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Strandkorbgeschichten

©2016 82 Seiten

Zusammenfassung

Was haben Scarlett O’Hara, Dieter Bohlen und Anastasia Steele gemeinsam?
Nicht viel, könnte man meinen.
Und doch finden sie alle auf zauberhafte Weise den Weg in Susanne von Loessls sonnige Strandkorbgeschichten für den perfekten Sommerurlaub. In den Hauptrollen: toughe Single-Frauen, gealterte Grazien, exzentrische Wahrsager, liebeskranke Hunde und der eine oder andere Traummann.

Dieser Band enthält zehn humorvolle Erzählungen zum Träumen und Genießen:

1. Nach zwanzig Jahren
2. Dicke Post vom lieben Gott
3. Das Ende einer Affäre oder Fifty Shades of Pink
4. Am Aschermittwoch ist alles vorbei
5. Lucky Lucie
6. Ein glückliches Jahr
7. Bohlen sei Dank
8. Für diese Jahreszeit zu kühl
9. Handy-Andy total
10. Die Sonne-Venus-Konstellation

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Nach zwanzig Jahren

Der Sommer fand in diesem Jahr unter dem Regenschirm statt.

Es regnete, es schüttete, es graupelte.

Kein Mensch konnte einsehen – warum auch? –, dass ausgerechnet die Mitte Europas, und das im wahrsten Sinne des Wortes, diesen Sommer ausbaden musste. Und das nur, weil ein Atlantiktief mit einem Hoch aus nördlicher Richtung zusammengeprallt war. Ausbiegen kam wohl nicht in Frage?

Das trüb-timpelige Wetter zog einem die bleiernen Grautöne in die Knochen und legte klamme Wickel um die Seele.

Vicki Siebeck blätterte lustlos durch ihren Terminkalender. Was stand nächste Woche an?

Ah nee, auch das noch … Abi-Treffen, nächsten Freitag! Das hatte sie völlig vergessen. Und dann noch mit Übernachtung … Sie stützte ihren Kopf in die Handflächen, schaute in die vorbeiziehenden Regenschleier vor ihrem Fenster und dachte an die lang, nein, sehr lang, zurückliegende Schulzeit.

Zwanzig Jahre! Eine Ewigkeit. Sie hatten sich doch alle mehr oder weniger aus den Augen verloren, warum nach zwanzig Jahren ein Klassentreffen?

Gut, man hatte schon manchmal um drei Ecken, über den einen oder anderen gehört oder gelesen, einige waren ganz erfolgreich und Ute (Schnute) Berger, die Brigitte Bardot vom Elisengymnasium, die traf Vicki regelmäßig auf dem Wochenmarkt für ein kurzes „Guten Tag und guten Wech“, grundsätzlich immer an den Ständen, wo alles „biologisch–damisch“ war. Handgeklöppelte Möhren etc.

So hochgewachsen sie damals gewesen war, so breit war sie heute. Ihre tolle, vielbeachtete, semmelblonde Löwenmähne war auch Vergangenheit. Jetzt trug sie eine doofe Prinz-Eisenherz-Frisur, Marke Vollkornbrot und Blockflöte. Der Schmollmund – strichlippig.

Aber: Sie hatte sich sehr reich verheiratet! Natürlich noch zu ihrer Glanz-und-Glamour-Zeit. Doch jetzt – as time goes by … Schade.

Viele Gesichter tauchten in Vickis Gedanken auf. Und plötzlich war er da – Phillipp (zwei L Zwei P) Maertens … Ach Phill …

Was wohl aus ihm geworden war? ob er kommen würde? Sicherlich! Hoffentlich … Und sicher an seiner Seite, Johanna, Vickis einst beste Freundin.

Phillipp, Johanna und sie, Vicki, waren die letzten Schuljahre unzertrennlich gewesen. Für ihre Mitschüler waren sie entweder „die drei von der Tankstelle“ oder „die drei Musketiere“.

Im letzten Schuljahr verlor sich allerdings die Leichtigkeit ihrer Freundschaft zunehmend. Johanna fand Vicki und Phillipp ziemlich albern und guckte nur noch irritiert und immer leicht verbiestert über die Unbeschwertheit der beiden.

„Eure ständige Lacherei geht mir auf die Nerven. Konzentriert euch besser aufs Abi, als hier blöd rumzualbern, ah nee.“

„Was soll’s, Johannes?“, lachte Phillipp, er nannte sie tatsächlich Johannes, „wir gackern und du schreibst einen Einser nach dem anderen. Und wir schreiben dann ab! So hat alles seinen Sinn.“ Gut gelaunt strubbelte er ihr durch die Frisur.

