügen, ohne recht glauben zu können, was er da sah und erlebte. War dies alles Wirklichkeit?
Nigig-o-quae trat leise an Mino-nokomis heran. Sie war eine ehrwürdige Frau Ende fünfzig und genoss als Midewiquae großes Ansehen. Ihr Blick glitt schweigend und aufmerksam über Minonokomis dahin. Sie lächelte, während Tränen in ihren Augen standen. Immer noch schweigend zog sie ihn an ihre üppige, mütterliche Brust und strich durch sein langes Haar.
Ach, so unendlich lange schon hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt und manchesmal schon befürchtet, ihn vielleicht niemals zu erleben!
Mino-nokomis schmiegte sich ergeben an ihren warmen, weichen in samtenes Leder gehüllten Busen und lauschte auf den Schlag ihres Herzens.
Dann aber blickte er in ihr Gesicht, über dessen faltige Wangen einige Tränen rollten und sagte: „Nookomis, meine Großmutter, ich bin so glücklich, hier zu sein.“
Nacheinander wurde er von allen Mitgliedern seiner Familie willkommen geheißen, wobei Shawaeghiizig die Aufgabe übernahm, jeden einzelnen mit seinem Namen vorzustellen. Niemals wäre einer auf den Gedanken verfallen, selbst den eigenen Namen zu nennen.
Es galt als geradezu anmaßende Selbstbeweihräucherung, den eigenen Namen einem anderen auf die Nase zu binden, zumindest insofern er ehrenvoll war. War er dies aber nicht, so verbot sich die Benennung des eigenen Namens taktischerweise natürlich von selbst.
Als sie vor dem geräumigen Wigwam der Großeltern angekommen waren, bemerkte Mino-nokomis, dass allem Anschein nach gerade eifrige Vorbereitungen für ein kleines Willkommensfest getroffen wurden. Überall duftete es verlockend. Schalen und Behältnisse aus Wigass waren randvoll mit dünnen, aus gemahlenem Manomini bereiteten Fladenbroten oder kleinen Kugeln aus Pemmikan, einer aus getrocknetem, zerstoßenem Fleisch, Talg und Beeren bereiteten Speise. Hier blubberte eine dicke, sämige Suppe aus Manomini und Fleisch vor sich hin, dort kochten wilde Rüben und andere Wurzeln in einem eisernen Kessel und zu alledem brieten auch noch ein gutes Dutzend Fische über dem Feuer, die erst mit einer großzügigen Portion Ahornsirup so richtig gut schmecken würden.
Einen flüchtigen Moment lang kam ihm David in den Sinn. Er sah ihn vor sich, wie er damals voller Entsetzten bei ihnen am Tisch gesessen hatte, mit einem Gesicht, als gäbe es einfach nichts Entsetzlicheres, als diesen üppigen Bissen süßen Fisches in seinem Mund. Mino-nokomis und Winonah hatten Tränen gelacht. Wie lange war das eigentlich schon her?
Mino-nokomis verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis auszuruhen, Atem zu schöpfen, ein wenig für sich alleine sein zu können. Inmitten all dessen ein stilles Eckchen für sich zu finden, geschützt und geborgen.
Er betrachtete das Innere des stattlichen Wigwams seiner Großeltern, bestaunte die kunstvoll bestickten Wandbehänge, begutachtete das sowohl als Schlaf- wie auch als Sitzgelegenheit genutzte, aus Holz gefertigte, pritschenartige Rund, das in etwa zu drei Vierteln die Wände des Wigwams säumte. Gemütlich sah das alles aus, mit all den Fellen, Kissen und Decken und der im Mittelpunkt befindlichen, kleinen Feuerstelle, die jetzt an diesem warmen Sommertag natürlich erloschen war. Nein, hier würde es so schnell wohl kein ruhiges Plätzchen für ihn geben. Eben gerade wollte er den Wigwam wieder verlassen, als Nigig-o-quae hereinkam und ihm mit freundlicher Geste bedeutete näher zu treten. Mit einem Blick, in dem sich eine scharfe Beobachtungsgabe mit Zärtlichkeit vermischte, betrachtete sie ihn: „Du bist müde und erschöpft, mein armer Junge, und du weißt nicht, wohin mit dir. Im Wigwam deiner Tante wird ein Platz für dich sein, an dem du dich ausruhen kannst. Nimm dein Bündel und komm mit mir.“ Liebevoll tätschelte sie seine Wange und lächelte ihn aufmunternd an.
Das Innere des direkt nebenan befindlichen Wigwams von Waubun-anang - Morgenstern - und Mooz - Elch -, ihrem Wiidjiiwaagan -Lebensgefährten-, unterschied sich nur unwesentlich von dem bereits inspizierten Wigwam der Großeltern, lediglich die gemalten Verzierungen, die bestickten Wandbehänge, Decken, Felle und Kissen waren andere, der grundsätzliche Aufbau aber war ganz genau derselbe.
Mino-nokomis öffnete sein Bündel, nachdem ihm Nigig-o-quae eine bereits für ihn hergerichtete, gemütliche und saubere Schlafstatt gezeigt hatte. Zuerst holte er natürlich sein bestes Stück, seine dreieckige Decke, hervor und legte sie auf sein Bett. Langsam trat Nigig-o-quae hinzu und griff mit kaum merklich zitternder Hand nach der Decke, befühlte sie vorsichtig und flüsterte dann leise wie in Gedanken: „Warum nur, warum kommt mein Kind niemals wieder zu uns zurück? Oh, so gerne möchte ich sie noch einmal wiedersehen, meine Große, meine Schöne, nur einmal noch in meine Arme schließen. Aber sie kommt nicht. Warum nur, ach, warum nur?“
Langsam setzte sie sich und betrachtete nachdenklich der Tochter Hände Werk. Sie seufzte und blickte wie suchend in Mino-nokomis Gesicht.
