
Im fahlen Licht des Mondes
von
Kerstin Groeper
Seiten: (ca.) 408
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 28.4.2016
ISBN: eBook 9783956070440
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Am Little-Bighorn-Fluss im Winter 1876: Die Cheyenne haben den entbehrungsreichen Kampf gegen General Custer und seine Armee gewonnen und Zuflucht in den Bergen gesucht. Die junge Moekaé sieht dem friedvollen Winter voller Hoffnung entgegen: Ihr geliebter Ehemann, ein tapferer und stolzer Stammeskrieger, ist unversehrt ins Lager zurückgekehrt, und nichts wünschen die beiden sich sehnlicher als ein gemeinsames Kind. Doch die Ruhe ist trügerisch. Schon bald fallen weiße Soldaten in das kleine Dorf ein und bringen die verzweifelten Indianer trotz erbitterten Widerstands, in ein Reservat. Dort sind sie der Gnade der grausamen Eindringlinge schutzlos ausgeliefert, werden gezwungen ihre jahrhundertealten Traditionen und Rituale aufzugeben und den fremdartigen Regeln ihrer neuen Herren zu gehorchen. Als Moekaé, die inzwischen schwanger ist, sieht, wie ihr Volk beginnt, in Trostlosigkeit und Trauer zu versinken, begibt sie sich mit einer Gruppe mutiger Cheyenne auf eine riskante Reise, immer auf der Hut vor den erbarmungslosen Soldaten, die nichts unversucht lassen, um die Flüchtenden in ihre Gewalt zu bringen.
Details
- Titel
- Im fahlen Licht des Mondes
- Untertitel
- Der lange Weg der Cheyenne
- Autor
- Kerstin Groeper
- Seiten
- 408
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Preis (eBook)
- 5,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956070440
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Kerstin Groeper
Im fahlen Licht des Mondes
Der lange Weg der Cheyenne
Impressum
Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München
Originalausgabe © 2015 bei Traumfänger Verlag, Hohenthann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-044-0
Moekaé
Moekaé kniete am Feuer im Tipi und starrte sinnend in die Glut. Die Hände ruhten in ihrem Schoß, untätig, und doch waren sie schwielig und kräftig, gewohnt schwere Arbeit zu verrichten. Moekaé genoss die Ruhe. Nur gedämpft drangen die Geräusche der umliegenden Zelte an ihr Ohr. Leise, fröhliche Stimmen waren zu hören und dazwischen das Knurren von Hunden, die sich um irgendwelche Knochen balgten.
Moekaés geschwungene Lippen zeigten ein zartes Lächeln, als die junge Frau den Stimmen des Dorfes zuhörte. Ansonsten blieben die Augen ernst, als ob sie schon zu viel Leid gesehen hätten. Mit einer fahrigen Bewegung strich die Frau eine Haarsträhne nach hinten, die sich aus den Zöpfen gelöst hatte. Die Zöpfe fielen über ein geblümtes Kleid, das mit einem Gürtel gerafft wurde, an dem einige Utensilien hingen: ein Messer in einer bestickten Scheide, ein buntes Täschchen mit Feuersteinen und Zunder und ein Ahlenbeutel mit Nähnadeln und Fäden. Als sie sich nach vorne beugte, um Feuerholz nachzulegen, baumelten lange Ohrringe aus elfenbeinfarbenen Dentaliumschnecken hin und her, die fast bis zum Gürtel hinabhingen und das ovale Gesicht auf würdevolle Weise einrahmten. Sie bildeten einen schönen Kontrast zu den dunklen Gesichtszügen der Frau und den fast schwarzen Augen. Gegen die Kälte, die von der Wand des Tipis strahlte, hatte die Frau sich mit einer blauen Decke geschützt, die lose über die Schultern hing und kaum die schlanke Gestalt verbarg.
Moekaés Blick löste sich von den züngelnden Flammen, die nach dem Holz griffen, und blieb an den buntbemalten Taschen hängen, die überall am Rand des Tipis gestapelt lagen. Sie waren gefüllt mit Vorräten und Kleidung für den Winter. Die Jagd im Herbst war gut gewesen, obwohl sie mehrmals den weißen Soldaten hatten ausweichen müssen, die ihnen nach der Schlacht am Little-Bighorn-Fluss hartnäckig gefolgt waren. Jetzt lag bereits der erste Schnee und die Cheyenne hatten sich bis in die Bighorn-Berge zurückgezogen, um den Soldaten zu entkommen. Moekaé lächelte, als sie an den großen Sieg am Little-Bighorn dachte. Sie war über das Schlachtfeld gegangen und hatte den gefallenen Soldaten die Waffen abgenommen. Ihr Mann besaß nun ein neues Gewehr mit viel Munition und sie selbst trug einen Revolver unter ihrem Kleid. Einige Frauen hatten Custer gefunden und ihm das Trommelfell mit ihren Ahlen durchstochen, damit er sich auch im Jenseits daran erinnerte, dass es besser war, seine Versprechen einzuhalten. Einst hatte er im Zelt des Bewahrers der Heiligen Pfeile versprochen, nie wieder Krieg gegen die Cheyenne zu führen. Nun, er hatte dieses Versprechen gebrochen und dies hatte den Untergang für ihn und seine Soldaten herbeigeführt.
Moekaé schaute auf, als ihr Ehemann Heskovetse die Türklappe hob und in das Tipi kletterte. Er trug eine Decke aus warmem Büffelfell um die Schultern, die er nun achtlos zu Boden gleiten ließ. Darunter trug der junge Mann ein buntes Hemd aus Baumwolle, warme Winterleggins und einen Lendenschurz aus blauem Deckenstoff, den er über einen Conchogürtel geschlagen hatte. Seine Haare fielen lose über die Schultern und waren durch den Wind, der draußen tobte, durcheinandergewirbelt. Er schlug sich mit einem breiten Grinsen auf seinen Bauch und deutete an, dass er kurz vor dem Platzen war. „Noch einen Bissen und ich sterbe“, meinte er gut gelaunt.
Die junge Frau deutete auf den vollen Kochtopf und lächelte ebenfalls. „Nimm!“
„Uah!“, stöhnte der junge Krieger und ließ sich dann schwerfällig auf ein Fell plumpsen. „Ich sterbe bereits bei dem Gedanken an Fleisch!“
„Die Jagd war gut.“ In Moekaés Stimme lag Zufriedenheit und die Hoffnung, dass alles wieder so werden würde wie einst.
„Wahrhaftig“, stimmte Heskovetse ihr zu. „Obwohl die Herden der Büffel an Zahl abnehmen. Die Gier der Weißen vernichtet alles, was es sonst im Überfluss gegeben hat.“
Moekaé senkte den Blick und ihr Lächeln verschwand. Für diesen Winter hatten sie genug Vorräte, doch sie wusste, dass alle sich Sorgen machten, wie es in Zukunft weitergehen sollte. Weise Menschen sprachen bereits davon, dass es besser wäre, in die Reservationen zu gehen, doch die jungen Krieger wollten davon nichts hören. Sie warf ihrem jungen Ehemann einen unsicheren Blick unter ihren langen Wimpern zu und musterte ihn prüfend. Er war jung und drahtig, gewohnt zu kämpfen. Seine Augen waren stolz und wild, nur wenn er sie musterte, verloren sie ein wenig diesen gefährlichen Schein. Er liebte sie, auch wenn er manchmal rücksichtslos und unnahbar wirkte. Sie war ihm im Frühling zur Ehefrau gegeben worden und seitdem war wenig Zeit geblieben, um sich näher kennenzulernen. Er gehörte der Gesellschaft der Blue-Soldiers an und trug stolz seinen geschnitzten Talisman aus Hirschhorn in der Hand, wenn er in den Kampf zog. Die Blue-Soldiers hießen eigentlich Elkhorn Scrapers, doch nachdem sie nach einem Kampf mit Soldaten die blauen Jacken erbeutet hatten, trugen sie nun diesen Namen. Vorher gab es diesen Namen auch schon, aber da war er spöttisch gemeint, und so hatten die Krieger es vorgezogen, die alte Bedeutung zu vergessen. Moekaé senkte den Blick und dachte an frühere Zeiten zurück, als die Männer noch ihre Zeremonien gefeiert und ihre besondere Kriegsausrüstung getragen hatten. Sie erinnerte sich an die Kappen aus Rabenfedern der Dogsoldiers und an die Bemalung der Kit-Foxes, die sich den Oberkörper und das Gesicht mit gelber Farbe und die Beine schwarz bemalt hatten. All dies war nun vergangen. In all den Kämpfen war keine Zeit mehr geblieben, sich für den Kriegszug zu schmücken, sondern es ging um das Überleben.
Meist war ihr Mann, bekleidet mit einer blaue Uniformjacke, mit den Blue-Soldiers unterwegs, um gegen das Eindringen der weißen Soldaten oder Siedler zu kämpfen.
Sie hingegen war damit beschäftigt gewesen, seine Mokassins zu flicken, seine Hemden und Leggins zu nähen und seine Proviantbeutel zu füllen, wenn er nach einer kurzen Rast wieder aufbrechen musste. Sie zählte ungefähr siebzehn oder achtzehn Winter, so genau wusste das niemand. Ihre Eltern hatten erzählt, dass sie nach dem Vertrag von Fort Laramie bei den hundert Zelten geboren worden war. Damals waren die Zeiten gut gewesen und die Weißen hatten mit Geschenken darum gebuhlt, durch das Land der Cheyenne ziehen zu dürfen. Inzwischen waren die Cheyenne geschwächt von den ewigen Kämpfen und den Seuchen, die ihr Volk hart getroffen hatten.
Moekaé freute sich auf den Winter. Er versprach Ruhe und Frieden. Endlich würde ihr Ehemann zuhause sein und sie konnten vielleicht ihr Eheleben beginnen. Noch wuchs kein Kind in ihrem Leib und die anderen Frauen munkelten, ob sie vielleicht unfruchtbar wäre.
Moekaé kniff die Lippen zusammen und schob diesen Gedanken beiseite. Wie sollte ein Kind entstehen, wenn der Ehemann nie bei ihr lag? Heskovetse hatte nur selten mit ihr geschlafen. Es war kurz und ungeschickt gewesen und hatte ihr wehgetan. Nun hoffte sie, dass der Winter ihn sanft machte und er in ihr mehr seine Frau sah und nicht einen Feind, den man unter sich bezwingen musste. Die Mutter hatte ihr einen alten Trick verraten, wie man die Schmerzen vermeiden konnte und wie eine Frau es schaffte, dass auch der Mann seine Frau liebkoste. „Nimm Fett“, hatte ihre Mutter geflüstert. „Und streichle seinen kleinen Mann, damit auch er sich Zeit lässt und dich streichelt. Dann wird es schöner zwischen euch beiden sein.“
Sie hatte geprustet vor Lachen, doch dann hatte sie über die Worte nachgedacht. Schon lange hatte sie sich vorgestellt, wie sie zu ihm sein würde, wenn er endlich bei ihr lag, und diese Vorstellung hatte ihre Ängste weniger werden lassen. Sie würde nicht wie ein Brett unter ihm liegen wie bisher, sondern die Initiative ergreifen. Auch Cheyennefrauen waren mutig. Sie kicherte plötzlich und erntete einen erstaunten Blick ihres Mannes.
„Warum lachst du?“, fragte Heskovetse misstrauisch. Manchmal schien er wirklich nicht viel von Frauen zu wissen oder vermutete, dass er irgendwelchen Spott auf sich zog.
Moekaé lächelte freundlich und streichelte ebenfalls über ihren Bauch. „Ich fühle mich auch kugelrund, aber ich wünschte, es wäre aus einem anderen Grund!“
Der misstrauische Blick ihres Mannes wurde plötzlich sanft und Moekaé staunte über die Veränderung.
„Warte nur, mein Grasmädchen“, flüsterte er in ihr Ohr. „Auch ich wünsche mir ein Baby. Bald!“
Sie zuckte kichernd zusammen und freute sich über diese Worte. Endlich dachte er mal nicht an Kampf und Krieg! Sie nahm die Spielerei mit ihrem Namen auf und neckte ihn ebenfalls: „Dann darfst du mich aber nicht nur mit deinen Stacheln stechen, mein Stachelschwein, sondern mit deinem anderen Ding!“
Heskovetse grinste breit und staunte nicht schlecht über diese Anzüglichkeit bei seiner sonst so keuschen Ehefrau. „So, so! Ich bin also dein Stechschwein!“, murmelte er frech.
„Hmh!“, antwortete Moekaé. Dann öffnete sie ihre Beine und zeigte provozierend auf ihre weibliche Stelle. „Hier, genau hier!“
„Uah!“, schimpfte Heskovetse empört. „Als ob ich das nicht wüsste!“ Mit einem Satz warf er sich auf seine junge Ehefrau und zog mit einem Ruck ihr Kleid in die Höhe. Doch dann nahm er sie plötzlich ganz sanft in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Kichernd lagen sie eng umschlungen da, fast wie jung Verliebte, die noch nicht wussten, was Liebe eigentlich ist.
„Noch nicht!“, flüsterte Heskovetse. „Noch nicht!“
Moekaé drückte sich an ihn und nickte. Sie wusste, dass die Männer noch ihre Reinigungsrituale machen mussten. Zu viel Blut war geflossen und die Geister mussten erst besänftigt werden. Ein Kind war eine hohe Verantwortung und durfte nicht gedankenlos gezeugt werden.
Sie lag mit offenen Augen neben ihrem Mann und sah zu, wie das Feuer langsam niederbrannte. Ihr Tipi war klein, aber sie war froh, dass sie es mit niemandem teilen musste. Ihre Eltern lebten im Zelt nebenan, zusammen mit ihrer Schwester und den Kindern. Ihre Schwester war bereits Witwe und hatte keinen neuen Mann mehr gewählt. Ein Bruder war letztes Jahr gefallen und hatte ebenfalls eine Frau und zwei Kinder hinterlassen, die nun versorgt werden mussten. Ihr Volk hatte schlimme Zeiten erlebt und sie dachte an all die Menschen, die bereits von ihr gegangen waren. Ihre Großeltern waren beide bei einem Überfall der Soldaten getötet worden, ebenso wie eine kleine Cousine und ein weiterer Bruder. Er war noch ein Kind gewesen, keine zwölf Winter alt, und doch hatten die Soldaten kein Mitleid gehabt. Sie hatte nun keine Brüder mehr. Warum schossen die Soldaten auf Frauen und Kinder? Dafür gab es keine Erklärung. Wahrscheinlich waren es keine wahren Menschen, sondern böse Geister aus einer anderen Welt.
Sie war zu müde, um aus dem Kleid zu schlüpfen, und döste mit offenen Augen. Sie wollte ihren Mann nicht wecken, der immer noch einen Zipfel ihres Kleides um seine Hand geschlungen hatte. Es war ein Kleid aus geblümtem Baumwollstoff, das ihnen bei irgendwelchen Friedensgesprächen als Geschenk überreicht worden war. Sie glaubte nicht mehr an Frieden. Zu oft hatte sie erleben müssen, dass Menschen ihres Volkes trotz dieses Friedens zusammengeschossen worden waren. Weiße hielten sich nicht an Verträge oder das gegebene Wort. Für Moekaé war das unverständlich. Worte, die unter den Heiligen Pfeilen oder der Anwesenheit des Bündels von Sweet Medicine, des Propheten, gesprochen wurden, waren heilig. Sweet Medicine war vor Generationen auf den Heiligen Berg, den Bear Butte, gestiegen und hatte dort von Mahéo die Anweisungen erhalten, wie die Cheyenne zu leben hatten, um Mahéo zu gefallen. Die Regeln und Verhaltensweisen waren seither für jeden Menschen klar gewesen und jeder hielt sich daran. Selbst Gefangene fielen unter diesen Schutz und konnten auf Mitleid hoffen. Weiße Menschen hatten keine Regeln und Wertvorstellungen. Selbst Wölfe kümmerten sich um Ihresgleichen, doch weiße Menschen fielen übereinander her und verschonten selbst Babys in den Tragewiegen nicht. Sie waren wie die Spinnen, bei denen das Weibchen nach der Paarung das Männchen frisst, wenn es nicht schnell genug flüchtete. Sie breiteten sich in dem Land der Cheyenne aus wie die Spinne ihr Netz.
Die Zerstörung des Landes und der Lebewesen darin war für Moekaé unvorstellbar und ging einher mit dem Niedergang ihrer Sitten und Bräuche. Frauen fühlten dies eher als die Männer, die oft noch damit beschäftigt waren, mit Waffengewalt das Unvermeidbare aufzuhalten. Aber die Frauen erlebten, dass Sitten verrohten, Männer sich nicht mehr an die alten Überlieferungen und Rituale hielten oder im Kampf abstumpften. Längst ging es nicht mehr um Ruhm und Ehre, sondern um das bloße Überleben. Viele der Älteren, deren Aufgabe es wäre, die Geschichten und Überlieferungen weiterzugeben, waren getötet worden und so ging Wissen, das sonst von Generation zu Generation überliefert wurde, auf immer verloren. Vielleicht hatte sich deshalb ihr Bauch noch nicht gerundet? Welches Kind wollte schon in eine solche Welt geboren werden? Doch ein Kind bedeutete auch Hoffnung. Ein Kind bedeutete, dass das Volk der Cheyenne weiterexistieren würde. Ja, in den Frauen lebten die kommenden Generationen.
Moekaé schlief ein und träumte davon, an einem See zu sitzen und ihr Baby im Arm zu halten. Dieses Gefühl war unbeschreiblich schön. Ganz deutlich spürte sie das Gewicht des Kindes in ihrem Arm, fühlte den warmen Körper, doch dann fuhr sie plötzlich schweißgebadet auf, als dieses Baby seine seltsamen blauen Augen öffnete und sie das Gefühl hatte, in diesem Blau ertrinken zu müssen. Augen in der Farbe des Sees! Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und horchte auf ihr pochendes Herz. Auch ihr Mann wurde unruhig und blinzelte sie verschlafen an.
Im gleichen Augenblick zerriss eine Salve die Stille des angehenden Morgens. Kugeln zerfetzten das Leder des Zeltes und zischten über Moekaés Kopf hinweg, ohne wirklich Schaden anzurichten. Schreie hallten durch das Dorf, Pferde wieherten und das ohrenbetäubende Brüllen von angreifenden Soldaten ließ die Menschen für einen kurzen Augenblick in Lähmung verfallen. Moekaé sah schreckensbleich auf ihren Mann, der ebenso entsetzt neben ihr kauerte.
„Lauf!“, befahl Heskovetse. „Lauf!“ Er schlüpfte in seine Uniformjacke, als würde dies ihn irgendwie beschützen. Dann schnappte er sich sein Gewehr und einen Munitionsgürtel, hängte sich eine Decke um die Schultern und schlüpfte aus dem Tipi. Mit fliegenden Händen packte Moekaé ebenfalls eine Decke, griff nach einem Proviantbeutel und einer Tasche, als bereits die nächste Salve durch das Tipi jagte und sie sich instinktiv in die Decken fallen ließ. Kriechend schob sie sich zum Eingang des Zeltes und ließ sich hinausrollen. Die Tasche blieb liegen. Moekaé wickelte die Decke um ihren Körper und hängte sich den Beutel um den Hals, während sie neben ihrem Mann kniete, der mehrere Schüsse in die Front der angreifenden Soldaten jagte. Überall war Rauch, sodass kaum zu erkennen war, ob die Schüsse irgendwelchen Schaden anrichteten.
„Zum Wald!“, herrschte Heskovetse sie an und zeigte mit den Lippen in die ungefähre Richtung. Er hatte sich bereits einen kleinen Überblick verschafft und hoffte auf einen Fluchtweg für die Frauen und Kinder.
Moekaé schlüpfte an ihm vorbei und begann mit weichen Knien zu laufen. Kugeln flogen an ihr vorbei und nur aus den Augenwinkeln sah sie, wie Menschen neben ihr zu Boden stürzten. Ihr Mann blieb genau hinter ihr und drängte sie, immer weiterzurennen. „Schneller! Lauf schneller!“
Neben ihnen lief Moekaés Schwester mit ihren beiden Kindern. Sie schrie hysterisch und hielt das kleinere Kind gegen ihre Brust gepresst. Moekaé nahm ihren Neffen an der Hand und zog das Kind rücksichtslos mit. Der kleine Junge war erst vier Jahre alt und konnte mit seinen kurzen Beinen kaum mithalten. Seine Augen waren weit vor Furcht und er weinte seine Angst heraus. Am Himmel erschien die erste Morgenröte und tauchte das Tal in ein gespenstisches Licht. Überall waren die braunen Uniformmäntel aus Büffelfell der Soldaten zu sehen, die zu Fuß oder zu Pferde durch das Dorf der Cheyenne jagten und wahllos auf alles schossen, was sich bewegte. Die Soldaten trugen Pelzmützen und Fellhandschuhe, die sie vor der Kälte schützten, während die Indianer zum Teil nur leicht bekleidet in die Kälte des Morgens flüchteten. Manche waren fast nackt, als sie schlaftrunken aus den Tipis wankten und dort von Kugeln getroffen zusammensackten.
Moekaé sah, wie ihre Schwester nach vorne fiel und dabei ihre Tochter fallen ließ. „Steh auf!“, bat Moekaé verzweifelt und zog ihre Schwester am Arm. Blut sickerte aus dem Mund der Schwester, dunkel und schwallweise, dann brachen die Augen und alles wurde schwer. Moekaé war so entsetzt, dass sie zu keinem Gedanken fähig war. Neben ihr schrie der kleine Junge nach seiner Mutter und sie nahm es kaum wahr. „Schwester!“, rief Moekaé. „Schwester, bitte steh auf!“
Heskovetse riss das kleine Mädchen hoch und stürzte mit ihr davon. „Lauf weiter!“, schrie er mit überschnappender Stimme. „Du kannst ihr nicht mehr helfen. Nimm den Jungen mit!“
Wie in Trance griff Moekaé nach der Hand des Jungen und zog ihn mit sich fort. Wieder peitschten Kugeln neben ihr in den Boden und sie schlug einen Haken. Dann tauchte sie unter einige Bäume, änderte leicht die Richtung und rannte tiefer in den Pinienwald. Überall rannten Frauen und Kinder um ihr Leben. Manche überschlugen sich, als würde eine riesige Hand ihnen von hinten einen kräftigen Schlag versetzen, aber Moekaé wusste, dass sie nie wieder aufstehen würden. Im Dämmerlicht konnte sie nicht erkennen, wer fiel, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Hier ging es nur noch um ihr eigenes Überleben.
Heskovetse hielt plötzlich an und drückte ihr das kleine Mädchen in die Arme. Sie war fast noch ein Baby, keine zwei Winter alt, und wurde von der Mutter noch gestillt. Sie weinte schluchzend und drückte ihr nasses Gesicht an Moekaés Hals. „Sei leise“, flüsterte Moekaé. Sie rannte weiter, während ihr Mann hinter einem Baum in Deckung ging und mit anderen Männern eine Schützenlinie bildete, um den Rückzug der Frauen und Kinder zu decken. Kurz stockte der Angriff der Soldaten und dies gab den Menschen Zeit, tiefer im Dickicht des Waldes zu verschwinden. Viele hatten es nicht geschafft. Die Soldaten gingen nun dazu über, die wenigen Überlebenden im Dorf zusammenzutreiben und hatten ihren offensichtlichen Spaß an ihrer Überlegenheit. Schreie erklangen, als Frauen misshandelt und verletzte Männer einfach erschossen wurden. Dann konnten die Flüchtenden einen hellen Feuerschein im Tal erkennen, als die Soldaten damit begannen, die Zelte mitsamt aller Ausrüstung in Brand zu stecken.
Moekaé rannte weiter und setzte sich dann völlig außer Atem neben andere Frauen und Kinder, die hinter einigen Felsen Schutz gesucht hatten. „Sie brennen alles nieder!“, wimmerte eine ältere Frau.
Moekaé dachte an die Vorräte, die sie in mühevoller Arbeit angelegt hatte, und an die warme Kleidung. Aber mehr noch dachte sie an all die Menschen, die nun dort unten lagen und ihr Leben gelassen hatten. Ihre Schwester war tot und sie wusste nicht, ob es ihre Eltern und Freundinnen geschafft hatten. Tröstend drückte sie die beiden Kinder an sich und stellte fest, dass sie zumindest voll bekleidet waren. Sie hießen Kleiner-Biber und Rotes-Blatt. Kurz schoss der Gedanke durch ihren Kopf, dass sie nun die Mutter für diese beiden Kinder sein würde und die Verantwortung lastete wie ein schwerer Stein auf ihrem Herzen. Wie sollte sie die Kleinen ernähren? Kleiden? Warm halten? Wo sollten sie nun hin? Ein ängstliches Raunen ging durch die Ansammlung der Frauen und Kinder, als Schritte zu hören waren, doch es waren nur einige Krieger, die schwer atmend zu ihnen aufschlossen. „Schnell! Weiter! Die Soldaten folgen uns!“, zischten sie warnend. Hastig sprangen alle auf und liefen weiter in die dichte Wildnis. Sie verteilten sich und jeder suchte sich allein einen Weg nach Norden, um den Soldaten die Verfolgung so schwer wie möglich zu machen.
Moekaé trug Rotes-Blatt auf ihrer Hüfte und zog Kleiner-Biber an der Hand hinter sich her. Der Junge war erschöpft und jammerte leise.
„Sei still!“, zischte Moekaé mahnend. „Wir müssen ganz leise sein, damit die bösen Vehoe uns nicht finden.“
„Wo ist meine Mutter?“, fragte Kleiner-Biber bittend. Er hatte plötzlich Angst vor dieser Tante, die sonst immer so freundlich und liebevoll gewesen war.
„Sie ist gestürzt und kann nicht mehr aufstehen“, antwortete Moekaé schnell. Es hatte keinen Sinn, dem Kind jetzt erklären zu wollen, dass die Mutter nie wiederkommen würde.
„Was machen dann die Vehoe mit ihr?“, jammerte Kleiner-Biber weiter. „Ich will nicht, dass wir ohne sie fortgehen.“
„Wir müssen!“, drängte Moekaé. „Und nun komm!“
Widerstandslos ließ sich das Kind mitziehen. Doch manchmal drehte es den Kopf und sah mit großen Augen den Feuerschein und die Rauchwolken, die sich in der Ferne abzeichneten. Immer noch waren Gewehrschüsse zu hören und jedes Mal zuckte das Kind zusammen und klammerte sich furchtsam an Moekaés Hand.
Die Sonne stieg höher und ein Teil der Frauen und Kinder kletterte in eine tiefe Schlucht. Leise folgten sie einem reißenden Bach, der sich ebenfalls seinen Weg durch die Schlucht bahnte. Das Jammern und Klagen hatte aufgehört, stattdessen waren nur die leisen Schritte der Menschen zu hören. Manchmal rollte ein Kieselstein unter den Füßen weg und ein Rabe krächzte, als wäre es ein ganz normaler Morgen. Das Gewehrfeuer in der Ferne war verstummt, vielleicht hatten die fliehenden Menschen aber auch genügend Abstand zwischen sich und den Ort des Grauens gebracht. Von hinten erklang Hufgetrappel und panisch vor Angst drängten sich die Flüchtenden zwischen einige Felsen. Doch es waren ein paar junge Krieger, denen es gelungen war, einen Teil der Ponyherde zu retten. Leise frohlockend kamen die Frauen aus ihren Verstecken und nahmen zum Teil in Streifen gerissene Decken her, um den Pferden einfache Zügel anzulegen. Schnell saßen alle auf den Ponys und die Flucht ging nun schneller voran. Hufe klapperten gegen den steinigen Boden, ansonsten war es wieder still.
Moekaé hatte Kleiner-Biber hinter sich auf das Pony gesetzt und der Junge klammerte sich an ihr fest. Vor sich im Arm hielt sie Rotes-Blatt, die vor Erschöpfung eingenickt war. Das Kind lag schwer in ihrem Arm und Moekaé schob es in eine aufrechte Position, um den Arm zu entlasten. Der Kopf wackelte dabei haltlos hin und her, bis er schließlich wieder in ihrer Armbeuge ruhte. Kurz hatte Moekaé den Verdacht, dass das Kind vielleicht doch irgendwie verletzt war, aber sie konnte nichts feststellen. Still folgte sie den anderen Frauen, die sie nun im Tageslicht besser erkennen konnte. Vor ihr ritt Eiserne-Zähne, eine ältere Frau, die ebenfalls ein Kleinkind im Arm hatte. Ein siebenjähriges Mädchen saß hinter der Mutter und hielt den Bauch der Mutter umklammert. Weiter vorn erkannte Moekaé ihre Freundinnen Sommer-Regen und Büffelkalb-Frau. Ein Krieger drängte sich an ihr vorbei und sie fragte ihn besorgt nach ihren Mann. „Hinten!“, signalisierten seine Hände, dann trabte er davon. Moekaé war beruhigt und trieb das Pony zu einem schnelleren Schritt an. Heskovetse würde bestimmt bald kommen!
Der Bauch des Ponys wärmte sie ein bisschen und Moekaé war froh, dass sie wenigstens dieses Pferd hatte. Der Atem war deutlich als Nebel zu sehen und dies erinnerte sie daran, wie kalt es eigentlich war. Das Pony trottete dahin und irgendwann wachte das kleine Mädchen wieder auf und weinte leise nach seiner Mutter. Moekaé griff in den Beutel und zog etwas Trockenfleisch hervor, um das Kind abzulenken. Auch Kleiner-Biber verlangte nach etwas zu essen und sie drückte ihm einen Streifen Fleisch in die Hand. „Iss langsam! Wir haben nicht viel!“, warnte sie das Kind. Rotes-Blatt kaute ebenfalls an dem trockenen Fleisch und wieder kullerten dicke Tränen über das Gesicht des Kindes. „Nahgo?“, fragte sie immer wieder nach ihrer Mutter.
Moekaé schwieg. Sie wollte nicht lügen und sie wollte nicht die Wahrheit sagen. Irgendwann würden die Fragen aufhören, wenn keine Antwort kam.
Die Stille wurde von Schüssen durchbrochen und sofort brach Panik unter den Menschen aus. Oben waren Soldaten in Stellung gegangen und hatten die verzweifelten Menschen in der Schlucht unter Beschuss genommen. Schreie hallten durch die Luft, brachen sich an den Wänden und kehrten als schauerliches Echo zurück. Moekaé rutschte vom Rücken des Ponys und riss Kleiner-Biber ebenfalls herunter. Der Junge kreischte vor Angst und klammerte sich so an der Tante fest, dass sie kaum noch laufen konnte. Rotes-Blatt hatte den Mund weit aufgerissen und brachte keinen Ton mehr heraus. Wieder schlugen Kugeln in die Bäume, prallten an den Felsen ab und heulten als Querschläger durch die Schlucht. Moekaé zerrte das Pony neben sich her und benutzte es als Deckung. Es wieherte angstvoll und versuchte tänzelnd, sich loszureißen. Moekaé konnte es unmöglich halten und so rutschte der provisorische Zügel durch ihre Hände. Wiehernd galoppierte das Pony davon und Moekaé tauchte zwischen einige Bäume, um den Kugeln zu entgehen. Sie hastete geduckt dahin, den Jungen rücksichtslos hinter sich herziehend, während sie das Mädchen gegen ihre Brust drückte. Sie stolperte mehr als sie lief und sah immer wieder, wie Menschen um sie herum zu Boden stürzten. Sie waren nur noch so wenige und auch diese fielen den Kugeln zum Opfer. Dann verschwand sie endlich hinter einigen großen Felsen, die ihr besseren Schutz gaben, und duckte sich in eine Felsnische. Beide Kinder schrien ihre Angst heraus und auch ihr Herz schlug so schnell, dass es aus ihrer Brust zu springen drohte. Zwei Männer sprangen neben ihr in Deckung und nahmen die Soldaten unter Beschuss. Es war Heskovetse, der seiner Frau mit einem Nicken den Befahl gab, sich weiter zurückzuziehen. Moekaé krabbelte davon und zerrte die weinenden Kinder hinter sich her. Sie war panisch vor Angst. Gleichzeitig hatte sie eine Todesangst um ihren Mann. Es waren nur noch zwei Männer, die dort bei den Felsen den Rückzug der wenigen Überlebenden sicherten. Immer wieder hörte sie wütendes Gewehrfeuer und sie wusste, dass ihr Mann dort niemanden vorbeilassen würde, solange er noch lebte.
Die Schlucht gabelte sich nach Norden und Westen und Moekaé wählte eine steile Passage in westlicher Richtung nach oben, um der Todesfalle zu entkommen. Selbst wenn einige Soldaten am Grat der Schlucht entlangliefen, um ihr den Weg abzuschneiden, würden sie eher an der nördlichen Seite warten. Sie hätten erst in die eine Schlucht hinabsteigen müssen, um zu der westlichen Seite zu gelangen. Wahrscheinlich hatten sie die Abzweigung überhaupt nicht gesehen.
Moekaé schnaufte unter dem Gewicht des Kindes, doch sie kletterte weiter den steilen Pfad bergan. Vor ihr rannten Eiserne-Zähne mit ihren Kindern und ein Stückchen weiter erkannte sie ihre Freundin Büffelkalb-Frau. Sie hinkte stark und schien verletzt zu sein. In der Hand hielt sie einen Revolver. Moekaé beeilte sich, um ihre Freundin einzuholen und zu stützen. Sie balancierte das Kind auf ihrer linken Hüfte und legte den Arm von Büffelkalb-Frau um ihre Schulter. Kleiner-Biber klammerte sich an einen Zipfel ihres Kleides und lief tapfer mit. Er weinte nicht mehr, vielleicht hatte er erkannt, dass dies ohnehin nichts nützte. Büffelkalb-Frau lehnte sich schwer auf Moekaés Schulter und zog mit zusammengepressten Lippen ihr Bein hinterher. „Eine Kugel hat mich erwischt“, stöhnte sie leise.
„Ist es schlimm?“, fragte Moekaé besorgt.
„Nein, aber ich muss die Blutung stoppen. Mir wird schlecht!“
„Noch nicht! Lass uns erst aus dieser Schlucht herauskommen. Die Soldaten sind zu nahe!“, weigerte sich Moekaé.
Ehe sie es verhindern konnte, sackte ihre Freundin zusammen und glitt zu Boden. Ihr Gesicht war aschfahl und Moekaé hatte Angst. Sie wusste, dass die Soldaten ihnen auf den Fersen waren. Immer noch waren Gewehrschüsse zu hören, obwohl sie sich zu entfernen schienen. Moekaé setzte das Kind ab und kniete sich zu ihrer Freundin. „Lass sehen!“, meinte sie hastig. Büffelkalb-Frau schob das Kleid aus blauem Wollstoff hoch, das sich an einer Seite bereits dunkel vom Blut gefärbt hatte, und tastete nach dem Oberschenkel. Eine hässliche, blutige Schramme zog sich quer durch das Fleisch. Die Wunde blutete stark, schien aber eher oberflächlich zu sein.
„Uh!“, stöhnte Büffelkalb-Frau, dann sackte ihr Kopf kraftlos nach hinten. Moekaé wusste, dass nur der Blutverlust dieser Frau die Kraft nahm, denn Büffelkalb-Frau war gewohnt zu kämpfen. Noch im Frühjahr hatte sie beim Kampf am Rosebud ihren Bruder aus der Gefahrenzone gerettet. Sie galt als Kriegerfrau und ihre Tapferkeit war an den Lagerfeuern besungen worden. Das alles zählte nun nicht mehr. Hier waren sie nun die Gejagten und wenn Büffelkalb-Frau nicht aufstand, dann würden die Soldaten über sie herfallen.
Moekaé schlug ihr mit der Hand ins Gesicht und brachte sie so wieder zur Besinnung. „Du kannst hier nicht bleiben!“, warnte sie eindringlich. Energisch riss sie einen Streifen Stoff aus ihrem eigenen Kleid und band damit die Wunde notdürftig ab. Dann half sie ihrer Freundin wieder auf die Beine. „Komm!“, mahnte sie drängend. „Du weißt, was diese Vehoe mit uns Frauen machen!“
Büffelkalb-Frau nickte und humpelte eilig neben Moekaé her. Die Kälte schien den Schmerz zu lindern und sie nahm Kleiner-Biber an der Hand, sodass Moekaé sich besser um das kleine Mädchen kümmern konnte. Moekaé blieb hinter der Freundin, um besser sehen zu können wenn sie eventuell stürzte. Außerdem war der Pfad zu schmal, um nebeneinander zu gehen. Sie war froh, dass auch Büffelkalb-Frau eine Decke dabei hatte, um sich warm zu halten. Von hinten waren von den Frauen nur der Scheitel und die Ansätze der Zöpfe zu sehen. Ansonsten waren die zähen Körper von den Decken verhüllt. Schließlich hatten die beiden Frauen den Grat der Schlucht erreicht und schauten sich vorsichtig um. Auf der einen Seite war ein breites Tal, doch auf der anderen Seite begann dichter Pinienwald. Hastig liefen die beiden Frauen mit den Kindern darauf zu, immer in der Angst, dass doch einige Soldaten sie entdeckten und niederschossen. Schwitzend tauchten sie in den Schutz der Bäume und drangen tiefer in das Dickicht ein. Erschöpft setzten sie sich unter einige Bäume und verhielten sich ruhig.
