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Neun Akte

Erotische Kurzgeschichten

©2015 114 Seiten

Zusammenfassung

Ob im Bett oder in der Umkleidekabine einer Nobelboutique, im Bordell, in der Badewanne oder auf dem Rücksitz eines Mercedes – zügellos und phantasievoll erzählt der deutsch-französische Journalist Finn Dereaux über amouröse Abenteuer und erotische Begegnungen.
Erleben Sie sinnliche Nächte, prickelnde Leidenschaft und hemmungslose Lust in neun schlüpfrigen Kurzgeschichten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


24 Stunden

Die Stunde Null seines Geburtstags verbrachte Andreas Leven im Bad vor dem Spiegel. Nach Jahren der Verdrängung gestand er sich ein, dass ihm nur noch die Wahl zwischen Haarkranz und Vollplatte blieb, und entschied sich für die radikale Lösung. Gerade als er nach der Komplettrasur seine brennende Kopfhaut mit Aftershave besänftigte, klingelte es. Er fluchte lauthals. Störungen an den Wendepunkten seines Lebens waren ihm zuwider, Gäste hatte er nicht eingeladen, und nachts um eins erwartete er weder Zeitschriftendrücker noch die milchgesichtigen Mormonen in schwarzen Anzügen, die alle paar Wochen bei ihm nachfragten, ob sie seine Seele retten durften. Aber vielleicht brannte das Haus, oder ein Freund brauchte Zuspruch? Er zog ein Shirt über, ging zur Tür und nahm den Hörer ab.

„Ja bitte!“

„Guten Abend, Herr Leven“, sagte eine Frauenstimme. „Kann ich Sie kurz sprechen?“

„Kennen wir uns?“

„Noch nicht, aber es geht um Leben und Tod.“

Die Stimme klang unaufgeregt, geradezu entspannt. Er kappte die Verbindung und blickte aus dem Wohnzimmerfenster auf die stille Straße, wo weit und breit kein Autocrash, keine verunglückte Oma, keine Schießerei im Park und nirgendwo züngelnde Flammen zu sehen waren. Es klingelte wieder.

„Treiben Sie Ihre Scherze woanders!“, bellte er in die Gegensprechanlage.

„Bitte, Herr Leven. Eben habe ich mich wohl etwas unklar ausgedrückt. Es geht um Ihr Leben und Ihren Tod.“

„Ach so, das ist natürlich was anderes. Moment.“

Er nahm das Klappmesser vom Küchenbord und das Reizgas aus der Werkzeugkiste. Aus dem Golfbag zog er ein Eisen sieben und wog es in der Hand. Anständige Schwünge im schmalen Flur standen außer Frage, aber falls die Frau in finsterer Begleitung kam, eignete es sich für Stöße in die Weichteile. Fast wünschte er sich einen Grund für eine derart brachiale Aktion herbei. Wenn es irgendwie möglich war, mied er zwar körperliche Auseinandersetzungen, aber der Anblick seines geschorenen Kopfes hatte ihn aggressiv gestimmt. Er legte die Kette ein und betätigte den Summer.

An den energischen Schritten auf der Treppe hörte er, dass sie allein war. Dann sah er sie durch den Türspalt, eine große Frau, Mitte dreißig, halblanges schwarzes Haar. Er fand sie attraktiv, aber nicht ungewöhnlich, bis er ihre violetten Augen bemerkte.

„Hallo, Herr Leven. Mein Name ist Sarah Tahn. Ich weiß, es ist spät …“

„Bingo.“

„… aber die Termine legt meine Chefin fest. Übrigens ist es noch später, als Sie denken. Wir sollten keine Zeit verlieren.“

„Seh ich auch so. Um sieben geht nämlich mein Flieger nach Frankfurt.“

„Nach Frankfurt?“ Das Treppenlicht erlosch. Bevor er blinzeln konnte, hatte sie es wieder eingeschaltet. „Ich glaube kaum, dass Sie noch nach Frankfurt fliegen … oder doch? Manche Leute kommen in dieser Lage ja auf die komischsten Ideen.“

Leven packte den Golfschläger fester. Was er tat, musste echt aussehen. „Welche Lage, bitte?“

„Das erkläre ich Ihnen gerne. Darf ich reinkommen?“

„Nein.“

„Ach, schade, es ist so unpersönlich zwischen Tür und Angel.“

Leven knurrte tief im Rachen und machte Anstalten, die Tür zu schließen.

„Halt, halt!“ Begütigend hob sie die Hände. „Dann eben so, ganz wie Sie möchten. Also, Herr Leven, ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie leider nur noch vierundzwanzig Stunden zu leben haben.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr, ein edles Stück von Le Coultre. „Oh, sorry, das stimmt gar nicht mehr. Noch dreiundzwanzig Stunden und einundfünfzig Minuten.“

Ihre violetten Augen erinnerten ihn an den UV-Strahler seiner Mutter, mit dem sie ihren Teint jedes Jahr im Juni vorgebräunt hatte, um der spanischen Sonne ein Schnippchen schlagen. Die Leuchtröhre im Klappdeckel strahlte weiß, blau und schließlich hellviolett wie Sarah Tahns Augen. Er nickte freundlich, sagte gute Nacht und schloss nun doch lieber die Tür. Eine glitzernde Substanz sickerte durch die Bodenritze und formte sich vor ihm wieder zu Sarahs Gestalt. Sie lächelte schüchtern.

„Ich bin nicht gerne so aufdringlich, aber bitte, Herr Leven, ich muss Sie unbedingt mit dem Ablauf bekannt machen. Schon in Ihrem Interesse.“

„Und mir wird’s allmählich zu bunt!“, brüllte er und stieß zu.

Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung wischte sie das Eisen beiseite und nahm ihn in die Arme. Ihre Nase an seiner fühlte sich gut an.

„Andreas“, flüsterte sie, „Andreas! Ich versteh dich ja, aber das bringt doch nichts. Komm, wir müssen reden.“

Den Spruch kannte er von seiner Ex-Freundin. Widerstandslos ließ er sich den Golfschläger abnehmen und folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie schien sich auszukennen. Am Tresen entkorkte sie seinen Lieblingscognac, schenkte ein und reichte ihm den Schwenker.

„Auf dein Wohl, Liebling.“

Er erinnerte sich an seinen ersten Brandy und die süße Schlampe auf Mallorca, die ihn im Zelt entjungfert hatte, an ihr halblanges schwarzes Haar, den schönen Mund und die Augen. Oh, diese Augen! Blau, fast violett, ganz ungewöhnlich für eine Spanierin.

„Also, mein Schatz, jetzt mal in aller Ruhe und der Reihe nach.“ Sarah schlug die Beine übereinander. Sie trug weiße Nylons mit schwarzen Nähten. „Ich komme von der Evolution Incorporated, kurz Evinc. Wir befassen uns mit dem Gleichgewicht der Welt und führen rund sechs Milliarden Kundenakten, die ständig in Echtzeit aktualisiert werden. Schon enorm, wenn ich bedenke, dass es vor zweihundert Jahren gerade mal eine Milliarde waren. Na, egal, unsere Software schafft alles. Natürlich wird es bei diesen Zahlen immer schwieriger, geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, aber …“

„Zur Sache, Schätzchen!“ Leven nahm einen Schluck und grinste selig. Der Cognac schmeckte wunderbar. Sie schlug die Hand vor den Mund. Einen Moment lang setzte das violette Flimmern in ihren Augen aus.