Immer öfter beobachtete Johanna argwöhnisch ihre Freunde. Die Nase gekräuselt, den Mund verkniffen, es passte ihr absolut gar nicht!

Die Sorglosigkeit, die zwischen Phillipp, Johanna und Vicki gewesen war, war vorbei und wurde verkrampft. Zu doof. Vicki und Phillipp waren irritiert und Johanna verzickt. Am Ende ging jeder seiner Wege und jeder büffelte für sich allein.

Was war aus ihrer Freundschaft geworden?

Nach dem Abi-Ball zog Johanna Vicki, die auf dem Weg zur Garderobe war, mit knöchernem Klammergriff in eine Fensternische, fixierte sie mit ihren eisblauen, kalten Augen und zischte, ohne den Griff zu lockern: „Vicki, das war’s. Geh Phillipp und mir in Zukunft aus dem Weg. Du störst, du bist lästig. Phillipp und ich“ – sie machte eine vielsagende Pause – „du verstehst …“ Dann giftelte sie mit süffisantem Lächeln nach: „Dass du das noch nicht bemerkt hast … Na ja, es ist wie es ist, wir werden hier in Hamburg zur Uni gehen und ich denke, wir ziehen dann irgendwann zusammen, capisce? Du bist überflüssig, Siebeck. Merkst du es nicht? Du störst! Drei sind einer zu viel!“

Sie ließ Vicki los, ging drei Schritte, sagte dann kopfschüttelnd über die Schulter: „Dass du das nicht gemerkt hast, tzzz …“ Sie eilte davon und breitete ihr imaginäres Schmetterlingsnetz aus, denn irgendwo im Getümmel vermutete sie Phillipp.

Der Studienplatz – Medizin, in Süddeutschland – kam Vicki sehr gelegen. Nur weg. Alles vergessen, hinter sich lassen. Besonders Phillipp. Zwei L, zwei P.

Sie blieb das gesamte Studium über in Regensburg, ging später nach München an die Uni-Klinik, um nach dem Facharzt an ein Hospital des internationalen Roten Kreuzes an die thailändisch-kambodschanische Grenze zu wechseln. Dort traf sie auf Dr. Friedrich Naumann. Sechs Jahre waren sie verheiratet, dann löste sich ihre Ehe in Wohlgefallen auf. Als Ärzte ein Team, als Ehepaar zwei Einzelgänger. Aber Weihnachten und zu den Geburtstagen gab es immer noch Postkarten. Von Friedrich Naumann aus allen Ecken der Welt, von Vicki aus Hamburg, dort hatte sie seit einigen Jahren eine Praxis.

An Phillipp hatte sie fast zwei Jahrzehnte lang nicht mehr gedacht, nicht einmal als die Einladung auf den Tisch geflattert kam.

Dafür heute umso intensiver. Phillipp … Ach ja …

Ihre Sprechstundenhilfe klopfte an die Tür: „Können wir anfangen, Frau Doktor? Das Wartezimmer läuft über.“

Vicki schob ihre Erinnerungen beiseite. Es waren zwanzig Jahre vergangen, basta!

„Wir können anfangen.“

Freitagabend.

Vicki stand unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank. Sie erwog und verwarf.

Zu kurz. Zu lang. Zu bieder.

Vicki hatte das Problem, das sie mit den meisten Frauen teilte, die vor einem gut gefüllten Kleiderschrank stehen: Hilfe, ich hab nichts anzuziehen!

Sie entschied sich nach endloser Probiererei für einen schlichten, schwarzen Hosenanzug. Armani, was sonst? Sie garnierte das Ganze mit etwas Kettengeklunker, drapierte ein großes Seidenkarree lässig auf die Schulter, war mit dem Ergebnis zufrieden. Sehr zufrieden!

Tasche. Autoschlüssel … Los ging’s.

Sie bog auf den Parkplatz des Hotels ein, in dem das Treffen stattfinden sollte. Plötzlich war sie nervös und wäre um Haaresbreite einer Dame in indifferentem Beige in die Hacken gefahren.

„Mein Gott, können Sie nicht gucken? Passen Sie doch auf!“

„Grüß dich, Johanna. Unverkennbar Johanna Probst, die da pöbelt“, sagte Vicki lächelnd durch das offene Fenster.

„Mensch, Vicki, du …“

Vicki war ausgestiegen und begrüßte Johanna.

„Na, und wo ist er?“, fragte sie.

„Wer?“, fragte leicht blöde Johanna.

„Na, Phillipp …“

„Weiß ich doch nicht. Wie kommst du denn darauf? Also wirklich.“ Johanna zuckte mit den Schultern, versuchte Ahnungslosigkeit zu signalisieren und bekam einen roten Kopf.

Hukaido-Kürbis auf beigem Ensemble.