„Wir gehen in der Nacht weiter“, wisperte Moekaé.
Büffelkalb-Frau nickte wortlos und legte sich auf die Seite. Ihre Hand glitt prüfend über den Verband. „Und wohin gehen wir dann?“, fragte sie. Ihre schwarzen Augen ruhten fast bittend auf dem Gesicht von Moekaé. Die Hand der Kriegerfrau zitterte, als sie die Decke fester um ihren Körper zog.
„Nach Norden! Dort werden wir die anderen finden“, versicherte Moekaé. Sie erkannte, dass Büffelkalb-Frau nicht aus Angst zitterte, sondern wegen der Verletzung.
„Und was machen wir dann?“ Das runde Gesicht von Büffelkalb-Frau zeigte plötzlich Hass und Wut.
Moekaé zuckte die Schultern und machte eine vage Handbewegung. „Vielleicht finden wir ein anderes Dorf? Die Lakota haben im Herbst auch die Büffel gejagt. Sie werden noch in der Nähe sein. Vielleicht finden unsere Männer einen Lagerplatz von ihnen?“
„Hoffentlich“, murmelte Büffelkalb-Frau. „Es ist kalt.“ Sie zitterte nun vor Kälte und schien orientierungslos zu sein.
Moekaé sagte nichts dazu. Mehr Sorgen bereitete ihr, wie sie überhaupt zu einem Dorf gelangten und ob sie dort freundlich aufgenommen wurden. Sie hüllte die beiden Kinder unter ihre Decke und spürte das Zittern. Es war kalt und ohne Decken und Unterschlupf würden sie den Winter hier draußen nicht überleben.
Es war zu gefährlich, ein Feuer zu entfachen, und so hockten sie eng beisammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Moekaé kramte etwas Trockenfleisch aus dem Beutel und alle aßen dankbar. Moekaé kaute es für Rotes-Blatt weich, damit das Kind es besser schlucken konnte. Dann kümmerte sie sich um die Schussverletzung ihrer Freundin. Zum Glück hatte die Blutung aufgehört und so wickelte Moekaé nur einen neuen Stofffetzen um das Bein. Die Dämmerung kam bereits und die beiden Frauen hatten Angst vor der kommenden Nacht. „Sollen wir weitergehen?“, fragte Büffelkalb-Frau. „Vielleicht finden wir eine geschützte Stelle, wo wir Feuer machen können?“
„Nein!“, wehrte Moekaé entschieden ab. „Wir sind noch zu nahe. Vielleicht setzen sie Kundschafter ein, um uns aufzuspüren. Die Soldaten sehen unsere Spuren und auch den aufsteigenden Rauch eines Feuers nicht, aber ihre Kundschafter schon. Wahrscheinlich haben sie Crow- oder Arikara-Scouts dabei. Wie sonst haben sie unser Dorf gefunden?“
Über das Gesicht von Büffelkalb-Frau huschte plötzlich ein Anflug von Scham. „Ich bin nur noch gerannt, ohne mich umzusehen. Ich weiß nicht, was mit meiner Familie ist und ob mein Bruder noch lebt.“
Moekaé kniff die Lippen zusammen. „Meine Schwester ist tot. Ich weiß nicht, was mit meinen Eltern ist. Und mein Mann lag dort hinten bei den Felsen und versuchte die Soldaten aufzuhalten. Ich weiß nicht, ob er noch lebt.“ Sie drückte die Kinder fester an sich und seufzte tief. „Morgen gehen wir weiter nach Norden und treffen hoffentlich auf andere.“
Es wurde dunkel und die Frauen dösten eine Weile. Dann wurde die Kälte unerträglich. Die Kinder jammerten und Moekaé fühlte mit ihren Händen die Kälte in den kleinen Körpern. „Wir müssen weiter!“, befahl sie energisch.
„Jetzt?“, flüsterte Büffelkalb-Frau. Die Verletzung raubte ihr die Kraft.
„Ja, wir werden erfrieren, wenn wir uns nicht bewegen!“
Wieder rafften sich die Frauen auf und Moekaé band sich Rotes-Blatt vor sich an die Brust, um sie mit ihrer Decke warm zu halten. Kleiner-Biber schlotterte vor Kälte, aber sie hatte nichts, um ihn warm zu halten. „Geh mit Büffelkalb-Frau zusammen! Wenn du dich bewegst, wird dir bald wärmer!“
Kleiner-Biber kroch unter die Decke von Büffelkalb-Frau und stolperte müde neben ihr her. Seine Füße waren Klumpen aus Eis und er konnte kaum noch auftreten. „Meine Füße tun so weh!“, klagte er.
„Gleich wird es besser!“, versuchte Moekaé ihn zu trösten. Vorsichtig tasteten sich die Frauen durch die Dunkelheit, dann wurde der Wald wieder lichter und sie sahen die Sterne am Himmel. Trotzdem war es gefährlich, denn in der Dunkelheit konnte man kaum die Hand vor den Augen erkennen. Mehrmals stolperten sie über unebene Stellen und Gestrüpp. Es war still und so suchte Moekaé wieder den Rand des Waldes, weil dort das Vorwärtskommen leichter war. Niemand würde sie entdecken, solange sie im Schutz der Dunkelheit liefen, aber die Sicht wäre unter dem Licht der Sterne etwas besser. Kleiner-Biber setzte sich schließlich auf den Boden und weigerte sich weiterzugehen. Moekaé sah ein, dass sie eine Pause machen mussten und kniete sich neben das frierende Kind. Vorsichtig zog sie ihm die Mokassins aus und rieb seine eisigen Füße. Dann steckte sie die kleinen Füße unter ihr Kleid und drückte sie zum Wärmen gegen ihren Bauch. „Besser?“, fragte sie.
Kleiner-Biber nickte und schaute auf seine schlafende Schwester. „Bei dir ist es warm!“
Moekaé fühlte nach den Füßen von Rotes-Blatt und stellte fest, dass sie warm waren. Sie lächelte: „Ja, bei mir ist es warm.“ Dann wandte sie sich an ihre Freundin: „Du könntest Rotes-Blatt tragen. Sie ist nicht so schwer. Dann kann ich Kleiner-Biber unter meiner Decke tragen!“
Büffelkalb-Frau nickte nur. Sie wusste, dass es um das Überleben der Kinder ging.
Nach einer Weile brachen sie wieder auf. Rotes-Blatt hing nun in einem Tuch festgebunden vor Büffelkalb-Frau und Kleiner-Biber saß in die warme Decke gehüllt auf dem Rücken von Moekaé. Er wurde schwer und Moekaé kam nur noch langsam voran. Immer noch war es stockdunkel und der Morgen fern.
Den Rest der Nacht liefen die Frauen am Rand des Waldes dahin, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sie hatten kein Gefühl mehr, welche Entfernung sie zurückgelegt hatten. Sie konnten nur hoffen, dass die Soldaten die Suche aufgegeben hatten.
Sie kuschelten sich unter einer Pinie zusammen und schliefen eng umschlungen ein. Die ersten Strahlen der Morgensonne tanzten über den Waldboden, brachen sich in den Ästen und wurden von glitzernden Eiskristallen an der dunklen Rinde reflektiert.
Heskovetse
Heskovetse war hinter dem Felsen in Deckung gegangen und gab Schuss um Schuss auf die Soldaten ab. Er versuchte, seine Munition nicht zu verschwenden und zielte genau. Immer wieder sackte ein Körper zusammen und die Soldaten wurden vorsichtiger. Querschläger jaulten durch das Tal, dann nahm der Beschuss ab. Heskovetse wusste, dass die Soldaten versuchen würden, ihn zu umgehen, und gab seine Position auf. Mit einem Tippen auf die Schulter gab er auch Hohes-Pferd zu verstehen, dass er sich lieber zurückziehen sollte. „Schnell, in den Wald!“, zischte er.
Heskovetse feuerte noch einige Schüsse in Richtung der Soldaten, dann rannten die beiden Krieger den Pfad entlang. Auch sie entdeckten die schmale Schlucht, die sich westwärts wandte, und kletterten in ihr empor. Sie liefen keuchend, so schnell sie konnten, und ließen sich schnaufend in das Gras fallen, als sie schließlich den Grad erreichten. Durch das breite Tal stapften bereits Soldaten, ihre Gewehre im Anschlag, und Heskovetse wusste, dass die Frauen wahrscheinlich Deckung im Wald suchen würden. Wieder nahm er die Soldaten unter Beschuss, damit sie nicht den Wald erreichen konnten. Es war ihm gleichgültig, ob sie ihn einkesselten oder abknallten, alles was zählte war, den Frauen einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Er wusste, dass Moekaé vor ihm war und noch lebte. Für sie zu sterben, war vielleicht der einzige Sinn, den sein Leben noch hatte. Rauch stieg vor seinen Augen auf und nahm ihm die Sicht. Er kniff die Augen zusammen und schoss auf die vereinzelten Schatten, die manchmal vor ihm auftauchten.
Die Soldaten hatten Abstand davon genommen, den Wald zu erreichen, und versuchten nun, die Krieger zu überwältigen. Sie wussten nicht, dass es nur zwei waren, die ihnen mit dem Mut der Verzweiflung ihre Kugeln entgegenschickten.
„Ich habe fast keine Munition mehr!“, rief Hohes-Pferd warnend.
Heskovetse nickte und gab das Zeichen, dass der Krieger sich zurückziehen sollte. „Ich halte sie noch eine Weile auf und folge dir dann!“
Heskovetse feuerte mehrere Schüsse hintereinander, damit Hohes-Pferd in einer kleinen Rinne verschwinden konnte. Kriechend bewegte sich der Krieger auf den Wald zu und verschwand schließlich zwischen den Bäumen. Heskovetse grinste, denn niemand hatte seinen Freund gesehen. Wieder gab er mehrere Schüsse ab, dann erhielt er plötzlich Unterstützung von der anderen Seite des Tals. Auch dort waren offensichtlich Krieger in Stellung gegangen und nahmen die Soldaten unter Beschuss. Dort brach heilloses Durcheinander aus. Wenig geordnet zogen sich die Soldaten zurück und sammelten sich am Ende des Tales, um sich zu beraten. Heskovetse nutzte die Gelegenheit, um ebenfalls zu verschwinden. Geduckt rannte er die Rinne entlang und tauchte schließlich mit einem Satz unter die Bäume. Hohes-Pferd wartete bereits auf ihn und deutete mit seinen Lippen zu der anderen Seite des Tales. „Sie werden die Soldaten noch ein bisschen aufhalten. Lass uns das Tal umgehen und zu ihnen stoßen. Gemeinsam sind wir stärker!“
Heskovetse nickte und im Dauerlauf drangen die beiden tiefer in den Wald vor, um nach einem Weg zu suchen, der sie an der anderen Seite des Tales wieder zu ihren Freunden führen würde. Hin und wieder erklang Gewehrfeuer, aber sie konnten nicht sagen, ob es die Soldaten oder die Cheyenne waren, die dort schossen.
Die beiden liefen im lockeren Dauerlauf durch den Wald und fühlten die Wärme, die in ihnen hochstieg. Heskovetse hatte die wärmende Decke längst während der Kämpfe verloren und die Kälte hatte nach ihm gegriffen, als er schießend am Boden lag. Selbst die blaue Uniformjacke bot keinen ausreichenden Schutz gegen die unbarmherzige Kälte. Schnee lag in der Luft und er wusste, dass es bald schneien würde. Dann würde es noch schwerer werden, ohne Schutz hier draußen zu überleben. Die Finger waren bereits blau und manchmal hatte er versucht, die Hände mit seinem Atem zu wärmen. Jetzt strömte das Blut schneller durch die Adern und brachte das Gefühl in die tauben Finger und Füße zurück.
Zum ersten Mal konnte Heskovetse ihre Situation überdenken. Überhaupt wunderte es ihn, dass er noch am Leben war. Den ganzen Tag hatte er nichts anderes getan, als den Rückzug der Frauen und Kinder zu decken. Schießen, laufen, in Deckung gehen, schießen. Er hatte mitangesehen, wie ihr Dorf in Flammen aufgegangen war, und war hilflos vor Wut zur Untätigkeit verdammt gewesen. Er hatte miterlebt, wie Freunde und Familienangehörige gestorben waren, und hatte nicht einmal Zeit gehabt, Trauer zu empfinden. Auch jetzt ließ er dieses Gefühl nicht zu. Für Trauer war jetzt keine Zeit. In seinen Gedanken wirbelte es, als er an die nächsten Schritte dachte, die nun zu tun waren. Sie mussten die Frauen und Kinder sammeln, vielleicht einige Ponys einfangen und sich zu den nächsten Dörfern durchschlagen. Sein Atem formte weiße Wolken vor seinem Gesicht und erinnerte ihn daran, dass er vollkommen ungeschützt war. Sein Tipi mit all den Vorräten und der Kleidung darin waren verloren und die Ponyherde in alle Winde verstreut, wenn die Soldaten sie nicht zusammengeschossen hatten.
Kurz dachte Heskovetse an seinen Medizinbeutel und den Talisman aus Hirschhorn. Beides hatte ihm spirituelle Kraft verliehen und ihn immer daran erinnert, was es hieß, ein Cheyenne-Krieger zu sein. Immer ging es im Kampf um Ehre und Tapferkeit, doch all diese Werte waren plötzlich nichtig geworden. Die Weißen kannten keine Gnade. Die Grausamkeit, mit der die Soldaten auch gegen Frauen und Kinder vorgingen, war so unfassbar und bedrohlich, dass die Cheyenne langsam an den eigenen Untergang glaubten. Seitdem die heilige Büffelhaube im Zorn von einer eifersüchtigen Frau zerstört worden war, hatte das Glück die Cheyenne verlassen. Sie hatten das Wohlwollen Mahéos verwirkt. Wie sollten sie nun weiterleben? Sollten sie sich dem Schicksal fügen? Aufgeben?
Seltsam. Heskovetse hatte nach der Schlacht am Little-Bighorn ein solches Hochgefühl erlebt. Sie hatten den verhassten Weißen eine Niederlage erteilt und Custer getötet. Doch keine fünf Monate später hatten sie nun dafür büßen müssen und es waren hauptsächlich Frauen und Kinder gewesen, die im Kugelhagel der Soldaten gestorben waren. Heskovetse dachte an Moekaé, die hoffentlich irgendwo in diesem Wald Zuflucht gefunden hatte. Ob die beiden Kinder noch lebten? Es war selbstverständlich, dass er nun für die Kinder verantwortlich war. Er hatte gesehen, wie seine Schwägerin gestorben war, und er hatte doch nichts tun können. Wie schon so oft.
Vor ihm hielt Hohes-Pferd in seinem Lauf inne und deutete auf den Boden. „Sieh, zwei Frauen und ein Kind sind hier gelaufen!“
Heskovetse nickte und folgte den Spuren. „Sie sind allein. Lass uns ihnen folgen. Vielleicht ist es Moekaé.“
Es wurde dunkel und so wurde es schwierig, noch irgendwelche Spuren zu finden. Aber die beiden wussten, dass die Frauen einen Weg in nördlicher Richtung suchen würden. Hinter ihnen war es still geworden. Vorsichtig wechselten sie die Richtung und suchten die Krieger am Ende des Tales. Nichts. Auch die Soldaten hatten sich offensichtlich zurückgezogen und die Cheyenne ihrem Schicksal überlassen. „Wir gehen weiter nach Norden“, meinte Hohes-Pferd.
„Ja, aber wir bleiben am Waldrand. Die anderen werden auch einen Weg nach Norden suchen. Vielleicht haben die Lakota ihre Dörfer dort.“
Wieder machten sich die Männer auf den Weg. Manchmal gingen sie langsam, doch bereits nach kurzer Zeit griff die Kälte nach ihnen und so setzten sie ihren Dauerlauf fort, wenn es der unebene Boden zuließ. Ihre Schatten verschmolzen mit der dunklen Wand des Waldes und ihre Blicke waren auf den Boden geheftet, um Unebenheiten zu erahnen. Heskovetse dachte an Moekaé. Er war froh, dass sie noch kein Kind hatten und auch, dass Moekaé kein Kind unter ihrem Herzen trug. Dann dachte er an Rotes-Blatt und Kleiner-Biber, die so plötzlich ihre Mutter verloren hatten. Er war nun für die zwei Kinder verantwortlich. Wer wohl noch entkommen war? Er zählte erst fünfundzwanzig Winter und er dachte an die unzähligen Menschen, die bereits der weißen Gier nach Land zum Opfer gefallen waren. Die älteren Männer hatten ihm noch von den alten, ehrenvollen Kriegszügen erzählt. Wo es üblich war, Ponys zu rauben, und nur die Geschicklichkeit zählte. Mit leuchtenden Augen hatten sie von ihren Heldentaten erzählt. Eine Attacke gegen den Feind reiten und ihn mit dem Coupstick berühren, das waren die Geschichten, die ihm als Kind erzählt worden waren. Immer hatte er davon geträumt, ebensolche Heldentaten zu begehen. Sich im Kampf Mann gegen Mann mit dem Feind zu messen. Aber die Weißen hatten keine Moral. Sie kamen mit ihrer überlegenen Feuerkraft und töteten erbarmungslos. In ihm brodelte ein solcher Hass, dass er Mühe hatte zu atmen und kurz anhielt, um zu verschnaufen.
Die Sterne verblassten und am Horizont ließ ein heller Streifen den kommenden Tag erahnen. Bald würde die Sonne aufgehen und er hoffte, dann seine Frau zu finden. Sie bewegten sich nun vorsichtiger, denn die Helligkeit bot keinen so großen Schutz mehr wie zuvor die Dunkelheit. Alles blieb still, erstarrt in der ersten Kälte des Winters. Nicht einmal Vögel zwitscherten. Frierend bewegten sich die beiden nun langsam und vorsichtig vorwärts. In der einen Hand hielten sie ihre Gewehre, die andere Hand hatten sie unter die Hemden gesteckt, um sie wenigstens etwas zu wärmen.
Wieder war es Hohes-Pferd, der mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf einige Fußabdrücke im Raureif des Morgens zeigte. Hier war erst vor kurzem jemand entlanggelaufen. Heskovetses Gesicht entspannte sich, als er mit den Augen der Spur folgte und unter Pinien einige Gestalten liegen sah. Sie waren in dunkle Decken gehüllt und hatten sich eng aneinandergekuschelt. Er drehte ab und bewegte sich in Richtung der Gruppe.
Eine der Gestalten richtete sich erschrocken auf, hatte das leichte Knirschen unter seinen Mokassins gehört. Er erkannte Moekaé und lächelte erleichtert. Die Furcht in ihren Augen verschwand und wich einem erleichterten Gesichtsausdruck. Sie blieb sitzen, um das Kind an ihrer Seite nicht zu wecken.
„Bist du verletzt?“, wisperte sie besorgt. Auch die andere Frau richtete sich ein wenig auf und blickte ihm erleichtert entgegen. „Wo sind die Soldaten?“, fragte sie.
„Die Soldaten sind weit hinter uns. Ich glaube nicht, dass sie uns folgen. Dafür ist es ihnen zu kalt. Aber wir können nicht zurück. Sie haben das Dorf und alles darin verbrannt.“
Moekaé nickte. „Wir haben das Feuer gesehen.“ Ihre Stimme war fast tonlos. „Wo sind die anderen?“
Heskovetse hob bedauernd die Schultern. „Wir haben niemanden gesehen. Die Überlebenden werden nach Norden gehen. Wir müssen ein anderes Dorf finden, oder wir werden sterben.“ Er stellte das Gewehr gegen einen Baumstamm und steckte seine kalten Hände unter sein Hemd. Moekaé wickelte sich aus ihrer Decke und reichte sie ihrem Mann. „Hier! Wärme dich etwas auf! Soll ich ein Feuer machen?“
Heskovetse nagte an seinen Lippen, dann schüttelte er den Kopf. „Zu gefährlich!“
Er setzte sich mit Hohes-Pferd unter eine Pinie und schmiegte sich eng an seinen Freund, während Büffelkalb-Frau und Moekaé die andere Decke teilten. Kleiner-Biber setzte sich ebenfalls zu den Männern und die Decke reichte nur knapp für die drei Personen.
Heskovetse musterte seinen Freund von der Seite und kniff die Lippen zusammen. Hohes-Pferd war deutlich unterkühlt und sein dunkles Gesicht wirkte stumpf und fleckig. Sein Freund starrte fast blicklos vor sich hin und schien zum ersten Mal an all die Menschen zu denken, die gestorben waren. Heskovetse senkte den Blick und ließ seinen Freund in der Trauer allein. Sie alle hatten schwere Verluste zu verkraften.
Sie schliefen erschöpft ein, während leichter Reif ihre Spuren verdeckte und den Wald in eine glitzernde Zauberwelt verwandelte.
Am Spätnachmittag aßen sie Trockenfleisch, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Die Sonne hatte sie etwas gewärmt, doch nun fürchteten sie sich vor der Kälte der Nacht. Die Männer gaben den Frauen die Decke zurück und machten sich im Dauerlauf auf den Weg. Vorsichtig liefen sie nach Norden und sicherten wachsam die Umgebung, während die Frauen und Kinder ihrer Spur folgten. Unterwegs stießen die beiden Männer auf Eiserne-Zähne und ihre Kinder und brachten sie zu der Gruppe zurück. Kurze Zeit später fanden sie eine weitere Frau und einen Krieger. Es war Schwarzer-Kojote, der eine Schusswunde am Arm hatte, die behandelt werden musste. Sie versorgten die Wunde und Heskovetse musterte den Krieger schweigsam. Auch er trug nur das Nötigste am Leib und war unterkühlt. Sie brauchten dringend Decken! In der Dämmerung fanden die beiden Krieger noch zwei kleine Mädchen, die jämmerlich zu weinen anfingen, als sie endlich gefunden wurden. Sie wussten nicht, ob sonst jemand überlebt hatte. Heskovetse fühlte eine solche Wut in sich aufsteigen, dass er kaum in der Lage war, die beiden Kinder zu trösten. Was hätte er auch sagen sollen? Die beiden Mädchen waren zumindest in warme Decken gehüllt und schienen unverletzt zu sein. Vertrauensvoll schlossen sie sich der Gruppe an und klammerten sich an Büffelkalb-Frau, um dort etwas Trost zu finden. Über ihre Wangen liefen lautlose Tränen der unendlichen Verlassenheit und Trauer. Sie waren nicht fähig, das Erlebte in Worte zu fassen, und so drückte Büffelkalb-Frau die Kinder lediglich fest an sich. Wie sollten Kinder so etwas überhaupt verstehen?
Heskovetse drängte die kleine Gruppe unbarmherzig zur Eile an. Im Dunkeln kamen sie nicht schnell voran, aber es war sicherer, im Schutz der Dunkelheit weiterzugehen. Wolken hatten sich vor die Sterne geschoben und es hatte begonnen zu schneien. Wenn erst dichter Schnee lag, wäre ein Vorwärtskommen noch schwieriger. Moekaé hatte Kleiner-Biber wieder Huckepack genommen und stolperte manchmal unter dem Gewicht des Kindes, aber er konnte es nicht ändern. Seine Aufgabe war es, die Frauen und Kinder zu schützen und einen sicheren Weg für sie zu finden.
Die ganze Nacht liefen die Menschen nach Norden, nur manchmal machten sie eine kurze Pause. Schweigend und erschöpft saßen sie dann unter den Bäumen, mit eisigen Wangen und Füßen. Schneefall setzte ein und die Decken boten keinen ausreichenden Schutz mehr. Besonders die Krieger litten unter der eisigen Kälte. Aber auch Rotes-Blatt war merkwürdig still und rührte sich kaum noch im Arm von Büffelkalb-Frau. „Ich kann sie nicht warmhalten!“, jammerte Büffelkalb-Frau hilflos.
„Wenn es Tag wird, machen wir ein Feuer“, erklärte Heskovetse. „Im Tageslicht wird uns der Schein des Feuers nicht verraten, aber jetzt ist es noch zu dunkel.“
Schweigend machten sie sich wieder auf den Weg. Die Bewegung war besser als das Herumsitzen und half gegen die Kälte. Alle sehnten den Sonnenaufgang herbei und hofften auf ein wärmendes Feuer. Kurz vor der Morgendämmerung fand Heskovetse eine Gruppe verschreckter Ponys. Leise lockend näherte er sich den vier Tieren und griff schließlich nach einem herabhängenden Seil. „Ganz ruhig!“, flüsterte er beruhigend. Sein Herz schlug höher vor Freude, denn mit den Ponys würden sie nun schneller vorankommen. Außerdem konnte man sich an ihren Körpern wärmen oder zur Not das Fleisch essen. Die Ponys waren zutraulich und ausgesprochen froh, wieder menschliche Gesellschaft gefunden zu haben. Er führte die Ponys zu den anderen zurück und erfreute sich an den dankbaren Gesichtern. Dann ordnete er eine Rast an. „Sucht trockenes Holz! Ich muss meine Füße wärmen!“
Die Frauen führten die Ponys auf eine kleine Lichtung und banden ihnen die Vorderbeine zusammen, damit sie nicht weglaufen, aber trotzdem grasen konnten. Unter den Bäumen lag noch kein Schnee und die Pferde rupften das gelbliche Gras. Dann sammelten die Frauen trockene Zweige und entzündeten ein kleines Feuer, während die Männer einige Äste zu einem Windschutz aufschichteten. Schließlich hockten alle um das Feuer und streckten ihre Füße in Richtung der angenehmen Wärme. Auch Rotes-Blatt wurde wieder lebhafter und verlangte nach etwas zu essen. Moekaé sah auf ihre schwindenden Vorräte und teilte gerecht das letzte Trockenfleisch. Wortlos schüttelten die Männer die Köpfe und deuteten an, dass sie das Fleisch lieber für die Kinder aufsparen sollte. So fütterte Moekaé nur Kleiner-Biber, Rotes-Blatt, die beiden Mädchen und die Kinder von Eiserne-Zähne, während die Erwachsenen auf Nahrung verzichteten. Die Krieger waren es gewohnt zu fasten. Sie genossen es, ihre Hände und Füße zu wärmen. Die Frauen schichteten Zweige am Boden auf, um sich gegen die Kälte zu schützen, und schließlich kuschelten sich alle unter die wenigen Decken, um etwas zu ruhen.
Im Laufe des Tages stießen weitere Menschen zu ihnen, sodass die Gruppe auf über zwanzig Personen wuchs. Unter den Neuankömmlingen waren auch die Tante der Mädchen und eine Verwandte von Büffelkalb-Frau, sodass sich stille Freude ausbreitete. Trotzdem blieb die Angst, wer wohl noch überlebt hatte oder doch den Kugeln der Soldaten zum Opfer gefallen war.
„Solange unsere Frauen und Mädchen überleben, wird unser Volk leben!“, überlegte Heskovetse laut.
„Nicht, wenn die Soldaten über sie herfallen!“, widersprach Hohes-Pferd. Sein hageres Gesicht war vom Hass verzerrt. Er lud sein Gewehr und zählte die Kugeln, die er noch übrig hatte. Jede Kugel bedeutete einen toten Soldaten.
Heskovetse senkte den Blick und rieb seine steifen Finger. Vielleicht hätte er schon längst dafür sorgen sollen, dass in Moekaés Bauch sein Kind heranwuchs und nicht das Kind eines Soldaten, wenn er seine Frau nicht mehr schützen konnte. Warum hatte er so lange gezögert? Sinnend musterte Heskovetse seine Frau, die unter der Decke kaum zu sehen war. Rotes-Blatt hatte sich an sie gekuschelt, so als wäre Moekaé bereits die Mutter. Moekaé war seit dem Frühjahr seine Frau und er hatte erst zweimal Liebe mit ihr gemacht. Natürlich konnte sich so der Bauch einer Frau nicht runden. Aber er war abgelenkt gewesen. Ständig hatten die Blue-Soldiers zu Kämpfen aufgerufen und er war ihrem Ruf willig gefolgt. Dann hatte die Büffeljagd seine ganze Aufmerksamkeit gefordert und seine Frau war bis in die Dunkelheit hinein beschäftigt gewesen, das Fleisch und die Felle zu verarbeiten. Sie hatte nach Blut und Schweiß gerochen und war abends todmüde in die Felle gefallen. Für was? All diese Dinge waren nun verloren. Ein Kind in ihrem Bauch wäre etwas Bleibendes. Etwas, für das es sich zu kämpfen lohnen würde. In den Kindern lag die Zukunft des Volkes. Er musste dafür sorgen, dass wenigstens sein Neffe und seine Nichte überlebten. Heskovetse stützte sinnend seinen Kopf in die Hände und stieß einen Zweig in das Feuer. Die Welt änderte sich so schnell. Überall schossen die Siedlungen der Weißen aus dem Boden und ihre Ackergeräte zerstörten die Mutter Erde. Zäune und Koppeln grenzten das Land ein und ließen keinen Platz mehr für die Cheyenne und die wilden Tiere dieses Landes. Wohin sollten sie gehen? Mit plötzlicher Klarheit erkannte er, dass es keinen Ort mehr gab, wo sie ihr bisheriges Leben fortsetzen konnten. Die Büffel verschwanden ebenso wie das andere Wild und die Weißen schossen auf jeden Indianer, der sich zeigte. Wut erfüllte ihn. Grenzenloser Hass. Es waren ihre Jagdgründe, die ihnen von Mahéo anvertraut worden waren! Die Weißen hatten hier nichts zu suchen. Seine Zehen brannten und er wusste, dass er leichte Erfrierungen hatte. Er konnte es nicht ändern. Hohes-Pferd und den anderen ging es genauso. Es würde besser werden, wenn sie reiten konnten, denn dann würde der Bauch des Ponys sie wärmen.
In der Dunkelheit brachen sie wieder auf. Alle hatten sich erholt und das Feuer hatte sie erwärmt. Noch war der Hunger erträglich und die Kinder schienen etwas kräftiger zu sein. Sie saßen auf den Ponys und hielten sich an der Mähne fest. Heskovetse verzichtete auf ein Pony und lief wieder mit Hohes-Pferd im Dauerlauf voran. Der verletzte Krieger hockte auf einem Pferd und hatte Kleiner-Biber vor sich. Heskovetse war froh darum, denn nun musste Moekaé das Kind nicht mühsam auf ihrem Rücken tragen. Sie führte ein Pony mit zwei Kindern und machte einen erholten Eindruck.
In der Nacht erreichten sie offene Prärie und nutzten die Dunkelheit, um weiterzugehen. Dieses Mal wandten sie sich nach Osten, in Richtung der Black Hills. Entweder sie fanden ein Dorf der Lakota oder sie mussten sich doch in Camp Robinson den Soldaten ergeben. Der Wind peitschte ungebremst über das Land und die Menschen liefen mit gebeugten Häuptern. Immer wieder rasteten sie an den Flussläufen und wärmten sich an kleinen Feuern. Einmal schlachteten sie ein Pony, weil der Hunger zu groß wurde. Die Frauen rösteten das Fleisch und teilten dann das übrige Fleisch als Wegzehrung auf. Zum ersten Mal seit Tagen konnten sich alle wieder sattessen und die Kinder verbrannten sich fast die Finger, als sie das heiße Fleisch in ihre Münder stopften.
Eine weitere Gruppe mit Flüchtlingen stieß zu ihnen und sofort teilten die Frauen das Fleisch auch mit diesen Menschen. Die Situation war verzweifelt und noch hatten sie kein anderes Dorf gefunden. In der Nacht tobte ein Schneesturm und sie schlachteten ein weiteres Pony, nahmen die Gedärme heraus und steckten ein Baby und Rotes-Blatt in die warme Bauchhöhle, um die Kinder zu wärmen. Die anderen versteckten sich unter den Decken und ließen sich dann einschneien, um so die Wärme zu halten. Alle hatten am Morgen Erfrierungen an den Füßen und es wurde schwierig, die Kinder aus dem Bauch des Ponys hervorzuholen, weil es steifgefroren war. Doch die beiden Kinder lebten und so machten sich die Menschen wieder auf den Weg. Die beiden anderen Pferde waren im Schneesturm davongelaufen und so mussten nun alle zu Fuß gehen. Es war mühsam, weil der Schnee das Vorwärtskommen erschwerte. Die Cheyenne liefen nun tagsüber, weil es im Grunde gleichgültig war, ob jemand sie entdeckte. Einen weiteren Schneesturm würde keiner überleben.
Der eisige Wind tobte erbarmungslos um die Menschen und besonders die Kinder litten unter der grimmigen Kälte. Heskovetse hatte sich in der Not das Fell des Ponys abgezogen und trug es nun um seine Schultern. Nach außen war es blutig und steif, aber es hielt zumindest den Wind ab. Niemand hatte mehr die Kraft, als Kundschafter vorauszulaufen.
Gegen Abend war das Baby in den Armen der Mutter erfroren. Selbst unter der Decke war es für das Neugeborene zu kalt gewesen. Niemand weinte, niemand klagte. Selbst die Mutter nicht. Sie legten das Kind in die Astgabel eines abgestorbenen Baumes und gingen einfach weiter. Es war nun bei Mahéo. Dort war es warm und sonnig und all die Verwandten würden es mit offenen Armen aufnehmen. Eine Frau brach zusammen und weigerte sich weiterzugehen. Auch sie sehnte sich nach Frieden und Wärme. Die Menschen gingen mit gebeugten Köpfen an ihr vorbei und ließen sie zurück. Wahrscheinlich würde es ihnen in Kürze ebenso ergehen. Längst war Moekaé zu erschöpft, um noch auf andere Menschen zu achten. Ihre Füße waren Klumpen des Schmerzes und schienen gar nicht mehr zu ihrem Körper zu gehören.
Heskovetse und Hohes-Pferd trieben die Menschen so gut es ging weiter. Wer jetzt aufgab, dem konnten sie nicht helfen. Heskovetse hatte Kleiner-Biber auf seinen Rücken gebunden, weil das Kind nicht mehr laufen konnte. Der Umhang aus dem Fell des Ponys bot kaum Schutz, denn der Wind fasste darunter und ließ alles erstarren. Heskovetse wusste, dass der Junge am Erfrieren war. Er zitterte nicht mehr und das war ein schlechtes Zeichen. Rotes-Blatt hing wieder vor der Brust von Moekaé und er hoffte, dass dies das Kind ein wenig wärmen würde. Sie schleppten sich die ganze Nacht vorwärts, mühsam einen Schritt vor den anderen setzend. Irgendwann merkte Heskovetse, dass der Junge aufgehört hatte zu atmen. Seine Arme waren bereits steif und er hatte Mühe, ihn von der Schulter zu nehmen. Sanft legte er das Kind in den Schnee, betrachtete das starre Gesicht mit den vereisten Wimpern. Er war froh, dass er noch keinen Sohn hatte, den er auf diese Weise zurücklassen musste, doch die Wut war die gleiche. Das Zelt war warm gewesen, gefüllt mit Vorräten, genauso wie sein eigenes, ehe die Soldaten gekommen waren. Der Junge hätte nicht sterben müssen. Moekaé hielt neben ihn und starrte schweigend auf ihren Neffen. Ihr Gesicht war eine starre Maske, unfähig noch irgendein Gefühl auszudrücken. Heskovetse tastete sanft nach ihrer Schulter. „Lebt Rotes-Blatt noch?“
Moekaé nickte und erst jetzt sah Heskovetse im fahlen Licht des Mondes die Eiskristalle, die in ihren Wimpern hingen. Menschen drängten sich an ihnen vorbei, die keine Augen für den kleinen Jungen hatten, der dort im Schnee lag. Auch er war nun bei Mahéo.
„Komm“, flüsterte Heskovetse mit rauer Stimme. „Wir müssen weiter!“
Moekaé setzte sich schlurfend in Bewegung und Heskovetse folgte ihr. Sein Rücken, der vorher durch den Körper des Jungen geschützt worden war, fröstelte nun. Immer noch fiel Schnee und die ungeschützten Menschen hatten nichts mehr, um sich gegen die Natur zu wehren.
Gegen Morgen erreichten sie schließlich ein weites Tal, das von mehreren Hügeln gesäumt wurde. Ein Späher stand auf dem höchsten Felsen und stieß einen Warnruf aus. Nur mühsam konnte Heskovetse den Kopf heben, doch dann blieb er abrupt stehen und hob die Hand. Zelte! Dort vorne standen Zelte. Wärme! Sein einziger Gedanke galt dem Feuer, das bestimmt in diesen Zelten brennen würde, und ganz kurz traf ihn die Trauer, dass der Junge nicht ein wenig länger überlebt hatte. Jetzt hätte man ihn am Feuer wärmen können! Aber vielleicht war es noch nicht zu spät für Rotes-Blatt, Moekaé und die anderen. Einige Krieger kamen misstrauisch auf ihn zu und er erkannte, dass es Lakota waren. Sie waren vollkommen überrascht, die Flüchtlinge zu sehen. Schnell breitete sich das Entsetzen in den Gesichtern der Männer aus, als sie sahen, in welch verheerendem Zustand die Ankömmlinge waren. Frauen wurden gestützt, Kinder im Laufschritt in die Zelte getragen und den Männern noch auf den letzten Schritten Decken um die Schultern gelegt.