„Ups, da hab ich mich schon wieder verplaudert. Hoffentlich hört meine Chefin nicht zu, sonst gibt es Minuspunkte. Weißt du, an den Job bin ich nur gekommen, weil die Personaldecke von Evinc dermaßen dünn war, dass … okay, ich hör schon auf. Sag mal, magst du mich ein bisschen?“

„Leben und Tod!“ Er kippte den Rest. „Ich hab also nur noch dreiundzwanzig Stunden einundfünfzig Minuten, und du fragst mich so was!? Gleich verhau ich dich, Sarah Tahn.“

„Nein, tust du nicht, Andreas Leven. Übrigens nett, dass du mich endlich duzt. Und leider“, sie tippte auf die Le Coultre, „sind es nur noch dreiundzwanzig Stunden und achtunddreißig Minuten.“

„Ja, mein süßes Brabbelmäulchen, dann komm doch verdammt noch mal zu Potte!“ Er knirschte mit den Zähnen, sie errötete.

„Du hast ja Recht, ich darf dir wirklich keine Sekunde mehr stehlen. Aber ich möchte schon gerne, dass du vollkommen klar siehst. Moment.“

Unversehens stand ein Monitor auf dem Tisch. Verwundert starrte er auf ein Foto seiner Freundin Birgit, die in Australien gestorben war, und das Faksimile des Briefes, den sie ihm kurz vor ihrem Tod geschickt hatte, voller Schwärmerei für einen Italiener, den sie in Sydney aufgegabelt hatte.

Er heißt Sandro Tahn und ist Engel und Teufel in einem, und wenn ich morgen sterbe, dann vor Glück und in der Gewissheit, mein Leben in vollen Zügen ausgekostet zu haben.

Birgits Schwäche für pathetische Ausbrüche war ihm schon immer auf die Nerven gegangen. Dass sie seinen Nachfolger in ihrem Bett in den höchsten Tönen pries, hatte ihn dermaßen angewidert, dass er den Brief zerriss und sich schwor, sie zu vergessen. Wie zum Teufel war Sarah Tahn an eine Kopie gelangt?

Sarah öffnete ein neues Foto auf dem Monitor, das Portrait eines schwarzhaarigen Schönlings mit violetten Augen.

„Sieh mal“, zwitscherte sie, „das ist Sandro. Er arbeitet auch bei Evinc.“

„Na toll“, murmelte Leven. „Noch ein Tahn. Gibt es viele von euch?“

„Oh ja!“ Sie zählte an den Fingern ab. „Sandra, Samuel, Sabine, Salah, der arbeitet im Nahen Osten, Sabahudin auch, dann sind da Salvatore und Saskia und …“

„Danke, es reicht. Und das hat tatsächlich irgendwas mit mir zu tun, ja? Ja?!?“

„Oh, ich wollte nur … Entschuldigung. Also, Birgit ist damals in unsere Exit-Datei geraten, so wie du jetzt. Sandro fand sie hinreißend und hat sich mehr Zeit für sie genommen, als er durfte, aber dann musste er schließlich doch seinen Job machen.“

„Ich schwöre, gleich bring ich dich um.“

„Andreas! Hab ich was Falsches gesagt?“

„Nein, du taube Nuss, nichts Falsches, aber auch nichts, was mich betrifft. Kann es sein, dass du ein klitzekleines bisschen unterbelichtet bist? Okay, dann helf ich dir mal auf die Sprünge.“ Er holte Luft. „Man soll ja helfen, wo man kann, und selig sind die geistig Armen. Also, der Reihe nach. Was ist eine Exit-Datei?“

„Ach so, logisch, wo hab ich nur meinen Kopf? Aaaalso. In die kommen alle, die überflüssig sind. Wir scannen die Weltbevölkerung, regionalisieren die Ergebnisse, evaluieren entsprechend der Bedarfsprognose, werfen den Zufallsgenerator an, und jeder Treffer wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden exterminiert. Birgit hat damals die Zweiwochenfrist nur bekommen, natürlich völlig gegen die Regel, weil Sandro unsterblich in sie verknallt war. Ehrlich gesagt, vorhin dachte ich, dir könnte ich glatt auch zwei Wochen geben, süß wie du bist, obwohl das riskant für mich wäre, aber du bist mir doch einen Tick zu kratzbürstig. Also spielen wir nach den Regeln. Die Richtlinie sagt vierundzwanzig Stunden, und die kriegst du auch, aber mehr nicht. Punkt.“

Leven schenkte Cognac nach. „Punkt, klar soweit. Nächste Frage, wer genau ist Evinc? Gleichgewicht der Welt, das klingt ein bisschen vage.“

„Früher hießen wir Himmel und Hölle.“

„Ah ja, das sagt alles. Und ich bin also eurer Meinung nach überflüssig.“

„Absolut. Tut mir leid, Andreas.“

„Vierundzwanzig Stunden.“ Nachdenklich trank er aus. „Ziemlich hart, finde ich.“

„Ja, ich weiß. Und inzwischen nur noch dreiundzwanzig ein Viertel.“

„Oha.“ Er kratzte sich am frisch rasierten Schädel und stand auf, um nachzuschenken. Ihr etwas anzubieten, kam ihm nicht in den Sinn. „Das kommt ja alles ziemlich plötzlich. Was mach ich denn nun?“

„Aber deswegen bin ich doch hier!“ Sie lehnte sich neben ihn an den Tresen. „Du hast Glück, mein Lieber, unser Zufallsgenerator hat dich nämlich für das Golden Day Programm ausgewählt, und da kommen nur 0,01 Prozent aller Probanden rein. Meine Chefin hat es vor hundertzwanzig Jahren aufgelegt, um die Kundenzufriedenheit zu steigern. Ich bin deine persönliche Serviceassistentin und … he, du siehst auf einmal ganz blass aus. Komm, setz dich, ich erklär’s dir.“

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Couch. Als er saß, kniff sie ihn in die Wange, wartete, bis er seinen trüben Blick auf sie richtete, und räusperte sich.

„Also, dann pass ganz doll auf, ja?“ Sie konzentrierte sich und begann zu sprechen.

Die Probanden des Golden Day Programms bestimmten, wo und zu welcher Tageszeit ihre Frist beginnen sollte. Wenn nötig wurde die Erdrotation dafür je nach Bedarf verlangsamt oder beschleunigt. Sie erhielten eine goldene Amexkarte mit unbegrenzter Deckung zur freien Verfügung, und Evinc garantierte ihnen für 24 Stunden Gesundheit, einen ausgeglichenen Hormonpegel und Schutz vor negativen Einflüssen. Keine unerwünschten Begegnungen, keine bösen Überraschungen. Und das Beste: lang gehegte Träume wurden anstandslos erfüllt.

„Leider gibt es da einen kleinen Haken“, murmelte Sarah. „Gleich, wenn ich „los!“ sage, musst du in Gedanken die Wünsche formulieren, die wir erfüllen sollen. Das hört sich leicht an, aber viele bringen es nicht, die sind zu aufgeregt oder haben ihre Phantasien so lange verdrängt, dass sie sich auf Anhieb nicht mehr entsinnen, wovon sie ein Leben lang geträumt haben. Tragisch, aber leider nicht zu ändern. Ich hoffe nur, dass du … okay, also weiter.“

Auf Wunsch stand dem Probanden eine persönliche Assistentin zur Seite, um seine Träume ohne Umweg über den Zentralrechner von Evinc wahr zu machen, was ihn zwei bis drei Minuten seiner kostbaren Zeit kosten würde. Er will ein Buch lesen, das seit Jahrzehnten vergriffen ist? Kaum gesagt, liegt es auf seinem Nachttisch. Er will mit Madonna ins Bett, aber sie soll dreißig Jahre jünger sein als heute? In ihres oder seins, wird ihn die Assistentin fragen, und mit der Antwort wird er Madonnas Zahnlücke zwischen den halb geöffneten Lippen sehen, die verhangenen Augen und den nackten Körper aus Body of Evidence. Aber eben nur, wenn er es in der Wunschphase genau so phantasiert hat. Spätere Änderungen oder Ergänzungen waren ausgeschlossen.