„Manches mal dachte ich bei mir, vielleicht ist sie so glücklich dort bei den Weißen, dass sie selber ganz wie eine Weiße geworden ist und kein Heimweh verspürt nach den Wäldern an den Großen Seen, nach ihrer Familie, nach mir. Aber weißt du, Mino-nokomis, ich wusste immer schon, dass es nicht so ist. Dein Name allein schon war mir ein Zeichen und auch diese Decke hier erzählt mir davon. Und in meinen Träumen und auch in meinem Herzen habe ich immer schon gewusst, dass meine Tochter keine Weiße geworden ist, dass sie uns alle hier nicht vergessen hat. Auch du, Mino-nokomis sprichst mir von ihrer Verbundenheit mit den Ojibwe und von ihrer Sehnsucht.“
„Wie spreche ich davon, was für eine Bedeutung hat mein Name für dich, außer der des guten Mondes, der in der Nacht meiner Geburt voll am Himmel stand?“
Nigig-o-quae lächelte still und versunken, ehe sie mit entschiedenem und ernstem Blick in Mino-nokomis Augen sah. „In deinem Namen steckt noch weit mehr mein Enkelsohn, weit mehr. Der gute Mond ist die Behüterin der Menschen, die bei Dunkelheit über düstere, schwer erkennbare Pfade des Lebens wandern. Nokomis erhellt ihren Weg, hilft ihnen, sich trotz der sie umgebenden Dunkelheit zu orientieren. Es besagt schon etwas, wenn eine Mutter ihrem Sohn diesen Namen, den Wunsch nach einem beschützenden, wegweisenden Licht mit auf den Weg gibt, und es besagt noch weit mehr, wenn meine unerschrockene Winonah es tut. Aber in deinem Namen steckt noch mehr. Du weißt, wie es kam, dass im Gesicht des Mondes auch das Gesicht von Nokomis, der Großmutter aller Menschen, zu erkennen ist?“
„Ja, ich kenne die Geschichte. Nimaamaa hat sie mir viele Male erzählt.“
„Dann weißt du auch, dass die erste aller Mütter, die Himmelsfrau, ihre Kinder alleine auf der Erde zurückließ, ihnen aber versicherte, niemals ganz von ihnen fortzugehen, sondern immer des Nachts durch den Mond über sie zu wachen und ihre Kinder wiederum versprachen ihr, niemals zu vergessen, sich immer ihrer Mutter, ihres Ursprungs zu erinnern, wenn sie den Mond vor Augen hätten. Keine Frau, die ihr Herz für ihr Volk verloren hat, würde einen solchen Namen wählen, keine solche Frau würde in den Dörfern der Weißen einen Jungen so erziehen, wie du erzogen wurdest. Nein, Mino-nokomis, das alles sagt mir, dass meine Tochter keine Weiße geworden ist. Sie ist eine Ojibwe geblieben, wie sie immer eine war und das bedeutet, dass ihr Herz voller Sehnsucht ist nach ihrer Familie und nach den Wäldern, nach Gitchi Gami, nach allem hier … “ Nigig-o-quae schüttelte kaum merklich den Kopf und blickte voller Wehmut und Sorge auf die dicht gewebte Decke in dunklen Braun- und Rottönen, von einem Muster aus wenigen, schmalen Streifen durchzogen, die mit ihrem hellen, kräftigen Grün ein Symbol des Lebens, des Werdens, der Erneuerung darstellten. Nachdenklich nickend richtete Nigig-o-quae ihren Blick auf Mino-nokomis. Sie wusste genau, wer das der Übermacht an dunklen Tönen trotzende, dennoch dominierende, Leben spendende Grün im Dasein ihrer Tochter war und sie war in diesem Moment glücklicher denn je, dass es Mino-nokomis, diesen Lichtblick in tiefschwarzer Nacht, im Leben ihrer Tochter gab.
Dann verließ sie schweigend den Wigwam und ließ Mino-nokomis allein. Einen Moment noch blickte er seiner Großmutter hinterher, doch alsbald schon ließ er sich mit einem erleichterten Aufstöhnen auf sein Lager sinken, kuschelte sich in seine Decke, verbarg sich eigentlich mehr unter ihr, als dass er an diesem warmen Tag ihrer Wärme bedurft hätte.
Im Traum sah er Winonah um ein riesengroßes loderndes Feuer tanzen und die gute alte Eshkebug sprang an ihrer Seite einher. In ihrer Hand hielt Winonah ihre kleine Trommel, doch spielte sie nicht auf ihr, kraftlos hing das Instrument in ihrer Hand. Es fiel Mino-nokomis unendlich schwer, den Blick von seiner Mutter zu lösen, die da langsam, beinahe wie in Trance um das Feuer tanzte. Doch schließlich gelang es ihm und er blickte in das züngelnde, verzehrende Spiel der Flammen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sein Elternhaus war, das da lichterloh brannte.
Sanft rüttelte eine Hand an seiner Schulter und Kinius seidiges, langes Haar kitzelte ihn im Gesicht, als dieser sich über ihn neigte. Mino-nokomis brauchte einen kleinen Moment ehe er sich besinnen konnte, wo er sich überhaupt befand. Verschlafen blinzelte er in das Gesicht seines Onkels, der allem Anschein nach bester Laune war.
Während Mino-nokomis schlief, hatte Elias die jeweils versprochenen Waren ausgepackt und verteilt und Kiniu endlich das von ihm lang ersehnte Gewehr überreicht.
Ihr Zuspätkommen in diesem Jahr hatte ihn wahrlich auf eine harte Geduldsprobe gestellt! Nun aber war er vollauf zufrieden. Elias hatte ihm ein wunderbares Gewehr mitgebracht. Schwarzbraun der Lauf aus kaltem Metall, aus dunklem, poliertem Holz der Kolben, alles solide gefertigt. Gut und auch nicht allzu schwer lag das Gewehr in der Hand, ein Steinschlossvorderlader war es, ein edles Teil und seine Reichweite war beträchtlich.
Kiniu hatte eine Schale mit Wasser mitgebracht und ein wunderschönes, mit Fransen und Glasperlen verziertes Hemd, damit Mino-nokomis sich ein wenig frisch machen konnte, ehe sie gemeinsam zum Fest gehen würden.
Anerkennend war sein Blick, als ihm Mino-nokomis umgezogen, frisch gewaschen und rasiert gegenübertrat. Das Lederhemd stand ihm wirklich gut und er fühlte sich auch auf Anhieb pudelwohl darin. Das Hemd war eines von Kinius zwei Festtagshemden, das andere trug er gerade selbst. Doch Mino-nokomis wusste das natürlich nicht, ebenso wenig wie er den materiellen Wert dieses Geschenkes ermessen konnte. Den ideellen Wert indessen erkannte er sehr wohl und seine Freude darüber war riesengroß. Als sie dann gemeinsam vor das Wigwam traten, führte ihn Kiniu nicht zum Wigwam seiner Großeltern, sondern steuerte geradewegs auf die Mitte des Lagers zu.
Es dauerte eine Weile ehe Mino-nokomis begriff, dass diese riesige, bald zweihundert Menschen umfassende Feier vor allen Dingen eines verfolgte und das war nichts Geringeres als ihn, Mino-nokomis, in ihren Reihen aufzunehmen.