Heskovetse blieb bei Moekaé und ließ sich mit seiner Frau in ein Zelt führen. „Welches Dorf?“, fragte er in der Sprache der Lakota.
„Crazy-Horse!“, lautete die freundliche Antwort.
Heskovetse atmete erleichtert auf, obwohl es im Grunde gleichgültig war, von wem sie gerettet wurden. Aber noch im Sommer hatten sie zusammen mit Crazy-Horse gekämpft und er wusste, dass sie hier in Sicherheit waren. Crazy-Horse würde niemals seine Verbündeten verraten.
Er ließ es zu, dass eine ältere Frau ihm die steifgefrorene Kleidung auszog und begann, seine eisigen Füße zu massieren. Er saß da wie benommen, unfähig noch irgendetwas zu tun. Sein Gesicht war eine eingefallene Maske und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Nur nebenbei registrierte er, dass Rotes-Blatt weinte, als sie von Moekaé getrennt wurde.
Eine füllige Frau packte das Kind in warme Decken und fütterte es mit einer warmen Suppe. Dem kleinen Mädchen schien es gut zu gehen, denn hungrig verlangte es nach mehr. Moekaé wimmerte unterdrückt, als das Blut in ihren Füßen zu zirkulieren begann. Er konnte sehen, dass ihre Füße blau waren, zum Teil schon mit den verräterischen Zeichen von bleibenden Erfrierungen, aber seine Füße sahen bestimmt auch nicht besser aus. Sein Rücken zeigte ebenfalls diese Spuren und die ältere Frau begann damit, ihn mit Bärenfett zu massieren. Mühsam knetete Heskovetse seine Finger und überlegte, ob er jemals wieder in der Lage sein würde, ein Gewehr abzufeuern. Jemand reichte ihm eine Schale mit Suppe und er wärmte seine Hände, indem er die Schale einfach festhielt. Zumindest seine Nase schien in Ordnung zu sein, denn der Geruch nach Fleisch war köstlich. Vorsichtig setzte er die Schale an die Lippen und begann in kleinen Zügen zu trinken. Dann nahm er den Löffel und schöpfte auch das Fleisch aus der Suppe. Niemand hatte bisher gesprochen. Nur die Frau plapperte beruhigend auf Rotes-Blatt ein. Das Mädchen verstand kein Lakota, aber die Stimme war so wohltuend, dass es sich vertrauensvoll an die Frau kuschelte und sich füttern ließ.
Heskovetse hörte von draußen Hufgetrappel und hob fragend die Augenbrauen. Ein Mann lächelte und machte eine beruhigende Handbewegung. „Sie suchen die Umgebung nach weiteren Überlebenden ab“, erklärte er.
„Gut!“, seufzte Heskovetse erleichtert.
„Aus wessen Dorf seid ihr?“, fragte der Lakota.
„Dull-Knife!“, antwortete Heskovetse. „Soldaten fanden unser Wintercamp und haben es vernichtet. Ich weiß nicht, wer überlebt hat.“ Seine Stimme war müde und brüchig.
„Wir werden sie finden!“, versicherte der Mann. „Ich bin Kickender-Bär und das sind meine Frau und meine Mutter. Dort hinten sind meine Kinder.“
„Ich bin Heskovetse und das ist meine Frau Moekaé“, murmelte Heskovetse. Es war nicht üblich, sofort seine Namen zu sagen, aber es war klar, dass sie eine Weile hier bleiben würden, und er wollte höflich sein.
„Ruht euch aus. Wir haben nicht viele Vorräte, denn die Soldaten haben uns seit dem Sommer nicht in Ruhe gelassen, aber wir werden teilen, was wir haben!“ Er wedelte auffordernd mit der Hand und gab den Frauen ein Zeichen, dass sie frische Kleidung heraussuchen sollten.
„Nia’isch!“, bedankte sich Heskovetse. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr er stinken musste. Seit Tagen hatten sie sich nicht waschen und die Kleidung wechseln können.
Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn und er bat mit einer Handbewegung, dass er schlafen wollte. Die Frauen richteten den Flüchtlingen einige Büffeldecken und dankbar kuschelte sich Heskovetse in die warmen Felle. Seine Augenlider waren schwer und er konnte sie keinen Augenblick mehr offen halten. Moekaé lag neben ihm und er hörte an ihrem regelmäßigen Atem, dass sie längst eingeschlafen war. Leises Murmeln war zu hören, doch es war beruhigend und einschläfernd.
Crazy-Horse
Heskovetse schlief einen ganzen Tag und eine Nacht, erst dann wurde er von den Stimmen im Tipi wieder geweckt. Auch Moekaé hatte sich nicht gerührt und fieberte leicht. Rotes-Blatt dagegen saß bei den Kindern und hatte sich eine Puppe geschnappt, die sie fest an sich drückte. „Kleiner-Biber“, nannte sie die Puppe. Vielleicht ahnte sie, dass auch ihr Bruder nie wieder bei ihr sein würde. Die Tochter von Kickender-Bär schenkte ihr die Puppe großzügig. „Nia’isch“, flüsterte das kleine Mädchen. Es trug inzwischen ein warmes Winterkleid, gefütterte Mokassins und lederne Leggins. Die Frau von Kickender-Bär hatte die Sachen von einer Freundin bekommen.
Heskovetse erhob sich und verließ das Tipi, um sich frisch zu machen. Kickender-Bär begleitete ihn zum Waschplatz der Männer und sah zu, wie sein Gast sich sorgfältig abschrubbte und die Haare kämmte. Schweigend sah er zu, wie Heskovetse als Zeichen der Trauer seine Haare auf Schulterlänge abschnitt. Das Gesicht des Kriegers war zu einer Maske erstarrt, als er in die frische Kleidung schlüpfte, die Kickender-Bär ihm reichte. Die anderen Sachen packte Heskovetse ordentlich zusammen, damit seine Frau sie irgendwann säubern konnte. Zusammen mit seinem Gewehr waren es die einzigen Dinge, die er hatte retten können. Ein trockener Husten schüttelte ihn plötzlich und nüchtern stellte er fest, dass auch er Fieber hatte.
Kickender-Bär musterte ihn besorgt. „Die Winterkrankheit hat auch unser Dorf heimgesucht. Viele sind schon gestorben. Du musst dich schonen und warmhalten.“
Heskovetse nickte bedächtig. Überall starben die Menschen an den Krankheiten der Weißen oder wurden von ihnen zusammengeschossen. Welchen Sinn hatte ihr Leben noch? „Mein kleiner Neffe überlebte den Weg hierher nicht“, erzählte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Nun möchte ich sehen, wer es geschafft hat!“
Kickender-Bär führte ihn zu einem größeren Zelt, aus dem murmelnde Stimmen drangen. „Ich habe Little-Wolf gesehen“, erzählte Kickender-Bär. „Er war von Kugeln übersät, aber jetzt spricht er bereits zu den Kriegern!“
Heskovetse überhörte die gut gemeinte Bemerkung. Ihm war nicht nach Lachen zu Mute, denn zu viele Menschen seines Dorfes hatten ihr Leben gelassen. Er musste sich vergewissern, wer von seinen Freunden noch da war. Er betrat das große Zelt und blickte sich vorsichtig um. Dort saß Little-Wolf und eine gewisse Befriedigung erfüllte Heskovetse. Little-Wolf hatte das Heilige Bündel von Sweet Medicine vor sich auf dem Schoss. Es war das Bündel, das der Prophet vor Generationen selbst besessen hatte und das seitdem immer gehütet worden war. Es war gut, dass wenigstens ihre heiligsten Dinge in Sicherheit gebracht werden konnten. Little-Wolf war Sweet Medicine Häuptling, der Hüter des Heiligen Bündels. Solange ihre Heiligtümer überdauerten, würden die Cheyenne ebenfalls existieren. Neben Little-Wolf saß ihr Häuptling Dull-Knife und daneben Kleiner-Schild und Schwarzer-Kojote. Es waren gute Männer. Heskovetse sah sich nach seinem Freund Hohes-Pferd um und entdeckte ihn zwischen einigen jüngeren Männern. Er setzte sich dazu und sein Freund legte freundschaftlich den Arm um seine Schulter. „Wie geht es deiner Frau?“, fragte er besorgt.
„Moekaé fiebert. Aber sie lebt. Kleiner-Biber hat es nicht geschafft.“
Das Gesicht von Hohes-Pferd verdunkelte sich. „Oh, und das kleine Mädchen?“
„Sie lebt“, antwortete Heskovetse einsilbig. „Wer hat es noch geschafft?“
Hohes-Pferd legte den Kopf schief und schloss die Augen vor Trauer. „Wir wissen nicht, wen die Soldaten gefangen genommen haben“, meinte er ausweichend.
Heskovetse erlebte in Gedanken den Kampf ein weiteres Mal. So viele Menschen waren vor seinen Augen gestorben. Erst jetzt bekamen die Bilder Namen und es nahm ihm die Luft. Seine Schwägerin, sein Neffe, drei Freunde, ein Bruder, mehrere Frauen und Kinder, denen er nicht hatte helfen können. Wahrscheinlich waren auch seine Schwiegereltern gestorben. Er hatte zwar gesehen, wie sie aus dem Tipi gestürzt waren, aber dann hatte er sie nicht mehr erblickt. Er wusste, dass sie den rettenden Waldrand nicht erreicht hatten. Noch hatte er Moekaé nichts davon erzählt, aber vermutlich wusste sie es ohnehin.
Er schaute hoch, als Crazy-Horse das Tipi betrat und schweigend auf die Cheyenne blickte. Sein ganzer Körper drückte den Zorn aus, den er empfand, als er seine Verbündeten in einer solch verzweifelten Lage sah. Crazy-Horse trug keinerlei Auszeichnungen oder Federn, sondern war bescheiden gekleidet. Auch er wirkte unterernährt, als hätte er sich das Essen vom Munde abgespart, damit andere satt würden. Mit einer ruhigen Bewegung setzte der Kriegshäuptling sich zu Dull-Knife und Little-Wolf, dann stopfte er bedächtig eine Pfeife. Es war still und alle sahen zu, wie die Männer die Pfeife rauchten.
Es war Crazy-Horse, der schließlich mit einer höflichen Bewegung seiner Hand die Gäste aufforderte zu sprechen. Dull-Knife erzählte mit ruhigen Worten von dem Überfall der Soldaten. Seine Stimme war leise, fast ausdruckslos, seine Züge eingefallen und starr vor Trauer. Alle schwiegen, als er geendet hatte. Nach einer ganzen Weile stand Crazy-Horse auf und hob seine Stimme: „Ihr seid unsere Gäste. Wir teilen mit euch das Wenige, was wir haben. Bleibt, solange es euch gefällt. Im Frühling werden wir weitersehen.“
Er verschwieg ihre eigene Notlage, denn nach der Schlacht am Little-Bighorn hatten die Lakota kaum Zeit gehabt, Vorräte anzulegen. Während Sitting Bull nach Kanada geflohen war, hatte Crazy-Horse die Soldaten an der Nase herumgeführt. Aber sie hatten ihre Frauen und Kinder dabei, die nun darunter litten, dass die Soldaten scheinbar endlos ihre Kriege fortsetzen konnten. Crazy-Horse verschwieg, wie sehr sein Dorf unter der Winterkrankheit litt und wie viele bereits zu Wakan-tanka gegangen waren. Jeder, der seine Augen öffnete, konnte die unzähligen Totengerüste sehen, die um das Dorf herum errichtet worden waren. Auch Crazy-Horse spielte mit dem Gedanken aufzugeben. Die Verluste waren einfach zu hoch. Doch es war selbstverständlich, seine Verbündeten aufzunehmen, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, hungrige Flüchtlinge wegzuschicken.
Für die Lakota waren die vielen Flüchtlinge eine Belastung. Sie hatten selbst nicht genug und mussten nun das Wenige mit noch mehr Menschen teilen. Jede Familie hatte mehrere Personen zusätzlich in ihrem Tipi und Verzweiflung breitete sich aus. Krieger versuchten, selbst im Winter zur Jagd zu gehen, um die vielen Mäuler zu stopfen. Manchmal kehrten sie mit einem Hirsch oder einer Antilope zurück und dann wurde das Fleisch gerecht auf die Zelte aufgeteilt. Oft reichte es nur für eine dünne Suppe, die niemanden wirklich satt machte.
Heskovetse blieb im Zelt von Kickender-Bär und erholte sich einige Tage. Der Husten wurde besser und so ließ er sich Munition für sein Gewehr geben, um ebenfalls zu jagen. Außerdem bastelte er an einem Bogen, weil er Pfeile immerhin selbst schnitzen konnte, wenn ihm die Munition ausging. Mit dem Bogen erlegte er einige Schneehasen, was bei den Frauen leise Jubelrufe auslöste. Moekaé nähte ihm eine Mütze, die ihn nun besser gegen die Kälte schützte. Sie hatte sich erholt und kümmerte sich liebevoll um Rotes-Blatt.
Das Kind war still, weinte fast nie und fragte auch nicht mehr nach seiner Mutter oder dem Bruder. Sie waren einfach verschwunden und Rotes-Blatt klammerte sich an die Menschen, die ihr geblieben waren. Sie spielte fast lautlos mit der Puppe und tat so, als wäre es der Bruder. Sie war klein und gerade erst dabei, ihre eigene Sprache zu lernen. Der Verlust hatte sie verstummen lassen. Nur langsam öffnete sie sich der neuen Umgebung und wunderte sich, warum plötzlich alle Dinge neue Namen hatten. Mit einer Geschwindigkeit, wie es nur kleinen Kindern möglich ist, schnappte sie die neue Sprache auf, mit der die Gastgeber sie umsorgten. So kam es, dass das kleine Mädchen bald besser Lakota als Cheyenne sprach, denn die Flüchtlinge waren in Trauer und hüllten sich meist in Schweigen, so suchte das Kind die Gesellschaft der anderen Kinder und Menschen.
Auch Moekaé lernte die Sprache ihrer Gastgeber und hatte erfahren, dass Grasfrau in der Sprache der Lakota „Peji-win“ bedeutete. Peji-win klang schön und so störte sie es nicht, wenn sie so gerufen wurde. Kickender-Bärs Frau hieß Tate-ihumni, Wirbelnder-Wind, und Moekaé freundete sich schnell mit ihr an. Wirbelnder-Wind war etwas älter als Moekaé und hatte bereits einen erwachsenen Sohn. Die sonst so füllige Frau magerte sichtlich ab und alle machten Scherze, dass sie bald wieder wie ein junges Mädchen aussehen würde. Nichtsdestotrotz wussten alle, wie ernst die Lage war.
Moekaé ging oft in die anderen Zelte, um dort nach ihren Freundinnen zu sehen. Die Frauen formten eine Gemeinschaft, um sich gegenseitig in ihrer Trauer zu unterstützen. Büffelkalb-Frau hatte ihre gesamte Familie verloren und klammerte sich an die Hoffnung, dass vielleicht einige von den Soldaten weggeführt worden waren. „Vielleicht sind sie in einem Fort? Vielleicht hat mein Bruder doch überlebt? Welchen Sinn macht es, wenn ich ihm in der Schlacht das Leben gerettet habe, und er nun doch stirbt?“, überlegte sie immer wieder.
Moekaé blieb still und hoffte, dass ihre Eltern vielleicht in einem Fort wären. Sie hatte gesehen, wie ihre Schwester getötet wurde, aber nicht, ob ihre Eltern gefallen waren. Büffelkalb-Frau war schmal geworden und schien ihren Lebenswillen verloren zu haben und so tröstete Moekaé ihre Freundin und wurde ein wenig von ihren eigenen düsteren Gedanken abgelenkt.
Im Monat der schmerzenden Augen brach plötzlich Hektik im Dorf aus, denn die Späher auf dem Hügel hatten eine Kolonne Soldaten entdeckt, die auf dem Weg ins Tal war. Heskovetse hatte immer die Hartnäckigkeit bewundert, mit der die Lakota ihr Dorf schützten, und darüber nachgedacht, wie viele Menschen überlebt hätten, wenn auch ihr Dorf so geschützt worden wäre. Sie hatten gewusst, dass die Soldaten hinter ihnen her waren und hatten sich doch auf die Ruhe des Winters verlassen. Die Lakota waren vorsichtig und das rettete nun ihr Dorf.
Mit fliegenden Händen bauten die Frauen die Tipis ab, spannten die Pferde ein und verließen das Tal in nördlicher Richtung, während die Krieger bereits in voller Bemalung auf ihre Ponys sprangen und den Soldaten entgegenritten. Sie wollten den Rückzug der Frauen und Kinder decken und die wertvollen Vorräte retten. Auch die Cheyenne unterstützten die Lakota und schlossen sich den Kriegern an.
Kratzspuren im Schnee verrieten, wo die Frauen und Kinder geflohen waren, und die Männer wussten, dass die Soldaten sie einholen würden, wenn es ihnen nicht gelang, die Weißen in die Flucht zu schlagen. Das Dorf war groß und so lagen genügend Krieger hinter den Bäumen und Felsen, um die Soldaten gebührend zu empfangen. Aber Crazy-Horse war vorsichtig. Mit Handzeichen schickte er einige junge Späher aus, die sicherstellen sollten, dass die Soldaten nicht einen Trupp hinter den Frauen und Kindern herschickten, indem sie das Tal einfach umgingen.
Heskovetse nickte anerkennend und visierte mit zusammengekniffenen Augen die ersten Reiter an. Die Sonne schien, wurde vom Schnee reflektiert und blendete ihn in den Augen. Heskovetse hatte den Lauf des Gewehrs mit einem Tuch getarnt, damit das Aufblitzen des Metalls in der Sonne die Soldaten nicht vorzeitig warnte. Dann rollte der Donner von den Felswänden, als eine Salve in die Wand der Reiter schlug. Panik brach unter den Soldaten aus, als Pferde wieherten und buckelnd davonstoben, ihre Reiter schutzlos im Schnee liegen lassend. Andere Pferde wälzten sich zuckend am Boden, während die Reiter verzweifelt nach Deckung suchten. Befehle wurde gebrüllt und ein Hornsignal dröhnte als Echo von den Felswänden zurück. Schnell gingen die Soldaten in Stellung und nahmen die Indianer unter Beschuss. Dumpfe Einschläge erklangen, als manche Kugeln harmlos in den Schnee prallten, dann wurde das Feuer erwidert.
Heskovetse wartete auf das Signal zum Angriff, aber es kam nicht.
Die Lakota blieben in der Deckung der Felsen und Bäume, feuerten auf die Soldaten, ohne sich zu erkennen zu geben. Methodisch zwangen die Lakota die Soldaten in Deckung zu bleiben und sicherten so den Rückzug ihrer Frauen und Kinder. Hier ging es nicht um Mut und Tapferkeit oder das Erringen von Coups, sondern nur noch um das Überleben. In der Nacht setzten die Lakota sich ab. Nur wenige blieben zurück und erreichten mit gezielten Schüssen, dass die Soldaten ihnen nicht nachsetzen konnten. Die anderen folgten im Dauerlauf den Frauen und Kindern, bis sie schließlich die Jugendlichen mit der Pferdeherde eingeholt hatten. Ein gnädiges Schneetreiben verwischte ihre Spuren, sodass es wenig wahrscheinlich wurde, dass die Soldaten sie noch einholten.
Crazy-Horse verschwand nach Norden und blieb den Rest des Winters in einem versteckten Canyon. Die Wochen vergingen und trotz der Ruhe und der Gewissheit, dass sie die Soldaten genarrt hatten, war die Stimmung schlecht. Alle wussten, dass sie im Frühjahr wieder gnadenlos verfolgt werden würden. Die Männer beobachteten die Kinder, die ihre Winterspiele aufgenommen hatten, und machten selbst ausgedehnte Jagdzüge, um den Hunger in den Zelten zu lindern, doch am Abend sprachen sie über die ungewisse Zukunft.
Die Frauen beschäftigten sich mit alltäglichen Dingen. Sie sammelten Holz und besserten die Kleidung aus. Alle hatten sich daran gewöhnt, dass die Cheyenne bei ihnen waren, und Freundschaften waren entstanden. Tate-ihumni liebte Rotes-Blatt und erzählte ihr einfache Geschichten der Lakota. Fast so als wäre sie nun die Großmutter des Kindes. Alle wussten, dass diese Zeit des Friedens bald vorbei sein würde, und doch lebten die Frauen in der Hoffnung, dass es für sie und ihre Kinder eine Zukunft geben würde.
Die Schlinge zog sich immer enger um die letzten frei lebenden Indianer und auch Crazy-Horse wurde immer öfter bedrängt, endlich aufzugeben. Krieger, die ihm noch im Sommer willig gefolgt waren, ließen sich nun von den Versprechungen der Regierung einlullen und setzten den Häuptling unter Druck, endlich eine Reservation aufzusuchen. Alle hatten Verluste zu beklagen und der Winter nahm den Menschen die Hoffnung. Crazy-Horse wusste das, aber er wusste auch, dass er sterben würde, wenn er sich ergab. Zu viel war geschehen, als dass die Weißen einen Feind wie ihn am Leben lassen konnten. Aber vielleicht war das der Preis, den er zahlen musste, wenn er wollte, dass sein Volk lebte. Er redete mit Dull-Knife und Little-Wolf darüber, die in einer ähnlichen Lage wie er selbst waren. Er teilte ihnen seinen Entschluss mit, nach Camp Robinson zu gehen und sich dort zu ergeben. „Ich war Hemdträger. Meine Aufgabe ist es immer noch, das Volk zu schützen, auch wenn ich dabei mein Leben gebe. Wenn sie mich dort töten, dann bin bereit!“, erklärte er ruhig.
Dull-Knife schüttelte den Kopf. „Einst, da warst du Hemdträger deines Volkes. Was soll aus den Menschen werden, wenn ihre Anführer sterben? Wie soll es Hoffnung geben, wenn die Tapfersten ihr Leben geben? Welche Geschichten wollen wir unseren Kindern erzählen? Sie werden sagen, dass wir unsere Anführer verraten haben!“
Crazy-Horse lächelte weich und zuckte mit den Schultern. „Meine Tochter starb. Sie hat mein Herz mit Freude erfüllt. Sie hat mir Demut gezeigt und Großmut. Dies alles starb in mir, als sie mir genommen wurde. Nun denke ich an die Kinder, die noch leben. Sie werden sterben, wenn wir uns nicht ergeben. Die Zeiten sind gegen uns, aber wenn unser Volk als Ganzes überlebt, dann werden wir uns eines Tages an all die Dinge erinnern, die uns nun genommen werden. Dull-Knife, wir müssen leben. Als Volk! Ich bin nur ein Kriegshäuptling und die Erinnerung an mich wird vergehen.“
Dull-Knife lächelte wehmütig und zwinkerte gutmütig mit seinen Augen. „Die Erinnerung an dich wird nie vergehen. In unseren Legenden und Geschichten wirst du ewig weiterleben.“
Crazy-Horse nickte. „Versprich mir das, und ich werde gern sterben.“
Dull-Knife machte eine abschließende Handbewegung. „In unseren Geschichten reiten wir Seite an Seite, mein Freund!“
„Waschté!“, seufzte Crazy-Horse, dann wurde nichts mehr gesprochen. Das Schweigen lastete schwer auf den Männern und sie dachten an die guten Jahre, in denen ihre Tipis mit Büffeldecken ausgelegt und die Töpfe mit Fleisch gefüllt waren.
Im Frühling ergab sich Crazy-Horse mit über tausend Kriegern den Soldaten im Camp Robinson, während Dull-Knife und Little-Wolf sich im Monat des grünen Grases auf den Weg zur Agentur von Red Cloud machten. Die Lakota waren ihre Verbündeten und sie hofften, dass es ihnen erlaubt wurde, bei den Oglala zu bleiben. Einige junge Krieger waren empört und forderten die Häuptlinge auf zu kämpfen, doch die anderen waren erleichtert und hofften darauf, endlich zu erfahren, ob Angehörige den Angriff der Soldaten überlebt hatten. Noch klammerten sie sich an die Hoffnung, dass sie bleiben konnten. Viele hatten Verwandte bei den Lakota und so dachten sie an ihre Familien, bei denen sie dann bleiben konnten.
Die weißen Agenten in der Red Cloud Agentur waren mit der Ankunft der Cheyenne jedoch vollkommen überfordert. Telegramme wurden versendet und Soldaten marschierten zum Schutz der weißen Siedler auf. Auch andere Gruppen der Cheyenne hatten sich ergeben und nun wurde beraten, was mit ihnen geschehen sollte. Nach der Schlacht am Little-Bighorn waren die Weißen gegenüber den Cheyenne nicht wohlgesonnen. Immer wieder wurde von Bestrafung und Deportation geredet.
Ein Teil des Volkes war längst im Indianerterritorium ansässig und so versuchte die Regierung, die Cheyenne zu überreden, ebenfalls nach Süden zu gehen.
Darlington Agentur
Moekaé hockte mit Rotes-Blatt am White-Fluss und schaute auf das fließende Wasser. Sie hatte sich etwas von dem Fort entfernt, in dem sie in einer Baracke untergebracht waren, aber immer noch nicht weit genug, um dem Lärm zu entgehen. Noch weiter durfte sie nicht gehen, denn die Cheyenne galten als Gefangene. Den Frauen und Kindern wurde mehr Bewegungsfreiheit eingeräumt, während die Männer meist in den Unterkünften bleiben mussten.
Moekaé hatte sich in Trauer ihre Haare abgeschnitten, denn sie wusste nun mit Bestimmtheit, dass ihre Eltern nicht mehr lebten. Alle Cheyenne hatten sich ergeben und waren nun hier im Camp Robinson zusammengeführt worden. Ihre Eltern waren nicht dabei gewesen. Aber sie hatte ihre Freundin Brennendes-Gras getroffen, die den Angriff schwer verletzt überlebt hatte. Ihre Freundin hatte miterlebt, wie Soldaten den beiden alten Menschen einfach das Gewehr in den Nacken gelegt und sie erschossen hatten. Moekaé hatte die Augen geschlossen, als sie vom Tod ihrer Eltern erfuhr. Sie hatte Rotes-Blatt an sich gedrückt und Halt in der Nähe zu dem Kind gesucht, das sie nun wie eine Tochter aufzog. Mit ausdruckslosem Gesicht hatte sie der Stimme ihrer Freundin gelauscht, die ihr von dem Angriff erzählt hatte. Schreckliche Dinge waren an diesem Tag geschehen. Ihre Freundin war trotz einer Schussverletzung vergewaltigt worden und litt unter Alpträumen. „Sei froh, dass du entkommen konntest! Lass es niemals zu, dass die Soldaten dich lebend erwischen! Sie sind wie Tiere und achten unsere Tugenden nicht.“ Brennendes-Gras hatte die Decke vor ihr Gesicht gezogen und war wieder verschwunden. Sie hatte keinen Mann mehr, der über sie wachen konnte. Auch er war in dem Kampf getötet worden.
Moekaé sprach nie wieder mit ihrer Freundin darüber. Jede Frau blieb allein mit ihren Erinnerungen und der Schmach, die ihr angetan wurde. Für Moekaé blieb nur die Gewissheit, dass sie ihre gesamte Familie verloren hatte. Nur Rotes-Blatt war ihr geblieben und eine Schwägerin mit ihrem Sohn.
Heskovetse dagegen hatte überhaupt keine Verwandten mehr. Seine Eltern, seine Brüder und eine Schwester waren von den Weißen getötet worden, ebenso die Großeltern, zwei Onkel und eine Tante mit ihren drei Kindern. Er war so voller Hass, dass er nicht einmal mehr mit Moekaé sprach. Meist saß er bei Wirres-Haar oder Sammelt-seine-Medizin und anderen Kriegern und schmiedete Rachepläne. Sie wollten sich nicht mit der Situation abfinden und suchten nach Möglichkeiten, dem eintönigen Leben im Camp Robinson zu entfliehen. Sie fühlten sich nicht als Männer und Krieger und machten die Häuptlinge dafür verantwortlich, die viel zu schnell eingewilligt hatten, nach Süden zu gehen. Heskovetse hatte sich verändert. Er war unnahbar und harsch geworden und Moekaé litt darunter. Sie bemühte sich, ihm zu gefallen und achtete darauf, ihm das Gefühl zu geben, dass er wichtig für sie war. Manchmal strich er über ihr Haar und lächelte wehmütig, dann hoffte sie, dass er wieder zu ihr kommen würde und seine düsteren Gedanken vergaß. Vielleicht würde es im Süden besser werden. Auch für sie war es der Weg in die Gefangenschaft, eine Reise in ein Land, in das sie nicht gehen wollte, aber vielleicht konnten sie dort in Frieden leben.
Eine Libelle kreiste über dem Wasser und riss Moekaé ein wenig aus ihrer Starre. Sie saß immer noch gedankenverloren am Fluss und hörte auf das Lärmen und Schreien des nahen Camps. Soldaten brüllten Befehle, Kutschen ratterten vorbei, Kinder schrien und tobten. Es war ein heilloses Durcheinander. Sie hoffte auf die Abreise, um diesem Chaos endlich zu entgehen. Auch für Rotes-Blatt wäre es besser, der Enge und dem Lärm zu entgehen. Das Kind saß schweigend neben ihr und sie hätte es fast vergessen.
Die Welt änderte sich so schnell und es war schwierig, vorherzusehen, welcher Weg der richtige war. Wie sehr hätte Moekaé jetzt den Zuspruch ihrer Mutter gebraucht. Ihre warme Stimme hätte ihr Rückhalt gegeben und sie hätte mit ihrer Weisheit gute Worte gefunden. So viele Menschen waren für immer gegangen. Moekaé fühlte den Verlust körperlich und konnte kaum atmen vor Trauer. Wie schön wäre es, wenn die Mutter noch da wäre, um ihr bei der Erziehung des Kindes zu helfen. Sie vermisste die Gespräche, die Anleitung, den Zusammenhalt und die sorgfältige Unterweisung in all den spirituellen Dingen. Wer würde in dem neuen Land die Zeremonien durchführen? Stets hatten die Cheyenne eine tiefe Verbundenheit zu dem Land gehabt und nun sollten sie all dies aufgeben? Die Weißen sprachen davon, dass die Cheyenne nun Farmer werden sollten. Die Kinder sollten in die Schule gehen und endlich lernen, wie die Weißen zu leben. Moekaé wollte Rotes-Blatt nicht in eine Schule schicken. Es war Aufgabe der Mutter und Großmutter, das Mädchen zu erziehen und darauf zu achten, dass der Wille Mahéos beachtet wird. Was würde Rotes-Blatt von den Weißen lernen? Noch war sie klein, fast noch ein Baby, doch die Zeit schritt schnell voran und dann würden die Weißen mit ihrer Gier auch nach den Kindern greifen. Sanft drückte Moekaé ihre Nichte an sich und strich ihr mit der Hand über das Gesicht. „Siehst du die Libelle?“, fragte sie mit einem Lächeln.
„Ja“, antwortete das Kind leise. „Aber ich mag die Schmetterlinge lieber“, fuhr es fort und Moekaé hob erstaunt die Augenbrauen. „So?“
„Ja, Schmetterlinge bringen die Träume. Da sehe ich meine Nahgo!“
„Das ist schön!“, seufzte Moekaé. „Meine Nahgo besucht mich auch in meinen Träumen.“
Die beiden schwiegen wieder und Moekaé wunderte sich über die Gedankengänge des kleinen Mädchens. Sie war kein Baby mehr. Seit dem Tag, als die Soldaten ihr die Mutter genommen hatten, war sie kein Baby mehr. Noch immer drückte sie die Puppe fest an sich und klammerte sich an die Erinnerung an ihre Familie und ihren Bruder.
Moekaé erhob sich und nahm Rotes-Blatt an der Hand. Es wurde Zeit zurückzugehen und sich in die Schlange der Frauen einzureihen, denen die Lebensmittel gegeben wurden. Es war entwürdigend. Jeden Tag wurde das Essen verteilt, manchmal auch Kleidung, und Moekaé hasste die Untätigkeit, zu der sie verdammt wurden. Früher war ihr Tag ausgefüllt gewesen mit notwendigen Arbeiten, hier gab es nichts zu tun. Fast zehn mal zehn, mal zehn Menschen drängten sich auf engstem Raum und hatten keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Wie sehr sehnte sie sich nach einem Zelt, in dem sie mit ihrer verbliebenen Familie am Feuer sitzen konnte. Hier gab es weder einen Waschplatz für die Frauen noch die Möglichkeit in die Büsche zu gehen. Alle Menschen drängten sich an der gleichen Stelle am Fluss, um sich zu waschen, oder benutzten die Latrinen, um zu urinieren. Dort stank es entsetzlich und Moekaé ekelte sich davor. Wie konnten die Weißen nur so leben?
An den Flüssen, an denen sie gelagert hatten, war das Wasser stets sauber und frisch gewesen. Der Wald war unberührt und still gewesen. Hier wurde alles totgetrampelt und das Wasser schmeckte abgestanden von all den Verunreinigen, die von den Weißen hineingeleitet wurden. Sah so ihre Zukunft aus?
Sie kehrte zu den Baracken zurück und wurde fast erschlagen von dem Lärm um sie herum. Soldaten musterten sie mit anzüglichen Blicken und sie wickelte die Decke fester um sich herum. Ihre Hand umklammerte die Hand von Rotes-Blatt, damit das Kind in dem Trubel nicht verloren ging. Sie fand Heskovetse und er nickte nur gleichmütig mit seinem Kopf in Richtung der Essensausgabe, damit sie auch das Essen für ihn holte. Es war unter seiner Würde, sich in die Schlange der Frauen und Kinder zu stellen. Moekaé nahm die Tassen aus Blech, in die fast immer die gleiche Suppe gefüllt wurde und stellte sich an. Die Frauen warteten schweigend, bis sie an der Reihe waren, und liefen dann zu den Männern zurück. Auch die Kinder waren still und warteten mit hungrigen Augen darauf, dass ihnen die Tassen gereicht wurden. Alle sehnten sich nach den Zeiten zurück, als die Männer von der Büffeljagd heimgekehrt waren und sie sich die Bäuche mit Fleisch vollgestopft hatten. Sie hatten sich mit gesundem, nahrhaftem und sättigendem Fleisch ernährt und in der Suppe war das Fett geschwommen. Selbst für die Hunde war es ein Festschmaus gewesen. Diese Zeiten waren lange vorbei und würden nie mehr zurückkehren.
Die Frauen wussten das, während die Männer sich noch der Illusion hingaben, dass sie eines Tages wieder zur Jagd gehen konnten. Auch Heskovetse träumte mit glänzenden Augen von dem Land im Süden, in dem sie wieder frei leben konnten. „Wir bekommen dort Ponys und Zelte“, erzählte er begeistert, als Moekaé ihm wortlos die Tasse hinhielt. „Ich werde wieder jagen und dir besseres Fleisch bringen.“
„Das ist schön“, murmelte Moekaé. „Dann werden wir auch wieder Hunde haben, die sich um die Knochen balgen.“
„Ja, und dann wird sich dein Bauch runden und mein Kind in dir heranwachsen.“
Moekaé lächelte und freute sich über die Begeisterung ihres Mannes. Anscheinend hatte er gute Nachrichten erhalten und dies hatte seine Stimmung gehoben. Es war schön, dass er nicht blicklos vor sich hin starrte und die Welt um sich herum zu vergessen schien. Und es war schön, dass er zum ersten Mal seit langem von einem Kind sprach.
„Was sagen die Häuptlinge?“, wagte sie zu fragen.
„Wir brechen in ein paar Tagen auf“, antwortete Heskovetse vergnügt. „Wir bekommen Pferde für die lange Reise und die Frauen und Kinder dürfen in den Kutschen der Weißen reisen. Es ist ein langer Weg, aber dann werden wir in dem Land im Süden mit unseren Verwandten zusammenleben.“ Sichtliche Erleichterung war aus seiner Stimme zu hören. Auch er litt darunter, hier eingesperrt und zur Untätigkeit verdammt zu sein. „Einige Krieger wollen nicht mit uns gehen. Sie haben Verwandte bei den Oglala und wollen sich lieber ihnen anschließen. Die Weißen erlauben es nicht, aber sie werden wohl eines Nachts einfach verschwinden!“ Er lachte trocken.
„Und du?“, fragte Moekaé ein wenig besorgt.
Ihr Mann winkte harmlos ab. „Ich schaue mir dieses Land im Süden an und wenn es mir nicht gefällt, dann kehre ich hierher zurück. Die Häuptlinge sagen, dass jeder zurückkehren kann, wenn es ihm nicht gefällt.“
„Wirklich?“, wunderte sich Moekaé. „Warum schicken sie uns dann überhaupt von hier fort. Warum bekommen wir nicht hier eine Reservation, so wie die Lakota?“
Heskovetse runzelte die Stirn und machte eine unwillige Handbewegung. „Die Häuptlinge haben so entschieden. Sie meinen, dass es gut wäre, wieder ein starkes Volk zu sein. Ein Teil unseres Volkes ist im Süden und der andere Teil im Norden. Zusammen sind wir stärker!“ Das entbehrte nicht einer gewissen Wahrheit und Moekaé dachte darüber nach. Gemeinsam konnte man vielleicht besser ihre Wünsche und Anliegen durchsetzen.