„Andererseits musst du nicht alle Wünsche auch wirklich abrufen, Andreas. Eigentlich gar keinen. Zum Beispiel hab ich gestern einen Buchhalter aus Barsbüttel begleitet, der wilden Sex mit zehn Mädels bestellt hat, einen Ferrari, einen Segeltörn in der Ägäis und ein Essen bei Paul Bocuse. Das war eindeutig zu viel auf einmal. Fand er letztlich selber.“

„Und, was hat er gemacht?“

„Den Text für eine Heiratsanzeige ausgeknobelt und zwei Minuten vor Toresschluss per E-Mail aufgegeben.“

„Nicht ganz schussecht, der Mann.“

„Oh doch. Er wusste, dass er die Antworten nie lesen wird, aber er hat sich welche phantasiert, und dabei ist er glücklich verschieden. So, mein Lieber, du hast jetzt noch genau dreiundzwanzig Stunden. Ich an deiner Stelle würde mir langsam überlegen, was ich mir wünsche. “

„Stimmt, hätte ich fast vergessen. Okay, erst mal Tageszeit und Ort, ist doch korrekt, oder?“

„Genau. Schieß los.“

„Gut, dann sag ich mal, jetzt und hier.“

„Wie bitte?!“

„War doch deutlich, oder? Jetzt und hier.“

„Aber … okay.“

„Noch eine Frage, bevor es losgeht: Darfst du in meinen Wünschen auch eine Rolle spielen?“

„Wie jetzt?!“

„Na ja, wenn ich dich zum Beispiel ins Bett kriegen will, geht das?“

Sie lief rot an. Das Flimmern ihrer Augen beschleunigte sich, die Farbe changierte zwischen ultraviolett und infrarot. Normalerweise waren die Enden des Spektrums für den menschlichen Blick unsichtbar, aber Leven nahm jede Nuance wahr. Sie kramte in ihrer Handtasche. Als sie antwortete, klang ihre Stimme belegt.

„Moment, da muss ich im Handbuch nachschlagen.“

Sie zog ein Quartheft mit schwarzrotem Einband hervor. Ihre Zungenspitze spielte zwischen den Lippen, als sie das Inhaltsverzeichnis durchging, den Zeigefinger bei S zur Ruhe brachte und die Seite aufschlug. Nach einer Weile blickte sie auf. Der Puls in ihren Augen pochte sehr langsam.

„Durchaus“, sagte sie zögernd. „Ist neu für mich, aber es geht. Steht hier.“

„Hey, klasse!“ Er griff nach ihrer Hand. „Dann sollten wir erst mal zusammen überlegen, worauf wir beide stehen. Ich möchte schließlich, dass du auch was davon hast. Und dann legen wir den Ablauf fest, wenigstens ganz grob. Ich bin heute immerhin sechsunddreißig geworden, und in dem Alter sind dreiundzwanzig Stunden Sex am Stück ja kein Pappenstiel mehr. Was hältst du davon, wenn wir erst mal zusammen baden? Im Kühlschrank steht eine Flasche Schampus, die könnten wir in der Wanne köpfen.“

„Aber … Mensch, Andreas, das kann doch nicht alles sein!“

„Du meinst, ich müsste mir mehr wünschen? Nö, das reicht mir. Sag los!“

Sie gehorchte. Er ging in den Schneidersitz, schloss die Augen, atmete kontrolliert und formte Daumen und Zeigefinger zu Kreisen. Als er die Augen wieder öffnete, war sie immer noch verwirrt, das sah er am violetten Flackern.

Während das Wasser einlief ermordete er die Zeit. Alle Uhren in der Wohnung zerschlug er und verklebte die Standby-Anzeigen der Stereoanlage mit Gafferband. Dann öffnete er den Champagner, stieß mit Sarah an, küsste sie auf die Stirn und verschwand im Schlafzimmer. In einem schwarzen Kimono mit grauen Mustern kam er zurück und reichte ihr einen aus weißer Seide mit Lilienornamenten. Jazz schwebte aus den Boxen.

„Zieh dich um, Süße. Ich bin gleich bei wieder dir.“

Sein Atem stockte, als er zurückkam. Ihr Kostüm lag sauber gefaltet auf dem Teppich, dekoriert von lila Unterwäsche und weißen Nylons mit schwarzen Nähten, ihr Schattenhaar schimmerte bläulich, der Kimono floss um ihren Körper. Sie lächelte verlegen unter seinem Blick. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und führte sie ins Bad. Die Flammen schwarzer Kerzen in einem vierarmigen Leuchter erhellten den Raum, das Wasser duftete nach Salbei und Myrrhe. Er schob Sarah vor den Spiegel und stellte sich hinter sie. Langsam streifte er den Kimono von ihren Schultern und zog seinen aus. Eine Weile geschah nichts, nur ihre Blicke verhakten sich im Spiegel. Dass er sie begehrte, spürte sie. Die samtige Härte zwischen ihren Schenkeln jagte ihr Schauer über den Rücken.

Das Wasser war wohltemperiert, der Champagner eisig. Er plauderte über verflossene Lieben und fragte nach ihren Vorlieben beim Sex. Anfangs verbarg Sarah ihre Brüste, nach einer Weile ließ sie es gut sein. Ihr Blick streifte seine Lenden. Manchmal ließ seine Erektion nach, aber nur kurz. Er erzählte von Birgit, die beim Sex immer „Jesus, Jesus!“ schrie, und nahm Sarahs Hand. Sein Zeigefinger schlüpfte unter ihr Uhrenarmband, Langsam zog er ihr Gelenk an die Lippen und sog daran. Sie atmete scharf ein und schloss die Augen.

„Sandro war also richtig verknallt in Birgit?“ Sanft streichelte er ihr Ohrläppchen. „Hat er mit ihr geschlafen?“

„Oh. ja!“

„Aber dann hat er sich doch an die Regeln gehalten.“ Im Wasser zogen seine Hände die Linie ihrer Brüste nach, ohne sie zu berühren. „Er durfte. Steht im Handbuch, hast du selber gesagt.“

„Wie? Ja, doch, schon … hör auf!“

Das Knistern der Kerzenflammen untermalte die rauchige Stimme von Cassandra Wilson, die You better come into my kitchen aus den Boxen hauchte. Leven spreizte Sarahs großen Zeh und zog das V an seinen Schaft entlang, von der Wurzel zur Spitze. Er zuckte, Wasser schwappte über den Wannenrand. Sie verdrehte die Augen, ihre rosa Zungenspitze tanzte zwischen den Lippen.

„Regeln brechen macht Spaß“, flüsterte er.

Sie hatten sich noch nicht geküsst, als er sie abtrocknete und ihr den Kimono um die Schultern legte. Im Schlafzimmer herrschte das übliche Chaos, aber auch dort entzündete er Kerzen, deren Schein die Konturen verwischte, und als ob er geahnt hätte, dass sie bei ihm bleiben würde, hatte er das Bett frisch mit nachtblauem Satin bezogen. Es duftete nach Lavendel, auf dem Nachttisch schimmerte eine silberne Schale mit Pfirsichen und Weintrauben. Er drehte sie zu sich um.

„Wir haben alle Zeit der Welt“, flüsterte er.

Später hockte sie über ihm, er spürte ihre Feuchte und die Hände, die ihn unablässig quälten, bis er aufstöhnte und sich mit aller Macht zurückhalten musste.

„Andreas“, flüsterte sie. „Andreas! Du verlierst so viel Zeit, willst du das denn?“

„Aaarghh! Was?!“

„Vergiss nicht, dass du …“

„Das ist nur ein kleiner Tod.“

„Ich rede vom großen, Liebling.“

„Der kann warten.“

Draußen tönte sich der Himmel graugolden. Eine Lerche trillerte. Leven träufelte duftende Essenzen auf Sarahs Schultern, Rücken, Hintern, die Schenkel, und massierte sie mit seinem Körper ein, unendlich langsam, Haut an Haut. Er biss in ihren Nacken. Sie presste sich an seine Lenden, bis er in sie glitt, und warf ihn fast ab, als sie kam. Danach wogte ihr Rücken noch lange unter ihm.