Ein großes Feuer loderte ein gutes Stück vor dem Gemeinschaftshaus. In dessen Innerem aber waren Berge von köstlichen Speisen aufgebaut und standen noch unberührt zum Verzehr bereit. Viele Menschen hatten sich bereits auf dem weitläufigen freien Platz im Zentrum des Lagers versammelt. Sie standen in Grüppchen beieinander oder saßen am Feuer, unterhielten sich oder blickten schweigend in das züngelnde Spiel der Flammen. Viele Kinder sprangen umher, spielten miteinander, andere drückten sich scheu an die Beine ihrer Eltern.
Kiniu führte Mino-nokomis unbeirrt durch diesen ganzen Trubel hindurch zu Shawaeghiizig, der ihn wiederum zu einem altehrwürdigen Krieger führte, dessen üppiger Federschmuck auf allerhöchste Ehren verwies.
„Siehe, Tabobandung, mein Freund, hier bringe ich dir Mino-nokomis, meinen ältesten Enkelsohn und mein Herz ist voller Freude und Stolz!“
Tabobandung, was soviel heißt wie: ‘Er, der weit sieht‘, lächelte freundlich und bedeutete Mino-nokomis näher zu treten. „Es ist gut, es ist sogar sehr gut, dich hier bei uns zu haben!“
Es sollte ein langer Abend werden und auch eine lange Nacht. Nachdem ein Midewiwinini die Zeremonie der heiligen Pfeife eröffnet hatte und das Kalumet dann, gemächlich im Kreise wandernd, seinen aromatisch duftenden Rauch verbreitete, wurde Mino-nokomis feierlich willkommen geheißen und in die Reihen der Gamini aufgenommen. Erst dann begann das Festessen. Ihm folgten Lieder und Tänze, Spiele wurden gespielt und Geschichten erzählt und immerfort näherte sich Mino-nokomis ein weiteres Gesicht, um sich mit ihm vertraut zu machen, ihn auf einen Besuch einzuladen, ihm Begebenheiten zu erzählen, aus der Zeit, als Winonah noch hier bei ihnen gelebt hatte.
Viel gelacht wurde an diesem Abend, in dieser Nacht. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, Fragen gemeinsam erörtert, Geschichten und Anekdoten wurden zum Besten gegeben.
Mino-nokomis fühlte sich wie in einem Taumel, einem Traum, zu schön, um wirklich wahr zu sein. Immer noch konnte er es kaum begreifen, dass wirklich er selbst die Ursache für all das Aufhebens, all diese Freude sein sollte. Und doch sprachen die stolzen und glücklichen Gesichter von Shawaeghiizig und Nigig-o-quae und auch das von Elias, eine deutliche Sprache und ließen Mino-nokomis so ganz allmählich doch an das glauben, was er da sah.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich rundheraus angenommen, von der Allgemeinheit akzeptiert, einfach so! Sogar mehr noch als das, er fühlte sich in seiner Person anerkannt und irgendwie geliebt.
Als er dann ungeheuer spät hinter Kiniu in das Wigwam der Großeltern krabbelte, kuschelte er sich in sein Bett. Doch obwohl er hundemüde war, konnte er einfach noch nicht einschlafen. Ein Kindheitstraum war Wirklichkeit geworden und doch war in diesem Becher des Glücks ein bitterer Wermutstropfen. Allenthalben konnte ihn Mino-nokomis schmecken, fühlte er, dass die Freude getrübt war und erst dann vollkommen sein würde, wenn er an der Seite Winonahs seinen Fuß erneut in dieses Lager setzen würde.
Mit dem festen Vorsatz seinem Vater bei passender Gelegenheit von Nigig-o-quaes Worten, von ihrer Trauer zu erzählen und auch von Winonahs Sehnsucht, ihrem Heimweh, ihrer Einsamkeit, deren wahres Ausmaß er selbst erst angesichts der Erlebnisse des vergangenen Tages zu erahnen begann, schlief Mino-nokomis endlich ein und er schlief so tief und fest wie schon lange nicht mehr.
Am Horizont kündigte die Sonne ihren baldigen Aufgang mit einem tiefroten Streifen an, der sich auf dem noch nachtschwarzen Wasser des Sees widerspiegelte.
Mino-nokomis erwachte, irgendein Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf geschreckt. Suchend blickte er um sich, in dem noch vom Dunkel und der Ruhe der Nacht erfüllten Wigwam.
Kiniu war eben im Begriff gewesen, den Wigwam zu verlassen, als er gewahr wurde, dass Mino-nokomis gerade aufgewacht war. Augenblicklich machte er kehrt und schlich auf leisen Sohlen an dessen Lager. Er lächelte freundlich und fragte: „Möchtest du mit mir kommen und den neuen Tag im Wasser Gitchi Gamis begrüßen?“
Mino-nokomis dachte an das eisigkalte Wasser und war sich, wohlig warm in seine Decke gehüllt, ganz und gar nicht sicher, ob ein Bad im See erstrebenswert sein könnte.
Doch er wusste sehr wohl zu schätzen, mit welcher Freundlichkeit sich Kiniu um ihn bemühte und er wollte vor ihm auf keinen Fall wie ein Weichling erscheinen, der lieber behäbig in den Kissen lümmelte, als mit ihm zu gehen. Also willigte er ein und beeilte sich, seine Sachen zusammen zu suchen.
Durch dichten Frühnebel wanderten sie schweigend, Seite an Seite, durch den Wald. Tautropfen hingen in den Zweigen und glänzten auf Binsen und Gras. Ein spätes Käuzchen schwebte mit lautlosem Flügelschlag über sie hinweg, seinem Unterschlupf in einem hohlen, alten Baum entgegen.
Als sie schließlich den Saum des Waldes erreichten, breitete sich der See in all seiner Pracht und Erhabenheit vor ihnen aus, von einer warm leuchtenden Flut rotgoldenen Lichts überzogen und scheinbar unendlichen, tiefschwarzen Wäldern gesäumt.
Nach einer kurzen Zeit hatten sie eine freie Stelle erreicht, an der man bequem ins Wasser steigen konnte. Kiniu legte seine Kleider ab und begab sich geradewegs auf das Wasser zu. Doch ehe er sich anschickte in das eiskalte Nass zu tauchen, drehte er sich noch einmal lächelnd um und bedeutete Mino-nokomis es ihm gleichzutun. Voller Bewunderung beobachtete dieser mit welcher Ruhe und Gelassenheit sein Onkel in das Wasser schritt und schließlich zu schwimmen begann.
Tapfer ging Mino-nokomis voran, langsam aber stetig, so wie er es bei seinem Onkel beobachtet hatte. Schmerzhaft verkrampften sich seine Muskeln und als er dann vollends in die erbarmungslose Kälte des Wassers eintauchte, entfuhr ihm ein unterdrückter Schrei. Hastig beeilte er sich zu Kiniu zu gelangen, der bereits ein gutes Stück vorausgeschwommen war und mit der verspielten Leichtigkeit eines Otters durch das eisige Nass glitt. Kinius Augen strahlten vergnügt, als Mino-nokomis bei ihm anlangte und er sagte: „Komm, lass uns gemeinsam zum Ufer zurückkehren.“
Die Luft, welche Mino-nokomis eben noch fröstelnd kühl erschienen war, deuchte ihm nun mild und lau zu sein und doch konnte er nichts dagegen tun, dass seine Zähne unaufhörlich aufeinander schlugen und sein Körper von Schauern durchzogen wurde.