In den nächsten Tagen machte sich eine gewisse Unruhe unter den Cheyenne bemerkbar. Die Männer saßen oft in Beratungen zusammen, während die Frauen ihre wenigen Habseligkeiten einpackten. Viel war ihnen nicht geblieben, aber sie hatten Kleidung und andere Utensilien erhalten. In Gruppen brachen die Menschen auf, immer begleitet von dem Säbelrasseln der Soldaten. In der Nähe wurde die verbliebene Ponyherde getrieben, aber die Soldaten ließen es nicht zu, dass alle Menschen ritten. Anscheinend war ihnen das Risiko zu groß, dass einige Cheyenne einfach verschwanden.
Moekaé wollte die Soldaten nicht in ihrer Nähe. Sie hasste es, wie die Soldaten sie wie Gefangene nach Süden trieben und das Marschtempo vorgaben. Es war der Weg in die Gefangenschaft und nicht in die Freiheit.
Vielleicht war das auch den Männern klar, denn die Hochstimmung wich einem Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Frauen wurden offen angepöbelt, wenn sie sich etwas entfernten, und die Soldaten machten sich einen Spaß daraus, ihnen zwielichtige Angebote zu machen. Sommer-Regen ließ sich von den billigen Geschenken verführen und stahl sich immer wieder mit einem Mann in die Büsche. Die anderen Frauen verachteten sie und zogen die Decken über ihre Köpfe, wenn sie vorbeikam. Eines Tages war sie weg und niemand kümmerte sich darum, wohin sie verschwunden war.
Moekaé hatte ihre Decke stets sittsam um ihren Körper gewickelt, obwohl es tagsüber dafür eigentlich zu heiß war. Aber sie wagte es nicht, sich ohne diesen letzten Schutz zu bewegen. Rotes-Blatt trippelte tapfer neben ihr her und nur selten musste Moekaé den Wagen in Anspruch nehmen, um sich auszuruhen. Zumindest saß sie dort mit anderen Frauen zusammen, was einen gewissen Schutz vor den Zudringlichkeiten der Soldaten bedeutete. Es waren offene Kutschen, in denen sich Frauen und Kinder zusammendrängten, umgeben von ihren wenigen Bündeln. Zum Glück blieb das Wetter beständig. Nur einmal regnete es leicht und die Frauen und Kinder suchten unter den Wagen Schutz vor der Nässe.
Die Männer saßen teilnahmslos auf den zugeteilten Ponys und schienen die Welt um sich herum vergessen zu haben. Manchmal kam es zu Ausschreitungen, wenn Männer ihre Frauen dafür verantwortlich machten, wenn die Soldaten zu aufdringlich wurden. Auch Heskovetse schlug seine Frau grün und blau, weil er dachte, dass sie ihren Körper nicht bedeckt genug gehalten hatte. Moekaé sagte nichts und verteidigte sich auch nicht. Sie wartete ab, bis Heskovetse seine Wut an ihr ausgetobt hatte und wieder zu den Männern zurückging. Er hatte seine Ehre wiederhergestellt und seinem Weib gezeigt, wohin es gehörte. Dabei wäre so ein Verhalten noch vor kurzem undenkbar gewesen.
Moekaé blieb unter ihrer Decke und wich den mitleidigen Blicken der anderen Frauen aus. Sie hatte nichts getan und die anderen Frauen wussten das. Die Frauen hatten sich seit Tagen nicht gewaschen, damit die Soldaten keinen Blick auf ihre Körper erhaschen konnten, und selbst zum Urinieren legten die Frauen die Decken nicht ab. Es war entwürdigend und jeder hoffte auf ein Ende der langen Reise. Die Cheyenne waren nicht prüde, aber unter diesen Umständen zu reisen war eine Qual. Die Frauen und Männer stanken und Hautkrankheiten breiteten sich aus. Für ein Volk, das es gewohnt war, jeden Morgen zu baden, eine unhaltbare Situation.
Schließlich weigerten sich die Anführer weiterzugehen und verlangten, dass die Gruppen zusammengeführt wurden. „Wir wollen nicht wie Schafe von euch getrieben werden“, beschwerte sich Dull-Knife. „Unsere Männer sind keine Männer, wenn sie nicht die Frauen und Kinder schützen können. Eure Soldaten belästigen unsere Frauen und zeigen keinen Respekt. Wir wollen als Volk nach Süden gehen!“
Zwei Tage weigerten sich die Menschen weiterzugehen und schließlich lenkte der verantwortliche Offizier ein. Er ordnete an, dass die verstreut reisenden Gruppen zusammengelegt wurden und die Soldaten die Cheyenne nur noch aus der Ferne bewachten.
Abends bauten die Soldaten in einiger Entfernung ihr Lager auf und plötzlich hatten die Frauen und Kinder wieder mehr Intimsphäre. Die Erleichterung war deutlich zu spüren. Auch Moekaé lächelte wieder öfter und setzte sich zu ihrem Mann an das Feuer. So sollte es sein. Es war fast wie damals, als sie noch den Herden der Büffel gefolgt waren.
Heskovetse strich sanft über ihre Wange und lächelte ebenfalls. „Bald sind wir am Ziel, dann wird alles wieder gut! Wir werden unsere Verwandten sehen und wieder ein starkes Volk sein.“
Moekaé nickte still und freute sich darauf, endlich in Frieden mit ihrem Mann zu leben. „Bewachst du morgen meinen Badeplatz? Ich stinke so! Ich möchte mich baden und will nicht, dass einer dieser Langmesser in meine Nähe kommt.“
Heskovetse grinste frech. „Aber ja! Und du könntest vielleicht dein Kleid waschen und meine Sachen gleich dazu.“
Moekaé kicherte hinter vorgehaltener Hand. Es war schön, wieder Scherze zu machen und Zeit füreinander zu haben.
Am Morgen gingen die Menschen zum ersten Mal seit langem wieder zum Fluss, um sich zu waschen. Die Männer bewachten den Badeplatz der Frauen und wiesen neugierige Soldaten ab, wenn diese den nackten Frauen zu nahe kamen. Gelächter erklang von dem Fluss, als die Menschen sich gegenseitig nassspritzten. Kleider wurden gewaschen und zum Trocknen in die Büsche gehängt und überall saßen Frauen, die sich gegenseitig die Haare kämmten. Kinder kreischten und planschten. Es war fast wie damals, als sie noch frei und ungebunden über die Prärie zogen.
Die Reise dauerte fast drei Monate, denn die Soldaten wichen größeren Siedlungen der Weißen aus. Die Cheyenne waren erschüttert, was aus ihren Gebieten inzwischen geworden war. Jagdgründe, die noch vor kurzem von den Büffelherden durchzogen worden waren, gehörten nun weißen Siedlern, die ihre Länder mit Stacheldraht und Zaun gegen mögliche Eindringlinge sicherten. Städte und Dörfer schossen aus dem Boden und weiße Siedler standen mit Gewehren vor ihren Häusern, wenn die Cheyenne an ihnen vorbeizogen. Immer hatten die Cheyenne im Einklang mit der Natur gelebt, hatten der Erde Opfergaben gegeben, um sie gnädig zu stimmen. In Gebeten hatte man sich bei den Tieren und anderen Bewohnern des Landes bedankt, wenn die Jagd gut gewesen war oder die Natur den Cheyenne besonders gewogen war. Selbst das Flüstern des Windes war eine Erscheinung, zu der man beten konnte, und die die Worte zu Mahéo trug.
Die Cheyenne sahen das Tun der Weißen nicht als Besiedelung, sondern als Zerstörung des Landes. Die Erde wurde mit Ackergeräten aufgerissen, Zaunpfähle wie Speere in den Boden getrieben und wilde Tiere aus ihren natürlichen Wohnsitzen vertrieben. Früher waren hier die Büffelherden durchgezogen, so unzählbar wie die Sterne, und die Cheyenne senkten die Köpfe und verstanden nicht, wo ihre Brüder hingegangen waren. Wie konnte man eine solche Anzahl ausrotten? Allein der Gedanke war so unvorstellbar, dass die Cheyenne ihn nicht aussprechen konnten. Alles schien dem Untergang geweiht zu sein. Die Büffel, das Land und ihre alte Lebensweise. All ihre alten Überlieferungen schienen plötzlich wertlos zu sein, nicht mehr von Belang, ohne Sinn. Was halfen Gebete, wenn Mahéo sie nicht mehr erhörte? Der Verfall ihrer Sitten und Bräuche war so umfassend, dass die Menschen ins Nichts zu stürzen drohten. Niemand schien mehr zu wissen, was richtig und falsch war. Auch das Ansehen der Häuptlinge litt, denn die jungen Männer wussten, dass die Häuptlinge keine Antworten mehr liefern konnten. Während der langen Reise verschwanden einige junge Männer einfach. Sie machten sich auf den Rückweg nach Norden, um sich dort den Oglala anzuschließen. Noch waren es nicht zu viele, aber die Bewachung durch die Soldaten wurde wieder strenger. Es war klar, dass die Cheyenne immer noch Gefangene waren, und die Häuptlinge wurden zur Rede gestellt, warum sie die Fluchtversuche nicht unterbanden. Little-Wolf und Dull-Knife schwiegen zu den Vorwürfen. Was hätten sie auch antworten sollen? Längst hatten die jungen Männer den Respekt verloren und machten im Grunde, was sie wollten.
Im August erreichten die Cheyenne schließlich die Darlington Agentur, in der Nähe von Fort Reno im Indianerterritorium. Sie wurden in einer demütigenden Prozedur gezählt und schließlich in verschiedene Lager eingeteilt. Zu gefährlich war allein der Name der Cheyenne, als dass man sie in größerer Zahl zusammengelassen hätte. Zelte und Kleidung wurden ausgegeben und anschließend bekam jede Familie Lebensmittelkarten. Die Männer murrten, denn sie wollten zur Jagd gehen, so wie sie es gewohnt waren. Sie wollten Waffen und ihre Familien selbst ernähren. „Was sollen wir hier den ganzen Tag tun?“, fragten sie erbost.
Auch das Wiedersehen mit ihren Verwandten verlief nicht so, wie sie es erhofft hatten. Viele Familien hatten sich seit über dreißig Jahren nicht gesehen und hatten sich voneinander entfremdet. Die südlichen Cheyenne befürchteten durch die Ankunft der Cheyenne aus dem Norden Nachteile für sich. Tatsächlich war die Ankunft so vieler Menschen von der Regierung schlecht vorbereitet worden. Von Anfang an wurden zu wenig Lebensmittel verteilt und Hunger breitete sich aus. Immer wieder beschwerten sich die Häuptlinge, dass die Nahrungsmittel nicht ausreichend seien, doch die Zustände änderten sich nicht.
Auch Moekaé und Heskovetse magerten sichtlich ab und Moekaé litt darunter, dass ihr Mann gereizt und schlecht gelaunt war. Während sie wenigstens den Haushalt und das Kind versorgen konnte, saß Heskovetse meist tatenlos im Tipi und sehnte die alten Zeiten herbei. Immer wieder schüttelte er den Kopf und warf frustriert Holzscheite in das Feuer. „Wir hätten nicht hierher kommen dürfen“, murmelte er dann. „Hier sind wir keine Männer. Wir sitzen herum, als wären wir alte Weiber, und bekommen Almosen von den Weißen. Ich will selbst für meine Familie sorgen. Sieh nur, wie sehr dieses dürre Ding dort abmagert. Rotes-Blatt ist nun unsere Tochter, doch sieh selbst, wie dünn sie ist. Wie soll sich dann dein Buch runden? Sag mir das! Wie soll mein Sohn in deinem Leib wachsen?“
Moekaé antworte schon lange nicht mehr, denn das hätte ihn höchstens gereizt. Sie kümmerte sich um Rotes-Blatt und erntete auch dafür einen gereizten Blick ihres Mannes. Es erinnerte ihn ständig daran, dass er Kleiner-Biber nicht hatte retten können. Und dass sie immer noch kein Kind von ihm trug.
Moekaé nähte ihrem Mann Mokassins aus Kuhleder, denn anderes Leder gab es hier nicht. Die Häuptlinge hatten erreicht, dass ihnen nicht nur Fleisch, sondern lebende Tiere übergeben wurden, sodass sie auch die Häute verwerten konnten. Anfangs hatten sich die Frauen darüber gefreut, doch schnell wurde allen klar, dass die Weißen sie auch dieses Mal betrogen, denn die mageren Tiere waren es kaum Wert, dass man sie schlachtete.
Moekaé lernte schnell, aus den wenigen Zutaten, die sie bekam, irgendwelche Speisen herzustellen. Sie tauchte Mehlfetzen in Bratfett und erhielt so einen Süßspeise, die den Hunger stillte. Heskovetse aber sehnte sich nach frischem Fleisch. Er wollte Hirsch- oder Büffelfleisch und keine fettigen Mehlfetzen. Manchmal stahl er sich mit seinem selbst gebastelten Bogen davon und kehrte mit einem Kaninchen zurück. Es war verboten und er riskierte es, bestraft zu werden. Moekaé sagte nie etwas dagegen, denn wenn es ihm gelang, mit Beute heimzukehren, dann war er lustig und redete manchmal sogar mit Rotes-Blatt. Trotzdem konnte jeder sehen, wie sehr die Menschen abmagerten. Der ständige Hunger schwächte die Cheyenne und machte sie anfällig für Krankheiten. Auch das ungewohnt heiße Klima sorgte für Ausbrüche von Fieber und anderen Krankheiten, die bisher unbekannt bei dem Volk gewesen waren. Die ersten Opfer waren die Alten und Kinder und Moekaé sorgte sich um Rotes-Blatt. Sie war so mager, so zierlich, dass bereits ein Windhauch genügte, das Kind umzuwerfen. Sie hörte auf die Stimmen in den anderen Tipis, die um ihre verstorbenen Lieben trauerten. Immer mehr Familien weigerten sich, ihre Kinder in die Schule des weißen Mannes zu schicken, weil sie dort den Eltern entfremdet wurden und seltsame Lieder lernten. Außerdem starben gerade diese Kinder an den Krankheiten des weißen Mannes, sodass die Cheyenne glaubten, dass in den Häusern der Weißen böse Geister lebten. In den ersten Wochen starben allein über fünfzig Kinder an der Fleckenkrankheit des Weißen Mannes. Ein Verlust, der in schweren Vorwürfen endete, denn die Eltern forderten von den Häuptlingen, dass sie in den Norden zurückkehren wollten, um die verbliebenen Kinder zu schützen. Auch Heskovetse hatte Angst um seine kleine Nichte. Vielleicht hielt er deshalb Distanz zu dem kleinen Mädchen, weil er im Grunde nicht daran glaubte, dass es den nächsten Winter überstand. Noch war Rotes-Blatt zu klein, um an die Orte der Weißen zu gehen, und das schien das Kind zu schützen. Heskovetse betete für das kleine Mädchen. Und er betete für seine Frau.
Aber es war Heskovetse, der im Spätherbst daniederlag und sich in Fieberträumen hin und her wälzte. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen und sein drahtiger Körper wirkte wie das Skelett eines Toten. Moekaé war hilflos vor Angst. Ihre Zeremonien und Gebete brachten keine Linderung mehr und sie wusste nicht, wie sie ihrem Mann noch helfen sollte. Auch andere lagen krank in den Zelten und die Menschen hockten hilflos neben ihren Familienangehörigen und sahen zu, wie sie starben. Ein weißer Arzt bot seine Hilfe an, doch er konnte es nicht verhindern, dass viele Menschen starben, auch weil die benötigten Medikamente nicht eintrafen.
Der Winter kam und traf die Menschen in ihrer Trauer vollkommen unvorbereitet. Sonst hatten sie Vorräte anlegen können, doch nun waren sie von den Lebensmittellieferungen der weißen Agenten abhängig. Meist standen die Frauen in langen Schlangen an dem Gebäude an, in dem Lebensmittel, Stoffe und Decken an die Cheyenne ausgegeben wurden. Einige Frauen hatten ein wenig Gemüse gezüchtet, doch die Männer lehnten diese Arbeiten ab. Es war auf jeden Fall zu wenig, um ein hungriges Volk zu ernähren. Meist war das Fleisch bereits nach zwei Tagen aufgegessen und die übrigen Tage lebten die Menschen von hartem Mais, Mehl und Kaffee. Oft genug wurden selbst diese Rationen noch gekürzt, wenn der zuständige Agent John D. Miles die Lieferungen zurückhielt, um die Cheyenne zu bestrafen. Sie sollten Ackerbau lernen, Kurse besuchen und die Kinder zur Schule schicken, doch die Cheyenne weigerten sich hartnäckig. Sie senkten bockig die Augen, legten Decken über ihre Köpfe und drehten sich weg.
Im Winter besserte sich Heskovetses Zustand zur Erleichterung von Moekaé. Die kühleren Temperaturen schienen ihm zu helfen, während andere Menschen nun an der Winterkrankheit starben. Die Krankheit hatte Heskovetse verändert und noch kompromissloser gemacht. Immer öfter sprach er davon, in den Norden zurückzukehren. „Du wirst mit mir kommen!“, sagte er seiner Frau. „Ich will nicht, dass einst unser Kind hier geboren wird und dann stirbt, wie all die anderen Kinder!“
„Rotes-Blatt lebt!“, widersprach Moekaé.
Fast wohlwollend musterte Heskovetse das zarte Kind. „Ja, dieses dürre Etwas ist doch stärker als ich dachte.“ Mit einem Lachen zog er das Kind auf seinen Schoß und kitzelte es. Es war das erste Mal, dass er seiner Nichte gegenüber Zärtlichkeit zeigte, und das Mädchen dankte es ihm mit einem strahlenden Lächeln. „Sie wird uns gesunde Söhne gebären und eines Tages werden wir als Volk wieder stark sein. Deshalb müssen wir nach Norden gehen. Dort ist der Heilige Berg und dort sind unsere Jagdgründe. Nur dort können wir so leben, wie Mahéo es für uns vorgesehen hat. Hier können wir unsere Frauen und Kinder nicht schützen. Hier kann ich kein Mann sein.“
„Du bist mein Mann!“, betonte Moekaé mit fester Stimme.
„Aber ich ernähre dich nicht, wie es sonst zwischen Mann und Frau sein sollte. Ich schütze dich nicht. Ich bin hier zur Untätigkeit verdammt. Ich fühle mich so wenig als Mann, dass ich nicht einmal das Lager mit dir teile!“
„Du warst lange krank“, versuchte Moekaé ihren Mann aufzuheitern.
„Ja“, stimmte Heskovetse zu. „So wie viele. Aber nun geht es mir besser und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Du gehst zu der Agentur und lässt dir die Lebensmittel geben. Du versorgst das Tipi, während ich meinen Träumen nachhänge. Ich sehne mich nach dem Heiligen Berg. Ich möchte dort beten und erfahren, was Mahéo für unser Volk gesehen hat.“
„Das ist gut“, stimmte Moekaé zu. Gebete waren in der Vergangenheit immer hilfreich gewesen. „Vielleicht müssen wir lernen, einen neuen Weg zu gehen. Vielleicht musst auch du lernen, mit diesen neuen Zeiten zurechtzukommen.“
Heskovetses Augen wurden plötzlich schwarz vor Wut. „Ich will nichts lernen!“, fauchte er ungehalten. „Ich bin Krieger! Blue-Soldier! Ich will keinen Garten anpflanzen wie ein Weib. Und ich will nicht diese gefleckten Kühe züchten. Und ich will nicht, dass meine Kinder in die Schule der Weißen gehen. Verstehst du das?“
Moekaé war bei diesem Ausbruch etwas zurückgewichen und auch Rotes-Blatt versteckte sich hinter dem Rücken ihrer Tante.
Heskovetse machte eine begütigende Bewegung mit der Hand. „Ich wollte euch nicht erschrecken. Verzeiht!“
Moekaé nickte erleichtert und reichte ihm eine Schale mit Essen.
„Gib sie dem Kind“, wehrte er höflich ab. „Ich habe keinen Hunger.“
Es war eine Lüge, aber Moekaé gehorchte, denn sie wollte ihren Mann nicht erneut reizen.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete der Mann, wie das Kind hungrig das Essen hinunterschlang. Selbst für dieses kleine Kind war es zu wenig.
„Vielleicht müssen wir alle diese neuen Dinge lernen?“ Fast bittend sah Moekaé ihren Mann an. Sie war so hilflos. Auch sie wusste nicht, wie sie auf all die Neuerungen reagieren sollte. Sie sah nur den Zorn ihres Mannes und der machte sie genauso hilflos wie die fremde Umgebung.
Die Tage vergingen in Eintönigkeit und immer öfter verschwand Heskovetse, um im Zelt der Krieger Pläne für die Zukunft zu schmieden. Und er fand etwas anderes, um der Trostlosigkeit zu entgehen: Alkohol. Immer wieder kamen Händler ins Dorf, die billigen Branntwein an die Indianer verkauften. Sie tauschten ihn gegen Lebensmittel und Handarbeiten, sodass den Frauen fast nichts mehr blieb. Wertvolle Stickereien wechselten ebenso den Besitzer wie notwenige Lebensmittel. Heskovetse betrank sich gerne, denn nur dann konnte er das Elend vergessen und er fühlte sich wieder wie ein Krieger.
Er übersah, wenn seine Frau und Nichte ihn hungrig ansahen und der Topf über dem Feuer leer blieb. Manchmal taumelte er in sein Zelt, schickte das Kind hinaus und fiel über seine Frau her. Er wollte sich nicht ändern und er wollte sich auch nicht anpassen. Längst hätte sein Sohn in dem Bauch seiner Frau wachsen sollen und ihre magere Gestalt erfüllte ihn mit Unzufriedenheit. Vielleicht lenkte dieses Kind seine Frau von der Erfüllung ihrer Pflichten ab? Er wollte ein Mann sein und seinen Samen in ihr heranwachsen sehen. Er wollte die Töpfe in seinem Tipi mit Fleisch füllen und er wollte, dass alle satt waren und ihn dankbar ansahen.
Rotes-Blatt hatte längst gelernt, dass sie besser im Zelt von Büffelkalb-Frau verschwand, wenn ihr Onkel wieder mit diesem seltsamen Blick in den Augen nach Hause kam. Sie hatte ein Gespür entwickelt, wann es besser war, sich unsichtbar zu machen.
Moekaé dagegen ließ manchmal Lebensmittel verschwinden, damit ihr Mann sie nicht gegen das Geheimniswasser eintauschte. Sie versteckte das Mehl und andere Sachen in einer Grube, damit sie wenigstens eine Kleinigkeit kochen konnte. Hunger war ein ständiger Begleiter und er zehrte die Menschen aus.
Heskovetse veränderte sich zusehends. Er war kaum wiederzuerkennen, als er eines Abends in sein Zelt zurückkam und mit stierem Blick seine Frau musterte. Seine Haare waren ungepflegt und sein Gesichtsausdruck wurde dumpf unter dem Einfluss des Alkohols. Seine Frau und das Kind hatten Angst vor ihm. Vielleicht machte genau das ihn noch ärgerlicher und unnahbarer. Er hatte die vorwurfsvollen Augen des Kindes satt, die ihn musterten, als wäre er ein böser Geist. Er hatte mit anderen Männern über die Zukunft geredet und fühlte sich gut. Die vorwurfsvollen und fast ängstlichen Augen des Kindes passten nicht in seine Wahrnehmung. Er war hier der Mann im Zelt. Er wollte, dass ihm Achtung und Respekt entgegengebracht wurde.
„Geh raus!“, brüllte der Krieger plötzlich ungehalten. „Raus!“
Moekaé wurde blass und griff beschützend nach dem Kind. „Bitte!“, flehte sie ängstlich. Sie sah den Blick ihres Mannes, der von Alkohol getrübt war, und ahnte Schlimmes.
„Raus!“, wiederholte Heskovetse und dieses Mal war er heiser vor Zorn. „Ich will sie nicht sehen!“
„Aber …?“ Fassungslos blickte Moekaé auf ihren Mann, dann nahm sie hastig das Kind in ihre Arme und flüsterte ihm ins Ohr, dass es zu Büffelkalb-Frau laufen sollte. „Alles wird wieder gut! Ich hole dich zurück. Geh zu Büffelkalb-Frau und sag, dass du dort schlafen möchtest.“
Mit vor Schreck geweiteten Augen flüchtete Rotes-Blatt aus dem Tipi und Moekaé hörte auf ihre schnellen Schritte. „Was …?“, hauchte sie entsetzt, doch schon beugte sich Heskovetse zu ihr und stieß sie mit einer heftigen Bewegung auf ihr Lager nieder. „Ich zeige dir, dass ich dein Mann bin!“, knurrte er wütend. „Ich will nichts anderes lernen oder sein! Ich will, dass du gehorsam bist und endlich meinen Sohn gebierst!“
„Bitte!“, bat Moekaé voller Ahnung. „Bitte, ich bin doch gehorsam!“
Ihr Flehen wurde zu einem Wimmern, als Heskovetse ihr die Beine auseinanderdrückte und brutal in sie eindrang. „Bitte!“, hauchte sie immer wieder, um ihn in seinem Tun etwas zu bremsen. „Ich bin doch gehorsam!“
Es tat so weh, dass es ihr die Luft nahm und sich alles in ihr verkrampfte. Sie versuchte, ihr Denken auszuschalten, ihre Gefühle und ihren Körper zu vergessen, aber der Schmerz ließ es nicht zu. Alles, was sie je von ihrer Mutter gelernt hatte, wurde hier in Frage gestellt. So durfte es nicht sein. Niemals. Noch waren ihre Haare kurz und die Zeit der Trauer um ihre Eltern und Schwester nicht vorbei. Alles, was sie je gelernt hatte und an das sie stets geglaubt hatte, wurde in diesem brutalen Akt in Frage gestellt.
„Siehst du, dass ich dein Mann bin?“, herrschte er sie ungehalten an. „Siehst du es?“
Der Alkohol, der ihr ins Gesicht schlug, nahm ihr den Atem. „Ja!“, stöhnte sie. Dann wurde sie still, als er genauso plötzlich und viel zu schnell über ihr zusammensackte. Nicht so, dachte sie immer wieder. Nicht so! Sie dachte an Rotes-Blatt und war froh, dass er das Kind weggeschickt hatte. So etwas sollte kein Kind sehen. Vielleicht war es die Anwesenheit des Kindes gewesen, die ihn daran gehindert hatte, seine Männlichkeit zu beweisen. Aber zwischen Mann und Frau sollte es anders sein. Liebevoll und zärtlich, mit gegenseitigem Respekt. Sie hoffte, dass in diesem Akt kein Kind gezeugt worden war, denn es wäre nicht richtig. Sie fühlte sein pulsierendes Geschlecht und wartete darauf, dass er sich zurückzog. Sie sagte nichts und machte auch keine Bewegung. Wie tot lag sie unter ihm und wartete einfach ab, dass er sich erhob.
Es dauerte eine ganze Weile, doch schließlich rollte er sich auf die Seite und starrte an die Zeltwand. „Ich bin dein Mann“, erklärte er nun völlig ruhig. „Geh und hole das Kind!“ Immer noch stank er nach dem Fusel, aber er schien bei klarem Verstand zu sein. Eigentlich machte es das alles noch schlimmer.
Wortlos erhob sich Moekaé und verließ das Zelt. Der eisige Wind schlug ihr ins Gesicht und ließ sie wie aus einem Alptraum erwachen. Sie blinzelte, um eine Träne zu unterdrücken, dann hatte sie sich wieder im Griff. Ich werde nicht weinen, dachte sie tapfer. Ich bin eine Cheyenne-Frau. Sie schlüpfte in das Tipi von Büffelkalb-Frau und setzte sich zu ihrer Freundin ans Feuer. Rotes-Blatt sprang sofort auf und kuschelte sich auf ihren Schoß. Müde legte Moekaé ihre Arme um das Kind, dann sah sie ihrer Freundin in die Augen.
„Geht es dir gut?“, fragte Büffelkalb-Frau.
„Ja!“, antwortete Moekaé einsilbig.
„Was ist passiert?“
„Nichts!“
Jeder konnte sehen, dass es eine Lüge war, doch niemand sagte etwas. Moekaé blickte auf die anderen Menschen in dem Tipi. Da saß Schwarzer-Kojote, ein Freund von Heskovetse, den Büffelkalb-Frau inzwischen geheiratet hatte. Im Hintergrund saßen die Mutter von Schwarzer-Kojote und ein Jugendlicher, wahrscheinlich der jüngere Bruder des Kriegers. Alle hielten die Blicke gesenkt, als ahnten sie, was in dem anderen Tipi vorgefallen war. Wortlos erhob sich Moekaé und verließ mit Rotes-Blatt wieder das Tipi. Ihre Schritte waren langsam und schwer, als sie in ihr eigenes Tipi zurückkehrte. Mit dem Kind im Arm legte sie sich auf der Frauenseite des Zeltes auf ihr Lager und drehte sich so, dass sie Heskovetse nicht ansehen musste. Nichts war mehr so, wie es zu sein hatte. Nichts.
Aufbruch
Heskovetse haderte mit sich selbst. Er wusste, dass er falsch gehandelt hatte, und trotzdem blieb dieses Gefühl von Wut. Nicht gegenüber Moekaé, sondern gegenüber den Weißen, die ihn letztendlich in diese Lage gebracht hatten. Er wollte ein guter Ehemann sein. Moekaé sollte längst einen Sohn von ihm haben und er würde sich an dem Kind erfreuen. Ein kräftiger, starker Sohn würde es sein und nicht so ein schwächliches Kind wie Rotes-Blatt. Er wollte Moekaé nicht wehtun und noch verstand er nicht wirklich, warum er die Geduld verloren hatte. Sie war demütig und gehorsam und trotzdem fühlte er sich nicht als ihr Ehemann. Vielleicht lag es an der Trauerzeit oder auch an dem Kind, das ihn stets mit den großen schwarzen Augen anstarrte. Alles hatte sich verändert und er war nicht bereit, sein Leben zu ändern. Immer hatte er den Geschichten gelauscht, in denen die Heldentaten der Männer gerühmt wurden. Wie sollte er je ein solcher Krieger werden? Er durfte nicht einmal mehr zur Jagd gehen! Wie sollte Moekaé ihn respektieren, wenn es ihm nicht gelang, die Familie zu ernähren? Meist blieb der Kochtopf leer und er hatte die hungrigen Augen satt, die ihn ohne Hoffnung anstarrten. Heute hatte er Moekaé gezeigt, wo ihr Platz war, aber anstelle eines Hochgefühls, empfand er nur Scham und Bedauern. Insgeheim wusste er, dass auch dieses Gesöff schuld daran war, dass er die Geduld verloren hatte. Nichts, was diese Weißen ihnen brachten, war von irgendeinem Nutzen.
Am Morgen verließ er wortlos das Tipi und traf sich mit seinen Freunden. Er vermied es, Schwarzer-Kojote in die Augen zu sehen, der vermutlich genau wusste, was vorgefallen war, und scherzte dafür mit Wirres-Haar und Hohes-Pferd. Er musste sich für nichts rechtfertigen. Moekaé war seine Frau und er konnte mit ihr tun, was ihm beliebte.
Die Männer setzten sich zusammen und sahen dem Sonnenaufgang zu. Der Frühling kam und mit ihm die Hoffnung, dass es besser wurde. Die Männer trugen inzwischen Hosen aus Stoff, geblümte Baumwollhemden und runde Hüte auf dem Kopf. Aus der Ferne hätte man sie für Arbeiter halten können. Nur die Füße steckten in einfachen Mokassins, als wollten die Männer sich wenigstens mit dieser Kleinigkeit an ihre alte Lebensweise erinnern. Ihre Haare waren in Zöpfe geflochten, die unter dem Rand des Hutes hervorschauten.
„Ich hörte, dass die Häuptlinge nach Norden gehen wollen“, erzählte Hohes-Pferd. Sein hageres Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und ließ ihn älter erscheinen als er war. Keiner der Krieger hatte bisher seinen dreißigsten Winter gesehen, aber sie wirkten mit ihren Falten und Narben wie Großväter.
„Sie reden nur!“, meinte Heskovetse verächtlich. „Aber ich werde es tun! Ich habe es satt, vor einem leeren Topf zu sitzen.“
Schwarzer-Kojote nickte zustimmend. „Die Lebensmittel, die sie uns geben, reichen kaum, um die Kinder zu ernähren, geschweige denn uns. Ich bin ein Mann! Ich könnte einen ganzen Bison verschlingen!“
Heskovetse zwinkerte herausfordernd mit den Augen: „Warum holen wir uns nicht genügend Fleisch? Ich bin es leid, immer auf die Weißen zu warten. Sie geben uns gerade so viel, dass wir nicht sterben. Mehr nicht.“
„Sie halten uns damit schwach“, erklärte Hohes-Pferd bitter.
„Sie füttern unsere Kinder in diesem Ort, den sie Schule nennen, und unsere Kinder verlieren den Respekt vor uns.“
Heskovetse schüttelte den Kopf und stand unvermittelt auf. „Ich hole meinen Bogen und bringe gutes Fleisch in mein Tipi!“
Auch Hohes-Pferd und Wirres-Haar erhoben sich. „Wo gehen wir hin?“, fragten sie mit leuchtenden Augen.
„Weiter unten am Fluss ist die Farm eines Weißen. Wir schlachten einen Ochsen und bringen nur das Fleisch zurück. Niemand wird etwas finden, denn wir werden es gegessen haben!“ Alle lachten gut gelaunt und liefen zurück in ihre Zelte, um ihre Bögen zu holen.
Gegen Mittag hatten sie tatsächlich einen Ochsen geschossen und zerteilten mit ihren Messern das Fleisch. Jeder nahm, was er tragen konnte, und vorsichtig machten sie sich auf den Rückweg in das Dorf. Sie umgingen einige Häuser und schlüpften dann unbemerkt in die Tipis, um ihren Frauen das Fleisch zu geben.
Heskovetse reichte seiner Frau verlegen das Fleisch. Noch war die schändliche Tat nicht vergessen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und so musterte er sie nur. Sie war so jung und hübsch. Er würde ihr nie wieder wehtun!
Sie sah ihn mit ihren sanften Augen an und wieder fühlte er diese Schuld. Sie stach wie ein Messer in sein Herz. „Ich trinke nicht mehr“, murmelte er ernst. „Denn es macht, dass wir vergessen, wer wir sind!“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen vor Freude und Heskovetse fühlte sich schlecht. Sie war eine gute Frau und niemals hätte er sie auf so schändliche Weise behandeln dürfen. Es war gut, dass er ihren Topf mit gutem Fleisch füllte. Er würde dies in Zukunft immer tun! Gierig stopften alle das Fleisch in den Mund, sodass ihnen das Fett über das Kinn lief. „So sollte es immer sein!“, murmelte er leise. „Ich bringe das Fleisch.“
Moekaé nickte nur mit vollem Mund und schnitt noch mehr Fleischstücke klein, die das Kind besser kauen konnte. „Dann ist auch Rotes-Blatt nicht mehr so dürr“, meinte Heskovetse ernst. „Ich bin jetzt ihr Vater und ich werde sie nie wieder hinausschicken!“ Er fühlte sich besser, denn am Blick seiner Frau konnte er erkennen, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.
Kurze Zeit später kam bereits die Lagerpolizei in Begleitung des erbosten Farmers und durchsuchte die Zelte nach dem gestohlenen Fleisch. Sie fanden nichts. Die Töpfe waren leer und auch in den Vorratsbehältern wurde außer ranzigem Fett und mit Maden verseuchtem Mehl nichts gefunden. Die Menschen hockten teilnahmslos zusammen und ließen die Überprüfung stoisch über sich ergehen. Kleidung wurde durch die Tipis geworfen, Kochgeschirr umgestoßen und Mehl zum Teil verschüttet, um nach Patronen zu suchen, doch die Polizisten fanden nichts. Unverrichteter Dinge zogen sie wieder ab, während der Farmer tobend und schimpfend zum Agenten lief, um sich zu beschweren.
Der Agent ließ in seiner Hilflosigkeit das ganze Volk bestrafen und kürzte bei der Lebensmittelausgabe erneut die Rationen. Wut über diese Ungerechtigkeit breitete sich aus und die Stimmen mehrten sich, die verlangten, dass sie wieder in den Norden ziehen durften. Hin und wieder verschwanden einfach junge Männer und machten sich allein auf den Weg in die Heimat. Der Agent reagierte darauf mit einer Verstärkung der Truppen. Außerdem forderte er Geiseln von den Häuptlingen, damit verhindert wurde, dass noch mehr Menschen die Reservation verließen.
All diese Maßnahmen dienten jedoch nur dazu, dass selbst die Häuptlinge an keinen Frieden mehr glaubten und noch entschiedener den Plan verfolgten, das Volk in die Heimat zurückzuführen.
Heskovetse sah dies mit Befriedigung. Er hatte sich zwei Männern anschließen wollen, die bereits zu Beginn des Sommers nach Norden aufgebrochen waren, doch nun wartete er ab. Seine Augen leuchteten voller Tatendrang und er war ausgeglichen und ruhig. Bald! Bald hätte die Untätigkeit ein Ende. Zum ersten Mal seit langem war er wieder der sorgende Ehemann und liebevolle Vater. Ja, er würde sein Weib nach Norden führen und er würde für Rotes-Blatt der Vater sein. Im Norden würde das Kind aufblühen und seiner Frau eine wertvolle Hilfe sein, wenn sie erst seine Kinder trug. Ein Mädchen war doch keine so schlechte Sache. Rotes-Blatt war noch klein und doch konnte sie bereits ein Feuer hüten und Wasser vom Fluss holen.