„Du bist teuflisch“, keuchte er.

Sie legte den Kopf in seine Armbeuge. Ihre Stimme klang klein und traurig.

„Das arrangiert die Zentrale. Der Rechner steuert deinen Endorphinausstoß. Ich hab nichts damit zu tun.“

„Oh doch, eine Menge.“ Er streichelte ihren Brustansatz.

Allmählich wurden ihre Atemzüge ruhiger. Er starrte an die Decke, ab und zu pustete er eine Strähne aus ihrer Stirn. Als er sicher war, dass sie schlief, löste er die Uhr von ihrem Handgelenk und prüfte den Mechanismus. Befriedigt stellte er fest, dass ihm die Aggregate bekannt waren. Niemand hatte eine Überraschung eingebaut, alle Sicherungen arbeiteten einwandfrei. Er schloss das Gehäuse, schlich ins Bad und versenkte die Uhr im Spülkasten.

Um zehn frühstückten sie. Es war ein schöner Morgen, klar und warm. Sarah stippte ihr Croissant in Kirschkonfitüre. Zu trinken gab es Kaffee, Orangensaft, Milch. Ihr Haar war zerwühlt, der Puls in den violetten Augen pochte träge, ihre Lippen schienen ihm voller als in der Nacht. Sie hatte den Gürtel des Kimonos lose um die Taille geschlungen, so dass er sich öffnete, wenn sie nach der Tasse griff. Leven war schweigsam. Sie sah ihn an, sanft und prüfend.

„Denkst du an später?“

„Ja. Nein. Ich denk an dich.“

„Gut oder schlecht?“

„Komm mal her.“

Er zog sie auf seinen Schoß, legte die Arme um ihren Nacken und sah ihr ruhig in die Augen. Von ferne schrillte ein Martinshorn. Sein Mund streifte ihre Lippen, daraus wurde ein langer Kuss, der fast nichts mit Sex zu tun hatte. Sie löste sich von ihm.

„Was war das, Andreas?“

„Lass uns an die Luft gehen. Warst du schon mal auf der Alster segeln?“

„War ich nicht, nein, will ich jetzt auch nicht, oder erst, wenn du mir sagst, was los ist.“

„Okay.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie auf die Terrasse. Die Birke im Innenhof filterte das Sonnenlicht, glühende Punkte huschten über ihren Kimono. Er stellte einen Stuhl für sie zurecht, holte Saft, Zigaretten und einen Aschenbecher und setzte sich gegenüber.

„Es ist ziemlich verrückt.“ Er gab ihr Feuer und zündete sich eine Zigarette an. „Meine Akte hast du gelesen?“

„Hab ich.“

„Dann weißt du, dass ich eine Reihe von Beziehungen hatte, die in die Grütze gegangen sind, mehr oder weniger schnell.“

„Hm.“

„Und dass ich nur eine Frau wirklich geliebt habe.“

Die Zigarette fiel ihr aus dem Mund. Sie fing sie im Flug und steckte sie wieder zwischen die Lippen. „Nein, wusste ich nicht. Der Rechner registriert nur Handlungen, keine Gefühle.“

„Wie seltsam. Als ob jemand nur das ist, was er tut, und nicht, was er fühlt. Karen Robran. Sagt dir der Name was?“

„Warte mal … die Texterin bei Ernst & Young? Aber – mit der warst du nur zwei Wochen zusammen.“

„Eben.“

„Wie, eben?“

„Sie hatte keine Zeit, mir auf die Nerven zu gehen.“ Er grinste und wurde sofort wieder ernst. „Nein, Quatsch. Karen wäre die Frau meines Lebens gewesen, wenn sie es zugelassen hätte.“

„Hat sie dich verlassen?“

„Von einer Minute zur anderen. Keine Begründung, nichts. Scheiße.“ Er starrte seine Hände an. Asche tropfte auf seinen Schoß; er merkte es nicht einmal. Sarah wischte sie weg.

„Tut mir leid, Andreas. Nur …“

„Was, nur?“

„Warum erzählst du mir das, und warum jetzt?“

„Ziemlich blöde Frage, Sarah Tahn.“ Wütend starrte er sie an, dann runzelte er die Stirn. „Oder vielleicht auch nicht. Sind auch Fotos in meiner Akte?“

„Nur deins, warum?“

„Ach so.“ Er griff nach ihrer Hand. „Dann weißt du nicht, wie sie aussah. Karen hatte schwarze Haare, einen wundervollen Mund, hellblaue Augen und eine schöne Figur, außerdem trug sie gerne weiße Nylons. Ich fand sie klug und einfühlsam und zärtlich und den Sex mit ihr galaktisch. Nun rate mal, an wen du mich erinnerst.“

„Das ist …“

„Ja. Ausgerechnet jetzt begegnest du mir, wo ich gerade noch ein paar mickrige Stunden habe, und dann auch noch als Vollstreckerin einer beschissenen Firma, die sich anmaßt, die Welt im Gleichgewicht zu halten, das ich angeblich störe. Es ist nicht so, dass ich dich als Karens Kopie sehe, aber du hast nun mal leider alles, was ich an ihr geliebt habe. Ich könnte mich mit dir kopfüber in ein neues Leben stürzen, ich weiß einfach, dass es klappen würde. Ja, verdammt, ich hab mich in dich verliebt, Sarah Tahn! Ich muss völlig beknackt sein, obwohl, in gewisser Weise ist es sogar toll, dass ich am Ende meiner Tage noch mal einen emotionalen Aufruhr erlebe, den hätte ich mir gar nicht zugetraut. Egal, Schwamm drüber, jetzt weißt du wenigstens Bescheid. Lass uns segeln gehen.“

„Andreas …“

„Schweig still, Weib, und gehorche. Ist doch dein Auftrag, oder?“

Er las ihre Kleider vom Wohnzimmerteppich auf und überreichte sie ihr, perfekt gefaltet, mit einer kleinen Verbeugung. Wie alle Frauen brauchte sie unverschämt lange im Bad. Als sie endlich ausgehfertig vor ihm stand und er ihr Aussehen ausgiebig bewundert hatte, hielt er die Tür auf und ging voraus zum Auto. Das Verdeck surrte, warmer Wind strich durch ihr Haar. Schweigend fuhr er die Elbchaussee stadteinwärts. Der verbissene Zug um seinen Mund wich einer Art Trauer, die Sarah beunruhigte. Das Psychotraining bei Evinc hatte ihr nur magere Kenntnisse über das menschliche Gefühlsleben vermittelt, trotzdem spürte sie deutlich, dass ihn nicht nur sein nahendes Ende umtrieb, sondern mehr noch die Aussichtslosigkeit der Liebe, die ihn befallen hatte. Das war nicht gut, es war kontraproduktiv und lief ihrem Auftrag zuwider, aber noch schlimmer war etwas anderes.

Levens Ende war beschlossene Sache, aber ob er danach bei Evinc oder der Konkurrenz landete, entschied sich in diesen vierundzwanzig Stunden, und sie sollte dafür sorgen, dass er auf Charons Fähre den Hades überquerte, nur dann machte Evinc Profit. Dummerweise war unerfüllte Liebe in dieser Hinsicht reines Gift. Dagegen musste sie unbedingt etwas unternehmen, nur was? Voller Entsetzen spürte sie ihre Kräfte schwinden. Nicht er, sie selbst war das Problem. Seine Gefühle rührten sie an, er gefiel ihr, sie fand ihn sexy, all das, was niemals passieren durfte. Wenn sie ihn nicht auf den linken Weg brachte, drohte ihr in der Firma eine empfindliche Rückstufung oder schlimmeres.