„Du warst sehr tapfer, glaube mir, manch einer schafft es beim ersten Mal nicht soweit hinein, wie du es geschafft hast. Morgen wird es ein bisschen leichter sein und übermorgen noch ein bisschen. Du wirst sehen!“
Mino-nokomis nickte und versuchte, ein zuversichtliches Lächeln zustande zu bringen, während er sich beeilte, seine Kleider über die noch feuchte Haut zu streifen.
Als sie dann das Lager erreicht hatten, fühlte sich Mino-nokomis durchwärmt und erfrischt zugleich und so derartig wohl in seiner Haut, wie schon lange nicht mehr.
Aufmerksam betrachtete Shawaeghiizig seinen jüngsten Sohn und als dieser lächelte und kaum merklich nickte, lächelte auch er.
Dankbar bemerkte es Mino-nokomis und er begriff in diesem Augenblick, dass jedes freundliche Angebot zugleich auch eine Bewährungsprobe sein konnte und überdies auch eine Gelegenheit zu zeigen, ja, vielleicht sogar erst einmal zu entdecken, was da so alles in einem steckte. Immer aber würde es ganz bei ihm liegen, ob er eine solche Einladung annahm oder nicht. Es war ihm tatsächlich vollkommen freigestellt. Doch würde nichts von dem, was er tat und nichts von dem, was er nicht tat, unbemerkt bleiben, alles würde ein Teil jenes Bildes werden, das er, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, bereits von sich zu zeichnen begonnen hatte.
17
Auch David wollte wirklich und mit ganzem Herzen zeigen, was in ihm steckte. Allerdings richtete sich dieser innige Wunsch einzig und allein an Charlotte. David war schlicht und ergreifend verliebt bis über beide Ohren und es hatte ihn so gründlich erwischt, dass seine Tage durchzogen wurden von dem immerwährenden Gedanken an sie.
Und das Schlimmste an allem, nein, vielleicht nicht gerade das Schlimmste, aber schlimm genug und allemal ein Umstand, der alles zusätzlich unerträglich werden ließ, war die Tatsache, dass er niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnte, dem er sein Herz ausschütten konnte, der ihm vielleicht mit Trost und am Ende sogar auch mit Rat zur Seite stehen würde. Der einzige, dem sich David bedenkenlos anvertraut hätte, war weit, weit weg, unerreichbar und es würde noch Monate dauern, ehe er endlich zurückkäme! Ach Gott, wäre Silas nur hier! Es würde so verdammt guttun, sich alles einmal von der Seele zu reden! Ein Gedanke fuhr durch Davids Kopf, erst vage nur, doch immer mehr an Gestalt gewinnend. Silas war unerreichbar für ihn, daran bestand kein Zweifel, aber es gab da noch jemanden, der ähnlich gut zuhören konnte und vielerlei Rat wusste. Jemanden, der Silas zu dem hatte werden lassen, der er war, der die Gedankenwelt seines Freundes geprägt hatte, wie niemand sonst und dieser jemand war Winonah.
Was wäre, wenn er ihr alles erzählen würde? Sie würde es gewiss niemandem weitererzählen, wem auch?
Kurz entschlossen sattelte er sein Pferd und ritt in gestrecktem Galopp geradewegs auf das alte Holzhaus am Rande des Waldes zu. Und es tat allein schon gut, sich auf diesem altvertrauten und lieb gewonnenen Weg zu befinden.
Als David dann nach einer guten Viertelstunde das halb im Dickicht verborgene Haus der Morgans erreichte, verriet ihm ein warmer Schein im Inneren des Hauses, dass Winonah zu Hause war.
Zaghaft klopfte er an die Tür und ebenso zaghaft wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Als Winonah jedoch David erblickte, glitt ein Strahlen über ihr Gesicht. Sofort öffnete sie die Tür und legte die vorsorglich zur Hand genommene Flinte beiseite. Dann schloss sie David in ihre Arme, drückte ihn einen kurzen Moment fest an sich und sagte voll freudiger Überraschung: „David! Wie schön, dass du mich einmal besuchen kommst!“
Voll des schlechten Gewissens dachte David daran, dass er sich, seitdem Silas mit seinem Vater losgezogen war, nicht ein einziges Mal bei Winonah hatte blicken lassen, dass sie all die Tage ganz alleine hier draußen gewesen war. Und auch jetzt hatte sein Besuch einen ganz und gar eigennützigen Grund.
Winonah indessen lächelte David immer noch freudestrahlend an und bat ihn mit einladender Geste, doch ins Haus zu kommen. Sie bot ihm einen Platz an dem alten, klobigen Holztisch und kaum dass er zum Sitzen gekommen war, hatte er auch schon einen Becher mit einem heiß dampfenden Gebräu vor sich stehen.
Mit einem Mal erschien es ihm ungeheuer schwer, beinahe unmöglich zu sein, das was er Winonah eigentlich erzählen wollte, seinen ganzen Jammer, in Worte zu fassen und die Sätze, die er sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte, kamen ihm leer und phrasenhaft vor.
Winonah bemerkte durchaus das Hadern und Ringen, das Zaudern, das diesen über die Jahre so lieb gewonnenen Menschen erfüllte und peinigte, genauso wie seine Verlegenheit.
Es konnte sich eigentlich nur um eines drehen, wenn dieser sonst wahrhaftig um Worte nicht verlegene Bursche, auf einmal so derart verlegen um Worte rang, seufzte und so unglücklich aus der Wäsche sah, dass es einem in der Seele weh tat. Winonah betrachtete David mit forschendem Blick. Die sanfte Röte seiner Ohren war es schließlich, welche sie Gewissheit erlangen ließ und sie fragte: „Es ist die Liebe, die dir Kummer bereitet, nicht wahr?“
David war wie vom Donner gerührt. Wie konnte sie das wissen?! Schließlich hatte er Charlotte, als er das letzte Mal hier gewesen war, noch überhaupt nicht gekannt und auch jetzt mit keiner Silbe erwähnt! Den Kopf schwer auf seine Hände gestützt, nickte er kaum merklich und stumm, während er einfach unfähig war, den rechten Anfang zu finden. Und dann geschah das, was David ganz und gar nicht beabsichtigt hatte. Mit einem weiteren Seufzer begannen Tränen in seine Augen zu steigen. Er versuchte sie zwinkernd am Herunterrollen zu hindern, doch sie scherten sich nicht darum. Verstohlen wischte er die ersten Tränen weg, doch immer weitere, immer zahlreichere quollen nach. Erst allmählich begann er sich zu beruhigen und immer noch schniefend fing er an, ihr seinen ganzen Kummer zu erzählen. Winonah hörte aufmerksam zu und schwieg auch noch eine Weile nachdem David geendet hatte.