Manchmal legte sich Heskovetse zu seiner Frau und streichelte sie sanft. Er wollte ihr nicht wehtun, wenn er seinen Samen in ihren Bauch pflanzte. Das Kind sollte sie erfreuen und musste daher in Liebe gezeugt werden. Sein Hass galt den Vehoe, den Spinnenwesen, die mit ihrer Art die Welt überzogen und vernichteten. Seit langem betete er wieder, reinigte sich im täglichen Bad, kämmte sich sorgsam die Haare und achtete darauf, dass es seiner Frau und seiner Tochter gutging. Er redete das Kind nun mit „meine Tochter“ an und das schien Moekaé sehr zu erfreuen. Moekaés Haare flossen inzwischen wieder über ihren Rücken und sie hatte nach dem Jahr der Trauer begonnen, sie wieder in ordentliche Zöpfe zu flechten. Auch Rotes-Blatt trug ihre Haare inzwischen in Zöpfe geflochten und wirkte nun nicht mehr wie ein Baby, sondern wie ein kleines Mädchen. Beide trugen die bunten Kleider der weißen Frauen. Fast niemand besaß mehr die schön bestickten Gewänder aus Hirschleder. Auch Heskovetse trug eine dunkle Hose aus Stoff, ein Kalikohemd und eine Weste. Nur der Lendenschurz, den er über der Hose trug, ließ erahnen, dass er ein Cheyenne-Krieger war, oder die Mokassins, die Moekaé ihm aus der Kuhhaut geschnitten und zusammengenäht hatte. Wenn er im Norden zur Jagd ging, dann würde Moekaé ihm wieder die traditionelle Kleidung nähen. Er wollte ein Hemd aus weichem Hirschleder, schön bestickt mit den Mustern seines Volkes. Er wollte Leggins und nicht diese kratzende Hose. Sie würden in einem Tipi aus Büffelhäuten leben, durch das nicht der eisige Wind pfiff, und sie würden ihre müden Häupter des Nachts auf warmen Büffelfellen ausruhen. Rotes-Blatt würde mit den anderen Mädchen Holz sammeln und die Fransen ihrer Kleider würden die Knöchel umspielen. Manchmal träumte Heskovetse mit offenen Augen von diesem Leben in der Zukunft. Er kannte viele versteckte Täler, in denen sie ihre Tipis aufschlagen konnten und durch die klare Bäche flossen, an dessen Ufer die buntgescheckten Ponys grasen konnten. Er dachte an sein Lieblingspony, das wahrscheinlich bei dem damaligen Angriff der Soldaten mit den anderen Tieren abgeknallt worden war. Er hatte es von klein auf großgezogen und ausgebildet. Der Verlust schmerzte noch immer. Warum die Soldaten die Ponys einfach töteten, ging über seinen Verstand. Diese blinde Zerstörungswut, ein ganzes Dorf niederzubrennen und die Ponyherde zu töten, war in seinen Augen unvorstellbar grausam. Heskovetse dachte an die wenigen Tiere, die ihnen noch geblieben waren. Immer waren die Ponys ihr Reichtum gewesen, doch nun wiesen ihnen die Weißen Ackergäule zu, die nur dazu gut waren, den Pflug zu ziehen. Im Winter mussten sie gefüttert werden, weil sie zu dumm waren, um sich selbst ihr Futter zu suchen. Die Tiere waren in seinen Augen wertlos und nicht zu vergleichen mit den schnellen, drahtigen Ponys, mit denen sie sonst über die Prärie gezogen waren. Fast verächtlich stieß er ein Grunzen aus, als er daran dachte, dass sie nun mit diesen Ackergäulen nach Norden aufbrechen würden.
„Was hast du gesagt?“, riss ihn Moekaés Stimme aus seinen Tagträumen.
Heskovetse blickte auf und sah zu, wie Moekaé an einem Mokassin nähte. Seine Frau war fleißig und das erfüllte ihn mit Zufriedenheit.
„Sieh zu, dass du genügend Mokassins für die Reise hast“, meinte er freundlich. „Und mach mir Leggins! Diese Hose ist nichts für eine lange Reise.“
Sie nickte eifrig. „Aber ja!“
Er lächelte. „Wir werden bald aufbrechen und dann können wir nur das Nötigste mitnehmen.“
„Wir haben nicht viel“, meinte Moekaé. „Es wird in einem Bündel Platz haben.“
„Ich nehme nur meine Puppe mit“, erklärte Rotes-Blatt mit wichtiger Stimme. Heskovetse lachte herzhaft und stupste dem Kind in den Bauch. „Für deine Puppe werden wir auf jeden Fall einen Platz finden!“
„Nicht wahr? Ich kann sie ja an meinen Bauch binden, so wie Nahgo das Baby!“
„Welches Baby?“, fragte Heskovetse verwirrt.
Moekaé wurde dunkelrot und senkte verlegen den Kopf. Dann zeigte sie vielsagend auf ihren Bauch. „Ich bin mir nicht ganz sicher …“
Heskovetses Augen strahlten voller Stolz und er streichelte behutsam über ihren Bauch. „Aber ich bin mir sicher! Siehst du, unser Kind weiß, dass es im Norden geboren wird. Deshalb ist es gekommen!“
Moekaé senkte zweifelnd den Blick. „Ich habe Angst. Der Weg ist doch so weit. Und es wird bestimmt sehr anstrengend. Vielleicht sollten wir warten, bis es geboren ist.“
„Unser Sohn ist Cheyenne. Er wird stark genug sein!“
Heskovetses Stimme ließ keinen Widerspruch zu und so schwieg Moekaé einfach. Sie unterdrückte ein Seufzen, um ihren Mann nicht zu reizen. Noch war ihr Bauch kaum gerundet, die Schwangerschaft noch nicht einmal zu ahnen. Wahrscheinlich wären sie längst im Norden, ehe die Reise für eine Schwangere zu anstrengend wurde. Ihr Baby würde im Frühling geboren werden und sie rechnete damit, dass sie zu Beginn des Winters längst ein sicheres Dorf erreicht hatten.
Vielleicht hatte sie sich auch geirrt und in den nächsten Tagen setzte die Blutung ein. Sie machte eine leichte Bewegung mit der Hand und schob die Sorgen beiseite. „Ich hätte Rotes-Blatt nichts sagen sollen“, meinte sie begütigend. „Aber ich habe nicht viele Menschen, mit denen ich reden kann. Ein Baby war ein so schöner Gedanke. In ein paar Tagen weiß ich es sicher.“
Heskovetse beugte sich vor und lächelte frech. „Wenn du mir in ein paar Tagen sagst, dass dein Bauch sich doch nicht rundet, dann kriechen wir noch mal in die Felle!“
Moekaé kicherte erleichtert. „Dann wärst du nicht böse?“
„Aber nein!“, versicherte Heskovetse freundlich. „Aber dann warten wir, bis wir im Norden sind. Damit du keine Angst mehr zu haben brauchst.“
Moekaé lächelte erfreut. So sollte ihr Mann sein. Fürsorglich!
„Ich lasse es dich wissen.“
Am Abend kehrten Dull-Knife und Little-Wolf sichtlich erregt von einer Unterredung mit dem Agenten zurück. Geflüster ging durch das Dorf und plötzlich herrschte überall hektische Betriebsamkeit. Heskovetse kehrte zu seinem Tipi zurück und wedelte ungeduldig mit der Hand. „Pack zusammen. Wir brechen auf!“
„Wann?“, wunderte sich Moekaé.
„Jetzt!“
„Im Dunkeln?“, wunderte sich Moekaé.
„Ja! Anscheinend wollen sie Geiseln von uns nehmen. Sie werden am Morgen kommen, aber dann sind wir längst weg. Nun beeile dich! Und nimm genügend Vorräte mit!“
Moekaé begann mit fliegenden Händen alles einzupacken, was ihr für die Reise wichtig erschien. Sie hatte nicht viel und so stopfte sie ein Kleid zum Wechseln, Mokassins und Vorräte in ihre Taschen. Rotes-Blatt stand mit großen Augen daneben und wunderte sich über den Trubel. „Wo gehen wir denn hin?“, fragte sie.
„Heim!“, antwortete Moekaé.
Sie wickelte eine Decke um ihren Leib und nahm eine weitere Decke über ihre Schulter, dann verließ sie mit den Bündeln das Tipi. Wehmütig blickte sie auf das Zelt, das stehen bleiben sollte. „Es würde uns nur aufhalten!“, hatte Heskovetse erklärt. „Außerdem täuscht es die Soldaten, wenn die Tipis noch stehen und die Feuer brennen. Schichte Holz nach, damit die Soldaten glauben, dass wir noch da sind!“
Moekaé hatte gehorcht und stand nun vor dem Pferd, das Heskovetse ihr brachte. Er selbst saß auf einem Pony und trug ein Gewehr in der Hand. Sie fragte nicht, wo er es her hatte, denn auch andere Männer waren plötzlich bewaffnet. Ihr Herz schlug bis zum Hals vor Aufregung. Wieder würden Soldaten hinter ihnen her sein und Menschen sterben. Sie setzte Rotes-Blatt in den Sattel und kletterte hinterher. Das Pferd war ungewohnt hoch, schien aber brav zu sein. Mit ihren Hacken klopfte sie dem Tier in die Seite und es setzte sich in Bewegung. Moekaé lenkte es zu den anderen Frauen und Kindern, die eine ordentliche Reihe bildeten und bereits das Lager verließen. Alle saßen auf Pferden und Ponys, selbst kleinere Kinder und Mädchen. Einst war die Ponyherde ihr ganzer Stolz gewesen und nun würden sie mithilfe der Ponys in ihre Heimat zurückkehren. Sie waren froh, dass sie die Ponys nicht in Zeiten des Hungers geschlachtet hatten. Bereits im nächsten Frühjahr würden sie Fohlen haben und in baldiger Zukunft würden die Cheyenne wieder genügend Ponys haben. Es wurde dunkel, doch entschlossen wandten sich die Menschen erst nach Westen, später dann nach Norden und verschwanden im Flussbett des nördlichen Canadian Flusses.
Heskovetse flankierte den Zug der Frauen und Kinder und spürte zum ersten Mal seit langem ein Hochgefühl. Stolz trug er neue Leggins, ein einfaches Hemd und darüber die Uniformjacke der Soldaten. Er war nun wieder ein Blue-Soldier, ein Kämpfer, ein Cheyenne-Krieger. Er dachte nicht an das Kind, das vielleicht in Freiheit geboren wurde, oder an die anderen Frauen und Kinder. Er fühlte sich wieder als Krieger, der sein Volk schützte und aus der Gefangenschaft führte. Der Wind war immer noch der gleiche, der durch sein Haar fuhr, und doch fühlte er sich anders an. So, als könne man bereits den Schnee riechen, der im Norden auf sie warten würde. Hohes-Pferd ritt neben ihm und er konnte im fahlen Licht der Sterne dessen Lächeln erkennen. „Es sind viele aufgebrochen!“, nickte Hohes-Pferd ihm zu. Heskovetse nickte zustimmend. An die sechzig Krieger, über hundert Frauen und bestimmt hundertfünfzig Kinder hatten sich auf den Weg nach Norden gemacht. Gleichzeitig verdüsterte sich sein Gesicht ein wenig. Sie mussten offenes Gelände überqueren und es würde schwierig werden, eine so große Anzahl an Menschen zu verbergen. „Wir werden nachts reiten!“, bemerkte er zuversichtlich.
„Die Soldaten werden uns folgen“, meinte Hohes-Pferd zögernd.
Heskovetse grinste herablassend. „Nicht vor morgen früh, wenn wir Glück haben, sogar noch später. Wenn wir die ganze Nacht hindurch reiten, haben wir einen großen Vorsprung.“
„Wenn wir nur Krieger wären, wäre der Vorsprung genug, aber wir reisen mit Frauen und Kindern!“, wandte Hohes-Pferd ein.
Heskovetse zuckte die Schultern. „Sie werden schnell reiten müssen!“
Die beiden Männer schwiegen und schlossen sich den anderen Reitern an, die sich an die Spitze der Kolonne setzten, um nach einem guten Weg zu sehen. Es war schön zu sehen, wie wieder die Federn im Wind wehten, die die Männer an ihrem Schopf oder an den Hüten befestigt hatten. Wer konnte, hatte auf die Kleidung der Weißen verzichtet. Sie gingen nach Norden, um wieder als Cheyenne zu leben.
Wenn es die Sicht zuließ, dann trieben sie die Pferde zu einem Trab an. Mehrmals überquerten sie abgeerntete Felder und erlaubten sich einen schnellen Galopp, um das offenen Gelände möglichst ungesehen zu verlassen. Zweimal durchschritten sie den Canadian Fluss in dieser Nacht, dann schwenkten sie nach Norden, um irgendwann den Cimarron Fluss zu erreichen und an dessen Ufer entlangzureiten. Sie machten keine Rast und trieben die Frauen und Kinder auch am nächsten Tag unbarmherzig weiter. Sie wussten, dass die Soldaten ihnen folgen würden und die Soldaten mussten keine Rücksicht auf Frauen und Kinder nehmen.
Manchmal kamen sie an Farmen vorbei und amüsierten sich, wenn die Weißen sich hinter ihren Fenstern und Türen verbarrikadierten. Die Häuptlinge hatten angeordnet, dass niemand zu Schaden kommen sollte, und noch hielten sich die jungen Männer daran. Heskovetse hatte kein Mitleid mit den Weißen, aber er wusste, dass jeder Kampf Zeit kosten und sie nur unnötig aufhalten würde. Noch hatten sie genügend Vorräte und Pferde. Er konnte abwarten, bis die Häuptlinge etwas anderes entschieden.
Hin und wieder kehrte er um und sah nach Moekaé und Rotes-Blatt, die müde auf dem Pferd hockten. Aber es lag nicht an ihm, eine Rast zu befehlen, und so ignorierte er ihre Blicke.
Am Abend hob Little-Wolf schließlich die Hand und gab das Zeichen für eine kurze Rast. Die Pferde waren erschöpft und mussten grasen. Sie hatten den Cimarron erreicht und noch hatte die Nachhut keine Soldaten gesichtet. Die Menschen ließen die Pferde zum Fluss laufen und das saftige Gras fressen, während die Frauen zum ersten Mal ihre Bündel öffneten und sich etwas zu essen holten. Auch die Männer setzten sich schweigend dazu und nahmen dankbar von dem Wenigen, was ihnen die Frauen reichten. Der Mond ging auf und warf sein Licht auf die vielen Menschen, die sich einfach im Gras zusammengekugelt hatten, um etwas zu schlafen. Gegen Mitternacht brachen die Cheyenne wieder auf. Der kurze Schlaf hatte die Männer erfrischt, nur die Kinder hingen in den Armen ihrer Mütter und versuchten, noch ein bisschen zu dösen. Manchmal war leises Greinen zu hören, wenn ein Kind zu erschöpft war und nicht weiterreiten wollte.
Heskovetse blieb bei Schwarzer-Kojote und Hohes-Pferd und sicherte den Weg, den vielleicht auch die Soldaten nehmen würden. Ihre Ponys trotteten dahin und die Aufmerksamkeit ließ nach. Soldaten ritten nicht bei Nacht.
Zwei weitere Tage ritten die Cheyenne im scharfen Tempo nach Norden, dann signalisierten die Späher plötzlich, dass Gefahr drohte. Die Soldaten hatten sie eingeholt!
Dull-Knife und Little-Wolf gaben den Frauen und Kindern das Signal, in Deckung zu gehen, während die Männer in einigen Bodensenken und hinter Hügeln in Stellung gingen. Little-Wolf trat den Soldaten entgegen und bat um eine Unterredung. Noch versuchte er, einen Kampf zu vermeiden. Heskovetse lag in einer Bodenwelle und visierte einen Soldaten an. Er brauchte nur den Finger zu krümmen, doch er war diszipliniert genug, auf das Zeichen zum Angriff zu warten.
Er konnte sehen, wie ein Dolmetscher auf den Häuptling einredete und dieser immer wieder stoisch den Kopf schüttelte und nach Norden zeigte. Es war klar, was er zu sagen hatte. Sie würden nicht umkehren, sondern ihren Weg fortsetzen. Heskovetse lächelte freudlos. Nein, niemals würde er in das Camp zurückkehren! Niemals! Selbst wenn die Häuptlinge anders entschieden, würde er seinen Weg fortsetzen. Dort, im Süden, lauerte nur der Tod. Er wollte keinen weiteren Winter in diesem Elend verbringen. Schweiß lief ihm über die Stirn und zum ersten Mal dachte er an das Ungeborene. Moekaé hatte ihm noch nicht gesagt, ob es heranwuchs oder nicht. Fast hoffte er nun auf dieses Kind. Es sollte wissen, dass er hier lag, bereit für dieses zu sterben. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Geschehen vor ihm, denn bei den Soldaten war plötzlich Unruhe ausgebrochen. Einige versuchten anscheinend, die Cheyenne zu umgehen, und plötzlich hallten Gewehrschüsse durch das Tal.
Little-Wolf tauchte weg und rannte geduckt in die Sicherheit seiner eigenen Krieger. Auch Heskovetse erhob sich und gab dem Häuptling Feuerschutz. Sein Gewehr gab Schuss um Schuss ab und tauchte alles in Pulverdampf.
Kinder und Frauen schrien voller Angst und er hoffte, dass Moekaé entkommen konnte. Vor ihm war ein Soldat zusammengesackt und er kroch näher, um sich dessen Waffen zu holen. Heskovetse blickte in blaue Augen, die ihn bittend ansahen, doch Heskovetse kannte kein Mitleid mehr. Er nahm sein Messer und stach es dem Feind mitten ins Herz. Er fühlte eine solche Befriedigung, als dessen Augen brachen, dass er am liebsten gejubelt hätte. Schnell nahm er das Gewehr und schnallte sich den Patronengurt um, dann kroch er wieder in die Deckung der Bodenwelle zurück. Hastig lud er das neue Gewehr und brachte es in Anschlag. Überall um ihn herum flog der Dreck, als Kugeln neben ihm einschlugen. Er zielte sorgfältig und traf einen weiteren Feind mitten ins Herz, dann sprang er auf und jagte davon, um eine bessere Deckung zu erreichen. Schwer atmend tauchte er hinter einen Felsen und grinste Wirres-Haar an, der hier ebenfalls versteckt gelegen hatte. Überall hatten die Krieger das Feuer auf die Soldaten eröffnet und zwangen so den Feind, in Deckung zu bleiben. Dull-Knife erhob sich aus seiner Deckung und gab einigen Männern mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Pferdegetrappel war zu hören und Heskovetse wusste, dass Dull-Knife die Gelegenheit ergriff, um die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Immer wieder erhob er sich, um die Soldaten mit einem wahren Kugelhagel einzudecken. Beißender Rauch erfüllte die Luft und er spürte den Rückstoß des Gewehres an seiner Schulter. Seltsamerweise hatte er keine Angst. Er hatte diesen Weg gewählt und er war bereit, dafür in den Tod zu gehen.
Der Kampf dauerte bis in die Dunkelheit, aber selbst dann zogen sich die Männer nicht zurück. Die Frauen brauchten jeden Vorsprung, den sie kriegen konnten. Hin und wieder fiel ein Schuss, doch ansonsten blieb es in der Nacht ruhig. Heskovetse und Hohes-Pferd wechselten sich mit der Wache ab und gönnten sich sogar die Zeit zu schlafen. Einem Mann genügten oft nur wenige Stunden, um wieder ausgeruht und kampfbereit zu sein. Bei Sonnenaufgang pfiffen erneut Kugeln durch die klare Luft. Die Krieger ließen sich nicht provozieren und blieben in Deckung. Trotzdem verhinderten sie hartnäckig, dass die Soldaten weiterziehen konnten. Den ganzen Tag über lieferten sich die gegnerischen Parteien Feuergefechte, dann wurde es wieder still, als in der Dunkelheit gezielte Schüsse nicht mehr möglich waren.
Heskovetse verzog freudlos die Lippen. Irgendwo im Tal hinter ihnen warteten die Ponys, um sie zu den Frauen und Kindern zurückzubringen. Ihr Vorsprung würde beträchtlich sein und wahrscheinlich würde es einen guten Tag dauern, ehe die Krieger zu ihnen aufschließen konnten. Es war gut so!
Am Morgen machten die Soldaten einen plötzlichen Ausbruchsversuch und Heskovetse hechtete vorwärts, um noch den einen oder anderen zu erwischen. Auch andere Krieger sprangen aus der Deckung und rannten schreiend und schießend auf die flüchtenden Soldaten zu. Heilloses Durcheinander brach aus und johlend sahen die Cheyenne zu, wie die Soldaten vollkommen ungeordnet in Richtung des Flusses flohen. Sie brauchten Wasser! Das war der Grund für den plötzlichen Rückzug. Heskovetse lachte, dann griff er Hohes-Pferd an die Schulter. „Lass uns zurückreiten. Wir haben die Soldaten aufgehalten. Es wird sie Zeit kosten, sich neu zu formieren und uns zu folgen!“
Erschöpft, aber zufrieden wandten sich die Männer den Ponys zu und machten sich im leichten Trab auf den Weg, die Frauen und Kinder einzuholen. Die Ponys waren frisch und ausgeruht und reckten unternehmungslustig die Nüstern in den Wind. Heskovetse fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Er hatte Hunger wie ein Wolf, aber er fühlte das Pulsieren des Blutes in seinen Adern und genoss die Bewegungen des Ponys unter sich. Er hatte früher schon Hunger ausgehalten. Aber wieder über die Prärie zu jagen und das Gefühl zu haben, frei wie der Adler zu sein, war etwas, das er nie wieder missen wollte. Sie ritten westwärts und vermieden es, in die Nähe von Dodge City zu kommen. Längst hatten sie das Indianerterritorium verlassen und befanden sich in Kansas. Die Cheyenne kannten das Gebiet und wieder waren sie betroffen, wie schnell dieses Land von den weißen Farmern in Besitz genommen worden war.
Am Abend erreichten sie die wartenden Frauen und Kinder. Alle waren froh, dass niemand getötet worden war, und das gab den Menschen die Zuversicht, dass sie unter einem guten Stern standen. Sie wurden von dem Heiligen Bündel geschützt und das gab ihnen Kraft.
Mit ruhiger Stimme teilte Little-Wolf die Menschen in kleine Gruppen auf, damit sie unentdeckt nach Norden entkamen. Das Land bot nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, und so war es sicherer, in kleinen Gruppen zu verschwinden. Meist reisten sie im Schutz der Dunkelheit und blieben tagsüber in kleinen Senken versteckt. Einige Tage später kam es zu einer erneuten Schießerei am Bluff Creek, doch die Krieger wehrten die Soldaten nach einem kurzen Gefecht ab und trieben die Frauen und Kinder zu einer schnellen Flucht.
Kansas
Moekaé war am Ende ihrer Kräfte. Die tagelange Flucht hatte sie ausgezehrt und ihre Vorräte waren längst erschöpft. Rotes-Blatt war still geworden und saß meist teilnahmslos vor ihr im Sattel. Wenn sie tagsüber rasteten, fiel das Kind in einen traumlosen Schlaf, der mehr einer Ohnmacht glich, während Moekaé kaum ruhen konnte, weil jederzeit mit einem Angriff zu rechnen war. Jeder Weiße zwischen hier und dem Heiligen Berg im Norden schien es darauf abgesehen zu haben, sie aufzuhalten. Die Krieger hatten zwei Cowboys getötet, die ohne Vorwarnung auf sie geschossen hatten. Die Häuptlinge hatten befohlen, jeden Kontakt zu vermeiden, um den Soldaten keinen Anhaltspunkt zu geben, wo die Cheyenne sich gerade aufhielten. Aber zufällige Begegnungen ließen sich nicht vermeiden, gleichgültig wie gut die Späher den Weg sicherten.
Die Frauen und Kinder waren in ständiger Furcht, dass plötzlich jemand auf sie schoss. Die Weißen machten keinen Unterschied, ob sie einen Krieger, eine Frau oder ein Kind vor sich hatten. Manchmal kam Heskovetse bei seiner Familie vorbei und blickte stirnrunzelnd auf seine erschöpfte Frau. Er wusste, dass Moekaé Nahrung brauchte, damit das Ungeborene in ihrem Leib gut gedeihen konnte. Manchmal kam er an weißen Siedlungen vorbei, aber noch folgte er der Anweisung der Häuptlinge, ihre Anwesenheit zu verbergen. Einmal nur gelang es den Männern, ein verirrtes Kalb zu töten und zu den hungrigen Menschen zu bringen. Die Frauen wagten es nicht, ein Feuer zu entzünden, sondern wickelten das Fleisch um Grasbüschel, die sie kurz anzündeten, um das Fleisch zu garen. Für jeden waren es nur ein paar Bissen, doch es genügte, um die Hoffnung auf bessere Nahrung in die Menschen zu pflanzen. Ja, irgendwann würden sie die Siedlungen hinter sich lassen und dann könnten sie wieder zur Jagd ziehen. Noch hatten die Krieger die Fähigkeit des Jagens nicht verlernt.
Nach einigen Tagen kam es am Sand Creek zu einer Schießerei mit Cowboys. Vielleicht waren sie durch die getöteten Männer auf die Spur der Indianer gebracht worden, oder das verirrte Kalb war doch nicht so einsam gewesen, wie sie gedacht hatten.
Moekaé glitt vom Pferd und riss Rotes-Blatt herunter, als plötzlich Kugeln um sie herum flogen. Schnell gingen die Frauen und Kinder in Deckung, während die Krieger eine Verteidigungslinie bildeten. Einige Männer schickten die Frauen und Kinder hinter einen niedrigen Hügel und gaben mit Handzeichen zu verstehen, dass sie dort bleiben sollten. Mit klopfendem Herzen ging Moekaé in Deckung und drückte Rotes-Blatt ganz fest an sich. Das Kind hatte den Mund weit aufgerissen vor Furcht und doch drang kein Ton aus seinem Mund. Schüsse waren zu hören und Moekaé betete zu Mahéo, dass es den Männern gelang, die Vehoe aufzuhalten. Instinktiv griff sie zu dem Revolver, den sie stets unter ihrem Kleid versteckt hielt. Er war geladen und im Notfall würde sie sich das Leben nehmen.
Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie plötzlich an das Ungeborene dachte. In welche Welt würde es geboren werden? Würde sie es überhaupt jemals sehen, oder würde es mit ihr durch eine Kugel sterben? Noch war es wahrscheinlich winzig klein und fast hoffte sie, dass es ihren Leib wieder verließ. Irgendwann wären die Zeiten besser, wenn es je bessere Zeiten für ihr Volk gab. Sie drückte gegen ihren Bauch und versuchte abzuschätzen, ob es überhaupt noch da war. Aber sie hatte keine Blutung gehabt und so musste sie annehmen, dass es weiterhin wuchs. Es gab Wege, eine Schwangerschaft zu beenden und zum ersten Mal dachte Moekaé über diese Möglichkeit nach. Doch dann dachte sie an Heskovetse, der sich dieses Kind so sehr wünschte. Für Heskovetse lag die Zukunft in diesem Kind.
Moekaé wischte die Tränen weg und atmete tief ein. Es war nicht ihre Entscheidung, ob dieses Kind geboren wurde. Wenn es stark genug war, dann würde es die Entbehrungen überstehen, oder es würde zu Mahéo zurückkehren. Sie drückte Rotes-Blatt an sich, die immer noch mit vor Schreck geweiteten Augen auf die Schüsse hörte.
Moekaé zeigte mit ihrer Hand auf die untergehende Sonne: „Sieh nur, bald wird es dunkel. Dann hört das Schießen auf!“
Sie hatte recht. Langsam senkte sich die Dunkelheit über das Land und Stille breitete sich über den sanften Hügeln aus. Dann kam Heskovetse mit schlechten Nachrichten zurück: „Die Soldaten sind eingetroffen! Sie werden am Morgen angreifen!“
Moekaé versuchte, diese Nachricht irgendwie zu akzeptieren, und konnte es doch nicht verhindern, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie war dankbar für die Dunkelheit, damit Heskovetse es nicht sah. „Und nun?“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
„Wir kämpfen“, meinte Heskovetse leidenschaftslos. Mit einem Satz war er wieder verschwunden und ließ Moekaé mit ihren Ängsten und Sorgen allein. Seine Aufgabe war es, die Frauen und Kinder zu schützen, nicht zu trösten. Dafür war jetzt keine Zeit.
Heskovetse lief zu den anderen Männern und ließ sich bei Hohes-Pferd und Wirres-Haar ins Gras fallen. Die Männer hatten damit begonnen, aus Steinen eine provisorische Befestigung zu bauen, und Heskovetse duckte sich nun dahinter und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. In der Ferne leuchteten einige Feuer, an denen die Soldaten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Weiter rechts im Tal hatten die Cowboys ihr Camp aufgebaut. Ansonsten war es ruhig. Vorsichtig erhoben sich die Männer und sammelten weitere Gesteinsbrocken, um den Wall zu erhöhen. Dann gruben sie mit ihren Messern Grasbüschel aus und stopften sie dazwischen. Heskovetse wunderte sich ein wenig über die Taktik, denn noch lagen die Frauen und Kinder in dem Tal versteckt, anstatt die Flucht fortzusetzen. Aber vielleicht brauchten alle eine Rast. Er lag hinter den Steinen und schloss für einige Momente die Augen. Sie waren schwer und er konnte sie nur noch mit Mühe offen halten. Seit Tagen waren sie unentwegt in Bewegung gewesen, immer auf der Hut vor den Weißen, nun forderte die Erschöpfung ihren Tribut. Er schlief tief und traumlos, bis er von einem Rütteln an der Schulter wieder geweckt wurde. Blinzelnd und orientierungslos blickte er in das grinsende Gesicht von Wirres-Haar, der ihm wortlos das Gewehr in die Hand drückte. Heskovetse drehte sich auf den Bauch und schaute prüfend über die wackelige Befestigung. Auch die Feinde waren erwacht und er konnte die Kochfeuer sehen. Sein Magen knurrte unüberhörbar und er sehnte sich nichts mehr herbei, als dort hinunterzustürmen und den Feinden die Kochtöpfe zu rauben. Auch dieses schwarze Getränk wäre jetzt nicht schlecht, um endgültig wach zu werden. Dann gab es nur noch sein Gewehr und die Patronen, die er immer in das Magazin stopfte, um die Wellen der Angreifer aufzuhalten, die versuchten, ihre Stellung zu erstürmen. Querschläger zischten über ihn hinweg, Gras spritzte auf, als Kugeln viel zu nah bei ihm einschlugen; Rauch nahm ihm die Sicht und er hustete, um den beißenden Qualm aus seinen Lungen zu bekommen. Gegen Mittag kam das Zeichen zum Rückzug, denn die Weißen versuchten nun von mehreren Seiten, die Cheyenne einzukesseln. Außerdem drohte den Frauen und Kindern Gefahr. Rennend und schießend zogen die Indianer sich auf den nächsten Hügel zurück, während die Soldaten die provisorische Stellung der Indianer eroberten.
Einige Krieger wurden weggeschickt, um den Rückzug der Frauen und Kinder zu decken. „Geht nach Norden! Wir holen euch in der Nacht wieder ein!“, schrie Little-Wolf mit hektischer Stimme, während seine Männer eine Salve nach der anderen auf die Soldaten schossen. Die Soldaten lagen nun hinter dem Steinwall, den die Indianer vorher mühsam errichtet hatten, während die Krieger schlecht geschützt in Bodenwellen und manchmal nur hinter Erderhebungen lagen. Mit dem Mut der Verzweiflung rannten einige Männer eine Senke entlang, schlugen einen Bogen und griffen dann die Soldaten von hinten an. Völlig irritiert ließen die Soldaten sich narren und zogen sich wieder etwas zurück, während einige Blue-Soldiers, unter ihnen Heskovetse, bis in das Camp der Soldaten vordrangen, das nun kaum geschützt vor ihnen lag. Sie töteten zwei junge Soldaten, die von dem Angriff vollkommen überrascht waren, kletterten dann in einen Munitionswagen und griffen sich an Patronenschachteln, was sie tragen konnten. Genauso schnell, wie sie gekommen waren, zogen sich die Krieger zurück und verschwanden im Dauerlauf hinter den rollenden Hügeln.
Schnaufend und vor Aufregung zitternd warfen sie sich schließlich in den Schutz der anderen Männer und verteilten hastig die erbeutete Munition.
Heskovetse grinste breit, als er Wirres-Haar und Hohes-Pferd die Munition geben konnte. „Die Soldaten haben vor Angst den Urin laufen lassen, als wir dort ankamen! Sie standen einfach nur da wie Präriehunde und fielen um, als unsere Kugeln sie trafen.“ Theatralisch riss er die Augen auf und ließ sich ins Gras plumpsen. Die anderen Männer lachten ebenfalls und luden dann hastig die Gewehre. Schuss um Schuss jagten sie in die Front der angreifenden Feinde. Doch es wurde eng. Von allen Seiten drangen die Weißen vor und es war abzusehen, dass die zahlenmäßig überlegenen Soldaten sie irgendwann überrennen würden. Immer wieder mussten die Cheyenne sich zurückziehen und hinter einer Verteidigungslinie, die im Grunde keinerlei Schutz bot, in Deckung gehen. Mehrere Krieger waren bereits verwundet und mussten aus der Gefahrenzone gebracht werden.
Langsam wurde es dunkel und durch schnelle Bewegungen und Stellungswechsel konnte der Feind am Vormarsch gehindert werden. Unter Lebensgefahr rannten die Krieger als Zielscheiben durch das hohe Gras, verschwanden mit einem Hechtsprung hinter dem Kamm des nächsten Grabens oder Hügels und verwirrten auf diese Weise die näherrückenden Soldaten.
Schließlich wurde der Schusswechsel weniger und die Indianer erhielten eine kurze Verschnaufpause. Little-Wolf traf die einzig mögliche Entscheidung. Er befahl in der Nacht den Rückzug. Es war schwierig, den Befehl an die weit verstreut liegenden Krieger weiterzugeben, und so dauerte es eine Weile, bis auch der letzte sich langsam in die Dunkelheit zurückzog.
Zwei Männer blieben zurück, gaben immer wieder von verschiedenen Positionen Schüsse ab, um die Soldaten zu täuschen, während der Rest der Krieger sich im Dauerlauf auf den Weg machte, die Frauen und Kinder einzuholen.
Im schnellen Tempo erreichten sie nach Mitternacht die Frauen und Kinder und trieben sie weiter zur Eile an. „Schnell, wir konnten die Soldaten aufhalten, aber im Morgengrauen werden sie uns wieder folgen. Beeilt euch!“ Die Krieger hatten kein Mitleid mit den Kindern, die vor Müdigkeit schwankten und sich kaum noch auf den Pferden halten konnten. Hin und wieder nahm ein Mann ein Kind zu sich auf das Pferd, damit es wenigstens etwas dösen konnte und die Frauen entlastet waren, aber im Morgengrauen war auch diese Hilfestellung zu gefährlich. Die Scouts schwärmten aus, um den Weg vor ihnen zu sichern, während einige Männer den Weg nach hinten absicherten.
Am nächsten Tag erreichten sie den Arkansas Fluss und die Menschen atmeten auf. Hier waren bereits ihre Jagdgründe. Nördlich von ihnen befand sich das Gebiet des Smoky Hill, eine Gegend, die sie in- und auswendig kannten. Hier hatten sie die Büffel gejagt und ihre Dörfer aufgeschlagen.
Die beiden Männer, die zurückgeblieben waren, schlossen mit den anderen auf und gaben kurz Entwarnung. „Die Soldaten sind erst am Morgen aufgebrochen. Wir haben also eine ganze Nacht Vorsprung.“ Das waren gute Nachrichten, doch die Cheyenne wussten, dass die Soldaten vermutlich auch von Norden her aufbrachen, um ihnen den Weg abzuschneiden. Zweimal noch mussten sie Eisenbahnlinien überschreiten und von dort aus war es jedes Mal möglich, dass Soldaten den Weg patrouillierten.