Johanna kreiselte sich durch ihre Gedanken und auf ihrer Nase bildeten sich kleine Schweißperlen. Sie lachte schrill und etwas zu laut, stupste Vicki, die inzwischen ausgestiegen war, plump vertraulich ihren Ellbogen in die Rippen und kicherte dümmlich.

„Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, Phillipp … Also wirklich! Ich lebe in Husum, bin sehr glücklich verheiratet und Mutter von drei Kindern.“

Sie musterte Vicki mit gekonntem Schakalblick. „Hast du Kinder?“ Sie zog die zweite Silbe bewusst in die Länge. „Wie du im Zusammenhang mit mir auf Phillipp kommst, also wirklich …“ Johanna kicherte erneut ziemlich blond.

Sie plapperte auf dem Weg zum Eingang ohne Punkt und Komma. Nur Vicki hörte nicht mehr zu.

Reiner Selbstschutz.

Vicki erkannte die meisten Ehemaligen sofort. Einige waren aufgeblüht, andere fingen schon leicht an zu welken.

Ein freundlicher Geschäftsführer bat die ankommenden Gäste zum Empfangschampagner auf die Terrasse.

Nachdem sich das erste Hallo gelegt hatte, klopfte Hans-Peter Kühn, heute ein renommierter, ausgefuchster Anwalt, an sein Glas, um die Anwesenden zu begrüßen. In ihrer Schulzeit war er Klassensprecher gewesen und irgendwo war er es immer noch, der Hansi.

Er verlas die Grüße mit den Absagen. Auch die in Öko verblühte Ute Berger hatte abgesagt.

„Wir sind leider, leider in unserem Domizil in Monte Carlo …“

Eine Stimme war zu hören: „Das ist aber jammer-, jammerschade.“

Die Gesellschaft drehte sich in Richtung des Sprechenden.

In den weitgeöffneten Flügeltüren zur Terrasse stand ein Schlaganfall von einem Mann. Braungebrannt, schwarze Haare (durchzogen von feinen Silbersträhnen), die Krawatte locker gebunden, die oberen Knöpfe des weißen Hemdes geöffnet, geschoppte Manschetten. Das Sakko hing lässig am Zeigefinger seiner linken Hand auf seiner Schulter.

„Wow!“, seufzte eine Frauenstimme.

„Johanna!“, sagte Vicki laut. Oje, das hatte sie gar nicht gewollt.

Ihr Ausruf ging glücklicherweise mehr oder weniger in großem Gelächter unter.

Johanna ruderte sich rücksichtslos in Richtung Phillipp durch die Menge.

„Phillipp! Phillipp!“ Sekunden später hing sie dann als üppiges, beiges Seiden-Komplett an seinem Hals.

Er sah feixend über Johannas Schulter hinweg in die Menge.

Da stand tatsächlich Phillipp Maertens, mitten unter vielen Menschen, die laut durcheinander redeten. Nicht aufwachen, Vicki … Was für ein wunderschöner Sommerabend … Phillipp … Wach bloß nicht auf, befahl sie sich.

Phillipp guckte sich durch die Gesichter, er suchte Vicki. Sie war der eigentliche Grund, warum er überhaupt gekommen war.

Da, da war sie.

Phillipp befreite sich aus den Tentakeln von Johanna. Mit Herzklopfen bis zum Hals bahnte er sich seinen Weg zu Vicki.

„Victoria …“ Er nannte sie zum allersten Mal Victoria.

„Phillipp …“ Nicht aufwachen, Vicki Siebeck, ermahnte sie sich noch einmal, träumte den schönen Phillipp-Traum.

„Vicki, ich bin es, Phillipp, Phillipp Maertens, erinnerst du dich?“

„Phillipp?“

„Vicki!“

Da standen sie nach zwanzig Jahren wortlos voreinander.

„Ich hol euch gleich ’n Stehgeiger!“, rief Hans-Peter Kühn über die Köpfe der Gäste hinweg und war plötzlich wieder der freche, sommersprossige Hansi aus der 13 b.

Die Truppe drängelte sich zwischen die beiden, um Phillipp mit großem Hallo zu begrüßen. An der Spitze segelte erneut Johanna und quietschte: „Phillipp!“

Vicki stand abseits. Ab und zu trafen sich die Blicke von Phillipp und Vicki.

Doch Johanna schob sich mit der Witterung der Verbiesterten als beige Sichtblende schnell dazwischen.

Ein vom Himmel geschickter Kellner löste die Runde auf und bat Platz zu nehmen.

„Gibt es eine Tischordnung“, fragte Phillipp, ohne seinen Blick von Vicki zu lösen.

„Du sitzt neben MIR!“ Johanna zog ihn mit und scheuchte alle, die im Weg standen, zur Seite.