Als sie schließlich zu sprechen anhob, umspielte ein anteilnehmendes Lächeln ihre Lippen: „Ich kann natürlich nur von dem berichten, was ich weiß und erlebt habe in der Zeit, da ich so jung war, wie du es heute bist und das war nicht hier, in einem Ort der Weißen, sondern zuhause, an den großen Seen im Lager der Gamini. Ich weiß also nicht, ob für die Weißen gilt, was für uns Ojibwe richtig ist. In vielerlei scheinen die Weißen andere Ansichten zu haben als mein Volk, ich bitte dich das zu berücksichtigen, wenn du meine Worte hörst.“
Winonah schwieg einen Augenblick und blickte David noch einmal mit einem liebevollen Lächeln an, ehe sie weitersprach: „Meine Mutter nahm mich einmal beiseite und sagte zu mir: ‚Winonah, meine Tochter, du kommst jetzt in das Alter, da die jungen Männer versuchen werden, deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Wenn einer um dich wirbt, schicke ihn fort, selbst wenn er dir gefällt. Kommt er wieder, schicke ihn wieder weg. Lässt er sich davon nicht abhalten und gefällt er dir, dann sprich einige Sätze mit ihm, schicke ihn dann aber wieder davon und halte es auch weiterhin so. Lässt er sich davon entmutigen und zieht sich zurück, dann weißt du, dass seine Liebe nicht groß genug war, liebt er dich aber wirklich, so werden die wenigen Sätze, die du mit ihm sprichst, seinen Tag erhellen und er wird gewiss nicht aufgeben.‘ Vielleicht ist es bei diesem Mädchen genauso? Aber eines möchte ich dir noch raten und das wird sicher bei den Weißen genauso sein wie bei den Ojibwe. Du musst auf die Augen achten, David, ihre Augen werden dir mehr erzählen, als tausend Worte. Und wenn sie dich wirklich liebt, dann werdet ihr vielleicht auch einen Weg finden können, die Familien zu versöhnen, wer weiß?“ David hatte Winonahs Worten schweigend gelauscht und sie waren Balsam für seine gemarterte Seele. Es war so tröstlich, dass sie es gar nicht für so vollkommen aussichtslos hielt, wie er geglaubt hatte, dass sie nicht schimpfte und nicht lachte, ach, und es tat zudem so unglaublich gut, erleichterte ihn so sehr, alles einmal von der Seele geredet zu haben und nun mit seinem ganzen Kummer nicht mehr mutterseelenallein dazustehen. Als sich David dann eine gute Stunde später von Winonah verabschiedete, nahm er sich fest vor, spätestens in ein paar Tagen wieder bei ihr vorbeizuschauen. Er hatte beinahe vergessen gehabt, wie gut es tat, mit ihr zu reden.
Zu Hause ignorierte er tunlichst die bohrenden, fragenden Blicke und kümmerte sich auch keinen Deut um die tiefen Sorgenfalten auf der Stirn seiner Mutter, der die ungewohnte Wortkargheit ihres Sohnes, sein oft so trübsinniges und teilnahmsloses Verhalten schon richtiggehend unheimlich zu werden begann. Gedankenvoll blickte sie David hinterher, der sich gerade anschickte, hinauf in seine Kammer zu gehen. „Meinst du, dass er vielleicht irgendwelche Sorgen hat?“ Fragend sah Mary zu ihrem Mann. Doch dieser blickte nur einen kurzen Moment von seiner Geschäftsabrechnung auf und schnaubte verächtlich. Den Blick bereits wieder auf seine Zahlen gerichtet, brummte er: „Möchte wissen, was der für Sorgen haben soll, kenn’ keinen der‘s besser hat als er.“
Kopfschüttelnd betrachtete Mary ihren Mann, dessen rauschbärtiges Gesicht, und bemerkte da zum ersten Mal, dass sein dunkles Haar allmählich grau zu werden begann.
18
Nachdem Mino-nokomis gemeinsam mit seiner Familie gefrühstückt hatte, wurde er gewahr, dass so nach und nach ein jeder damit begann, sein Tagewerk in Angriff zu nehmen. Auch sein Vater und Kiniu waren nicht mehr zugegen. Sie waren sogar schon als erste aufgebrochen, um gemeinsam die im Wald und an den Wasserläufen aufgestellten Fallen zu kontrollieren. Keiner hatte ihn gefragt, ob er nicht vielleicht mitkommen oder helfen wolle und so fühlte er sich nun seltsam verloren, inmitten all der Geschäftigkeit um ihn herum.
Einen Augenblick beobachtete er die beiden Frauen dabei, wie sie das Geschirr beiseite räumten und daran gingen, die Schlaflager auf dem hölzernen Rund in bequeme Sitzgelegenheiten zu verwandeln. Er war sich unsicher, wie es wohl aufgenommen werden würde, wenn er ihnen einfach seine Hilfe anbot, denn die häuslichen Tätigkeiten gehörten erklärtermaßen zum Ressort der Frauen, da hatte er im Grunde nichts verloren und David hätte ihm diesbezüglich auch sofort mit entschiedener Vehemenz recht gegeben.
Mino-nokomis musste schmunzeln. Er sah seinen Freund wieder vor sich, wie er abfällig seine hübsche Nase rümpfte und Hausarbeit für „Weiberkram“ erklärte. David hatte wirklich nie begreifen können, warum es seinem Freund nichts ausmachte, seiner Mutter beim Nähen und Kochen, beim Wäsche waschen und dergleichen zu helfen, aber es war wirklich so. Es machte ihm überhaupt nichts aus, an manchen Tagen machte es ihm im Gegenteil sogar Spaß. Zudem vertrat Winonah die Ansicht, dass es bestimmt noch niemals einem Menschen geschadet habe, mehr zu können, als nur das Übliche und das hatte ihm als kleines Kind schon eingeleuchtet. Er wusste von seiner Mutter auch, dass es ohne Frage ungewöhnlich war, wenn ein Mann nähen konnte, kochen oder waschen, genauso ungewöhnlich wie eine Frau, die auf die Jagd ging oder in den Krieg zog. Ungewöhnlich, ja, aber nicht unmöglich.