Dann stießen Heskovetse und einige andere junge Männer bei der Sicherung der Vorhut plötzlich auf weiße Büffeljäger. Beide Parteien waren völlig überrascht und warteten kurz ab, wie die andere reagieren würde. Schließlich versuchten die Büffeljäger ihr Heil in der Flucht und die Cheyenne sahen ihnen nach, wie sie im Galopp auf ihren Pferden verschwanden. Sie hatten alles stehen- und liegenlassen und die Männer verschwendeten ihre Kraft nicht darin, ihnen nachzusetzen. Alle hatten seit Tagen nichts gegessen und das Lager der Büffeljäger war voller Fleisch und guter Felle. Lachend setzten sich Heskovetse und Hohes-Pferd an das Feuer und schenkten sich Kaffee in die Blechtassen ein. Sie fanden Zucker und benutzten ihn großzügig, um das schwarze Getränk zu süßen. Andere schnitten bereits schmale Streifen aus dem Fleisch, steckten es auf Stöcke und hängten es zum Braten über das Feuer. Noch halb roh und blutig stopften sie das Büffelfleisch in den Mund und jeder grunzte vor Vergnügen. Es war so lange her, dass sie Büffelfleisch gegessen hatten, dass mancher fast vergessen hatte, wie es schmeckte. Während die Männer damit begannen, große Mengen Fleisch zu rösten, machten sich die anderen auf den Weg, die hungrigen Menschen zu dem Lager zu führen. Der Winter kam und die Lebensmittel und Felle waren ein Geschenk, das mehr als willkommen war. Alle waren erschöpft und so saßen die Menschen dankbar um das Feuer und aßen das willkommene Fleisch. Schnell brannten mehrere Feuer, an denen sich die Menschen ausruhten. Little-Wolf runzelte zwar die Stirn, weil er befürchtete, dass der Vorsprung verloren ging, aber er wusste auch, dass die Menschen endlich eine Rast brauchten.
Heskovetse setzte sich mit seiner Frau an ein Feuer und lachte wohlwollend, als sie ein riesiges Stück Fleisch röstete. Er dachte an den Winter, kurz ehe die Soldaten gekommen waren, in dem er das letzte Mal solche Mengen gegessen hatte. „Nun wächst das Ungeborene wieder!“, stellte er zufrieden fest. Moekaé nickte nur und riss mit ihren Zähnen ein Stück Fleisch ab. „Es wäre schön, wenn wir hier eine Weile bleiben könnten. Vielleicht gibt es noch mehr Büffel, die wir jagen können. Wir brauchen doch Zelte und Kleidung für den Winter!“
Heskovetse Augen verdunkelten sich vor Sorge. Er wusste, dass sie noch längst nicht in Sicherheit waren. Auch er hatte Angst vor dem kommenden Winter. Vielleicht fanden sie Zuflucht bei den Lakota. Niemals wären sie imstande, rechtzeitig Vorräte anzulegen oder gar Zelte zu nähen. So viele Büffel gab es nicht mehr. Aber er wischte die Sorgen beiseite. Erst einmal musste es ihnen gelingen, überhaupt bis in den Norden durchzustoßen. Gut gelaunt fütterte er Rotes-Blatt mit einem Stück Fleisch und strich über ihr schmales Gesicht. Das Kind schien nur noch aus großen, schwarzen, hungrigen Augen zu bestehen. Schließlich machte er eine großzügige Handbewegung zu Moekaé und schickte sie los, damit auch sie einen Anteil an den Fellen erhielt.
„Nimm dir ein Fell, damit du uns Wintermokassins machen kannst.“
Moekaé erhob sich willig und ging zu den anderen Frauen, die damit begonnen hatten, die Büffelfelle in Teile zu schneiden. Es waren nicht viele Felle, aber es reichte für neue Mokassins oder für wärmere Umhänge für die Krieger. Die Luft war klar und kalt und jeder wusste, dass dieses Jahr der Winter früh über sie hereinbrechen würde.
Noch in der Nacht nähte Moekaé neue Mokassins für Rotes-Blatt und stopfte sie gut mit Büffelwolle aus, damit das Kind warme Füße hatte. Ihr Magen arbeitete an dem Fleisch, das sie in Mengen verschlungen hatte, und hielt sie vom Schlafen ab. Erst gegen Morgen fiel sie in einen tiefen Schlaf und wurde schließlich gegen Mittag geweckt, als ihr Mann sie mit einem Lächeln rüttelte. „Wir müssen weiter“, sagte er auffordernd. Rotes-Blatt stand bereits neben ihm und hatte die Puppe an sich gedrückt. Schnell bereitete Moekaé noch ein weiteres Essen zu und steckte das restliche Fleisch in ihren Beutel. Es würde für mehrere Tage reichen und das beruhigte sie.
Sie ritten den ganzen Tag unbehelligt über die Prärie und erlaubten sich ein mäßiges Tempo, um die Pferde zu schonen. Die Blue-Soldiers hielten weiterhin Ausschau, meldeten jedoch, dass von Süden her keine Soldaten in Sicht wären. Am Abend lagerten sie an einem Bach und die Frauen sammelten Holz für die Lagerfeuer. Moekaé nähte neue Mokassins für Heskovetse und rüstete sie mit einer doppelten Sohle aus, damit sie länger hielten. Das Gleiche machte sie für sich. Stolz wackelte sie mit ihren Füßen und betrachte das warme Schuhwerk aus Büffelhaut. So sollte ihre Kleidung immer sein!
Im ruhigen Tempo brachen die Menschen am Morgen wieder auf. Little-Wolf und Dull-Knife konnten sehen, dass sich die Menschen in der Pause erholt hatten, auch wenn sie nun Gefahr liefen, dass die Soldaten sie von mehreren Seiten einkreisten. Little-Wolf schickte die Blue-Soldiers in alle Richtungen aus, damit sie in weiter Runde den Weg sicherten. Er traute dem Frieden nicht. Die Soldaten hätten sie längst einholen müssen. Wenn sie bis jetzt nicht da waren, bedeutete es lediglich, dass aus einer anderen Richtung eine andere Abteilung ihnen nachsetzte. Die Blue-Soldiers hatten Ersatzpferde dabei, damit sie weitere Entfernungen zurücklegen konnten. Umsichtig umgingen sie besiedeltes Gebiet und hielten sich zwischen den weitläufigen Hügeln versteckt. Sie hatten den Vorteil, dieses Gebiet gut zu kennen. Es gab unzählige Bäche und Täler, die ihre Bewegungen verbargen. Je weiter sie nach Norden vorstießen, desto zerklüfteter wurde das Gelände und desto besser schützte es die fliehenden Menschen.
Schließlich meldeten die Späher, dass sich ihnen wieder Soldaten näherten, und die Häuptlinge berieten sich, wie sie der erneuten Gefahr begegnen sollten. Soldaten konnten schneller reisen als die Cheyenne, die auf Frauen und Kinder Rücksicht nehmen mussten, und so entschied man sich zum Kampf. Wenn man den Soldaten eine empfindliche Niederlage bereitete, so würde es Tage dauern, bis sie sich wieder formierten oder Ersatz kam. Die Cheyenne hätten dann wertvolle Zeit gewonnen. „Das Gelände ist ideal für einen Hinterhalt“, meinte Little-Wolf. Er war der Stratege der Gruppe und man achtete sein Wort aus langen Jahren der listigen Kriegsführung. Wirres-Haar nickte voreilig mit dem Kopf. „Weiter vorn ist ein Canyon! Wenn es uns gelingt, die Soldaten dort hineinzulocken, können wir sie von beiden Seiten unter Beschuss nehmen!“
Auch Heskovetse hatte die Schlucht gesehen und meinte: „Weiter hinten ist ein enges Tal, in dem die Frauen und Kinder in Sicherheit wären.“
„Ja, aber es ist eine Todesfalle, wenn wir die Soldaten nicht aufhalten!“, wandte Schwarzer-Kojote ein. Heskovetse wedelte ungeduldig mit der Hand. „Dann können sie immer noch über die Felsen entkommen! Die Wände sind nicht so steil, dass man sie nicht erklimmen könnte.“
„Hmh!“, meinte Little-Wolf zögernd. „In dem Tal wären auch unsere Ponys gut geschützt. Es muss uns gelingen, die Soldaten in die Falle zu locken. Wenn wir erst viele von ihnen getötet haben, dann werden sie die Flucht ergreifen und sich zurückziehen. Das tun sie immer! Sie sind feige, vor allen Dingen, wenn sie ihr eigenes Blut gesehen haben!“
Leises Gelächter antwortete ihm und alle nickten bestätigend. Der Plan war gut und sie würden kaum Verluste erleiden, wenn er gelang. Die Cheyenne hätten dann genügend Zeit, weiterzufliehen und ihre Spuren zu verwischen.
Die Späher führten die Menschen in die tiefe Schlucht und hinterließen dabei deutliche Spuren. Die Soldaten sollten ihnen ja folgen. Am hinteren Ende der Schlucht öffnete sich ein schmales Tal, in dem die Frauen und Kinder sich Deckung zwischen einigen Bäumen und Felsen suchten. Dazwischen grasten die Ponys, sichtlich zufrieden, dass sie endlich etwas Gras rupfen konnten.
Die Krieger aber kletterten die steilen Wände empor und legten sich zu beiden Seiten der Schlucht auf die Lauer. Ungeduldig warteten sie auf die Soldaten und hofften auf den leichten Kampf. Sie würden die Feinde einfach von oben unter Beschuss nehmen und hoffentlich viele von ihnen töten. Jeder hatte den Plan verstanden und jeder wusste, dass die Frauen und Kinder in Gefahr wären, wenn er nicht gelang. Voller Anspannung schauten sie in die Ferne, um die Soldaten zu sehen.
Tatsächlich folgten die Soldaten der deutlichen Spur und schlugen ein schnelles Tempo an, um die vermeintlich Fliehenden rasch einzuholen. Sie hatten bereits mehrfach eine Schlappe erlitten und die öffentliche Meinung hatte sich gegen sie gerichtet. Man sprach offen von Unfähigkeit und machte sich über die Armee lustig, die nicht in der Lage war, ein paar zerlumpte Indianer wieder einzufangen.
Für die Indianer aber ging es ums Überleben. Sie wollten in die Heimat zurück und den katastrophalen Umständen im Süden entkommen. Sie hatten längst Gebiete erreicht, die ihnen vertraut waren und waren umso mehr entschlossen, die Reise fortzusetzen. Das Büffelfleisch hatte ihnen Kraft gegeben und gab ihnen die Hoffnung, dass die Zeiten wieder besser werden würden.
Aufmerksam lagen die Männer im Hinterhalt, geduldig und still. Niemand sprach ein Wort, niemand bewegte sich, niemand hustete und selbst das Atmen schien auf ein Minimum reduziert zu sein. Es war so still, dass selbst Vögel getäuscht wurden und sich sorglos in die Zweige der Büsche setzten und ihr Zwitschern wieder aufnahmen.
Die ersten Armeescouts erreichten bereits die Schlucht und suchten sich misstrauisch ihren Weg hindurch. Wachsam hefteten sich ihre Augen auf den Boden und ebenso wachsam sicherten sie die Felswände. Dann gaben sie mit Handzeichen das Signal, dass die Soldaten ihnen folgen konnten. Während die Kundschafter weiter in die Schlucht vorstießen, ritten die Soldaten in geordneter Kolonne hinterher.
Heskovetse hatte bereits den Finger am Abzug und wartete auf das Signal zum Angriff. Noch nicht! Noch nicht, warnte ihn seine innere Stimme. Auch Hohes-Pferd und Wirres-Haar lagen bewegungslos in seiner Nähe. Sie warfen ihm einen fragenden Blick mit den Augen zu und er schüttelte unmerklich den Kopf. Noch nicht! Erst mussten die Soldaten in der Schlucht sein und möglichst weit hineingelockt werden, damit ihnen der Rückweg versperrt wurde. Sättel knirschten und Hufe klapperten über Gestein, als einige Soldaten direkt unter ihm vorbeiritten.
Dann fiel ein Schuss. Er explodierte wie ein Blitzeinschlag inmitten der Schlucht und wurde als rollendes Echo weitergetragen. Sofort brach unter den Soldaten Panik aus. Die wenigen Männer, die die Schlucht bereits erreicht hatten, rissen ihre Pferde herum und preschten davon, während die anderen sofort außerhalb der Schlucht in Deckung gingen. Die Armeescouts hingegen trieben ihre Ponys zu einem rasenden Galopp an und suchten ihr Heil in der Flucht nach vorne. Schießend preschten sie durch den Canyon und erreichten schließlich das Tal, in dem sich die Ponyherde befand.
Heskovetse hatte sich aufgerichtet und schoss auf die fliehenden Soldaten, ohne Schaden anzurichten. Er konnte sehen, dass die Soldaten nun geordnet damit begannen, die Schlucht von allen Seiten zu umgehen. Befehle wurden gebrüllt und aus der Flucht wurde innerhalb kürzester Zeit ein geordneter Angriff. Aus dem hinteren Tal erklangen plötzlich Angstschreie der Frauen und Kinder, als auch dort Schüsse abgefeuert wurden.
Heskovetse hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was schief gelaufen war. Irgendjemand hatte zu früh geschossen und die Soldaten gewarnt. Niemand wusste, wer geschossen hatte und es war auch gleichgültig. Plötzlich waren die Cheyenne die Gejagten und die Frauen und Kinder waren durch die Ungeduld eines Einzelnen in Gefahr. Kugeln flogen gefährlich nah an ihm vorbei und zwangen ihn, seine Stellung zu verlassen. Die Soldaten kamen nun von oben und nahmen die Indianer unter Beschuss. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich das Blatt gewendet und die Cheyenne saßen in der Falle.
Mit dem Mut der Verzweiflung machte sich Heskovetse auf den Rückweg in das Tal. Er kletterte über Felsen und Steine, rutschte auf halsbrecherische Weise steile Abhänge hinunter und sah wie nebenbei, dass unter ihm die Ponyherde durch die Schlucht hetzte. Die Ponys! Sie verloren die Ponys! Wie sollten sie nun den Soldaten entkommen? Neben sich sah er Hohes-Pferd und Wirres-Haar, die gebückt neben ihm her rannten. Weiter vorn lief Schwarzer-Kojote. Alle liefen in Höchstgeschwindigkeit in Richtung der Frauen und Kinder und versuchten, vor den Soldaten dort zu sein. Schließlich erreichten sie das Tal, in dem völlige Panik ausgebrochen war. Überall rannten schreiende Frauen und Kinder auf den Schutz der Felsen zu, während an den Hängen bereits die ersten Soldaten auftauchten, die die fliehenden Menschen unter Beschuss nahmen. Heskovetse drängte die Menschen die Hänge hinauf und hoffte, dass es ihnen gelang, das Tal zu verlassen, ehe die Soldaten endgültig in Stellung gegangen waren. Ihre Kugeln trafen die Menschen, gleichgültig ob es Männer, Frauen oder Kinder waren. Oft trafen sie ein Pony, hinter dem die Menschen Schutz gesucht hatten, doch die Mehrzahl der Herde war bereits durch die Schlucht geflüchtet. Er kam an der Frau von Dull-Knife vorbei, die gestürzt war. Er versuchte ihr aufzuhelfen und erkannte, dass sie bereits tot war. Ein Pony hatte ihr den Schädel eingetreten.
Schließlich erreichte er Moekaé, die mit Rotes-Blatt auf der Hüfte vor ihm herrannte. „Schnell, klettere die Felsen hoch!“, schrie er aus Leibeskräften. Erst jetzt bemerkte er den unfassbaren Lärm und den endlosen Kugelhagel, der aus den Gewehrläufen auf die Menschen niederregnete. Menschen stürzten und humpelten dann weiter, von Verwandten und Freunden hastig mitgezogen. Wirres-Haar zog ein Kind mit sich fort, dessen Mutter gestürzt war, und er konnte nur hoffen, dass sie lebte und die Soldaten gnädig mit ihr waren. Heskovetse sah ein Pony, das wiehernd durch das Tal stob. Es riss ein Travois mit sich, auf dem ein alter Mann transportiert wurde. Er konnte nicht mehr laufen und lag nun hilflos auf dem Schleppgerüst und wurde in Richtung der Soldaten gezogen. Niemand kümmerte sich um ihn und viel später, als das Pony schließlich erschöpft stehen blieb, fanden einige Cowboys den alten Mann und erschlugen ihn mit einem Knüppel.
Heskovetse blieb hinter seiner Frau und hoffte so, die Kugeln von ihr fernzuhalten. Rotes-Blatt schrie ihre Angst heraus und zum ersten Mal hörte er das Kind überhaupt weinen. Kugeln schlugen neben ihm ein und mit einem Hechtsprung riss er seine Frau mit dem Kind in die Deckung eines Felsens. Moekaés Gesicht schrammte über den rauen Fels und es entstand eine hässliche Kratzspur. Er schubste sie ungeduldig weiter, bis sie schließlich den Grat erreichten und dahinter in Deckung gingen. Viele Männer hatten den Grad erreicht und bildeten nun eine geordnete Verteidigungslinie, damit die Frauen und Kinder die Möglichkeit hatten zu fliehen. Weitere Täler und Schluchten öffneten sich vor ihnen und so verschwanden die Menschen in kleinen Gruppen.
Heskovetse verlor seine Frau aus den Augen und konzentrierte sich darauf, denjenigen Feuerschutz zu geben, die den Grad der Schlucht noch nicht erreicht hatten. Immer wieder drängten sich Frauen mit furchtsam aufgerissenen Augen an ihm vorbei, die verzweifelt versuchten, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Zum Schluss kamen ältere Menschen und Heskovetse biss wütend die Zähne zusammen. Wer sollte ihnen Geschichten erzählen und ihnen die Zeremonien lehren, wenn die Alten nicht mehr da waren? Humpelnd kam eine ältere Frau bei ihm vorbei und er stand auf und feuerte mehrere Schüsse an ihr vorbei, damit sie endlich die Sicherheit des Kamms erreichte. Sie nickte dankbar und verschwand auf dem schmalen Pfad, der in das nächste Tal führte.
Langsam senkte sich die Dunkelheit über das Land und Heskovetse wusste, dass nun die Cheyenne eine Chance hatten, zu verschwinden. In der Dunkelheit wäre es den Soldaten unmöglich, ihnen zu folgen. Schießend verteidigte er seine Stellung, während er darauf wartete, dass er ebenfalls in der Nacht verschwinden konnte. Überleben, dachte er wütend. Alles was zählte, war noch wenige Augenblicke zu überleben. Er wurde nun vorsichtiger. Er wechselte die Stellung, um besser geschützt zu sein und schoss nur noch, wenn er sicher sein konnte, selbst nicht getroffen zu werden. Es kam niemand mehr den steilen Weg hoch und so hoffte er, dass es alle geschafft hatten. Es ging nur noch darum, die Stellung zu halten. Nur noch ein kleines bisschen! Die Dunkelheit würde sie verschlucken und die Fährtenleser der Armee konnte ihre Spur erst am Morgen wieder aufnehmen, wenn sie bereits über alle Berge waren.
Er wartete, bis die ersten Sterne am Himmel glitzerten, dann machte er sich auf den Weg. Er hatte keine Ahnung, wie er Moekaé wiederfinden sollte. Außerdem war er müde und erschöpft. Wieder stand ihm eine schlaflose Nacht bevor und langsam zehrte dies an seinen Kräften und Nerven. Seine Ohren dröhnten von dem ungeheuren Lärm der Gewehrsalven und er schüttelte den Kopf, weil er dieses unangenehme Pfeifen loswerden wollte. Die Luft war kühl und die plötzliche Stille genauso verwirrend wie vorher der Lärm. Kieselsteine rutschten unter seinen Mokassins weg, sonst war nichts zu hören. Es kam ihm vor, als hätte der Kampf gerade nicht stattgefunden, als wären keine Menschen gestorben und der Verlust der Ponyherde nur ein schlechter Traum.
Er lief vorsichtig zwischen sanften Hügeln dahin, bis er mehrere Männer einholte, die ebenfalls die Nacht nutzten, um sich abzusetzen. Kurz fassten sich die Männer an den Schultern, genossen das Gefühl der Freundschaft und Gemeinschaft. „Habt ihr Hohes-Pferd oder Wirres-Haar gesehen?“, fragte Heskovetse besorgt.
Wild-Hog, ein älterer Krieger schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, wir haben noch niemanden gesehen. Wir hoffen, dass alle den Ort weiter oben am Bach finden. Dort, wo vor vielen Jahren unser Dorf gestanden hat.“
Heskovetse legte zweifelnd den Kopf schief. „Nicht alle sind alt genug und werden sich daran erinnern.“
„Nein, aber die älteren Frauen und Männer werden die anderen dorthin führen. Dann sammeln wir uns und machen uns wieder auf den Weg.“
Heskovetse nickte zustimmend und machte eine einladende Handbewegung. „Ich folge dir!“
Mit Rücksicht auf das Alter der anderen Männer mäßigte er sein Tempo, als er Wild-Hog folgte. Auch die beiden anderen Männer waren keine jungen Krieger mehr. Schließlich erkannte er Dull-Knife und war erschrocken, welche Veränderung mit dem Häuptling geschehen war. Er schien Fieber zu haben und schleppte sich nur mühsam vorwärts. Sein Gesicht war eine Maske der Trauer um seine Frau, die von dem Pony getötet worden war. Aber wo waren Dull-Knifes Kinder und seine andere Frau? Heskovetse blieb bei den Männern und hörte manchmal auf die Laute der Umgebung. Noch blieb alles still. Die Soldaten hatten davon abgesehen, ihnen in der Dunkelheit zu folgen. Wahrscheinlich dachten sie, dass die Cheyenne ohne Ponyherde ohnehin keine Chance hatten.
Mehrmals stießen die Männer in der Nacht auf versprengte Gruppen von Frauen und Kindern, sodass Heskovetse bald für den Schutz von über zwanzig Menschen verantwortlich war. Immer noch folgte er Wild-Hog, der die Menschen zielstrebig in Richtung der Quelle des kleinen Baches führte. Weit nach Mitternacht erreichten sie schließlich den Ort und blickten sich besorgt, aber auch voller Hoffnung um. Dunkle Gestalten erhoben sich und blickten ihnen entgegen. Hin und wieder war sogar der Umriss eines grasenden Ponys zu sehen.
Heskovetse erkannte Moekaé und drückte ihr seine Wange gegen das erschöpfte Gesicht. Mehr Zärtlichkeit erlaubte er sich nicht. Aber er war froh, dass sie es geschafft hatte. Rotes-Blatt lag auf einer Decke und schlief. Auch sie schien unverletzt zu sein. „Ich hatte solche Angst“, erzählte Moekaé mit zitternden Lippen. „Die Kugeln schlugen neben uns ein und trafen das Pferd. Ich rannte so schnell ich konnte und hoffte nur, dass ich nicht getroffen wurde. Ich musste alles zurücklassen, nur den Beutel mit Fleisch hatte ich dabei, weil ich ihn um meinen Hals gebunden hatte. Er schlenkerte hin und her, während ich rannte, und ich konnte ihn nicht losschneiden, weil ich doch Rotes-Blatt trug. Die ganze Zeit dachte ich nur daran, dass dieser baumelnde Beutel mich am Laufen hindert.“ Sie kicherte plötzlich hysterisch und wischte sich verlegen über das Gesicht. „Stell dir vor, die Kugeln flogen um mich herum, und alles, an was ich denken konnte, war dieser dumme Beutel!“
Heskovetse nickte müde. „Wenigstens haben wir etwas Fleisch! Und sieh, meine Mokassins sind auch noch da!“ Zufrieden streckte er seine Füße nach vorne und begutachtete das neue Schuhwerk. Die doppelt genähten Sohlen hatten sich bewährt. Moekaé seufzte leise. „Wir haben so viel verloren! Wie sollen wir nun weiterkommen? Wir haben kaum noch Ponys!“
Heskovetses Lippen wurden schmal. „Wir holen uns welche!“, meinte er mit harter Stimme.
Moekaé schwieg. Sie hatte plötzlich Angst um ihren Mann. Sie hörte auf die anderen Stimmen in der Dunkelheit. Immer mehr Menschen trafen ein und umarmten sich kurz, wenn Verwandte einander wiederfanden. Dull-Knife wurde von seiner Tochter in eine Decke gehüllt und zur Seite geführt, damit er abseits von den anderen seine Trauer um seine Frau zeigen konnte.
Dann erschien Little-Wolf inmitten einiger Krieger, und Heskovetse erkannte seinen Freund Hohes-Pferd. Mit einem Lächeln nickte er seinem Freund zu, dann horchte er auf den Häuptling, der mit ruhiger Stimme Anweisungen gab: „Wir haben nicht viel Zeit. Wir warten noch eine Weile, damit wir uns ausruhen können und damit andere uns einholen können, doch dann brechen wir auf. Am besten teilen wir uns in kleine Gruppen auf, um die Soldaten zu verwirren. Vor uns befindet sich das Gebiet des Smoky Hill und danach teilt das eiserne Ross des weißen Mannes das Land in zwei Hälften. Dort ist das Gebiet eben und leicht zu bewachen. Wir können es nur nachts überwinden, indem wir uns in kleine Gruppen aufteilen und den Fluss und anschließend die Gleise überqueren. In einigen Tagen sammeln wir uns wieder am Sappa-Bach.“
Die Männer murmelten „aho“ und nickten zustimmend. Es war klug, was der Häuptling sagte. Viele Menschen hatten keine Ponys mehr und zu Fuß wäre es schwer für die Soldaten, irgendwelche Spuren zu erkennen. Sie würden einfach durch die Linien der Soldaten schlüpfen und in den weitläufigen Hügeln verschwinden. Tagsüber gab es genügend Möglichkeiten, wo man sich verstecken konnte.
Alle kehrten zu ihren Familien zurück und legten sich auf die Decken, um ein wenig zu ruhen. Ihnen war fast nichts mehr geblieben und die wenigen Ponys wurden gebraucht, um die Kranken und Verletzten zu tragen. Schlimm war der Verlust der Ponys und der gesamten Ausrüstung. Sie hatten nur noch, was sie am Leibe trugen, und alle wussten, dass sie diese Dinge irgendwie ersetzen mussten. Der Winter kam und ohne Vorräte und Kleidung konnten sie die Flucht nicht fortsetzen. Viele hatten eine ähnliche Situation früher schon erlebt und sie wussten, was ihnen bevorstand. Vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit dachte Heskovetse wieder an Kleiner-Biber, der an genau solchen Entbehrungen gestorben war. Er wollte nicht, dass es Moekaé und Rotes-Blatt ebenso erging.
Heskovetse setzte sich zu seiner Frau und kuschelte sich zu ihr unter die Decke. Moekaé hatte die Decke um ihren Leib gewickelt gehabt, als die Schießerei begann, sonst hätten sie nicht einmal diese eine Decke gehabt. Er fasste an ihren Bauch und dachte an das Ungeborene. Würde es leben?
Sappa-Bach
Nach Mitternacht brachen die Menschen wieder auf. Jeweils in kleinen Gruppen verschwanden sie in der Dunkelheit und machten sich auf den Weg nach Norden. Heskovetse blieb bei Moekaé und Rotes-Blatt. Manchmal trug er sogar das schlafende Mädchen, um Moekaé etwas zu entlasten. Außerdem hatten sich ihm Schwarzer-Kojote mit seiner Frau Büffelkalb-Frau, Hohes-Pferd und Wirres-Haar angeschlossen. Sie führten ein weiteres Kind und ein halbwüchsiges Mädchen mit, die ihre Eltern verloren hatten. Moekaé vermisste ihre Freundin Brennendes-Gras, denn seit dem Angriff der Soldaten hatte sie die junge Frau nicht mehr gesehen. Vielleicht war sie in der Schlucht zurückgeblieben. Noch hatte niemand einen Überblick, wer gefallen war und wer es geschafft hatte, zu entkommen. Diese Gewissheit würde es erst in ein paar Tagen geben, wenn sie den Sappa-Bach erreicht hatten.
Bei Tagesanbruch versteckten sie sich unter einigen hängenden Felsen und hielten abwechselnd Wache, während die übrigen Cheyenne in einen todesähnlichen Schlaf fielen. Die Erschöpfung war so allumfassend, dass selbst das Gefühl des Hungers zur Nebensache wurde. Trotzdem blieb der Verlust aller Vorräte, Kleidung und der Ponys ein Zustand, der ihre weitere Reise gefährdete. In der Dämmerung sprachen die Männer offen darüber, während die beiden Frauen schweigend zuhörten. „Hier gibt es viele Farmen, wo wir uns holen können, was wir brauchen!“, bemerkte Heskovetse zynisch. Er war so voller Hass gegen die Weißen, dass er Mühe hatte zu atmen. Auch die anderen Männer nickten zustimmend. „Ja, wir holen uns zurück, was sie uns genommen haben!“, meinte Hohes-Pferd.
„Erst, wenn wir die Eisenbahn überschritten haben!“, mahnte Schwarzer-Kojote zurückhaltend. „Wir gefährden die anderen, wenn wir nun voreilig irgendwelche Farmen überfallen. Noch wissen sie nicht, wohin wir gegangen sind. Aber wenn wir Farmen überfallen, dann wissen sie, wo wir die Gleise überschreiten werden!“
„Nicht, wenn niemand übrig bleibt, um es ihnen zu sagen!“, erklärte Heskovetse kalt.
„Ja, aber sie könnten gefunden werden. Es ist besser, wenn wir die Siedlungen umgehen und unsere Spuren verwischen. Die anderen Gruppen werden ebenso verfahren und einfach verschwinden. Später holen wir uns dann, was wir brauchen, und kehren in den Norden zurück.“
Heskovetse senkte den Kopf und nickte schließlich zustimmend. „Du hast recht! Wir müssen an die anderen denken.“ Sie teilten sich das Fleisch aus Moekaés Beutel und brachen dann auf. Der Schlaf hatte alle erfrischt und im schnellen Tempo folgten sie den Tälern nach Norden.
Nach zwei Tagen erreichten sie schließlich die Gleise der Eisenbahn und schlichen in der Nacht über das offene Gelände. Heskovetse erreichte die Gleise als erster und legte sein Ohr darauf, um zu hören, ob vielleicht das Eiserne Ross auf der Suche nach ihnen war. Nichts war zu hören und so gab er den anderen das Zeichen, die Gleise zu überqueren. Die Männer drängten die Frauen und Kinder nun fast zu einem Dauerlauf, um möglichst schnell die gefährliche Ebene zu durchqueren. Heskovetse trug Rotes-Blatt auf seinem Rücken, damit Moekaé schneller vorankam. Man hörte das Schnaufen der Menschen, als sie so schnell es ging durch die Dunkelheit liefen. Irgendwo kläffte ein Kojote und die Menschen zuckten alarmiert zusammen. Vielleicht waren doch Soldaten in der Nähe und patrouillierten an den Gleisen entlang? Ein Kojote war immer ein schlechtes Zeichen. Moekaé spürte, wie wieder die Angst in ihr hochstieg, als sie ihrem Mann durch die Dunkelheit folgte. Wann würde diese Flucht endlich aufhören? Manchmal war sie so erschöpft, dass sie zu vergessen schien, warum sie diese Mühen überhaupt auf sich nahm. Doch dann dachte sie an das Ungeborene und hoffte, dass es wirklich im Frühling in der Freiheit geboren wurde und nicht im Süden, wo so viele Kinder an den Krankheiten gestorben waren. Sie hatte das Gefühl, den Mond besser zu kennen als die Sonne, und überlegte, wann sie jemals wieder einen normalen Tagesablauf haben würde. Tagsüber ruhten sie erschöpft in irgendeinem Versteck, nur um des Nachts wieder ihre Flucht fortzusetzen. Der Mond war ihr Freund und Verbündeter geworden, auch wenn er zeitweise nicht zu sehen war oder nur als schmale Sichel am Himmel, die kaum Licht spendete. Aber es gab auch die Nächte des Vollmondes, in denen ihre Schritte sicher durch das unebene Gelände gelenkt wurden.
Heskovetse führte die Menschen über das offene Gelände und ließ schließlich Rotes-Blatt von seinem Rücken gleiten. Er warf einen prüfenden Blick zurück und erlaubte sich ein lockeres Grinsen. „Nichts zu sehen!“, meinte er zufrieden. „Gehen wir zum Sappa-Bach!“
Unbemerkt tauchten sie in die Schluchten und Täler, die sich nun vor ihnen auftaten, und erreichten schließlich den vereinbarten Ort. Nach und nach trudelten die Gruppen im Tal des Sappa-Baches ein und zum ersten Mal seit langem entzündeten die Menschen einige Feuer, um sich zu wärmen. Es wurde kalt und die Cheyenne hatten fast nichts dabei, was sie für diese Jahreszeit brauchten. Mit sorgenvollen Augen blickten Dull-Knife und Little-Wolf auf die ausgezehrten und zerlumpten Gestalten. Niemals würden sie es auf diese Weise schaffen, den Heiligen Berg zu erreichen. Trotzdem mussten sie es versuchen. Sie hatten bereits ihre Jagdgründe erreicht. Hier hatten noch vor wenigen Jahren die Herden der Büffel gegrast. Hier hatte aber auch vor drei Jahren das Massaker an dem Dorf der südlichen Cheyenne von Little-Bull stattgefunden. Die Cheyenne wussten davon und Wut erfüllte die Menschen, als sie an all die Massaker dachten, die ihrem Volk angetan worden waren. Es gab keine Familie, die keine Toten zu betrauern hatte. Jeder Einzelne musste mit dem Verlust von Familienangehörigen leben. Es gab Männer und Frauen, die alleine aus einer Großfamilie übrig geblieben waren und die mit diesem Verlust nicht mehr leben konnten. Sie waren wie Geister und für die anderen nicht mehr ansprechbar. Wieder warnten die älteren Männer, dass es schwere Konsequenzen geben würde, wenn man die weißen Siedlungen heimsuchte, doch die Jüngeren schwiegen dazu und brachen dann doch auf, um die benötigten Pferde und Lebensmittel zu holen. Sie hatten keine andere Wahl. Ihre Ponyherde war vernichtet und ohne Ponys gab es kein Weiterkommen.
Heskovetse, Schwarzer-Kojote und einige andere Männer brachen im Morgengrauen einfach auf. Sie wussten, dass die Häuptlinge es nicht gutheißen würden, aber sie fürchteten die Konsequenzen nicht. Heskovetse dachte an seine Frau und Rotes-Blatt. Er brauchte dringend warme Kleidung, Lebensmittel und ein Pony für die beiden. Moekaé trug immer noch das Kind unter ihrem Herzen und er wollte nicht, dass es schwächlich und kränklich blieb. Moekaé brauchte Fleisch. Viel Fleisch! Und er wollte, dass sie die weitere Reise auf einem Pferd verbrachte, damit sie ein wenig geschont wurde. Er empfand kein Mitleid, als sie am frühen Morgen auf einen Farmer und dessen Sohn trafen und die beiden töteten. Sie nahmen die Pferde an sich und ließen die beiden unberührt liegen. Es war keine tapfere Tat gewesen, denn die beiden hatten nicht einmal versucht zu kämpfen, so wurden sie nicht skalpiert. Vorbei waren die Zeiten, als Cheyenne-Krieger mit Federhauben und Kriegsbemalung ihren Feinden gegenübergetreten waren und es mutiger war, den Feind mit einem Coupstick zu berühren, anstatt ihn zu töten. Hier ging es nur noch um das nackte Überleben und vielleicht auch um Rache. Alle hatten diese tiefe Wut in sich, diesen grenzenlosen Hass auf alles, was die Weißen ihnen angetan hatten. Endlich konnten sie es ihnen heimzahlen.
Heskovetse dachte an die verstümmelten Frauen und Kinder vom Sand Creek, Washita oder vom Sappa-Bach, an den Angriff auf Two Moons oder sein eigenes Dorf in den Little-Bighorn-Bergen. Es waren unzählige Überfälle auf unzählige Dörfer, in denen unzählige Menschen seines Volkes niedergemetzelt worden waren. Es war sein Recht, dass er nun zurückgab, was ihnen angetan worden war, und er sich die Dinge holte, die er benötigte. Verächtlich musterte er die erbeuteten Pferde, die kaum ein Ausgleich für die schnellen Ponys waren, die ihnen genommen worden waren. Es waren mehr oder weniger Ackergäule, die höchstens dazu taugten, die Frauen und Kinder zu tragen. Sie ritten weiter in östlicher Richtung und machten sich auf die Suche nach lohnender Beute. Sie hatten Blut geleckt und ohne die Kontrolle der Älteren waren ihre Bedenken wie weggewischt.
Mit ausdruckslosen Gesichtern näherten sie sich einer Kutsche, auf denen ein weißer Mann, zwei ältere Söhne und zwei Mädchen saßen. Noch schienen die Menschen die Gefahr nicht zu ahnen, sodass die Cheyenne sich gefahrlos nähern konnten. Heskovetse schoss den Mann nieder und ignorierte das Kreischen der Mädchen. Die anderen Männer erschossen die zwei Söhne des Weißen. Leblos fiel der eine Körper vom Kutschbock, während der andere neben dem Vater zusammensackte. Die Mädchen waren starr vor Entsetzen und leisteten keinen Widerstand.
Heskovetse spürte, wie sein Herz über diesen weiteren Sieg klopfte. Er kletterte mit den anderen auf die Kutsche und zwang die Mädchen, ihre Kleider auszuziehen. Er wollte Moekaé so ein Kleid mitbringen. Seine Frau trug nur noch Fetzen am Leib und das Kleid stank, weil sie es schon seit langem nicht mehr gewaschen hatte. Nun würde er ihr ein neues mitbringen. Die Cheyenne schirrten die Pferde aus, dann zogen einige Männer die Mädchen zum Ufer des Baches. Sie waren jung, aber in den Augen der Cheyenne bereits alt genug, um bei einem Mann zu liegen. Heskovetse sah zu, aber er beteiligte sich nicht an dem Geschehen.