Zum Glück hatte sich die Konkurrenz an die Absprache in der gemeinsamen Findungskommission gehalten und keinen eigenen Agenten geschickt. Nicht auszudenken, wenn sie sich auch noch mit einem dieser politisch korrekten Seelenfänger herumschlagen müsste. So hatte sie wenigstens freie Bahn, nur durfte sie den Vorteil nicht verspielen. Sex war durchaus eine Variante, die sie weiter verfolgen konnte, denn auf derlei warfen die Herren da oben ein scheeles Auge. Aber eine gefährliche, wie sie gerade herausfand. Sex korrumpierte nicht einseitig, er war Gift für alle Beteiligten, sie eingeschlossen. Vor allem sie.

Leven steuerte die Tiefgarage des Atlantic Hotels an, drückte dem Wärter, den er zu kennen schien, einen Schein in die Hand und führte Sarah über die Straße zum Alsteranleger. Zehn Minuten später steuerte er eine Jolle auf den See. Sarah öffnete die oberen Knöpfe ihrer Bluse und bot ihr Gesicht der Sonne dar, die kaum weniger heftig brannte als Levens Blick in ihren Ausschnitt. Er kreuzte zum Westufer, wendete und segelte vor dem Wind zur Alstermitte, wo sie am breitesten war. Sarah spürte, dass die Jolle zum Stehen kam, und öffnete die Augen. Weit entfernt von den nächsten Booten trieben sie durch das Blau. Leven verließ die Pinne und kniete vor ihr. Langsam schob er eine Hand in ihren Ausschnitt, streifte den BH beiseite und nahm einen Nippel zwischen die Lippen. Sie warf den Kopf zurück, er drängte zwischen ihre Schenkel. Keuchend schaltete sie den Scanner in ihrem Kopf auf Rundsicht. Kein Fernglas war auf sie gerichtet, kein Mensch beobachtete sie, nur ihre Chefin und der Einsatzleiter der Konkurrenz. Das war gut. Nicht so gut war, dass ihre Amplituden bis in den roten Bereich zuckten, und noch schlechter, dass sie sich nichts daraus machte. Sie wollte sein, wo sie war, und tun, was sie tat. Alles in ihr drängte danach, aber das ging nicht! Sie nahm all ihre Energie zusammen und kappte die Spitzenwerte. Erleichtert registrierte sie das Abflachen und atmete gerade erleichtert auf. Aber dann berührte er ihren Slip.

Oh nein!, schoss ihr durch den Kopf. Bitte nicht!

Sie spürte, wie er den Steg beiseite schob, langsam in sie eindrang, bewegungslos verharrte, endlose Sekunden, immer länger. Ihre inneren Muskeln spannten und entspannten sich immer schneller, ihr Ohr verschwand in seinem Mund, sie wurde wahnsinnig. Das Boot schwankte heftig, als sie unter ihm zerfloss. Ein leises Singen drang aus seinem Mund. Sie hörte es nicht, nur sein Flüstern: „Ich liebe dich.“

Mit geschlossenen Augen wartete sie darauf, dass ihr Herzrasen abklang. Sie war so jung, sie war ja gerade erst zweihundert geworden, und noch in der Probezeit. Warum hatte Evinc ausgerechnet sie auf diesen Mann angesetzt? Die Gefühle, die er in ihr auslöste, waren so verflucht gefährlich, und ihre Chefin hatte ihr vor Auftragsbeginn unmissverständlich eingehämmert, dass sie sich einen zweiten Versager wie ihren Bruder, der alle Regeln gebrochen hatte, um mit Birgit ins Bett zu gehen, weder leisten konnte noch wollte.

Zwar sollten Evinc-Agenten den Klienten nicht distanziert begegnen, im Gegenteil, was sie taten, musste nach menschlichen Maßstäben echt wirken, und das ging nur, wenn sie mit Leib und Seele bei der Sache waren. Gerade im Wissen um den nahen Tod ertrugen die meisten keine Falschheit und merkten häufig noch die kleinste Reibung zwischen Hirn und Herz ihrer persönlichen Assistenten. Dann geschah es nicht selten, dass sie verkrampften und ihre Haltung revidierten, die sie ein Leben lang aufgebaut hatten, dass sie innerlich zur Konkurrenz überliefen und so alle Investitionen von Evinc zunichte machte. Ökonomisch war das ein herber Verlust und psychologisch ein Rückschlag im Kampf um Marktanteile. Bis jetzt hatte Sarah nichts wirklich falsch gemacht, aber ob sie letztlich erfolgreich war, hing davon ab, ob sie ihre Gefühle in den Griff bekam. Sie konnte mit Leven schlafen, von einem Orgasmus zum nächsten driften, alles kein Problem – so lange sie sich nicht in ihn verliebte. „Ich liebe dich“, hatte er geflüstert. Sie glaubte ihm, aber seine Liebe erwidern durfte sie auf keinen Fall. Er war nur ein 24-Stunden-Job, den sie schnell vergessen musste, wenn sie die nächsten Jahrhunderte bei Evinc Karriere machen wollte.

„Ich dich nicht“, flüsterte sie und starrte dabei in den Himmel. Aber selbst wenn sie ihn angesehen hätte, wäre ihr hinter den Sonnengläsern das violette Flimmern seiner Augen verborgen geblieben.

Als Leven wieder am Steg anlegte, erinnerte ihn ein Blick über die Lombardsbrücke zur Rathausuhr, dass soeben die Hälfte seiner Frist verstrichen war. Er schlang den Arm um Sarah und drückte ihren Kopf an seine Schulter, um ihr den Blick auf den Lauf der Zeit zu verwehren. So führte er sie zurück in die Tiefgarage und hielt die Wagentür auf.

Über den Neuen Wall fuhr er zur Ost-West-Straße und parkte beim Kleinen Michel. Gegenüber wuchs der kupferbeschlagene Turm der Hauptkirche mit seiner grünen Patina in den gefiederten Himmel. Als sie vor dem Sandsteinportal anlangten, spürte er, dass Sarah sich versteifte. Sanft schob er sie durch den dunklen Vorraum in das weißgoldene Kirchenschiff. Sie war blass, und ihre Stimme klang brüchig.

„Willst du etwa beten?“

„Wäre eigentlich angebracht.“ Er nahm die Sonnenbrille ab. „Findest du nicht?“

„Na hör mal, du bist doch nicht gläubig. Warst du nie.“

„Stimmt, könnte aber sein, dass ich es bereue. Sozusagen gerade noch rechtzeitig.“

In dem weiten Raum war es kühl, trotzdem schwitzte sie. Er schob sie auf eine Bank und setzte sich neben sie. Als sie Luft holte, um etwas zu sagen, rutschte er vom Sitz, kniete nieder und faltete die Hände.

„Oh du mein Herr und Gott“, murmelte er vernehmlich, „heute, am Tag meines Todes, möchte ich meine Seele, die ich dir ein Leben lang verweigert habe, deiner Gnade überantworten. Ja, das würde ich gerne, aber …“ – er lächelte Sarah von der Seite an – „… erstens verdienst du sie nicht, so chaotisch wie du die Welt eingerichtet hast, zweitens bezweifle ich, dass du sie pfleglich behandelst, drittens krieg ich Pickel bei dem Gedanken, bis zum Ende aller Tage auf einer Wolke Hosianna zu trällern, und viertens“ – jetzt grinste er – „sterbe ich erst morgen früh um eins. Ich überleg’s mir lieber noch mal. Komm Sarah, wir verschwinden.“

Sie atmete durch, doch als er statt nach draußen zum Altar ging und in Demut davor verharrte, wich ihre Erleichterung blankem Entsetzen. Noch größer wurde es vor dem Portal, als er einem Bettler zehn Euro und einer blutjungen Sintifrau, die ihm ihr Baby entgegenstreckte, fünfzig Euro zusteckte. Zu allem Überfluss machte er Anstalten, sie zu umarmen, und lächelte gütig, als sie erschrocken zurückwich.