Kurz entschlossen trat Mino-nokomis an seine Großmutter heran und fragte: „Gibt es etwas, wobei ich Nookomis helfen dürfte?“
Nigig-o-quae drehte sich zu ihm um, lachte verschmitzt und tätschelte seine Wange: „Nein, mein Sohn!“ Sie lachte immer noch leise vor sich hin, als sie sich bereits schon wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte.
Mino-nokomis senkte den Blick verunsichert und beschämt zu Boden, als Waubagone mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zukam. „Ich werde bald aufbrechen, um im Wald nach verschiedenen Kräutern und Beeren zu suchen. Möchtest du mich vielleicht in den Wald begleiten? Es wäre mir eine große Freude!“
Lächelnd und abwartend blickte sie ihn an und wieder faszinierte Mino-nokomis die Ähnlichkeit Waubagones mit seiner Mutter. Wahrlich, den Namen Waubagone - Blume -, der für Schönheit und Wahrheit stand, trug sie zu Recht, denn sie vereinte beides in sich. Ihre Schönheit war unbestreitbar und ihre Suche nach Wahrheit und Wissen offenbarte sich in Form eines grünen, mit einer Farbe aus gestoßenen Blättern und Moosen, Asche und Fett gemalten, dicken Streifens, der sich waagerecht über ihr Gesicht, ihre hohen Wangenknochen und den zierlichen Nasenrücken zog. Dies war das Zeichen, dass sich Waubagone bereits auf dem Weg befand, eine Midewiquae zu werden wie ihre Mutter eine war. Und eine große Midewiquae wollte sie werden, weise, gütig und erfahren, das war Waubagones größter Wunsch und auch ihr erklärtes Ziel.
Immer noch wartete sie geduldig auf eine Reaktion auf ihre Frage. Sie zog lediglich fragend die linke Augenbraue hoch und berührte sachte Mino-nokomis Arm. Dieser schreckte augenblicklich aus seinen Gedanken hoch und beeilte sich, seiner Tante für das Angebot zu danken und willigte mit Begeisterung ein. Immer schon hatte er diese stundenlangen Streifzüge im Wald, an der Seite seiner Mutter, geliebt, bei denen es darauf ankam, die Augen offenzuhalten und die Ohren auch. Ganz genau hinzusehen, zu fühlen und wahrzunehmen. Es konnte nur herrlich werden, an Waubagones Seite durch den Wald zu streifen und Mino-nokomis war zudem begierig darauf, sein Wissen über die Tiere und Pflanzen des Waldes zu erweitern und versprach sich diesbezüglich allerhand.
Sie waren noch nicht allzuweit gegangen und dennoch begann Waubagone bereits zusehends Mino-nokomis ehrliche Bewunderung für sich zu gewinnen, denn ihr Wissen war mannigfaltig und überstieg seine vergleichsweise bescheidenen Kenntnisse um einiges. Beinahe ehrfürchtig fragte er: „Wann hast du dich dazu entschieden den Weg einer Midewiquae zu gehen?“
Waubagone lachte leise und sagte: „An dem Tag, an dem mir die große Ehre zuteil wurde und ich von einem Abgesandten der Midewiwin dazu eingeladen wurde, mich als Kandidatin einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, um herauszufinden, ob ich wirklich befähigt bin eine Midewiquae zu werden.“
„Wie lange ist das schon her?“
„Es war der Monat der blühenden Kirschbäume im vergangenen Jahr, als ich die Einladung erhielt. Und nachdem das Jahr einmal den Kreis der Jahreszeiten durchlaufen hatte und erneut die Kirschbäume zu blühen begannen, wurde ich als Midewiquae des ersten Ranges im Bund der Midewiwin willkommen geheißen.“
„Es gibt vier Ränge, nicht wahr?“
„Ja, es gibt vier. Ein langer Weg liegt noch vor mir …“ Gedankenverloren blickte Waubagone in die grünen Wipfel der Bäume, dann lachte sie mit einem Mal hell auf und blickte Mino-nokomis strahlend an. „Ist das nicht wunderschön?!“
„Was?“
„Na, dass ein langer Weg vor mir liegt und dass ich bereits dabei bin ihn zu gehen. Das Ziel zu erlangen ist nicht das eigentlich Wichtige, seinen Weg zu finden und zu gehen, dass ist es, worauf es ankommt.“
„Und was hat es mit diesen Rängen auf sich? Was bedeutet es im ersten Rang zu sein? Wie kann man in einen höheren Rang gelangen? Kannst du mir das erklären?“
Waubagone wiegte ein wenig den Kopf und sagte: „Das sind sehr viele Fragen, mein Neffe. Aber ich will versuchen sie zu beantworten, so gut ich es vermag. Doch du wirst geduldig sein müssen, denn deine Fragen lassen sich nicht in wenigen Sätzen beantworten und so viele Worte ich auch sprechen werde, so wirst du doch nur ein kleines bisschen von dem erfahren, wonach du gefragt hast. Ebenso viel wie der Schatten eines Menschen über sein Aussehen verrät, gewiss nicht mehr!“
Sie schaute Mino-nokomis fragend an und als dieser nickte, fuhr sie fort: „Ich als Schwester des ersten Ranges im Bunde der Midewiwin bin bei Weitem noch keine vollwertig anerkannte Midewiquae. Doch um den ersten Rang der Midewiwin zu erreichen, ist es schon nötig vieles zu lernen, Wissen zu sammeln über die verschiedenen Heilkräuter zum Beispiel und die Art und Weise, wie sie angewendet werden sollen, wann sie geerntet werden dürfen, welche Lieder und Gebete es für welche Pflanze gibt und noch vieles mehr. Das ist alles sehr, sehr wichtig! Doch viel wichtiger noch ist es, Wissen über sich selbst zu erlangen, denn nur wer bereit ist, sich selber wirklich zu erkennen, ist auch fähig an sich zu arbeiten, sich zu verändern, über sich selbst hinauszuwachsen, verstehst du? Ich habe viele Tage und Wochen lang, die Einsamkeit und die Versenkung in mich selbst gesucht und auch die Verbindung des Geistes mit unseren Brüdern, den Tieren und Pflanzen. Doch ist es weder möglich, noch gestattet den Weg eines Midewiwinini oder einer Midewiquae alleine zu beschreiten, denn um dich zu betrachten, benötigst du etwas, worin du dich spiegeln kannst. Um Wissen zu sammeln, benötigst du jemanden, der dir sein Wissen schenken möchte und um eine Midewiquae zu werden, brauche ich ein erfahrenes Mitglied der Midewiwin, das bereit ist meinen Weg zu begleiten. Und für jeden neuen Rang muss ich einen weiteren meiner Brüder oder Schwestern im Bunde dafür gewinnen, mich zu lehren und zu begleiten.“