Die Männer waren aufgeheizt von dem leichten Sieg und fühlten sich überlegen. Längst hatten sie kein Mitleid mehr und die alten Überlieferungen und Wertvorstellungen schienen vergessen zu sein. Mitleidlos drückten sie die Mädchen ins Gras und vergingen sich an ihnen. Das Schreien wurde zu einem Wimmern, das schließlich ganz erstarb.
Die Männer lachten abfällig und schickten die verängstigten Mädchen nackt zu einem angrenzenden Gehöft. Die beiden weinten vor Furcht, flehten um Gnade, weil sie offensichtlich davon ausgingen, dass die Indianer sie ohnehin töten würden.
Heskovetse nahm sein Gewehr und machte ihnen unmissverständlich klar, dass sie endlich gehen sollten. Er fand es lustig, wie ihre helle Haut in der Sonne leuchtete. Es sah aus wie der helle Bauch der Eidechsen. „Seht nur, es sind Eidechsen-Weibchen!“, meinte er spöttisch. Es wunderte ihn selbst, wie wenig Mitleid er fühlte und wie sehr er diese Menschen verachtete. Er wusste, dass die Ältesten ihr Tun nicht gutheißen würden und es gegen alles verstieß, was ihnen von Mahéo gelehrt worden war. Im Grunde fürchtete er sogar, dass ihr Tun die Bestrafung der Geister hervorrufen würde. Wen sollten sie nun noch um Hilfe anflehen? Aber all die Heiligen Dinge, die ihnen bisher Schutz gegeben hatten, hatten ihre Kraft verloren. Die Heiligen Pfeile und die Heilige Büffelkappe waren im Süden geblieben und damit auch all die moralischen Werte, nach denen sie bisher gelebt hatten. Die Alten hielten sich noch daran, doch die jungen Krieger hatten ihren Glauben verloren. Was blieb, war diese grenzenlose Wut auf alles, was die Weißen in dieses Land brachten. Und dieser Hass richtete sich auch gegen die fremden Weiber und Kinder. Genauso wenig, wie die Soldaten auf die Frauen und Kinder der Cheyenne Rücksicht nahmen, genauso wenig hatten die Cheyenne nun einen Grund, die Frauen und Kinder der Farmer zu schonen. Sie wollten Vergeltung. Außerdem würden die Überfälle Verwirrung stiften und Panik verursachen. Menschen würden fliehen und die Soldaten würden zum Schutz der Farmer gebraucht werden. Niemand konnte wissen, wo die Cheyenne als nächstes zuschlagen würden. und das würde ihnen Zeit geben, weiter nach Norden vorzustoßen.
Die Cheyenne lachten übermütig, als die Mädchen davonrannten, dann nahmen sie die erbeuteten Pferde und ritten weiter. Sie brauchten nicht nur Pferde, sondern auch Lebensmittel.
Sie überraschten eine weitere Familie in ihrem Haus, töteten den Mann und den Sohn und verwundeten die Frau, die schwer verletzt aus der Tür kroch. Sie ließen sie leben und nahmen alles von Wert, vor allen Dingen Lebensmittel und Vieh. Die Frau hatte gerade gekocht und so aßen die Cheyenne das warme Essen. Sie töteten einige Kühe und führten die anderen Tiere aus dem Pferch. Es waren schwere Ackergäule, die mit dem Fleisch beladen wurden, das die Cheyenne hastig von den getöteten Kühen schnitten. Zwei der Krieger waren inzwischen damit beschäftigt, die geraubten Tiere vor sich herzutreiben, was das Vorankommen verzögerte. Alle freuten sich darauf, dass bald die Frauen und Kinder versorgt werden konnten.
Am Spätnachmittag stießen sie auf ein weiteres Farmhaus. Es war aus Grassoden gebaut und Rauch stieg auf, als würde jemand im Inneren gerade kochen. Hohes-Pferd gab den Reitern mit Handzeichen zu verstehen, dass sie die mitgeführte Herde etwas abseits warten lassen sollten, und ritt mit den anderen näher an das Haus heran. Sie bewegten sich fast lautlos und noch schien niemand ihre Anwesenheit bemerkt zu haben. Mit einer Hand gestikulierte Hohes-Pferd in Richtung eines großen Haufens Tipistangen, die neben dem Haus ordentlich aufgeschichtet worden waren. Einige waren bereits in handliche Scheite zersägt worden. Offensichtlich hatte die Familie hier auf bequeme Weise Feuerholz gesammelt. Die Männer kniffen wütend die Lippen aufeinander, als sie die Zerstörung der Stangen zur Kenntnis nahmen. Irgendwann waren diese Stangen von ihnen gesammelt worden und Cheyennefamilien hatten darunter Schutz gefunden.
Ein Wagen näherte sich dem Haus, der von zwei Jugendlichen gelenkt wurde, die auf dem Kutschbock saßen, während drei Mädchen hinten auf der Ladefläche hockten. Die Cheyenne ritten näher, erschossen die beiden Jungen und zwangen die vollkommen verängstigten Mädchen, in das Haus zu gehen. Eine Frau wich schreiend vor ihnen zurück, doch die Indianer schubsten sie in eine Ecke des Raumes und rissen ihr die Kleidung vom Leib. Panisches Schreien erfüllte den Raum, doch die Cheyenne kannten kein Mitleid mehr.
Heskovetse fühlte die Erregung in sich, als er sich an der Hilflosigkeit dieser Menschen ergötzte. Er fand zwei Kleider, die vielleicht Rotes-Blatt passen würden, und nahm sie an sich. Aus einer Truhe holte er ein weiteres Kleid, das er Moekaé schenken wollte. Auch die anderen Männer plünderten bereits das Haus und nahmen alles mit, was ihnen nützlich und wertvoll erschien. Sie waren an die zwölf Männer und das kleine Haus platzte fast aus allen Nähten, als die Krieger es durchsuchten. Die ganze Zeit über weinte und schrie die Frau, während die Mädchen sich aneinanderklammerten und ebenfalls hysterisch kreischten. Vielleicht war es dieser hohe Ton, der die Männer reizte, denn plötzlich drückten drei Krieger die Frau zu Boden und vergingen sich an ihr.
Heskovetse zerrte das jüngste Kind aus dem Haus und deutete an, dass es wegrennen sollte. Das Kind stand nur da wie gelähmt und er kümmerte sich nicht weiter darum. Sollte es sich nur zeit seines Lebens an diesen Tag erinnern. Dieses Land gehörte den Cheyenne und das sollten diese Frauen nie vergessen. Er drehte sich um und kehrte in das Haus zurück. Mehrere Männer hatten inzwischen den Mädchen die Kleider vom Leib gerissen und sich über die Wehrlosen gebeugt. Das Jammern und Schreien hatte aufgehört, stattdessen blickte Heskovetse in Augen, die vor Furcht und Schmerz riesig wirkten. Diesen Tag würden die Mädchen und ihre Mutter nie vergessen. Heskovetse blickte mit gemischten Gefühlen auf das Geschehen. Ein Mädchen lag auf dem harten Boden und ihre Hände wurden von zwei Männern festgehalten, während der dritte sich stoßend seinen Weg in das Innere suchte. Das andere Mädchen wehrte sich nach Kräften, doch die Männer hielten es am Boden fest und lachten. Es war brutal und doch heizte es die Männer auf. Mit der hellen Haut des Mädchens sah es aus, als würde ein Spinnenwesen seine Beine hin und her bewegen. Ja, es waren Vehoe, Spinnenwesen.
Heskovetse fühlte, wie sein Geschlecht steif wurde, und beugte sich ebenfalls über das Mädchen. Er drang rücksichtslos in ihr wundes Geschlecht vor und erfreute sich an dem Wimmern. Es war wie eine Rache für das, was er Moekaé angetan hatte. Er wollte diese Frau nicht, aber er wollte sie demütigen. Es war gegen jedes Recht und gegen jede Überlieferung und Heskovetse wusste in diesem Augenblick, dass sie eines Tages dafür bezahlen würden. Die anderen Männer lachten und machten Scherze über die Misshandelten. Sie waren dürr, vor Angst wie erstarrt, und die Männer verglichen die Frauen mit den Tipistangen, die draußen lagen. „Wenn man zwei Stangen über Kreuz legt, fühlt es sich genauso an, wenn man seinen Schwanz daran reibt!“, meinte Wirres-Haar geringschätzig. Früher hätte man diese Mädchen geraubt und der Verantwortung der Frauen übergeben. Sie hätten unter dem Schutz des Dorfes gestanden und man hätte versucht, aus ihnen gute Cheyenne-Frauen zu machen. Heute aber wollten die Cheyenne keine Gefangenen mitführen und so erfuhren diese Frauen diesen Schutz und diesen Respekt nicht. Auch die anderen Männer wussten, dass sie eines Tages dafür büßen würden, aber im Grunde fürchtete ohnehin jeder dieser Männer, dass er bald zu den Ahnen gehen würde. Je weiter sie nach Norden vorstießen, desto mehr wurde ihnen klar, dass sich die Welt verändert hatte. Die Zeiten, in denen sie frei und ungebunden über die Prärie ziehen konnten, waren vorbei. Jeder wusste das.
Aber keiner wusste, was sie im Norden tatsächlich tun sollten. Sie konnten vielleicht noch einen Winter in Freiheit verbringen, doch die Weißen würden von allen Seiten kommen und die Cheyenne zwingen, ihre Lebensweise zu ändern. Hohes-Pferd und Heskovetse hatten Angst vor der Zukunft. Vielleicht waren sie deshalb an diesem Tag so unversöhnlich und mitleidlos.
Irgendwann ließen die Männer von ihren Opfern ab. Sie fesselten die Mutter und die Mädchen und warfen sie auf das Bett, das an einer Wand stand. Dann legten sie Feuer in dem Haus und benutzten dazu voller Schadenfreude die zersägten Tipistangen. Jeder nahm die Bündel, die er für sich geschnürt hatte, und trug sie zu den wartenden Pferden. Sie führten die wenigen Pferde aus der Koppel, töteten die Hühner und Schweine und ritten schließlich davon. Sie ignorierten die Hilfeschreie der Frauen, die gegen die Fesseln kämpften, um dem Feuer zu entgehen. Sie kehrten aber auch nicht um, um die Frauen zu töten, als es ihnen doch gelang, sich zu befreien und das Haus zu verlassen. Sollten diese Weiber ruhig leben und erzählen, was ihnen widerfahren war.
Heskovetse fühlte die Scham, als er sich von dem Haus entfernte, und er fürchtete sich davor, in Moekaés Augen zu blicken. Würde sie wissen, was die Männer getan hatten? Warum hatte er sich überhaupt an diesen Taten beteiligt? Er war genauso schuld an dem Geschehenen wie die anderen, denn er hatte nichts unternommen, um es zu verhindern. Es war ein Unterschied, ob man Pferde und Kühe raubte oder sich an wehrlosen Menschen verging. Es war keine Lust gewesen, die die Männer getrieben hatte, sondern reine Zerstörungswut. Sie wollten diese Menschen nicht nur demütigen, sondern zerstören. Und dieses Gefühl war etwas Schlechtes, etwas, das Mahéo niemals gutheißen würde. Dieses Gefühl hatte nicht nur Auswirkungen auf ihn und die Männer, sondern würde auch Moekaé und Rotes-Blatt nichts Gutes bringen. Wie sollte unter diesen Umständen ein Kind heranwachsen? Er hatte kein Mitleid mit den fremden Kindern gehabt und dies würde eines Tages Folgen für seine eigenen Kinder haben. „Es war nicht gut, was wir heute getan haben!“, bemerkte er plötzlich.
Hohes-Pferd hob überrascht die Augenbrauen und grinste freudlos. „Natürlich nicht!“, stimmte er zu. „Aber es ist auch nicht richtig, was die Weißen uns angetan haben!“
„Nein! Trotzdem. Mahéo hat uns gelehrt, Mitleid zu empfinden und Großmut zu zeigen. Wir haben uns weit von dem entfernt, was es heißt, Cheyenne zu sein.“
„Wir wurden dazu gedrängt!“, erklärte Hohes-Pferd ruhig.
„Ja!“, stimmte Heskovetse erleichtert zu. Er schwieg eine Weile, dann schüttelte er seinen Kopf. „Wir sollten es nicht mehr tun!“
Hohes-Pferd grunzte missbilligend und schob stur die Lippen vor. „Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Diese Frauen waren allein im Haus und wir haben sie uns genommen. Wären wir nicht auf der Flucht, hätten wir sie mitgenommen und dann wären sie unsere Weiber geworden. Sollen sie froh sein, dass sie mit dem Leben davongekommen sind.“
„Wer will schon so dürre Tipistangen zum Weib?“, grinste Heskovetse, aber es war ein schlechter Scherz, der kaum über das hinwegtäuschte, was er eigentlich empfand.
„Na, mit gutem Futter wäre schon etwas aus ihnen geworden“, lächelte Hohes-Pferd zurück. „Lass uns die anderen suchen, denn das Fleisch wird dort dringend benötigt. Wir haben uns den ganzen Tag die Bäuche vollstopfen können, aber die Frauen und Kinder warten bestimmt schon.“
Die Sterne waren längst am Himmel, als sie mit den geraubten Pferden und Ochsen das Lager am Ufer des Baches fanden. Auch andere Gruppen waren erfolgreich zurückgekehrt und verteilten nun die Lebensmittel und Pferde auf die einzelnen Familien. Der Tag war gut gewesen, denn am nächsten Tag würde jeder die Reise auf einem Pferd fortsetzen können. Die Menschen spotteten zwar über die Ackergäule und doch würde es ihnen die Reise nun erleichtern. Die Krieger grinsten frech und erklärten, dass sie nach besseren Pferden Ausschau halten würden.
Little-Wolf und Dull-Knife schüttelten besorgt die Köpfe und ermahnten die jungen Männer, möglichst wenige Menschen zu töten. „Wir werden es schwer haben, wenn wir nun zu unbedacht sind!“
Die jungen Männer aber senkten bockig ihre Köpfe und behielten ihre düsteren Gedanken für sich. Was geschehen war, konnte nicht mehr geändert werden. Sie hatten Blut auf sich geladen und irgendwann würde es mit Blut zurückgezahlt werden. Jeder wusste das und so nahmen sie diese nüchterne Tatsache einfach hin.
Heskovetse drückte Moekaé die Kleider in die Hand und erfreute sich an ihrem dankbaren Lächeln. Sie hatten sich seit Tagen nicht richtig waschen können, vom Wechseln der Kleider ganz zu schweigen, und so freuten sich alle über diese Möglichkeit sich zu reinigen und frisch zu machen. Moekaé warf Heskovetse einen misstrauischen Blick zu und fragte: „Hast du die Frau und das Kind getötet?“
„Nein!“, antworte Heskovetse. Er war froh, dass er ihr tatsächlich die Wahrheit sagte. Sie schien zu ahnen, dass er nicht alles erzählte, aber nahm Abstand davon, ihn mit weiteren Fragen zu quälen. Sie waren in Zeiten der Not und dies erforderte manchmal eben harte Maßnahmen.
Moekaé wusste, dass die Pferde und Lebensmittel ihnen nicht geschenkt worden waren. Wortlos röstete sie das Fleisch über dem Feuer und war dankbar dafür, dass sie sich endlich wieder satt-essen konnte. Sie reichte Heskovetse die ersten Stücke, doch der wehrte mit einer leichten Handbewegung ab. „Iss nur, ich habe mich den ganzen Tag an den Kochtöpfen der Weißen sattgegessen.“ Mehr erzählte er nicht, obwohl Moekaé sah, dass ihn etwas bedrückte. Aber es gab Dinge, die sollte eine Ehefrau besser nicht wissen.
Moekaé fütterte Rotes-Blatt, dann schnitt sie sich ebenfalls lange Streifen aus dem Fleisch. Außerdem hatte Heskovetse Brot mitgebracht und die beiden kauten hungrig daran. Später nahm Moekaé das Kind mit zum Bach und wusch es gründlich ab. Sie selbst nahm ein Bad und nahm sich die Zeit, die Haare zu waschen. In den frischen, sauberen Kleidern fühlten sie sich wesentlich besser. Staunend drehte sich Rotes-Blatt im Kreis und zupfte an dem geblümten Stoff. „Sieh nur, wie hübsch ich bin!“, strahlte sie zufrieden. Das Kleid war dem Kind zu groß und schleifte über den Boden, sodass Moekaé einige Fäden aus dem Saum zupfte und damit begann, es etwas zu kürzen. Mit langen Stichen nähte sie den Saum um, während das Kind ganz still stand, damit Moekaé die richtige Länge sehen konnte. Nur der Mond und das Feuer leuchteten bei dieser Arbeit, sodass die Naht nicht ganz gerade verlief, aber für diese beiden Menschen war es trotzdem das schönste Kleid, das sie je gesehen hatten. Moekaé war ebenfalls in das neue Kleid geschlüpft und hatte befriedigt festgestellt, dass es nicht beschädigt war. Es war also keiner Frau einfach vom Leib gerissen worden. Sie fand das Kleid schön. Es war aus warmem, dunkelblauem Stoff und hatte eine hellblaue Schürze. Für die kältere Jahreszeit war es durchaus geeignet. Trotzdem warf Moekaé die alten Gewänder nicht weg. Obwohl sie müde war, nahm sie sich die Zeit, die Sachen zu waschen und zum Trocknen in die Büsche zu hängen. Man konnte nie wissen, wann Heskovetse weitere Kleider brachte. Sie besaß nun wieder drei Kleider und hatte für Rotes-Blatt ebenfalls Kleidung zum Wechseln und eine warme Decke. Auch Heskovetse trug nun eine saubere Hose und ein buntes Kaliko-Hemd und sah mehr wie ein weißer Farmer aus. Sein Lendenschurz hing zum Trocken über einem Strauch. Er war so speckig und abgewetzt gewesen, dass sie ihn mehrmals hatte waschen und spülen müssen. Auch das Hemd war vollkommen verdreckt gewesen und hing nun flatternd im Wind.
„Wenn wir erst im Norden sind und wieder ein Tipi haben, dann werden wir nie wieder so stinken“, flüsterte Moekaé voller Hoffnung.
„Ja! Wenn wir erst im Norden sind“, wiederholte Heskovetse sinnend.
„Wie sollen wir es schaffen, rechtzeitig vor dem Winter Tipis zu bekommen?“
„Na, wir rauben sie uns!“, erklärte Heskovetse überzeugt.
Moekaé kicherte belustigt. „Aber weiße Menschen leben nicht in Tipis!“
„Hmh!“, überlegte Heskovetse. „Na, dann scheuchen wir sie aus ihren Häusern und leben selbst darin!“
„Könntest du denn in so einem Haus wohnen?“, fragte Moekaé verwundert.
Heskovetse legte nachdenklich den Kopf schief und dachte darüber nach. „Weißt du, heute war ich in einem solchen Haus. Es war dunkel und stickig, aber warm. Das Essen wurde auf einem seltsamen Gestell zubereitet, in dem Feuer brannte. Und an den Wänden standen erhöhte Gestelle, in denen die Weißen schlafen. Alles war anders, aber nicht schlecht. Ich bevorzuge unsere Tipis, denn damit kann ich von Ort zu Ort ziehen, aber wenn ich muss, dann kann ich auch in so einem Haus leben. Es war wie in Camp Robinson, ehe wir in den Süden gehen mussten. Aber so ein Haus ist viel kleiner und nur für eine Familie. Das könnte mir schon gefallen.“
Er schwieg eine Weile, dann machte er eine abschließende Handbewegung. „Nein, diesen Winter werden wir Unterschlupf bei den Lakota suchen. Nächstes Frühjahr werden wir dann Büffel jagen und Häute für neue Tipis haben.“
„Gut“, seufzte Moekaé zufrieden. „Denn im Frühling wird dein Sohn geboren werden und dann brauchen wir ein schönes Tipi!“
„Wir brauchen auch ein schönes Tipi für Rotes-Blatt!“, erklärte Heskovetse mit einem lustigen Zwinkern zu dem kleinen Mädchen. Rotes-Blatt strahlte ihn an und kurz dachte Heskovetse an das weiße Kind, das er heute verschont hatte. Vielleicht hatte er es getan, weil er an Rotes-Blatt gedacht hatte.
Platte-Fluss
Am Morgen begleiteten einige Männer die Frauen und Kinder im scharfen Tempo weiter nach Norden, während sich die anderen wieder auf die Suche nach Vorräten machten. Die meisten Farmer hatten in Panik ihre Häuser verlassen und so drohte nun den Cheyenne eher Gefahr von Bürgerwehren, die sich zum Schutz gebildet hatten. Die Krieger nahmen mehrere Pferde mit und töteten zwei weitere Farmer, die versuchten ihre Heimstatt zu schützen. Hauptsächlich konzentrierten die Cheyenne nun ihr Vorgehen auf Farmen, die ohnehin auf dem Weg in Richtung Norden lagen. Sie brauchten mehr Pferde, denn die Ackergäule, die sie bisher zusammengetrieben hatten, würden ein schnelles Tempo nicht lange durchhalten.
Am Nachmittag begegneten ihnen zwei Jungen, die aufgrund der Kleidung nicht gleich erkannt hatten, dass es sich bei den Reitern um Cheyenne handelte. Heskovetse und Wirres-Haar ritten ganz nahe auf die Jungen zu und griffen ihnen einfach in die Zügel. Die Jungen wagten es nicht, sich zu bewegen, und starrten nur entsetzt auf die Indianer, die sie nun umzingelt hatten. Heskovetse machte eine eindeutige Geste, die den Jungen zeigte, dass sie absteigen sollten. Die beiden beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen, und standen dann betreten neben ihren Pferden. Sie trugen Latzhosen und einfache Hemden und hatten löchrige Hüte auf dem Kopf. Sie trugen keine Waffen bei sich, was die Krieger eher erheiterte. Die Jungen waren vielleicht dreizehn Jahre alt, für die Krieger alt genug, um zu kämpfen und zu sterben. Hohes-Pferd aber lächelte herablassend. „Sie sind noch Kinder. Lassen wir sie gehen!“ Er beugte sich nach vorne und sagte laut: „Schsch!“ Es klang, als würde er einen Hund davonscheuchen. Die beiden wichen etwas zurück, dann drehten sie sich um und rannten davon. Hohes-Pferd konnte sehen, dass mehrere Männer die Waffen hoben, doch er winkte energisch ab. „Lasst sie ziehen. Ihr habt gehört, was die Ältesten gesagt haben.“
„Wir haben bereits so viele Feinde getötet!“, mischte sich Schwarzer-Kojote unwillig ein. „Wieso sollen wir nun Mitleid zeigen? Die Soldaten werden wenig Mitleid mit uns haben, wenn sie uns einholen!“
Heskovetse nickte ebenfalls, doch dann dachte er an Moekaé und Rotes-Blatt. Die beiden Jungen waren noch Kinder und bisher hatten sie Frauen und Kinder gedemütigt, aber nicht getötet. Jetzt damit anzufangen, schien auch ihm nicht ratsam zu sein. „Lasst sie laufen!“, meinte er ruhig. „Wir können dankbar sein, denn diese zwei Pferde sind die ersten Tiere, die man überhaupt als Pferde bezeichnen kann.“
Die anderen lachten über diesen Scherz und griffen gut gelaunt nach den Zügeln der beiden Pferde. Ohne die Jungen noch eines Blickes zu würdigen, ritten die Cheyenne davon.
Kurze Zeit später griffen sie eine weitere Farm an. Die Menschen verbarrikadierten sich in dem Haus und nahmen die angreifenden Krieger unter Beschuss. Ein Krieger wurde getötet, als er versuchte, über das Dach in das Haus zu gelangen. Heskovetse und Wirres-Haar bargen ihren Freund und gaben mehrere Schüsse auf die Fenster des Hauses ab. Wütendes Gewehrfeuer antwortete ihnen und so verzichteten die Cheyenne auf ihre Rache. Sie trieben die Pferde aus der Koppel, töteten alle Kühe und Rinder, trampelten einen Gemüsegarten nieder und versuchten, das Haus in Brand zu stecken. Wütendes, zum Teil verzweifeltes Geschrei erklang aus dem Haus, doch die Farmer waren klug genug, sich nicht provozieren zu lassen und hielten die Tür geschlossen. Schließlich hatten die Krieger genug und verließen die kleine Siedlung. Sie hatten die Leiche des jungen Mannes dabei, um sie den Verwandten zu übergeben.
Am Abend erreichten sie wieder die Frauen und Kinder, die an diesem Tag ebenfalls weite Entfernungen zurückgelegt hatten und nun erschöpft auf eine Rast warteten. Wieder wurden Pferde verteilt und einige Ackergäule, die bereits lahmten, einfach laufengelassen. Ein Ochse wurde geschlachtet und das Fleisch gerecht verteilt. Auch andere Gruppen kehrten mit Beute zurück. Nur eine Gruppe schien wenig erfolgreich gewesen zu sein und erzählte, dass sie sich den ganzen Tag hindurch in einem Gefecht mit einem einzelnen weißen Mann befunden hatten. „Er hatte sich in einem Tal befunden und hat dort seine Pferde verteidigt. Wir wollten uns seine Waffen holen, doch er lag im Gras und hat Schuss um Schuss abgegeben.“
„Ihr habt den ganzen Tag nur diesen einen Mann bekämpft?“, wunderte sich Heskovetse.
Die Krieger zuckten die Schultern und grinsten. „Ja, so ist es. Wir wollten seine Pferde und Waffen, und er wollte sie uns nicht geben!“ Die Männer kicherten verlegen, als sie die Sinnlosigkeit ihres Handelns erkannten. „Und dann?“, erkundigte sich Heskovetse.
„Nichts! Es wurde dunkel und wir ritten schließlich davon.“
Alle lachten, doch dann wurden die Männer ernst, denn an diesem Tag war einer von ihnen gestorben und dies zeigte ihnen den Ernst der Lage. Andere Männer erzählten, dass sie nur knapp einer Bürgerwehr aus zwanzig Männern entgangen waren, die sich an ihre Spur geheftet hatte. „Die Weißen wurden gereizt und werden uns noch mehr jagen. Wir werden nirgends mehr sicher sein.“
Little-Wolf erhob seine Stimme und alle Menschen schwiegen respektvoll. „Von nun an werden wir die Siedlungen meiden. Wir haben genug, um bis in den Norden durchzukommen. Sie dürfen nicht wissen, wo wir sind, oder sie werden uns aufhalten! Es wird keine weiteren Überfälle mehr geben, denn sie gefährden uns alle!“
Alle schwiegen und nickten ihr Einverständnis, auch die jungen Männer.
Heskovetse setzte sich zu seiner Frau und nahm das Fleisch entgegen, das sie ihm reichte. Sie schien besorgt zu sein und er runzelte fragend die Stirn. „Rotes-Blatt hat Fieber“, erklärte Moekaé leise.
„Viele haben Fieber! Die Reise ist sehr anstrengend, doch bald werden wir den Platte-Fluss überqueren, und dann befinden wir uns im Gebiet der Lakota. Dort werden wir Schutz finden und Rotes-Blatt kann sich ausruhen.“ Es sollte beruhigend klingen, doch seine Worte schienen Moekaé kaum zu erreichen. Sie wirkte erschöpft und müde, war kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten. Sie hielt das kleine Mädchen in ihrem Schoß und streichelte über ihr Haar. Heskovetse wusste, dass die Frauen und Kinder am meisten unter den Anstrengungen zu leiden hatten, aber er konnte es nicht ändern. „Schlaf ein bisschen!“, meinte er müde.
Am nächsten Tag flohen die Cheyenne bis in das Tal des Repub-lican-Flusses und ritten selbst bei Nacht noch weiter, um die Soldaten über ihren Verbleib zu täuschen. Die Cheyenne reisten in einer Geschwindigkeit, die selbst Soldaten nicht durchhalten konnten. Die Kinder schliefen vor Erschöpfung in den Armen ihrer Mütter, die selbst kaum noch in der Lage waren, im Sattel oder auf dem blanken Pferderücken zu sitzen. Die ganze Zeit hielt Moekaé das fiebernde Kind vor sich im Schoß, obwohl ihre Arme kaum noch die Kraft hatten, das Kind zu tragen. Ihr Bauch schmerzte und zum ersten Mal hatte Moekaé das Gefühl, dass dieses Kind vielleicht nicht bleiben würde. Die Strapazen waren einfach zu groß.
Um Mitternacht erlaubten die Häuptlinge den erschöpften Menschen eine kurze Rast, auch weil die Pferde nicht mehr weiter konnten. Die Krieger töteten zwei lahmende Ackergäule und verteilten das Fleisch an die Menschen. Sie verzehrten es fast roh, weil niemand es wagte, ihre Position durch Feuer zu verraten. Sie wickelten das Fleisch um brennende Grasbüschel, deren Rauch in der Dunkelheit nicht so gut zu sehen war wie ein offenes Feuer. Es wurde nur kurz gegart, aber wenigstens lieferte es Kraft für die weitere Reise. Auch Moekaé aß davon und wickelte sich dann eng in ihre Decke, um ein wenig zu schlafen. Wenn sie nicht auf dem Pferderücken saß, ließen die Krämpfe in ihrem Bauch nach, und das beruhigte sie etwas. Rotes-Blatt lag immer noch fiebernd neben ihr. Sie konnte das Kind nur warm halten und hoffen, dass der kleine Körper selbst mit dem Fieber fertig wurde. Sie hatte dem Kind Fleisch gegeben und hoffte, dass dies dem Kind ebenfalls helfen würde. Ihr Schlaf war einer Ohnmacht nahe und so schrak sie zusammen, als Heskovetse sie viel zu früh wieder weckte. „Wir müssen weiter!“, sagte er nur. Dieses Mal brachte er seiner Frau ein Pferd, das einen Sattel trug. Sie konnte nun leichter aufsteigen und ihre Füße in den Steigbügeln abstützen. Es entlastete ihren Bauch, außerdem konnte sie Rotes-Blatt besser vor sich im Sattel halten. Das Kind war nun nicht mehr so schwer und das entlastete ebenfalls ihren Bauch. Sie lächelte dankbar und Heskovetse nickte ihr freundlich zu. Er galoppierte davon, um einen sicheren Weg zu finden. Das Gelände war nun durchzogen von Schluchten und bot besseren Schutz vor eventuellen Verfolgern. Little-Wolf hatte Späher ausgeschickt, die den Weg nach hinten absichern sollten, aber noch waren keine Verfolger aufgetaucht. Unbeirrt zogen die Menschen nach Norden und erreichten schließlich in der Abenddämmerung den Arm des Südlichen Platte Flusses. Es war ein Gewaltmarsch, den vor ihnen noch nie jemand auf sich genommen hatte. Die Häuptlinge erlaubten den Menschen nun eine längere Pause. Vor ihnen lag eine weitere Eisenbahnlinie und die Späher sollten erst in Erfahrung bringen, wann der beste Zeitpunkt sein würde, um auch dieses Hindernis zu überqueren.
Die Nacht tat den Menschen gut und in kleinen Gruppen zogen die Cheyenne weiter in Richtung der Eisenbahnschienen. Sie warteten auf die Dunkelheit und überquerten dann die Gleise. Manchmal einzeln, manchmal in kleinen Gruppen. Sie huschten über das Hindernis und verschwanden dann in der Dunkelheit des Platte-Tales. Einen Tag später überquerten sie bereits den Nördlichen Platte-Fluss und machten sich an den Aufstieg in die Hügel dahinter. Rollende Prärie lag nun vor ihnen und ihre Herzen schlugen höher. Leider wurde das Wetter schlechter und voller Sorge blickten die Cheyenne in den Himmel, an dem bereits dunkle Wolken den ersten Schnee ankündigten.
Moekaé dachte an den Winter und fragte sich, wie sie ihn ohne warme Tipis überleben sollte. Sie wollte nicht schon wieder auf das Mitleid fremder Menschen angewiesen sein. Auch die Lakota hatten schwere Zeiten vor sich und weitere Menschen, die sie versorgen mussten, wären eine enorme Belastung. Manchmal konnte sie hören, dass die Häuptlinge in ihrer bedächtigen Art darüber stritten, wohin es letztendlich gehen sollte. Dull-Knife wollte zu seinen Verwandten bei der Red Cloud Agentur, während Little-Wolf endlich den Heiligen Berg erreichen wollte, so wie sie es zu Beginn der Reise besprochen hatten.
Der erste Schneesturm setzte ein und hilflos zogen die Frauen die Decken über ihre Köpfe, um sich vor der Kälte zu schützen. Die Späher hatten gemeldet, dass ihnen von Süden her die Soldaten folgten, und so setzten sie ihre schnelle Flucht fort. Sie hofften, dass sie die Soldaten in den unwegsamen Sand Hills abschütteln konnten.
Das schlechte Wetter ließ sie nur langsam vorankommen und viele Menschen wurden krank, weil sie nur schlecht für die Kälte gerüstet waren.
Auch Rotes-Blatt hatte nun hohes Fieber und Moekaé fürchtete um das Leben ihrer kleinen Nichte. Manchmal drückte sie Schnee auf die Stirn des Kindes, um das Fieber ein wenig zu senken, doch es schien kaum etwas zu nützen. Das Kind war schmal geworden und die Haut fast durchsichtig. Heskovetse hatte ihr eine weitere Decke gegeben, damit sie es besser wärmen konnte, doch alles, was sie wirklich brauchte, war ein warmes Tipi. Moekaé hockte mit schmalen Lippen im Sattel und fühlte, wie das Kind immer schwächer wurde.
Am Abend machten sie endlich eine Pause und die Häuptlinge erlaubten den Frauen, dass sie Feuer machen durften. Es war Heskovetse, der Feuerholz sammelte, damit Moekaé sich um das Kind kümmern konnte. Vorsichtig flößte Moekaé dem fiebernden Mädchen Wasser ein, damit es nicht so austrocknete. Heskovetse sammelte dürre Zweige und errichtete damit einen Windschatten, der die Hitze des Feuers ein wenig reflektieren würde. Überall drängten sich die Menschen um die Feuer, während Schnee fiel und sich auf die Menschen legte.
Die Situation war verzweifelt und Stille breitete sich aus. Nur an einem Feuer saßen Dull-Knife, Little-Wolf und einige andere Anführer und berieten mit ruhigen Stimmen, was zu tun sei.
Dull-Knife deutete mit seinen Lippen auf die umliegenden Menschen und meinte: „Viele sind krank. Sie werden sterben, wenn wir nicht bald Unterschlupf finden. Ich gehe zu Red Cloud und warte dort den Winter ab.“
Little-Wolf pfiff verächtlich durch die Zähne. „Die Soldaten werden dich dort aufspüren! Glaubst du, dass sie dich in Frieden dort leben lassen, nach dem, was wir getan haben? Niemals! Du gehst in dein Verderben! Es ist besser, wenn wir uns hier in den Sand Hills verstecken und im Frühling weiterreisen.“
Dull-Knife schüttelte seinen Kopf. „Viele werden sterben, wenn wir hier bleiben. Wir haben keine Tipis und nicht genügend Vorräte. Das ist keine weise Wahl.“
„Wir haben schon öfter unter solchen Bedingungen überlebt. Wir werden Höhlen finde, in denen wir vor den Winden geschützt sind. Noch haben wir Ponys, die wir schlachten können. Niemals ergebe ich mich der Armee. Ich bin der Häuptling des Sweet Medicine Bündels. Es ist meine Pflicht, den Heiligen Berg zu erreichen!“
„Was schlägst du also vor?“, fragte Dull-Knife mit müder Stimme. Auch er war vom Fieber geschwächt und man konnte sehen, dass die Unterhaltung ihn anstrengte.
„Kein Mann kann einem anderen Mann sagen, was er tun soll. Jeder soll selbst eine Entscheidung treffen. Ich bleibe mit denen hier, die mir folgen wollen, und du kannst mit deinen Leuten zu den Lakota ziehen.“
„Du meinst also, dass wir uns trennen sollten?“
„Bleibst du hier?“, fragte Little-Wolf zögernd. Er kannte die Antwort bereits und doch musste er diesen letzten Versuch unternehmen.
„Bruder, wir sind so weit gekommen“, antwortete Dull-Knife begütigend, „Aber ich muss an die Kranken und Schwachen denken. Sie werden den Winter hier draußen nicht überleben.“
„Vielleicht nicht!“, stimmte Little-Wolf zu. „Und doch vertraue ich auf das Heilige Bündel. Ich will jetzt nicht aufgeben. Ich will den Heiligen Berg erreichen und ziehe dann weiter nach Norden in unsere Jagdgründe am Powder-Fluss. Dort ist die Jagd gut und wir können wieder wie Cheyenne leben.“
Dull-Knife nickte. „Vielleicht folge ich dir dann im Sommer dorthin.“
Little-Wolf lächelte erleichtert. „Ja, dann sind wir wieder vereint! Das wäre gut. Nimm du die Menschen, die dir folgen wollen, und wir werden sehen, wem Mahéo gewogen ist!“
Dull-Knife nickte nur, dann erhob er sich und wickelte die Decke um seinen Körper. Das Fieber und die anstrengende Reise hatten ihn geschwächt. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst und doch ging er mit Würde und Stolz. Die Last der Verantwortung drückte ihn und er wusste, dass er einen Weg einschlug, den er unter anderen Umständen niemals gewählt hätte. Es tröstete ihn, dass Little-Wolf das Heilige Bündel weiterhin trug und einige den harten Weg wählten. Aber seine Aufgabe lag im Schutz der Frauen und Kinder. Was nützten ihre Prinzipien, wenn es niemanden mehr gab, der sich daran erinnern würde? Mit langsamen Schritten ging er zum Feuer, an dem seine Frauen und Töchter saßen, um ihnen seine Entscheidung mitzuteilen. Überall wurde nun leise geflüstert und darüber beraten, wem man vertrauen und folgen sollte. Viele hatten ihre Meinung längst gebildet und folgten einfach dem Anführer, dem ihre Loyalität galt.