Vicki nahm schräg gegenüber Platz.

Sehr zur Freude von Gunther Blaschke. Elektro-Blaschke, neun Filialen … und immer noch nicht verheiratet.

Gunther, wie schon zu Schulzeiten im perfekten englischen Outfit. Mr. Very-Britisch –Tweed-Sakko, senfgelbe Feincordhose, Clubkrawatte, passendes Einstecktuch. Umweht von Grey Flannel.

Blaschke strahlte. Endlich saß er neben seinem Schwarm Vicki Siebeck. Endlich! Wie gerne würde er ihr alle Lampen, Staubsauger, Waschmaschinen, Bügeleisen und Kabelbinder zu Füßen legen. Vicki Siebeck! Vor lauter Nervosität schwabberte er sich Hummersuppe auf den schönen Schlips.

Johanna redete auf Phillipp ein, sie musste schließlich 20 Jahre aufholen.

Phillipp versuchte von Zeit zu Zeit zu Vicki rüber zu sehen, doch sofort fuhrwerkte Johanna in den Blickkontakt, angelte nach dem Brotkorb, fischte nach dem Salzstreuer oder platzierte eine Flasche Pellegrino dazwischen.

„Phillipp, Phillipp … hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir.“

Neben Vicki dozierte, charmierte, sabbelte Blaschke wie ein Wasserfall. Und klopfte, ihre Konzentration einfordernd, ab und zu mit leichter Hand an ihren Oberarm.

Blaschke redete und redete.

Als sie beim Zwischengericht, Maispoularde an frischem Vierländer Gemüse, angelangt waren, wusste Vicki bereits, wie viele Häuser und Grundstücke (zwei davon auf Sylt) er in eine Ehe einbringen würde.

„Unsere Werbung: Bei Blaschke geht dir ein Licht auf!“, meckerte er lachend über die Tafel.

Blaschke ist dick wie ein prall gefüllter Geldsack, dachte Phillipp und suchte erneut Blickkontakt mit Vicki. Vicki Siebeck, oder wie immer du jetzt heißen magst, sieh doch bitte einmal zu mir rüber.

Vicki ließ Gunther reden und reden und hörte aufmerksam nicht zu.

Sie sah zu Phillipp, der sich anscheinend blendend mit Johanna zu unterhalten schien.

Nein, tat er nicht, denn auch er hörte nicht zu. Johanna plapperte und schnatterte ununterbrochen.

Phillipp, sieh doch bitte einmal in meine Richtung.

„So, ihr Lieben, zum Hauptgang Platzwechsel.“

Phillipp stand auf, ging um den Tisch herum und scheuchte Blaschke vom Sitz. So!

Da alle noch blockten, musste Blaschke auf den frei gewordenen Platz zu Johanna. Maulig fiel er auf das Polster.

Endlich saß Phillipp da, wo er von Anfang an sitzen wollte. Außerdem war Vicki der einzige Grund, weshalb er überhaupt gekommen war. Er wollte, auch wenn 20 Jahre dazwischen lagen, wissen, warum Vicki damals sang- und klanglos von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwunden war.

Phillipp hatte so viele Fragen. Doch nun saß er stumm neben Vicki.

Wie schön Vicki ist! Sie trägt keinen Ehering … Aber das hat nichts zu bedeuten.

Er hat wunderschöne Hände. Aber er trägt keinen Ring. Weder rechts noch links. Das hat nichts zu bedeuten …

Vor Aufregung konnte Vicki fast nicht sprechen, nur ein relativ gut gestammeltes, unwichtiges „Wo lebst du denn jetzt?“ gelang ihr.

„Wir leben in New York.“

Wir? Was hast du erwartet, Victoria Siebeck?

Phillipp drückte Vicki ihr Glas in die Hand, griff nach seinem eigenen, lächelte und tauchte in Vickis Augen. „Auf unser Wiedersehen … auf uns.“ Phillipp nahm Vickis Hand und küsste ihre Fingerspitzen. „Endlich, Vicki! Endlich!“

Er hielt ihre Hand noch immer, als bereits der Nachtisch serviert wurde.

Die anderen löffelten lachend und schwatzend ihre Variationen von Waldbeeren auf Champagner-Sorbet.

Vicki und Phillipp ließen stumm die Ewigkeit an sich vorüberziehen, während sich die Waldbeeren dem flüssigen Sorbet hingaben.

Hansi klimperte an sein Glas, um sich Gehör zu verschaffen.

Er machte den Vorschlag, dass bei Kaffee, Espresso, Cappuccino oder was auch immer, jeder ein paar Sätze über sich sagen sollte. Danach: „Danz opp de Deel, will sagen: wir gehen schwofen, reden und tanzen in der Bar oder in der untergehenden Sonne auf der Terrasse.“ Hier zwinkerte Hansi in Richtung Vicki und Phillipp.