„War gut gemeint, mein Kind“, sagte er, „ich wollte dir einfach nur alles Glück der Welt wünschen. Entschuldige bitte.“

Der Himmel hatte sich zugezogen, über dem Fluss bohrten sich Blitze in die Kräne und sinterten den Sauerstoff der Luft zu Ozon, dessen ätzender Dunst Sarah aus der Erstarrung riss. Donner simulierte eine Kegelpartie, Tropfen wie Taubeneier platschten auf das Pflaster. Sie rannten zum Auto, Leven startete den Motor und stellte die Scheibenlüftung an. Sarah schwieg verbissen, und auch er sagte kein Wort. In sich gekehrt fuhr er über den Gorch-Fock-Wall zur Kaiser-Wilhelm-Straße und parkte vor einem Ladenlokal, über dem in großen Blocklettern Die Mission stand und kleiner darunter Maßnahme gegen die Kälte.

„Bleib sitzen“, sagte er. „Dauert nicht lange.“

Durch die Regenspuren auf der Frontscheibe, die seine Gestalt in wabernde Segmente zerlegten, sah sie ihn mit der goldenen Amex-Karte Geld aus einem Automaten ziehen und kurz darauf in die Mission eintreten. Durch die riesigen Ladenfenster erblickte sie müde Gestalten, die an Bierflaschen nuckelten, Karten spielten, Suppe löffelten oder reglos vor sich hinstarrten, bis sie Leven wahrnahmen und auf jedem Gesicht ein Lächeln oder Grinsen erschien. Manche winkten ihm zu, andere standen auf, um ihn zu begrüßen, einer hielt ihm die Bierflasche hin. Er trank, hob den Daumen und gab sie zurück. Ein Mann kam aus dem Nebenraum und drängte sich zu ihm durch. Er war mindestens zwei Meter groß, und sein schlohweißes Haar wallte über den Kragen des cremefarbenen Hemdes, dessen Eleganz ihn zu einem Fremden in der schäbigen Runde machte. Leven umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange. Lachend schob der Mann ihn auf Armeslänge von sich und strich über seinen frisch rasierten Schädel. Er kniff ein Auge zu und sagte etwas. Sarah hörte das Gelächter bis ins Auto.

„Oh nein!“, flüsterte sie.

Sie kannte den Riesen von Fotos der Evinc-Security. Gabriel Ark war Bereichsleiter der Konkurrenz, derselbe, von dem sie wusste, dass er die Jollenepisode auf der Alster zusammen mit ihrer Chefin verfolgt hatte. Hilflos sah sie zu, wie Leven sich angeregt mit ihm unterhielt und ihm schließlich die Scheine aus dem Geldautomaten überreichte. Den Dank, der von allen Seiten auf ihn niederprasselte, wehrte er ab, verbeugte sich leicht in die Runde und nahm per Handschlag Abschied von jedem einzelnen. Als er sich zum Gehen wandte, machte Ark eine Geste, als segne er ihn.

Die Schauer, die Sarah über den Rücken rieselten, waren reine Furcht. Keine Panik, befahl sie sich, reiß dich zusammen, Mädchen! Wirf dein Gehirn an, sonst verlierst du ihn und deinen Job gleich mit! Was hatten die Kameras aufgezeichnet, was sprach für, was gegen sie?

Dem Anschein nach hatte sie Leven zu den Exzessen der Nacht und vorhin auf dem Boot verführt, unter den Augen ihrer Chefin und der Konkurrenz, die solches Treiben abgrundtief verabscheute. Zum Glück registrierte der Computer keine Emotionen, auch nicht die von Evinc-Agenten. So hoch entwickelt er schien, war er doch auf einem Auge blind. Dass nicht sie Leven, sondern er sie verführt hatte, dass sie seinem Drängen verfallen war und sich voller Leidenschaft geöffnet hatte, „sah“ die Maschine nicht, sondern nur, dass er sich auf sie gestürzt hatte. Der Anschein täuschte das Gegenteil der Wahrheit vor, und das war ein Pluspunkt für sie und ein Desaster für die Konkurrenz. Insofern hatte sie noch eine Chance. Wenn sie Levens Seele heute Nacht rechtzeitig lieferte, war sie aus dem Schneider. Aber liefern konnte sie nur, wenn er seine kleine Seele nicht im letzten Moment der Konkurrenz verschrieb, und darauf deutete einiges.

Levens seltsames Verhalten in der Kirche und seine milden Gaben an den Bettler und die Sintifrau beunruhigten sie, dass er den Pennern der Mission 500 Euro gespendet hatte, noch mehr, aber seine Vertrautheit mit Gabriel Ark, die demonstrative Zuneigung für den Feind und die Freude und Liebe in dessen Augen war der wirkliche, tiefe Schock.

Verstört fragte sie sich, warum Levens Verhältnis zu Ark in seiner Evinc-Akte nicht erwähnt wurde. Hatte das Controlling versagt oder jemand die Akte manipuliert? Das musste sie klären, aber später, nicht jetzt. Die Zeit lief weg, und wenn ihr Levens Seele entglitt, bedeutete das ultimativ ihr Karriereende. Mit Glück würde man ihr einen Job in der Registratur anbieten, wo sie die nächsten acht Jahrhunderte ein ödes Dasein fristen durfte. Undenkbar! Was sie jetzt, sofort, wie die Luft zum Atmen, brauchte, war eine Schwachstelle in Levens Seele, eine Art Öse, an der sie sich festhaken und ihn wieder auf die richtige Seite zerren konnte.

Wieder? War er denn je auf der richtigen Seite gewesen?

Vom Aktenstudium her kannte sie seine Vita aus dem ff, trotzdem loggte sie sich noch einmal in die Datenbank ein und scannte seinen Lebenslauf, um den einem dunklen Fleck auszumachen, den sie in seinen letzten verbliebenen Stunden noch tief genug einschwärzen konnte.

Andreas Sven Leven, 1967 in Fallingbostel geboren, Finanzmakler bei der Nordinvest in Hamburg. Sein Register wies nur lässliche Sünden auf, wenn man davon absah, dass er geschieden und Atheist war. Beides kam Evinc zugute und missfiel der Konkurrenz, ebenso sein Frauenverbrauch in den letzten Jahren, aber entscheidend war das alles nicht. In der Freizeit war er Kampfsportler, Motorradfahrer, Segler und Mitglied im Rotary Club, letzteres eher ein Pluspunkt für die Gegenseite. Sarah konzentrierte sich auf zwei dunkle Stellen, die sie schon beim Erststudium der Akte registriert und dann als Ansatzpunkte verworfen hatte, obwohl sie schwerlich als Leichen im Keller zu werten waren.

Leven hatte am Aktienmarkt noch auf Hausse spekuliert, als die Blase schon vorm Platzen stand, und damit zwei besonders gierige Kunden in den Ruin getrieben. Diese Leute waren gute Kirchgänger und Familienväter, insoweit konnte ihm die Konkurrenz deren Pein zwar theoretisch ankreiden, würde es aber nicht tun, da sie sehr wohl zwischen Schein und Wirklichkeit der Seelen unterschied und wusste, dass der Weg zur Hölle mit Psalmen und Gier gepflastert war. Außerdem befand sich Leven mit seinen Fehlprognosen in guter Gesellschaft von gottesfürchtigen Aktiengurus, die Sterbehospize und die Caritas sponserten. Erfolg oder Misserfolg am Markt war kein Indikator, ob sich eine Finanzmaklerseele am Ende in lichte Höhen schwang oder zu Evinc ins Dunkel entschwand. Dieser Fleck auf Levens Weste war nicht sehr ausgeprägt, höchstens hellgrau.