„Und wann hört dann die Lehrzeit auf? Nachdem alle vier Stufen erreicht sind?“
Waubagone schüttelte den Kopf: „Wann hört ein Mensch auf zu lernen, neue Erfahrungen zu sammeln, Neues zu erleben? Ein Mensch, der nicht mehr bereit ist zu all dem, steht still, ist tot, auch wenn er noch atmet und lebendig scheint, er ist es nicht, nicht wirklich! Doch es wird dennoch der Tag kommen, da ich keinen mehr zur Seite haben werde, der mir hilft, der mich spiegelt, der mich lehrt, mich fordert und mich begleitet wie ein guter Geist. Dieser Tag wird dann gekommen sein, wenn das Mitglied der Midewiwin, welches meine letzte Lehrzeit begleiten wird, hinaufgeht, über den Pfad der Sterne hinweg, in das Land der Seelen. Und es wird auch der Tag kommen, da ich ein vollwertiges Mitglied der Midewiwin bin und dieser Tag wird sein, wenn ich alle vier Stufen erreicht habe. Doch das Ende meiner Lehrzeit hier wird erst kommen, wenn ich meinen Brüdern und Schwestern folge, auf dem Sternenpfad der Seelen.“ Waubagone schwieg einen Moment und ein zuversichtliches, glückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, ehe sie zu sprechen fortfuhr. „Nun weißt du aber noch immer nichts darüber, was es mit den einzelnen Stufen auf sich hat. Ich will versuchen, es dir zu erklären, doch ist es nicht einfach in Worte zu fassen. Als in diesem Jahr erneut der Monat der blühenden Kirschbäume kam, hatte ich genügend Wissen und Erfahrung gesammelt, um mit der Aufnahmezeremonie des ersten Ranges im Kreise meiner Brüder und Schwestern der Midewiwin willkommen geheißen zu werden. Nun ist es an mir, mich weiter zu vervollkommnen, denn um Heilen und Raten zu können, um wahrhaft Gutes tun zu können, bedarf es eines guten Herzens. Um weisen Rat zu sprechen, bedarf es der Reinheit des Geistes und der Weisheit. Um den Geistern nahezukommen, bedarf es der Offenheit und Stärke. Doch hoffe ich im nächsten Jahr schon in den zweiten Rang aufgenommen zu werden und somit Gitchi Manitu darum bitten zu dürfen, mir Augen und Ohren zu öffnen, damit ich sehen und erkennen kann, was ist. Und wenn ich mich darin vervollkommnet habe, zu hören was ist, zu sehen, was ist, die Wahrheit zu erkennen, die hinter dem steht, was ich sehe und höre und zugleich auch meinen Weg des reinen Herzens und des Sammelns von Erfahrungen und Wissen vorangegangen bin, so wird der Frühling kommen, da die große Zeremonie beginnt und ich Gitchi Manitu als Schwester des dritten Ranges darum bitten darf, weiter sehen zu können, als es das Auge des Adlers vermag, über die Schwelle der Zeiten hinweg und wenn es mir eines Tages gelingen sollte, das Alte mit dem Neuen zu verbinden und vom alten Leben zu neuem Leben zu gelangen, so werde ich eines Tages auch den vierten Rang erreichen, um nicht nur die Zeiten dieser Welt, sondern auch das Leben mit dem Tod zu verbinden, die Einheit zwischen Tod und Leben zu erkennen und zu fühlen. Wenn ich diesen langen Weg gegangen sein werde, werde ich selber auch Kandidaten für die Midewiwin vorschlagen können und begleiten auf ihrem Weg und ich werde alle Aufgaben einer Midewiquae ausführen dürfen, doch ich werde nicht vollkommen sein und der Weg des Wachsens und Lernens wird nicht zu Ende sein, an diesem fernen Tag.“
Bäche und eine Vielzahl an Tümpeln und kleineren Seen durchzogen das Gebiet, welches sie durchwanderten und nicht wenige von diesen waren einzig entstanden durch die emsige Arbeit der Biber.
Der Wald war reich an Unterholz und allenthalben trugen die Nusssträucher ihre Kätzchen, wippten die gelben Blüten des Wah-on-nay-Mokassins, des wilden Frauenschuhs und auch erste Beeren waren schon zu sehen, sogar mehrere Nester der Ode’imin, der Erdbeere. Doch pflückten sie niemals alle Beeren, die sie fanden. Und niemals brach Waubagone viele Zweige, jede Blume, jedes Kraut, sondern immer nur ein paar wenige von jeder Stelle, jedem Strauch, von beständigen Gebeten und Liedern begleitet, voller Achtsamkeit, Ehrfurcht und Dank.
Sie sprachen nicht mehr viel auf ihrem Weg, doch war es nicht das bedrückende Schweigen der Wortlosigkeit und Ferne, sondern das friedliche Schweigen der Einigkeit und des Verständnisses. Mino-nokomis fühlte sich so ungeheuer wohl, hier in diesem mächtigen, ewigen Wald, an der Seite seiner Tante, die so zart und schön, so lieblich wie eine Blume war und ihm zugleich so ungemein stark und Ehrfurcht gebietend erschien, als habe sie bereits die Weisheit eines ganzen Lebens verinnerlicht und das, obwohl sie gerade einmal sechsundzwanzig Jahre zählte.
Dieser Tag im Sommerlager der Gamini machte tiefen Eindruck auf Mino-nokomis, beschäftigte seine Gedanken und Gefühle und seine Träume auch. Und zugleich hinterließ auch jeder weitere Tag tiefe Spuren in ihm, gruben sich die Erlebnisse und Erfahrungen tief in seine Ojichaag, würden auf ewig unvergessen sein. So wie es ihm unendlich schwer gefallen und auch nur begrenzt geglückt war, in der Welt der Weißen Fuß zu fassen, so leicht fiel es ihm hier, bei seiner Familie, in der anderen Welt, der Welt der Ojibwe. Alles, was er von klein auf von seiner Mutter gelernt hatte, all sein Wissen, seine Fertigkeiten, ebenso wie die Ansichten und Lebensregeln, welche ihm Winonah mit auf den Lebensweg gegeben hatte, all das hatte mit einem Mal Wert und Gültigkeit erhalten und keiner wunderte sich und schüttelte befremdet den Kopf, keiner blickte verächtlich, nirgends eckte er an. Es war ein geradezu traumhafter Zustand! Umso mehr, da seine Sicht der Dinge nicht nur auf keinerlei Widerspruch stieß, sondern auf Achtung, Ergänzung, Zuneigung und Anteilnahme. Er fühlte sich in seiner Person so durch und durch angenommen und geschätzt wie nirgendwo bisher, außer natürlich bei seiner Mutter, und er begann allmählich Abschied zu nehmen von seinem jederzeit auf böse Überraschungen gefassten, sorgsam beobachtenden Blick.