Jeder erzählte mal kürzer, mal länger, mal extra lang (Johanna). Nun wusste auch jeder um ihre Wehenschwäche und dass Sohn Emanuel eine Steißgeburt gewesen war.

Dann kam Vicki an die Reihe. Ärztin, geschieden, keine Kinder.

Bei geschieden ruckelte Blaschke aufgeregt an seiner Krawatte.

Der Nächste war Phillipp. Banker, Wohnort New York, zwei Kinder, neun und elf Jahre alt. Seit zwei Jahren Witwer, er hatte seine Frau durch einen Unfall verloren.

Nachdem alle berichtet hatten, nutzte Johanna sofort die Pause, um mit ausgebreitetem Geflügel zu Phillipp zu eilen. „Oh, du Armer!“, rief sie schon von weitem und drängelte sich durch die Tischreihen.

Vicki stellte sich ihr in den Weg. „Lass es, Johanna!“

Genau in diesem Moment drehte der DJ die Regler hoch. Bryan Adams – “Have You Ever Really Loved AWoman?”

Phillipp rief Vicki quer durch das Restaurant zu: „Komm‚ Vicki. Sie spielen unser Lied.“ Und zog sie lachend auf die Terrasse.

Der DJ zwinkerte Philipp zu, und der stellte, von Vicki ungesehen, den Daumen hoch. Es hatte wunderbar geklappt.

Johanna hing im Laufe des Abends schlecht gelaunt vor Blaschkes Harrods-Tweed-Sakko.

Life is Life …

Geschlafen haben Vicki und Phillipp in dieser Nacht nicht viel, aber wunderbar!

Tja … und Johanna hatte Migräne.

Dicke Post vom lieben Gott

Manches im Leben gestaltet sich so absolut verrückt, dass man Hemmungen hat, es überhaupt zu erzählen.

Wie sagen die Schauspieler? Das kann man nicht inszenieren, das glaubt kein Mensch.

Die Geschichte von Fabian Bergmann und Paulina Steiner ist so eine Geschichte.

„Beachten Sie unsere Champagner- und Pralinen-Sonderangebote zum Muttertag“, leierte eine lustlose Stimme über die Lautsprecheranlage der Lebensmittelabteilung im Untergeschoss des Kaufhauses. In der dritten Etage bot man, aus dem gleichen Anlass, besonders günstig Waschmaschinen und Wäschetrockner an. Vielleicht das Ganze noch geschenkmäßig verpackt.

Wenn ich Mutter wäre, wäre ich stocksauer, wenn man mir zum Muttertag etwas Praktisches oder Nützliches schenken würde. Und Pralinen schon gleich gar nicht. Eine Sekunde im Mund, dann für den Rest deines Lebens auf den Hüften. Nee, damit sollte ihr niemand kommen.

Wird auch keiner, du bist Single und kurz vor dem Verfallsdatum, dachte Paulina und stolperte auf der letzten Stufe der Rolltreppe in eine frisch geföhnte, lilagespülte, dralle Dame.

„Sie! Sie … Können Sie nicht aufpassen, Sie?“, fauchte die Dame.

Ihre seitlich baumelden Löckchen vibrierten, so wie die gesamte Dame. Geballte Wut in Cashmere.

„Verzeihung“, entschuldigte sich Paulina. „Ich war so in Gedanken.“

„Träumen können Sie in Ihrem Bett“, setzte die Dame nach und schnaufte verächtlich.

Jetzt reicht’s, dachte Paulina. Soviel Tamtam um einen kleinen unbeabsichtigten Schubser.

„Steigen Sie mir doch auf den Hut, Sie … Sie lila Pause!“

Eilig verschwand Paulina in der Menge. Wer weiß, vielleicht hätte die Dame mit ihrem Schirm ausgeholt … Muttertagskeilerei in der Kurzwarenabteilung. Nichts wie weg.

Der Lift stand mit geöffneten Türen hinter dem Knopfregal und beförderte Paulina direkt zum Parkdeck. Nur weg, bevor der lila Drache ihr noch Feuer in den Nacken spie.

„Denken Sie daran, Sonntag ist Muttertag“, empfing Paulina der Lautsprecher im Aufzug und hallte ihr noch bis zur zweiten Kurve der Abfahrt hinterher.

Es reicht mir mit eurem günstigen Muttertag. Wo sind eigentlich meine Tüten mit den Lebensmitteln? Hilfe! Die fuhren Lift. Rauf und wieder runter und wieder rauf …

Paulina musste um den Häuserblock herumfahren, um wieder zur Parkdeckeinfahrt zu kommen. So ein Mist aber auch. Oben angekommen parkte sie schräg vor den abgestellten Wagen. War ja im Moment keiner da, der wegfahren wollte.