Schwerer wog da schon sein Versagen 1998, als er seine damalige Freundin nicht an einer Abtreibung gehindert hatte. Gerade solche Unterlassung sah man bei der Konkurrenz mit größter Missbilligung, und die Minuspunkte dort erschienen postwendend als Pluspunkte auf seinem Evinc-Konto. Leider waren auch das nur wenige. Ja, wenn er die Frau zum Kindermord überredet oder gar gezwungen hätte! Aber nicht er, sondern sie war die treibende Kraft bei der Abtreibung gewesen und hatte sie gegen seinen, wenn auch lauen, Widerstand durchgezogen. Damit besserte sie zwar ihre eigene Bilanz bei Evinc auf, aber ihm konnte die Buchhaltung nur zwei Pünktchen wegen mangelnder Durchsetzungsfähigkeit gutschreiben, bei weitem nicht genug, um ihn fest als Gewinn zu verbuchen.

Alles in allem hatte er ein banales Leben geführt, ohne große Ausschläge. Gerade aufgrund dieser seiner Mittelmäßigkeit hatten ihn die Vertreter von Evinc und der Konkurrenz in der paritätisch besetzten Findungskommission in die Exit-Datei aufgenommen. Im Grunde hätten beide Firmen lieber darauf verzichtet, denn es waren die Mittelmäßigen, die ihnen die meiste Arbeit machten, die lauen Seelen, deren Kontostand weder weit genug in den roten noch den grünen Bereich reichte, so dass erst die letzten 24 Stunden entscheiden mussten, wer sie letztlich einheimste. Laut Statut durfte sich keine Seite vor der Aufgabe drücken. Andreas Sven Levens Bilanz stand knapp auf Rot, folglich erhielt Evinc das teure Vorrecht, einen Einflussagenten auf ihn anzusetzen, oder besser eine Agentin, da er sich als Hardcore-Hetero erwiesen hatte. Solche Jobs galten als nervig, deshalb wurden bevorzugt die Jungspunde in der Probezeit damit betraut, und dieser war leider Sarah in den Schoß gefallen. Allerdings hatte sie den leisen Verdacht, dass ihr die Chefin den Auftrag bewusst zugespielt hatte, um herauszufinden, ob sie anders als ihr Bruder pflichtbewusst mit attraktiven Klienten umging. Dass sie Leven sexy fand und sich am Riemen reißen musste, um nicht wie Sandro alle Bedenken in den Wind zu schlagen, war schlimm genug, und wenn er weiter Gefallen am Beten fand, Almosen verteilte und sich den Segen der Konkurrenz holte, hatte sie verloren. Fieberhaft forschte sie deshalb nach dem archimedischen Punkt, an dem sie ihn aus den Angeln heben konnte, aber woher nehmen? Die Zehn Gebote hatte er nur im üblichen Rahmen missachtet, vier oder fünf sogar komplett eingehalten, und hinsichtlich der Sieben Todsünden waren ihm nur marginale Ausrutscher unterlaufen, die bei der Endabrechnung unter Peanuts liefen. Es war zum Verzweifeln.

Es regnete noch heftiger, und Leven blieb unter dem Vordach der Mission stehen. Den Ausdruck von innerem Frieden auf seinem Gesicht fand Sarah widerwärtig, zugleich beneidete sie ihn darum, und sie erlebte einen Anflug echter Panik. Seine Akte war weitgehend sauber, jetzt beging er auch noch gute Taten am laufenden Meter und heimste Punkte bei der Konkurrenz ein. Als Täter war er ein eine Null, schlechterdings nicht zu gebrauchen.

Und als Opfer?, schoss es ihr durch den Kopf. Richtig, wie war er als Opfer? Vielleicht ergab sich ja ein Ansatzpunkt aus seinen Niederlagen!

Hektisch warf sie die Suchmaschine in ihrem Kopf an. Opferstatus Andreas Leven. Eine Nanosekunde später erschienen achtzehn Einträge. Auf den ersten Blick war nichts Interessantes dabei, wieder nur Peanuts. Oder? Sie las den Eintrag Nr. 16 noch einmal, gab Folgebegriffe ein und überlegte fieberhaft. Ihre mentalen Prozesse liefen millionenfach schneller als die von Menschen ab, trotzdem war sie froh, dass der Regen Levens Rückkehr verzögerte. Erst jetzt setzte er zum Sprint an, und so hatte sie noch etwas Zeit. Gab Eintrag 16 etwas her? Sie las ihn zum dritten Mal.

1998 hatte sich Leven in Karen Robran verliebt, eine Kollegin bei Nordinvest. Sie ließ sich auf ihn ein, er machte ihr einen Heiratsantrag, den sie nach Bedenkzeit ablehnte. Sie trafen sich weiter, aber er war eifersüchtig auf die Männer, die sie umschwirrten wie Motten das Licht. Er schrieb elegische Gedichte, führte Tagebuch und zapfte ihren Computer an. So erfuhr er im Februar 1999, dass sie schwanger war. Seine Tagebucheintragungen wurden euphorisch, obwohl er über das Kind nicht mit ihr reden konnte. Dann schaffte er es mit einem Trick, doch noch die Sprache darauf zu bringen. Sie reagierte cool. Die Schwangerschaft passte nicht in ihre Karriereplanung, also würde sie abtreiben. Er bestürmte sie, das Kind auszutragen. Zur Not wollte er auf eine halbe Stelle gehen und es zusammen mit ihr aufziehen, aber ihr Entschluss stand fest. Je heftiger er in sie drang, desto abweisender reagierte sie, am Ende sogar glashart und verletzend. Vielleicht würde sie ja eines Tages ein Kind bekommen, gab sie ihm zu verstehen, aber er würde bestimmt nicht der Vater sein. Leven trennte sich von ihr und litt monatelang vor sich hin.

Ende September nahm Karen drei Tage Urlaub, saß aber auch nach einer Woche nicht wieder an ihrem Schreibtisch. Leven hatte noch den Wohnungsschlüssel. Er fuhr zu ihr, und als sie nicht öffnete, verschaffte er sich Zutritt. Im abgedunkelten Schlafzimmer fand er sie erschöpft und apathisch vor. Körperlich hatte sie den Eingriff gut überstanden, aber ihre Psyche war verkarstet. Von der Karen, die er kannte, war nur noch die Hülle übrig. Er blieb bei ihr und ertrug das Schweigen. In der zweiten Nacht riss ihr Panzer auf und das eingekapselte Gift sprudelte heraus.

Das Kind war gar nicht von ihm. Auf der Weihnachtsfeier von Nordinvest, der Leven wegen einer Grippe ferngeblieben war, hatte sie sich durch die oberen Ränge des Managements geflirtet. Frank Hass, der Chief-Controller, nahm das Spiel ernster, als es gemeint war. Gegen Mitternacht trank Karen den einen Cocktail zu viel, ihr wurde übel, und sie wankte zum Waschraum. Hass folgte ihr, aus reiner Fürsorge, wie er grinsend in die Runde posaunte. Sie fühlte sich zu schwach, um ihn abzuweisen und war letztlich dankbar, dass er ihren Kopf hielt. Leer, bleich und wackelig auf den Beinen ließ sie sich das Gesicht von ihm waschen. Hass trocknete sie ab und nahm sie in den Arm. Dass er sie Schritt für winzigen Schritt in eine Kabine bugsierte und die Tür verschloss, merkte sie zu spät. Sie wehrte sich mit Schlägen, die so schwach waren, dass ihre Hände an ihm abglitten. Er lachte nur. Nichts riss, an ihrem Kostüm platzte keine Naht, er ließ ihre Kleidung intakt und verwüstete sie innerlich. Danach bedankte er sich höflich, half ihr auf den Toilettensitz und schlenderte zurück in den Ballsaal. Sie erbrach sich noch einmal. Später holte sie ihren Mantel aus der Garderobe und verschwand. Nach Sylvester nahm sie ihren Job wieder auf. Sie mied Hass, aber ihn anzuzeigen kam ihr nicht in den Sinn. Als ihre Regel ausblieb und der Test positiv ausfiel, ging sie zu Pro Familia.