Es war offensichtlich, dass er gefiel, angenommen und anerkannt war, einfach dazugehörte. Und spätestens nach der ersten Jagd, an der er teilgenommen hatte, genoss er zudem die Achtung, die einem geschickten und ausdauernden jungen Jäger zustand. Mino-nokomis genoss es ungemein, allenthalben ein gern gesehener Gast zu sein und auch hin und wieder einmal das scheue, kaum merkliche Lächeln einer gerade in ihrer Jugend erblühenden Schönen zu empfangen und zu erwidern, ebenso scheu und beinahe unsichtbar.
So verliefen die Tage durchaus nicht gleichförmig, doch immer aber arbeitsreich, denn es gab wahrhaftig ungeheuer viel zu tun, um ein angenehmes und einigermaßen sicheres Leben aller hier im Lager zu gewährleisten.
Der Morgen aber gehörte Mino-nokomis, Kiniu und Gitchi Gami, wenn sie in seinen eiskalten Wogen im Licht der aufgehenden Sonne ihr Bad nahmen. Der Abend dann gehörte ihnen allen, wenn sie nach dem Abendessen im Schein des gemütlich und ruhig vor sich hinbrennenden Feuers saßen, die ganze Familie versammelt im stattlichen Rund von Shawaeghiizigs und Nigigo-quaes Wigwam und nicht selten auch noch die einen oder anderen Gäste dazu.
Es war einer jener gemütlichen Abende, zumindest hätte es ein solcher Abend sein können, wäre da nicht etwas geschehen, dass die Gemüter erhitzte und die sonst so geruhsam heitere Stimmung gründlich vertrieben hatte.
Schweigend verfolgte Mino-nokomis die schier endlose Debatte, der zu entnehmen war, dass Mooz, Kiniu und Elias bei der täglichen Kontrolle der aufgestellten Fallen, neben ihren eigenen Fallen auch fremde gefunden hatten. Doch schien Mino-nokomis das Ausmaß der hellen Empörung um ihn herum unverhältnismäßig groß zu sein.
Es waren nagelneue Biberfallen aus Eisen gewesen, welche die Männer gefunden hatten und diese sechs blanken Eisenfallen lagen nun hier auf dem Boden und schimmerten unschuldig im Licht der Flammen, doch ihre Rachen hatten sie weit aufgesperrt wie ein bösartig vernichtendes Maul.
Mino-nokomis schauderte und eine Gänsehaut überzog seinen Rücken. Er hasste die Jagd mit der Falle. Sie widersprach allem, was nach seinem Gefühl gut und richtig war. Die Jagd mit der Falle hatte etwas Feiges, Unehrliches, Hinterhältiges für ihn. Sie war etwas gänzlich anderes, als die Jagd Auge in Auge mit dem Bruder Tier, die Geschicklichkeit erforderte und Mut und deren Gelingen niemals sicher war. Doch dies war seine ganz persönliche Sichtweise und er wusste wohl, dass sie nur von wenigen geteilt wurde. Respektiert aber wurde sie alle Mal und niemals hätte jemand ihn dazu genötigt, mit den anderen die Fallen zu kontrollieren. Mino-nokomis betrachtete erneut die auf dem Boden liegenden Fallen, sie waren unzweifelhaft von Weißen gefertigt, was allein natürlich noch gar nichts besagte. Jeder konnte in den Besitz solcher Fallen gelangen. Aufgeregt wurde darüber gemutmaßt, ob diese Fallen einem unerfahrenen oder einem unverschämten Weißen gehörten oder bestürzender noch, einem Indianer, der sich weder an die allgemeingültigen Gesetze hielt, noch auch nur einen Funken Ehrgefühl und Anstand besaß.
Doch Mino-nokomis fragte sich, was eigentlich überhaupt dabei war, wenn auch ein anderer, wer immer es auch sein mochte, in dieser Gegend seine Fallen aufstellte. Er nahm sich vor, gleich morgen früh Kiniu danach fragen.
Kiniu hatte sich wieder angezogen, saß auf einem großen, zerklüfteten Findling und wartete darauf, dass auch Mino-nokomis bereit zum Gehen wäre. Die Sonne hatte bereits den Himmel in flammendes Orangerot und Rosé getaucht und ließ die vielen Wolken erstrahlen, die aussahen, als hätte einer mit einem großen Besen über den Himmel gefegt.
Mino-nokomis trat auf Kiniu zu, zögerte einen kurzen Moment noch, und sagte: „Darf ich etwas fragen?“
Kiniu blickte ihn freundlich an, nickte und wartete.
„Ich habe lange über die Gespräche gestern Abend nachgedacht. Ich verstehe ehrlich gesagt die ganze Aufregung nicht. Was macht es, wenn irgendjemand seine Fallen hier in der Gegend aufgestellt hat?“
„Es ist gegen das Gesetz. Niemand darf im Gebiet einer anderen Familie seine Fallen aufstellen. Kein Ojibwe, kein Weißer und auch niemand sonst. Wenn jemand der Ansicht ist, dass das seiner Familie zugewiesene Gebiet nicht ausreicht, so kann er sein Anliegen vortragen und der Rat wird darüber entscheiden, ob die Aufteilung der Gebiete zu verändern ist. Aber einfach im Gebiet einer anderen Familie seine Fallen aufzustellen ist schändlich, deshalb die Aufregung!“
„Aber“, Mino-nokomis blickte Kiniu nachdenklich und stirnrunzelnd an, „als wir auf die Jagd gegangen sind, hatte ich niemals das Gefühl, dass wir uns um irgendwelche angrenzenden Reviere Gedanken gemacht haben und auch nicht beim Beeren- oder Kräutersammeln.“

Tanja Mikschi
Tanja Mikschi wurde 1966 in Offenbach am Main geboren. Als Sozialpädagogin engagiert sie sich seit 1995 für Kinder und Jugendliche in problematischen Lebenssituationen.Ihr privates Interesse gilt jedoch schon seit Jugendjahren dem Studium der Menschheitsgeschichte unter kulturhistorischen und soziologischen Aspekten. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie hierbei auf die vielfältigen Kulturen der indigenen Völker Amerikas.
Zahlreiche Reisen auf den Amerikanischen Kontinent, vom Norden Kanadas bis hin zu den Subtropen Lateinamerikas, gewährten ihr hierbei persönliche Einblicke in unterschiedliche indianische Kulturen, welche sie tief berührten und ihr dabei halfen mit ihrem Debütroman „Auf den Pfaden des Luchses“ eine Zeitreise in die Jahre zu unternehmen, als das heutige Amerika seinen Anfang nahm.