Also los!

Wie der Zufall es so wollte, kam der Aufzug just in diesem Moment auf dem Parkdeck an und schwappte die frischgeföhnte, lilagespülte Dame heraus. Oh Gott!

Paulina tauchte seitlich an ihr vorbei und ergriff ihre Tüten. Da schlossen sich die Türen des Liftes und sie wurde schnurstracks ins Erdgeschoss befördert. Eine Busladung Menschen strömte hinein und drückte Paulina mitsamt Tüten an die hintere Wand.

Langsam hoppelte sich der Aufzug von Etage zu Etage wieder aufwärts, begleitet von Muttertagssonderangeboten, die ununterbrochen aus dem Lautsprecher schallten.

Oben angekommen wurde Paulina bereits erwartet. Da stand Madame Walküre und pöbelte über rücksichtslose Autofahrer.

„… die immer und überall und immer meinen, nur sie könnten … Aber sie könnten eben nicht! Von wegen und überhaupt und alles … eine Frechheit!“, empörte sie sich und knallte mit Nachdruck die Krücke ihres Schirmes auf den Kühler von Paulinas frisch poliertem Golf.

Paulina stellte in Windeseile ihre Tüten in den Kofferraum und gab Gas.

Mit quietschenden Reifen fuhr sie die Abwärtsschrägen hinunter. Nichts wie weg.

Unten an der Ausfahrt kam von rechts ein Radfahrer hinter einem abgestellten Baucontainer hervorgeschossen.

Der Radfahrer versuchte auszuweichen und Paulina trat die Bremsen fast durch.

Dennoch erwischte ihr linker Vorderreifen das Hinterrad des Radfahrers.

Es schubberte, knirschte und dann knallte der Radler auf die Straße.

Er jaulte auf wie ein junger Hund.

Paulina sprang aus dem Auto und eilte zu ihm. Vorsichtig versuchte sie, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Schlotternd und fiepend klammerte er sich an Paulina.

„Können Sie stehen? Entschuldigung! Mein Gott, es tut mir so leid! Sagen Sie doch bitte etwas, bitte!“

„Mmmhh“, winselte der junge Mann. „Mmmh.“

Direkt hinter Paulina blökte eine Hupe.

Vor Schreck hätte sie den Radfahrer fast fallenlassen.

Die lila Pause.

„Sie sind doch wohl völlig neben der Spur“, schimpfte Paulina. „Sehen Sie nicht, was passiert ist?“

„Und ob ich das sehe“, belferte sie aus dem offenen Seitenfenster. „Das musste ja so kommen“, sagte sie spitz und erneut vibrierten die Löckchen.

„Da gibt’s nix zu mosern, Tante“, mischte sich der Radfahrer ein, „das spielen wir jeden Mittag, wenn ich aus der Schule komme. Also: Abflug, alte Schleiereule.“

Paulina sah ihren blessierten Radler erstaunt an.

„So zickige Leute, die meinen sich überall einmischen zu müssen, gehen mir gehörig auf den Geist.“

Die Dame im Auto hatte jetzt noch zusätzlich zu ihrer lila Frisur einen knallroten Kopf. Im falschen Gang fuhr sie davon und hätte um Haaresbreite den Baucontainer gerammt.

Paulina lehnte den jungen Mann in schräger Hanglage an ihren Wagen, um erst einmal das Fahrrad von der Straße zu holen. Der Rahmen hatte sich zu einer leichten Acht verzogen. Schöner Mist! Sie stellte das Rad an die Hauswand, sammelte die Schulmappe ein und stand ratlos vor dem Radfahrer.

„Was kann ich tun? Was machen wir denn jetzt? Soll ich Sie zu einem Arzt bringen?“

„Wär wohl besser, gucken Sie mal …“

Paulina verfrachtete den jungen Mann in ihr Auto.

„Wir können das Rad hier nicht so stehen lassen, wohin damit?“

„Am Haupteingang vorne ist ein Fahrradständer. Wenn Sie es freundlicherweise dahin schieben könnten …“ Er sah sie treuherzig an, hob die verletzte Hand leicht an. „Ich kann ja nicht …“

„Vorderseite?“, fragte Paulina ungläubig.

Er nickte, machte Dackelaugen und fiepte leise.

Paulina stakelte mit der Fahrradacht um den Kaufhausblock.

Es war ein endloser Weg, jedenfalls kam es ihr so vor. Außerdem waren ihre Pumps bei diesem Marsch mehr als hinderlich. Verflixt!