Mit Leven traf sie sich immer seltener und schlief nicht mehr mit ihm. Als sie herausfand, dass er ihren Rechner angezapft und auch eine Mail an ihre beste Freundin gelesen hatte, in der sie fast beiläufig von der Schwangerschaft und ihrem Entschluss zur Abtreibung berichtet hatte, ohne den Hintergrund zu erwähnen, war sie entsetzt und erleichtert zugleich. Sie ließ Leven in dem Glauben, er sei der Vater, weil sie fürchtete, dass er Hass verprügeln und damit außer seinem auch ihren Job gefährden würde. Als er sich von ihr trennte, schmerzte es sie kaum. Ihre Gefühle lagen auf Eis, sie wollte nur noch allein sein. Während des Eingriffs war sie kühl und beherrscht, zu Hause überfiel sie das heulende Elend. Dass Leven sie besuchte, half ihr. Aber jetzt sollte er bitte gehen.

Er war klug genug keine Fragen zu stellen und ließ sie allein. Am nächsten Abend bat er sie am Telefon, ihm eine zweite Chance zu geben. In ihrem Nein schwang Bedauern mit, trotzdem klang es endgültig. Er hatte genug von ihr und brach den Kontakt ab, so sehr es ihn schmerzte.

Eine Woche später verabredete er sich unter einem Vorwand mit Hass in dessen Büro. Dort kam er ohne Umschweife zur Sache, sagte, was er wusste, und verlangte, dass Hass die Firma verließ. Andernfalls würde er die Angelegenheit öffentlich machen. Der Chief-Controller hörte ihm höflich zu und dachte einen Moment nach, bevor er antwortete.

„Soll ich es Ihnen buchstabieren, lieber Herr Leven, oder kommen Sie selber drauf, dass Sie sich gerade lächerlich machen? Vorschlag zur Güte: Ich entschuldige mich bei Frau Robran, wenn sie Wert darauf legt, und für Sie lege ich bei der nächsten Leitungskonferenz ein gutes Wort ein. Dabei könnte ein kleiner Karrieresprung oder wenigstens die neue Software rausspringen, auf die Sie so scharf sind. Deal?“

Leven verlangte Bedenkzeit. In der folgenden schlaflosen Nacht kalkulierte er seine Chancen und kam zu einem eindeutigen Ergebnis. Für die Vergewaltigung gab es keine Zeugen, Aussage würde gegen Aussage stehen, und auch das nur, wenn Karen den Mund aufmachte. Er bezweifelte, dass sie es tun würde, und selbst wenn nutzte es nichts. Die Herren des Vorstands, die sämtlich bei ihr abgeblitzt waren, würden Hass die Stange halten und Karen nahe legen, gegen eine Abfindung zu kündigen. Er selbst würde wegen Verbreitung unhaltbarer Anschuldigungen fristlos gefeuert werden. Die Niederlage war vorprogrammiert. Er wog ab, ob er Hass umbringen oder auf den Deal eingehen sollte. Letztlich ersparte er sich beides. Am nächsten Morgen ging er zur Arbeit und schwieg.

Als Karen wieder zur Arbeit kam, begegnete sie ihm freundlich distanziert. Ein paar Tage später sah er sie in der Mittagspause neben Hass in der Kantine sitzen. Im Juni, sieben Monate nach dem Abbruch, gab eine interne Mail des Vorstands die bevorstehende Hochzeit des Chief-Controllers Frank Hass mit der Kollegin Karen Robran bekannt und bat die Kolleginnen und Kollegen um einen Beitrag für die Feier im Hotel Vier Jahreszeiten, zu der alle herzlich eingeladen seien. Leven ließ sich krankschreiben und soff sich ins Koma. Als er wieder bei Sinnen war, stellte er fest, dass sein Haar in Büscheln ausfiel. Er kehrte zurück an seinen Schreibtisch, stürzte sich in die Arbeit und taumelte in der Freizeit von einer Frauengeschichte in die nächste.

Ein halbes Jahr später kündigte Hass bei Nordinvest. Alle in der Firma waren überrascht, nur Leven nicht, der einen Detektiv auf ihn angesetzt hatte.

Dieser schilderte Hass als zwanghaften Spieler. Poker, Roulette, Black Jack, er nahm, was seiner Wege kam. Der Detektiv war erstaunt, denn obwohl Hass’ Sucht unverkennbar war und solche Leute samt und sonders von den Profis nach allen Regeln der Kunst ausgenommen wurden, gewann er stetig und knüpfte nebenher stabile Beziehungen zu mehreren Kiezbaronen.

Nun kassierte er einen Abschlussbonus von Nordinvest und beteiligte sich an drei Restaurants, deren Gastronomie nicht halb so viel Umsatz machte wie die Kartenhaie in den Hinterzimmern, und einem Bordell. Zwei Monate später kündigte auch Karen, die inzwischen Frau Hass hieß. Der Detektiv schrieb, dass sie gelegentlich in einem Laden ihres Mannes Hof hielt, die meiste Zeit jedoch in der gemeinsamen Wohldorfer Villa ihre Fußnägel lackierte und regelmäßig kokste. Auf den Überwachungsfotos erschien sie als träges, gelangweiltes, mit Geschmeide behängtes Schaustück ohne einen Funken der Lebendigkeit, die Leven an ihr geliebt hatte. Eins der Fotos zeigte ihre verbundenen Handgelenke. Leven färbte sein Resthaar schwarz, setzte die Sonnenbrille auf und ließ sich von dem Detektiv durch die Läden von Frank Hass führen. Seither beobachtete er alle paar Monate auf eigene Faust den ehemaligen Kollegen, wie er nachts durch sein Reich zirkulierte.

Das war der Inhalt des Eintrags Nr. 16 von Levens Evinc-Akte. Sarah schaltete die Datenflut in ihrem Kopf ab. War das der archimedische Punkt, den sie suchte, um Leven aus den Angeln zu heben? Für sich genommen nicht, aber sie spürte Potential in der Geschichte, wenn sie noch genug Zeit hatte, um einen Plan zu entwickeln. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk und erbleichte. Wo war die Uhr?! Sie musste noch neben dem Bett liegen, vergessen nach der schönen wilden Nacht. Der Schreck fühlte sich grell an, aber sie beherrschte sich. Dem Licht nach war es früher Abend, irgendwann zwischen acht und neun. Ein paar Stunden hatte sie noch, aber sie brauchte einen Plan. Jetzt!

Leven als Täter war nicht zu packen, aber vielleicht als Opfer von Hass, wenn ihn die Narbe noch genug schmerzte. Zur Not musste sie die Wunde wieder weit öffnen, damit er etwas tat, was ihm einen Haufen roter Punkte einbrachte. Würde er überhaupt anspringen, so kurz vor seinem Tod, wenn sie ihm zum Beispiel vorschlug, Hass einen Besuch abzustatten? Sie spekulierte über seine mögliche Reaktion.

Klar, mach ich, ist ja sowieso alles egal. Jetzt kann ich tun, was ich sonst nie getan hätte.

Das wäre die einfachste Lösung, aber möglich war auch eine völlig andere Antwort:

Nein, lass mal, zum Glück bin ich drüber weg, und in meiner Lage ist Rache nun wirklich nicht mehr wichtig. Die restliche Zeit ist zu kostbar. Komm, wir fahren wieder zu mir und gehen noch mal ins Bett.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956072932
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Sex Erotik Leidenschaft Liebe Affäre Bordell Liebschaft Kurzgeschichten

Autor

Finn Dereaux, 41, liebt die Frauen und findet es seltsam, dass erotische Literatur fast nur noch von ihnen kommt, auch wenn er es genießt, wenn sie ihren Phantasien freien Lauf lassen. Frauen geben sich hin, Männer wollen sie haben – daran ändert sich nichts. Wie erlebt ein Mann die Begegnung mit einer Frau, die er mit allen Sinnen begehrt? Wie entzündet er ihre Lust und befriedigt die seine? Diese und andere pikante Fragen beantwortet der deutsch-französische Journalist in seinem verführerischen Erstlingswerk „Neun Akte“.
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Titel: Neun Akte