Nachdem Paulina das verbogene Fahrrad, so gut es ging, an dem Fahrradständer links neben dem Haupteingang platziert hatte und sich verständlicherweise schwer tat, das Biest anzuschließen – wann hatte sie zuletzt ein Fahrrad angeschlossen? – es war Lichtjahre her! –, ging sie eilig zurück.

„Haben Sie es auf dem Mond angeschlossen?“, empfing sie der junge Mann.

„Nein, da war alles belegt, ich musste auf den Saturn-Ring ausweichen“, konterte Paulina und stieg ins Auto.

Er grinste trotz der Schmerzen. „Übrigens, ich bin Daniel Bergmann.“

„Paulina Steiner“, sagte sie beiläufig, ließ den Wagen vorsichtig auf die Straße rollen und reihte sich in den fließenden Verkehr ein.

„Und nun?“

„Fahr zur Unfallambulanz, Paula“, antwortete Daniel.

„Paulina, ich heiße Paulina.“

„Okay, aber nun gib Gummi, Paula. Es tut ziemlich weh.“

Paulina ging nervös den Korridor auf und ab.

Jede volle Minute ruckelte der Zeiger der elektronischen Stationsuhr mit einem kleinen Rülpser weiter. Minute um Minute verging. Ab und zu huschten ein Pfleger oder eine Schwester an ihr vorbei, doch bevor Paulina nach dem Wie oder Was fragen konnte, waren sie schon wieder weg.

Nach endloser Warterei kam eine zierliche, asiatisch aussehende Krankenschwester auf Paulina zu.

Prinzessin Mandelauge lächelte: „Bitte kommen Sie, Ihr Sohn hat nach Ihnen gefragt.“

„Mein …? Ja, natürlich, selbstverständlich.“

„Hier, bitte.“ Die Schwester öffnete eine Tür und durchquerte einen weiteren Korridor.

Krankenhäuser, Finanzämter, überhaupt Behörden schlechthin, scheinen überwiegend aus Gängen und Korridoren zu bestehen. Und über allem hängen Normaluhren mit rülpsenden Zeigern.

„Es ist gleich hier, die linke Tür.“ Sie öffnete und verabschiedete sich mit einem Lächeln.

Da lag Daniel auf einer Trage.

„Es ist der Oberscheiß“, empfing er Paulina.

Paulina trat an die Liege. „Was sagen sie? Erzähl.“

„Paula, das war gründliche Arbeit: Splitterbruch.“

„Oh Gott, was heißt das? Das ist ja furchtbar! Und nun?“ Paulina schoss der Schreck in die Knie und sie klammerte sich erst an das Laken, dann an Daniels gesunde Hand.

Daniel sah die Frau, die seine Hand umklammerte, zum ersten Mal genauer an. Die war eine ziemlich hübsche, diese Paula, mit ihren vielen wuseligen blonden Locken. Wie alt mochte sie wohl sein? Er kniff die Augen leicht zusammen. Bergmann, das ist so etwas von unwichtig! Es hätte ihn ja auch die Dicke aus dem Mercedes vom Sattel holen können und das wäre überhaupt nicht lustig gewesen. Aber mit Paula an der Seite, da hatte der Schmerz dann doch beinah was Schönes. Und toll riechen tat sie auch.

„Paula, halb so wild, mach dir keinen Kopf. Komm schon …“ Er drückte ihr ermunternd die Hand.

„Wie komm ich mir denn vor, wenn du mich hier so tröstest?“, setzte sie sich zur Wehr. „Die Blessuren hast du, nicht ich. Wirst du zuhause nicht erwartet? Deine Eltern werden sich Gedanken machen. Ich hab mein Handy dabei, wir sollten anrufen.“

„Meinen Vater können wir anrufen.“

„Deine Mutter ist nicht zuhause?“

„Paula, ich bin eine Scheidungsweise.“

„Das tut mir leid.“ Mehr fiel ihr nicht ein. Der traurige Gedanke „Ich-habe-eine- Scheidungsweise-umgenietet-wie-furchtbar“ nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Paulina schniefte, es war doch alles wohl ein bisschen viel für sie. Ihre Nerven gaben in Form von dicken Kullertränen nach. Sie schnuffelte erneut. „Wie furchtbar, Daniel!“

„Mensch, Paula, mach mal halblang. Ich lebe seit zehn Jahren mit meinem Vater, mal mehr, mal weniger allein.“ Er kniff ein Auge zu und lächelte. „Du verstehst?“

Paulina lächelte und tupfte sich mit den Fingern der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.

„Meine Mutter ist mit einem Italiener verheiratet, auch seit fast zehn Jahren. Alles easy peasy … Und nun, rück dein Handy raus.“

Erst jetzt gab er Paulinas zweite Hand frei, damit sie ihr Handy aus der Handtasche holen und er telefonieren konnte.

„Alles easy“, sagte Paulina, reichte ihm das Handy und ging zur Tür.

„Bleib hier, Paula, ich hab keine Geheimnisse.“ Daniel lächelte.

Wenn der seinem Vater ähnlich sieht, dann … dann … oh, là, là!

„Außerdem musst du für mich wählen.“ Er drückte Paulina das Handy wieder in die Hand und nannte ihr die Telefonnummer.

„Architektur- und Planungsbüro Fabian Bergmann“, meldete sich eine weibliche Stimme.

Paulina wollte Daniel das Handy in die gesunde Hand drücken, doch der schüttelte heftig seinen Kopf und gab Paulina pantomimisch zu verstehen, er wäre viel zu schwach.

Paulina guckte leicht überfordert an die Zimmerdecke.

„Herrn …“ Ratlos sah Paulina zu Daniel, in der Aufregung hatte sie den Familiennamen wieder vergessen.

„Bergmann“, soufflierte Daniel.

„Herrn Bergmann, bitte.“

Nach einer kleinen Ewigkeit hörte Paulina zum ersten Mal Fabian Bergmanns Stimme.

„Bergmann“, meldete sich Fabian B. mit Schlaganfallstimme.

Paulina blieb die Luft weg. Zusätzlich fehlten ihr die Worte.

„Hallo … Hallo“, forschte Fabian Bergmann in den Hörer.

Paulina räusperte sich und rief sich zur Ordnung. „Guten Tag, hier spricht, also ich bin Paula … äh …lina Steiner.“

„Was kann ich für Sie tun, Frau Paula Lina Steiner?“, fragte höflich amüsiert Fabian Bergmann.

„Ich, ich habe Ihren Sohn“, sie holte tief Luft, „umgenietet.“

So hilflos hatte sie zuletzt in der Tanzstunde gestammelt, als sie ihrem Tango-Partner Achatz von Kökerritz auf die neuen Wildlederschuhe getrampelt war.

„Daniel, bitte, sag doch auch mal was.“ Sie drückte ihm das Handy in die Hand.

Daniel erklärte seinem Vater sachlich, kurz und präzise den Vorfall und wo er sich jetzt befand. Dann folgten fünf bis sieben Okays. Er beendete das Gespräch mit: „Sie heißt Paulina, nicht Paula Lina.“

Er schaltete das Handy aus und reichte es zurück. „Hier, pack ein, Paula.“

Die Tür ging auf, zwei Ärzte betraten das Zimmer. Der Anästhesist und der Chirurg. Sie stellten sich Paulina vor, Daniel kannten sie ja schon.

„Tja, mein Lieber, mit Blümchenpflücken wird es dieses Jahr zum Muttertag nichts werden“, sagte der Chirurg. Er sah zu Paulina. „Tut mir leid.“

Die Ärzte klärten Paulina und Daniel über die Sachlage auf. Ein komplizierter Bruch, es musste eine Schiene gelegt werden und das erforderte einen operativen Eingriff.

Paulina wurde es schwarz vor Augen, der Anästhesist fing sie auf.

„Hat schwache Nerven, die Mama, was?“

Daniel grinste, was sollte er sonst tun?

Paulina lag nun auf der gegenüberliegenden Trage und bekam ein kreislaufstabilisierendes Medikament.

So lagen beide noch still vor sich hin, als Fabian Bergmann eine Viertelstunde später den Raum betrat.

„Oh, ein gemischtes Zimmer“, stellte er lächelnd fest, trat zu Daniel an die Trage und warf über die Schulter nochmals einen Blick auf die Dame.

Ihre Blicke trafen sich.

Daniels Vater, oh là, là, dachte Paulina.

Ist die süß und niedlich verhuscht, dachte Daniels Vater.

Paulina versuchte sich hochzurappeln. Das Zimmer verschwamm ihr immer noch vor den Augen, ein bisschen so, als ob man durch das falsche Ende eines Feldstechers gucken würde.

„Bitte bleiben Sie doch noch liegen … Daniel, wie geht es? Bitte stehen Sie noch nicht auf. Ist es schlimm? Tut es weh?“ Fabian Bergmann kam sich vor wie ein Brummkreisel. Rechts und links Betreuung.

Der Chirurg erschien und besprach die anstehende OP.

„… und Ihre Frau nehmen Sie in Ihre starken Arme und gehen mit ihr einen starken Kaffee trinken.“

Er wandte sich an Daniel, der glucksend und feixend auf seiner Trage lag.

Details

Seiten
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783956070945
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Schlagworte
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Titel: Strandkorbgeschichten