Heskovetse war noch unschlüssig, denn einige seiner Freunde wollten bei Little-Wolf bleiben und andere sich Dull-Knife anschließen. Er wusste, dass Schwarzer-Kojote mit Little-Wolf gehen würde, aber nicht, wie Wirres-Haar und Hohes-Pferd sich entscheiden würden. Außerdem hatte er Angst um Rotes-Blatt. Er befürchtete zu Recht, dass das Kind den Winter nicht überleben würde. Auch wusste er nicht, ob er Moekaé dies zumuten konnte. Er musste auch an das Ungeborene denken, das sie erwartete. Sie hatten schon einmal mit Hilfe der Lakota einen Winter überstanden. Warum sollten sie diese Chance nicht erneut ergreifen? Er entschied, mit Dull-Knife zur Red Cloud Agentur zu ziehen, und bat auch seine Freunde Wirres-Haar und Hohes-Pferd, mit ihm zu kommen. Es war nicht ihre Art, jemand anderen zu überzeugen, aber die beiden schienen einen Rat nötig zu haben. Die vielen Kämpfe und die anstrengende Flucht hatten sie bis an den Rand der körperlichen und seelischen Erschöpfung getrieben und sie schienen nicht mehr zu wissen, was sie tun sollten. Die Krieger waren es gewohnt, Entbehrungen zu ertragen, doch diese ständige Hetzjagd auf sie, ohne jede Form von spirituellem Beistand, hatte sie müde werden lassen. Irgendwie schien ihre Flucht sinnlos zu sein und im Grunde ahnten sie, dass ihre Zeit vorbei war. Ihre einzige Hoffnung lag darin, bei den Lakota unterzutauchen und dort den Soldaten zu entwischen. Vielleicht ahnten sie auch, dass irgendwann jemand Rechenschaft für ihre Taten verlangen würde. Heskovetse musste sie nicht überreden, denn ihre Entscheidung war längst getroffen. Sie würden mit Dull-Knife ziehen und ihr Glück bei Red Cloud versuchen. Sie verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung von Schwarzer-Kojote und sahen zu, wie er mit Büffelkalb-Frau und den anderen Männern, Frauen und Kindern nach Norden verschwand. Ihre Gesichter waren Masken aus Stein, denn sie ahnten wohl, dass sie einander vielleicht nie wiedersehen würden.
Dull-Knife wandte sich nach Nordwesten, um am Chadron-Bach die Red Cloud Agentur zu erreichen, dicht gefolgt von den Scouts der Armee, die sich seit der Überquerung des Platte-Flusses an ihre Spur geheftet hatten. Dull-Knife wusste, dass die Armee ihm dicht auf den Fersen war, und trieb die Menschen zur Eile an. Längst hatten sie unbesiedeltes Gebiet erreicht und die Gefahr schwand, dass wild gewordene Siedler mit Waffengewalt ihre Heimstatt verteidigten oder Bürgerwehren bildeten, um auf eigene Faust gegen die Cheyenne vorzugehen. Hier gab es zwar Farmen, aber die lagen weit verstreut. Meist handelte es sich um größere Farmen, die Vieh züchteten und eine größere Mannschaft dafür brauchten. Die Cheyenne wichen diesen Gefahren aus und suchten Gebiete, die noch unberührt vor ihnen lagen. Sie wollten möglichst unbehelligt das Dorf von Red Cloud erreichen.
Tage mit trockenem Wetter wechselten sich ab mit Schneestürmen, die das Vorwärtskommen behinderten. Die Späher meldeten, dass sie etwas Zeit gewonnen hatten, weil die Scouts der Soldaten nun durch zwei Fährten, die in verschiedene Richtungen führten, verwirrt wurden. Außerdem verwischte der Schnee alle Spuren, sodass die Scouts die Fährte auch immer wieder neu aufnehmen mussten. Die Cheyenne wurden getrieben, aber nicht gehetzt, sodass sie in mäßigem Tempo weiterziehen konnten. Alle wunderte nur, mit welcher Hartnäckigkeit ihnen die Soldaten folgten, und dies zeigte ihnen, dass sie auch im Dorf von Red Cloud nicht sicher wären. Sie waren immer noch über hundertdreißig Menschen und die konnten nicht einfach versteckt werden. Es würde Fragen geben und die Männer würden verhaftet werden. Heskovetse flankierte schweigend den Zug der Frauen und Kinder, die tief gebeugt in den Sätteln saßen und sich die Decken vor das Gesicht gezogen hatten, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Heskovetse unterdrückte eine Hustenattacke und trieb sein Pferd zu einem langsamen Trab an. Auch er fror, aber mehr, weil er Fieber hatte. Er versuchte Moekaé über seinen schlechten Zustand hinwegzutäuschen, aber sein ausgemergeltes Gesicht und seine fiebrigen Augen täuschten niemanden mehr. Moekaé schwieg, denn sie hatte keine Kraft mehr, etwas dagegen zu tun. Es gab auch nichts, was hätte helfen können. Sie brauchten Essen und Wärme. Rotes-Blatt schien es etwas besser zu gehen, obwohl sie wie ein Baby in ihren Armen lag und sich kaum bewegte. Vielleicht hatte sie das Laufen inzwischen verlernt. Sie reisten nun tagsüber, weil es nachts zu gefährlich wurde. Die Späher versuchten Plätze zu finden, an denen es Feuerholz gab oder Zweige, die man als Unterlage benutzen konnte. Es war zu kalt, um auf dem nackten Boden zu schlafen. Viele Menschen waren inzwischen ernsthaft erkrankt und zwei kleine Kinder und eine ältere Frau bereits gestorben. Dull-Knife hatte immer noch Fieber und seine Haut wirkte wie vergilbtes Papier. Längst war es ihm gleichgültig, ob die Soldaten sie einholten oder nicht, denn sein Haufen verzweifelter Menschen stellte längst keine Gefahr mehr dar. Er konnte sich darauf verlassen, dass die Soldaten eher Verhandlungen führen würden, wenn seine Krieger von Kampfhandlungen absahen. Auch die Soldaten wollten im Winter in ihre warmen Häuser zurück. Er behielt die Gedanken für sich und näherte sich im steten Tempo dem Chadron-Bach, wo er die Agentur von Red Cloud vermutete. Dort lag auch das nächste Fort, in dem sie Zuflucht finden konnten. Sie waren so weit vorgestoßen, dass es kein Zurück mehr gab. Hinter ihnen lagen die Sand Hills, in denen es außer Klapperschlangen nichts gab. Dull-Knifes müde Gedanken verweilten manchmal bei Little-Wolf, der dort den Winter verbringen wollte. Viele würde es nicht überleben.
Nach gut zwei Wochen erreichten sie schließlich den Chadron-Bach und blickten schweigend auf den verlassenen Platz der Red Cloud Agentur. Hier war niemand! Das Tal lag still und öde vor ihnen und es war deutlich zu sehen, dass hier schon länger niemand mehr gewesen war. Die Gebäude waren abgebaut worden und nur einige Fundamente waren stille Zeugen, dass dieser Ort noch vor einiger Zeit belebt gewesen war. Ein weiterer Schneesturm kündigte sich an und Dull-Knife gab das Zeichen, ein Lager zu errichten. Viele Augen richteten sich fragend auf ihn, doch er wehrte die unausgesprochene Frage mit einer Handbewegung ab. Er würde am nächsten Tag einige Späher aussenden, die sich auf die Suche nach Red Cloud begeben sollten. Einige Cheyenne ritten einfach weiter und versuchten, nun auf eigene Faust die Lakota zu erreichen. Dull-Knife hielt sie nicht auf, denn es stand ihm nicht zu, jemanden aufzuhalten, der gehen wollte oder kein Vertrauen mehr in seine Führung hatte.
Müde kauerten sich die Menschen um einige Feuer, die schnell entfacht worden waren. Der Schneesturm heulte um sie herum und Hoffnungslosigkeit breitete sich aus. Wo waren die Lakota? Heskovetse hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und versuchte die Kopfschmerzen zu ignorieren, die ihn plagten. Längst konnte er die Hustenanfälle nicht mehr unterdrücken und manchmal hustete er bereits Blut. Dull-Knife wollte am nächsten Tag Späher ausschicken, doch Heskovetse hatte keine Kraft mehr, ein Pferd zu besteigen. Eingehüllt in seine Decke wünschte er sich Sonne herbei, ein warmes Feuer, einen Topf mit heißer Suppe und ein weiches Büffelfell, auf dem er ruhen konnte. Sein Körper zitterte unkontrolliert und er schämte sich, dass er es nicht mehr kontrollieren konnte. „Ich bin schwach geworden“, flüsterte er fast unhörbar.
Moekaé schwieg. Sie wunderte sich, dass das Ungeborene immer noch in ihrem Leib wuchs und sie nicht von den Krankheiten betroffen war. Sie schichtete Zweige als Windschutz auf, damit Rotes-Blatt und Heskovetse es warm hatten. Dann gab sie den beiden Fleisch aus ihrem Beutel. Heskovetse kaute gedankenverloren und schlief nach wenigen Bissen erschöpft ein. Rotes-Blatt dagegen kuschelte sich an ihre Ziehmutter und riss mit ihren kleinen spitzen Milchzähnen eine Faser nach der anderen von dem trockenen Fleisch. Am Feuer war die Kälte besser auszuhalten und Moekaé hoffte, dass die Späher am nächsten Tag gute Nachrichten brachten.
Am Morgen brachen die Cheyenne wieder auf, denn niemand wollte eine weitere Nacht unter freien Himmel verbringen. Sie zogen weiter nördlich, wo sie ein Dorf der Lakota vermuteten. Nicht weit von hier war ein Lieblingsplatz von Crazy-Horse gewesen, der als Winterlager gut geeignet war. Vielleicht hatten sie Glück?
Kurze Zeit später ritten die Späher in eine Patrouille der Soldaten und konnten nur mit knapper Not einem Gefecht entkommen. Sie kehrten zu den anderen zurück und warnten sie vor den heranrückenden Soldaten. Dull-Knife schlug eine andere Richtung ein, doch ein weiterer Schneesturm machte ihr Vorwärtskommen fast unmöglich.
Moekaé hatte Angst, als sie hinter einigen Hügeln in Deckung ging und dort abwartete, was die Soldaten tun würden. Die Cheyenne waren ohne jeden Schutz, kaum in der Lage sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Auch die Krieger wussten das und warteten voller Sorge ab, was Dull-Knife tun würde. Im Grunde befürchteten alle ein Gemetzel und viele Frauen hatten ihre Kinder umschlungen und weinten vor Furcht. Moekaé versuchte Rotes-Blatt zu trösten, die vor Angst zitterte. Das Kind zählte noch nicht einmal vier Winter und hatte bereits unzählige Angriffe erlebt. Es hatte die Eltern und Großeltern verloren und miterlebt, wie der Bruder erfroren war. Moekaé hielt das zitternde Kind in ihren Armen und hoffte, dass endlich alles vorbei wäre, und sie bei ihren Ahnen und an der Seite von Mahéo in Frieden weiterleben konnten. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, sondern nur vor dem, was die Soldaten ihnen antun konnten, ehe man sie tötete. Heskovetse lag neben ihr im Schnee und hielt sein Gewehr umklammert. Er musterte sie mit dunklen Augen und plötzlich ahnte sie, was er tun würde, wenn die Soldaten näher kamen. Sie war dankbar dafür und schloss erleichtert die Augen. Gemeinsam würden sie bei Mahéo sein und aller Schmerz und alles Leid hätte ein Ende.
Noch war kein Schuss gefallen und Moekaé betete still, um sich ruhig auf den Übergang in das andere Leben vorzubereiten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen und Moekaé wunderte sich, warum die Soldaten nicht angriffen. Dann kam plötzlich Bewegung in die Menschen und Dull-Knife rief alle zu einer Beratung zusammen. Moekaé schien wie betäubt. Ihre Beine waren eingeschlafen und es fiel ihr schwer, sich zu erheben. Auch Heskovetse schien misstrauisch und desorientiert. Er war bereit, dem Tod ins Auge zu sehen, und wunderte sich nun über den Lauf der Dinge. Dull-Knife blickte auf die Anwesenden und machte eine beruhigende Handbewegung. „Die Soldaten wollen mit uns verhandeln. Wir sollen in ihr Lager kommen und uns an den warmen Feuern aufwärmen. Sie geben uns Essen und Decken!“
Alle schwiegen, denn dieses Angebot ergab in ihren Augen keinen Sinn. Wieso sollte man einen Feind mit Essen und Decken versorgen? Die Cheyenne fürchteten eine Falle, aber im Grunde war es gleichgültig, denn sie hatten keine andere Wahl. Die Alternative war, hier draußen im Schneesturm zu erfrieren oder einfach zusammengeschossen zu werden. Unentschlossen standen die Männer da, während die Frauen wieder Hoffnung schöpften. Durften sie leben?
Mit gemischten Gefühlen ließen sich einige Männer in das Camp der Soldaten führen und sahen ihre Befürchtungen bestätigt, als andere Soldaten kamen und vorsichtig in Stellung gingen. Noch wurden die Menschen nicht durchsucht, doch es glich eindeutig einer Kapitulation und nicht einer freundlichen Einladung. Mit ausdruckslosen Gesichtern setzten sie sich an die Feuer und nahmen das Essen entgegen, das ihnen in die Hände gedrückt wurde. Noch bemühten sich die Soldaten um höfliches Benehmen und versuchten, die Cheyenne nicht weiter zu reizen. Doch die Cheyenne konnten sehen, wie weitere Soldaten in Stellung gingen, und es war klar, dass sie in die Enge gedrängt werden sollten. Schließlich verließen die Krieger das Camp und kehrten zwischen die Felsen zurück, wo sie zuvor Zuflucht gefunden hatten. Es war eisig kalt und zu spät, um noch nach Holz zu suchen.
Die Soldaten kamen nicht näher und ließen die Cheyenne in Ruhe. Die Wachen standen in einiger Entfernung, aber so unauffällig, dass sich eine gewisse Gelassenheit ausbreitete. Dann hörten die Cheyenne, wie ihre Pferdeherde fortgetrieben wurde. Sie saßen fest und jeder Fluchtversuch wäre nun sinnlos. Niemand wagte es, einen Schuss abzufeuern und die Soldaten in ihrem Tun aufzuhalten, denn das hätte ein Gemetzel nach sich gezogen.
Am Morgen verhandelten Dull-Knife und Wild-Hog mit den Soldaten, wobei Wild-Hog für die jungen Krieger sprach. Er war jünger als Dull-Knife, der durch die Krankheit ohnehin geschwächt war. In der Nacht waren weitere Truppen eingetroffen und die Cheyenne sahen sich in aussichtloser Lage. Die jüngeren Krieger errichteten Brustwehren und machten sich kampfbereit, während die älteren Männer zu Besonnenheit aufriefen.
Die Soldaten dagegen brachten ihre Kanonen in Stellung und unter den jüngeren Kriegern brach Unruhe aus. Der Fluchtweg war ihnen abgeschnitten und sie wollten lieber sterben, als mit den Soldaten zu gehen. Immer wieder verlangten sie, zu den Agenturen der Lakota gebracht zu werden. Immer mehr Soldaten trafen ein und innerhalb kürzester Zeit schien das Tal von Soldaten nur so zu wimmeln.
Die Cheyenne erhöhten ihre Brustwehren und machten sich bereit, im Kugelhagel zu sterben. Die Frauen und Kinder weinten, denn der Hunger und die Kälte machten ihre Lage aussichtslos. Vielleicht wollten manche mit ihren Männern in den Tod gehen, aber andere waren in den Norden gezogen, um zu leben. Sie klammerten sich an die Hoffnung, dass es Dull-Knife gelingen würde, eine Lösung herbeizuführen.
Moekaé half ihrem Mann dabei, Steine übereinander zu schichten und hockte sich dann mit schmerzverzerrtem Gesicht neben ihn. Ihr Bauch war steinhart und sie glaubte nicht mehr daran, dass ihr Baby je lebend geboren werden würde. Der Hunger zehrte an ihr, denn sie hatte nun seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Auch Rotes-Blatt jammerte nicht mehr, denn sie hatte längst gelernt, dass es nichts nützte. Meist war sie still und wartete apathisch ab, was als Nächstes geschehen würde. Die Welt schien nur aus Bedrohungen zu bestehen und ihr Leben aus Hunger, Kälte und Müdigkeit. Heskovetse überprüfte sein Gewehr und drückte Moekaé ein weiteres in die Hand. „Du kannst es nachladen!“, meinte er ruhig. Er ignorierte ihre offensichtlichen Schmerzen. Wahrscheinlich wären sie ohnehin bald tot und dann brauchte er sich auch um das Ungeborene nicht zu sorgen. Er war nicht einmal traurig. Manchmal war der Tod das geringere Übel. Er war Krieger und im Moment konnte er keine Rücksicht auf die Schmerzen seiner Frau nehmen. Dort, hinter der nächsten Anhöhe, hatten die Soldaten die Geschütze auf sie gerichtet, und seine ganze Aufmerksamkeit galt nun dem bevorstehenden Kampf. Er wusste, dass niemand hier lebend herauskommen würde, wenn erst der erste Schuss gefallen war. „Ich wünschte, ich wäre gerannt, als es noch möglich war!“, knurrte er wütend.
„Wohin denn?“, flüsterte Moekaé. „Ich kann nicht mehr rennen!“, fügte sie hinzu.
„Du bist ja auch eine Frau!“, stellte Heskovetse fest.
Moekaé schwieg und drückte sich in ihre Decke gehüllt an die Felsen. Sie horchte in sich hinein, doch noch war das entstehende Leben so winzig, dass sie nichts fühlen konnte. Manchmal bemerkte sie ein leichtes Flattern, doch es war ihre erste Schwangerschaft, und die Veränderungen ihres Körpers waren fremd für sie. Sie hatte keine Angst mehr, sondern bedauerte nur, dass es so enden würde. Sie strich Rotes-Blatt über das Haar und wünschte, dass dieses Kind ohne Furcht in das andere Leben trat, um ihre Eltern wiederzusehen. Würde sie die Kugel spüren, wenn sie getroffen wurde? Wie fühlt sich der Tod an?
Zwei Tage lang lagen sie fast bewegungslos in der Kälte, während Dull-Knife hartnäckig Verhandlungen führte. Die Stunden dehnten sich endlos und der Hunger war inzwischen stärker als das Gefühl der Angst. Moekaé lutschte Schnee, um wenigstens ihren Durst zu stillen. Rotes-Blatt war so geschwächt, dass sie die meiste Zeit schlief. Nur manchmal blinzelte sie mit ihren Augen und dann ließ Moekaé auch sie ein wenig Schnee lutschen. Tagsüber schien die Sonne und an einigen windgeschützten Stellen konnten sich die Menschen etwas aufwärmen, doch nachts sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Obwohl Moekaé mehrere Schichten Kleidung übereinander trug und sich in warme Decken gehüllt hatte, half dies nicht mehr gegen die Kälte, die vom Boden her nach oben schlich. Die Kälte war allumfassend und tödlich.
Am Morgen türmten sich dunkle Wolkenberge am Himmel und die Menschen ahnten, dass der nächste Schneesturm bevorstand. An diesem Tag schien keine Sonne, die die Menschen kurz wärmte.
Die Cheyenne verbrachten eine weitere Nacht in der Kälte und ergaben sich schließlich am Morgen. Sie hatten eingesehen, dass ihre Lage aussichtslos war.
Moekaé folgte ihrem Mann in das Camp der Soldaten und wunderte sich, dass sie immer noch am Leben war. Menschen mit weißen Gesichtern unter braunen Wintermützen starrten sie misstrauisch, manche sogar bewundernd an und machten ihnen den Weg frei, als sie zu mehreren bereitstehenden Karren geführt wurden. Sie wurden nicht geschubst oder gedrängt, sondern eher respektvoll dazu bewogen, auf den Karren Platz zu nehmen. Den Männern wurden die Waffen weggenommen, doch die Frauen durften ihre Messer und anderen Utensilien behalten. Niemand fand den Revolver, den Moekaé immer noch unter ihrem Kleid trug, abgesehen davon, dass niemand es wagte, die Frauen und Kinder zu durchsuchen. Schnell saßen die Menschen zusammengedrängt auf den Karren und die Fahrt begann in Richtung Camp Robinson. Dull-Knife hatte die Menschen aufgefordert, keine Gegenwehr zu zeigen. „Wir kamen bis hierher. Wir sind an dem Ort, wo wir bleiben wollten. Die Soldaten haben uns zugesichert, dass wir uns im Fort frei bewegen können und wir die Gespräche fortsetzen werden.“
Die jüngeren Krieger bezweifelten diese Versprechen, aber sie dachten an die sechzig Frauen und über vierzig Kinder, die mit ihnen sterben würden, wenn sie kämpften. Ohne diese Frauen und Kinder hätten sie vermutlich den Kampf gewählt. Auch Heskovetse saß mit gesenktem Kopf auf dem Karren und fuhr dieser schmachvollen Zukunft entgegen. Er würde eingesperrt werden und wäre den Soldaten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wie sollte er unter diesen Umständen seine Frau schützen? Er glaubte diesen Weißen und ihren Versprechen nicht. Wieder setzte ein verheerender Schneesturm ein und er zog die Decke über seinen Kopf. Es war nicht gegen die Kälte, sondern ein Zeichen der Demütigung, die er empfand.
Camp Robinson
Moekaé spürte den beißenden Schmerz der Kälte in ihren Schultern und konnte doch nichts dagegen tun. Rotes-Blatt saß ebenfalls in eine Decke gehüllt auf ihrem Schoß und so konnte sie wenigstens das Kind vor dem eisigen Wind schützen. Sie fühlte die Erfrierungen auf der Haut und hoffte, dass die Reise endlich ein Ende hatte. Der Wagen ruckelte über den unebenen Boden und manchmal wurden die Menschen durchgeschüttelt, wenn er über Steine und Bodenunebenheiten fuhr. Es gab nichts zum Festhalten und eine gewisse Hilflosigkeit und Apathie breitete sich aus. Der Schneesturm nahm zu und verwandelte sich in einen Blizzard, der ein Vorwärtskommen fast unmöglich machte. Schreie drangen durch die weiße Wand der Schneeflocken, mit denen sich die Soldaten verständigten. Es wurde schnell dunkel und Moekaé fürchtete sich davor, eine weitere Nacht draußen verbringen zu müssen.
Unvermittelt tauchten plötzlich graue Gebäude neben ihnen auf und sie erkannte, dass sie das Fort erreicht hatten. Befehle wurden gebrüllt und mit steifen Gliedern kletterten die erschöpften Menschen von den Karren. Moekaés Füße schmerzten, als sie nach der langen Reise durch die Kälte plötzlich belastet wurden. Nur mühsam schlurfte sie voran, schwankend und schwindelig. Rotes-Blatt strauchelte und sie hatte nicht die Kraft, um sie hochzunehmen. „Komm“, flüsterte sie. „Gleich wird es wieder warm.“
„Meine Füße!“, jammerte das Mädchen.
„Ich weiß! Gleich wird es besser“, tröstete Moekaé das Kind.
Wie in Trance ließ sie sich von den Soldaten zu einem Gebäude treiben und merkte kaum, dass die Frauen und Kinder dabei von den Männern getrennt wurden. Sie war nur froh, aus dem Schneesturm herauszukommen. Stille umfing sie, als sie das Gebäude betrat. Und Wärme. Ein Ofen stand in der Mitte des Raumes und schutzsuchend drängten sich die Frauen um das warme Feuer. Noch waren sie fest in die Decken gehüllt und mit misstrauischen Blicken musterten sie die Soldaten, die sich an der Tür aufgestellt hatten. Moekaé konnte sehen, dass an den Wänden Säcke aufgeschichtet waren, auf denen Decken lagen. Wahrscheinlich sollten sie als Schlafplätze dienen. Vielleicht durften sie die steifen, schneebedeckten Decken gegen diese trockenen Decken austauschen? Rotes-Blatt zitterte vor Kälte und sie fürchtete um das Kind. Zögernd ging sie zu einer dieser Schlafstätten und griff nach der Decke, die dort ordentlich zusammengefaltet lag. Die Soldaten an der Tür rührten sich nicht und so nahm sie ihre Decke von der Schulter und wickelte sich in die blaue Wolldecke der Soldaten. Sogleich machten es ihr die anderen Frauen nach und einige ließen sich auf den Säcken nieder, um ihre Füße zu massieren oder sich um die Kinder zu kümmern. Weitere Soldaten betraten den Raum und eine leichte Unruhe war unter den Menschen zu spüren. Dann wurde ein riesiger Kessel hineingetragen und vier weitere Soldaten brachten Schüsseln und Löffel. Ein Mann in ziviler Kleidung sprach in der Sprache der Lakota zu den Frauen und bat darum, dass jemand seine Worte auf Cheyenne übersetzte. Es war Eiserne-Zähne, die sich bereit erklärte, die Worte der Vehoe zu übersetzen. Umständlich räusperte sich der Mann, dann begann er im schlechten Lakota von der Mildtätigkeit der Weißen zu erzählen: „Die Soldaten wollen keinen Krieg mehr. Ihr seid nun hier! In drei Monden werden die Weißen entscheiden, was mit euch geschehen wird. So lange bleibt ihr hier. Ihr dürft nicht fliehen. Wenn einer geht, werden die anderen bestraft. Die Frauen dürfen bis zum Fluss gehen, um Wasser zu holen oder die Kleider zu waschen. Die Krieger müssen in den Häusern bleiben. So wurde es beschlossen! Nun bekommt ihr Suppe. Dazu müsst ihr euch in einer Schlange anstellen.“
Empörtes Murmeln war zu hören, denn dies entsprach nicht der Vereinbarung. Eine ältere Frau trat vor und forderte: „Ich will zu meinem Mann.“
Die Worte wurden übersetzt und begütigend hob der Soldat die Hand: „Morgen werden wir darüber entscheiden. Heute Nacht bleibt ihr hier. Wer krank ist, darf zu dem weißen Doktor gehen. Morgen werden wir weitersehen!“
Moekaé senkte bockig den Kopf. Sie wollte zu keinem Arzt gehen! Sie wollte mit ihrem Mann vereint sein und sie wollte diese demütigende Situation nicht. Sie sollten drei Monde hier ausharren? Was sollten sie hier den ganzen Tag tun? Sie fürchtete sich vor der Langeweile und den Belästigungen, denen sie dann ausgesetzt wäre. Schon einmal hatten sie in diesen Häusern ausharren müssen und sie wusste genau, was von ihnen verlangt wurde. Aber jetzt war Winter und es würde kaum Möglichkeiten geben, der Enge zu entfliehen. Sie biss die Zähne zusammen, um das Aufsteigen der Tränen zu verhindern. Die Verzweiflung war so greifbar, dass es ihr die Luft nahm. Sie konnte das nicht noch einmal aushalten! Wie benommen stand sie da und hörte auf das Rauschen in ihren Ohren, das plötzlich alles übertönte. Die Stimmen waren nur noch von fern zu hören, als wäre sie in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit gefangen. Gefangenschaft. Dieser Gedanke beherrschte ihr Denken. Sie ließ sich auf den Sack plumpsen und zog Rotes-Blatt neben sich.
Die anderen Frauen stellten sich geordnet in einer Reihe an und warteten darauf, dass ihnen Suppe in einem Blechnapf gegeben wurde. Für viele war es das erste Essen seit Tagen, trotzdem entstand kein Gedränge. Sittsam hatten die Frauen die Decken um ihre Körper geschlungen und verbargen zum Teil sogar ihr Gesicht vor den Blicken der Soldaten.
Moekaé erhob sich mühsam und schritt ebenfalls nach vorne, um ihre Ration entgegenzunehmen. Sie schämte sich, andererseits war sie froh, dass sie Rotes-Blatt etwas zu essen geben konnte. Der Soldat schöpfte teilnahmslos die Suppe in einen Napf und reichte ihn ihr. Er schenkte ihr keinen Blick und so drehte Moekaé sich wortlos um und ging zu ihrem Platz zurück. Rotes-Blatt sah ihr mit hungrigen Augen entgegen und Moekaé hockte sich zu ihr, um die Suppe mit ihr zu teilen. Es war reichlich und das warme Essen breitete sich angenehm im Magen aus. Dann legte sich Moekaé auf die Lagerstatt und wickelte sich in die Decke. Ihre Füße wurden warm und ihr Rücken kribbelte, als würden tausend Ameisen darüberlaufen, trotzdem schlief sie sofort ein. Rotes-Blatt drückte sich an sie, doch davon merkte sie nichts mehr.
In der Baracke war es so still, dass der Wachposten neben der Tür sich überflüssig vorzukommen schien. Manchmal ging er ein Stück auf und ab, warf einen misstrauischen Blick auf die schlafenden Menschen, als traute er der Ruhe nicht.
Am Morgen rührten sich die erschöpften Menschen nur langsam. Eine Frau ging versuchsweise mit ihrem Kind vor die Tür und wurde nicht aufgehalten. Sie verschwand in Richtung des White-Flusses, um sich zu erleichtern. Ein Soldat hielt sie schließlich auf und zeigte ihr die Latrinen, die sie benutzen sollte. Kopfschüttelnd verschwand die Frau in den Bereich hinter einem Holzzaun, der den Frauen vorbehalten war. Nach und nach rafften sich die Menschen auf und gingen ihren Bedürfnissen nach. Wieder erschienen Soldaten und verteilten einen warmen Brei. „Wir werden gefüttert wie Hunde!“, meinte Eiserne-Zähne verächtlich. Moekaé senkte den Kopf und schwieg. Im Moment war sie nur dankbar, dass sie überhaupt etwas bekam. Natürlich wollte sie lieber selbst das Essen zubereiten und für ihre Familie sorgen, aber vielleicht wurde es den Soldaten bald zu dumm, sie wie kleine Kinder zu bedienen. Am späten Vormittag erschien ein Offizier in Begleitung des Arztes. Wieder mussten sich die Frauen in einer Reihe aufstellen und an dem Arzt vorbeigehen. Mit prüfendem Blick musterte der Arzt die Frauen, berührte sie jedoch nicht. Zweimal ließ er über den Dolmetscher fragen, ob die Frau etwas benötigte und erntete jedes Mal nur ein trotziges Kopfschütteln. Bei den Kindern ließ sich der Arzt mehr Zeit und lächelte freundlich, wenn er sie musterte. Bei einigen Kindern runzelte er besorgt die Stirn und fasste prüfend an deren Köpfe, um festzustellen, ob sie Fieber hatten. Die Mütter ließen es zu, obwohl ihnen anzumerken war, dass sie dem weißen Medizinmann misstrauten. Auch Moekaé wich dem Blick des Arztes aus, damit er nicht in ihr Innerstes sehen konnte. Bei Rotes-Blatt dagegen wartete sie geduldig ab, was der Arzt sagen würde. „Hat deine Tochter Fieber?“, fragte der Dolmetscher.
„Ja!“, antwortete Moekaé wahrheitsgemäß.
„Hustet sie, oder hat sie Durchfall?“
Moekaé schluckte schwer. Noch nie hatte ein Medizinmann solche Fragen gestellt. Wie wollte er die Geister um Hilfe bitten? Wie wollte er ergründen, wie es ihrer Seele ging? Wie wollte er überhaupt in der Lage sein, dem Kind zu helfen?
„Ja!“, antwortete sie kurz.
„Was nun?“, fragte der Dolmetscher ungeduldig.
„Sie hustet!“
Der Arzt sagte etwas und lächelte Moekaé freundlich zu. Wesentlich freundlicher wandte sich der Dolmetscher erneut an sie: „Der weiße Medizinmann fragt, ob sie schon lange hustet und Fieber hat.“
„Ja“, flüsterte Moekaé.
Der Arzt nickte ihr gutmütig zu und ließ über einen Adjutanten eine Flasche bringen. Er zückte einen Löffel, schüttete etwas Saft darauf und hob ihn an den Mund des Kindes. „Das ist Medizin gegen den Husten. Du musst nun dreimal am Tag kommen und dir diese Medizin holen. Dazu darfst du das Gebäude verlassen und zum Hospital kommen. Ich zeige dir den Weg.“
Moekaé nickte gehorsam und drückte Rotes-Blatt an der Schulter, damit sie die Medizin schluckte.
„Es wird dir helfen“, meinte sie wenig überzeugt, aber sie hoffte, dass dieser Saft dem Kind wenigstens nicht schadete.
Rotes-Blatt verzog das Gesicht, aber gehorchte ohne Protest. Dann ließ sie es zu, dass der Arzt wie bei den anderen Kindern nach ihren Füßen sah und die Frostbeulen behandelte. Er schmierte eine Salbe darauf und kitzelte dann ihre Zehen. Die Augen von Rotes-Blatt blitzten kurz, dann war der kurze Moment der Freude wieder vorbei. Sie drückte sich scheu an Moekaé und starrte die weißen Menschen furchtsam an. Im Raum war es trotz der vielen Menschen leise. Manchmal war ein Flüstern zu hören, nur die lauten Stimmen der Soldaten übertönten die Ruhe, wenn sie ihre Anweisungen brüllten. Die Kinder zuckten jedes Mal zusammen, denn ihre Eltern sprachen leise und ruhig mit ihnen, um ihre jungen Ohren nicht zu beleidigen. Soldaten schienen zu glauben, dass die Cheyenne taub wären.
Moekaé brachte Rotes-Blatt zu der Schlafstatt zurück und setzte sich ebenfalls auf den Strohsack. Zum ersten Mal packte sie die wenigen Dinge aus, die ihr noch geblieben waren. Sie überprüfte die Kleidung und begann, einige Risse zu flicken. Rotes-Blatt lag mit geschlossenen Augen neben ihr. Ihre zarten Finger spielten unbewusst mit der Puppe, die inzwischen genauso zerlumpt aussah wie die Kleidung von Rotes-Blatt. Moekaé streichelte sanft über die zarten Finger und wartete darauf, dass das Kind die Augen öffnete. „Soll ich deine Puppe auch flicken?“, fragte sie. Eigentlich gab es wichtigere Dinge, aber Moekaé ahnte längst, dass sie für all diese Dinge viel Zeit haben würde. Rotes-Blatt nickte eifrig und gab ihr voller Vertrauen die Puppe. „Uh, das sieht aber schlimm aus!“, lächelte Moekaé. „Ich weiß nicht, ob ich das noch retten kann.“
„Doch!“, behauptete Rotes-Blatt mit fester Stimme. Dann drehte sie sich zur Seite, um wieder zu schlafen. Ihre Backen waren vom Fieber gerötet und Moekaé strich ihr vorsichtig über die Stirn. „Schlaf, meine Tochter. Hier ist es warm!“
Sie vertiefte sich in die Arbeit und riss einige Fäden aus einem Kleid, um Nähmaterial zu haben. Dann stopfte sie Stroh in die Puppe und flickte eine Naht. Vorsichtig besserte sie die Kleidung der Puppe aus und nähte einige Perlen an, die wie Augen aussahen. Die Puppe war das Einzige, was dem Kind geblieben war, und Moekaé verwendete viel Sorgfalt auf die Arbeit.
Die Ruhe wurde gestört, als wieder ein Soldat mit schweren Schritten in den Raum trat und einige Holzscheite neben den Ofen legte. Mit bellender Stimme gab er einige Befehle und Moekaé verstand, dass die Frauen nun selbst das Holz holen sollten. Gehorsam erhoben sich einige Frauen, um sich die Stelle zeigen zu lassen, wo das Holz gelagert wurde.
Moekaé fröstelte, als sie an die frische Luft trat. Noch war sie geschwächt und nach der Kälte der letzten Wochen weigerte sich der Körper, wieder diese Kälte zu ertragen. Der Himmel war blau und die Luft nach dem Blizzard wieder klar.
Moekaé sah sich um und erkannte, dass sich in dem Camp seit ihrer Abreise vor einem guten Jahr nicht viel verändert hatte. Die Gebäude waren mit Schnee bedeckt und Rauch stieg aus den Kaminen. Einige Soldaten huschten durch den Schnee, ansonsten war es ruhig. Auch die Weißen blieben im Winter lieber in ihren warmen Häusern.
Moekaé kam an einem Gebäude vorbei, das mit einem Bretterzaun umgeben war. Sie hörte Worte in der Sprache der Cheyenne und vermutete, dass hier die Männer eingesperrt waren. Sie senkte traurig den Kopf, denn Heskovetse war krank und sie wollte sich selbst um ihn kümmern.
Mit den anderen Frauen folgte sie den Soldaten zu einem Schuppen, in dem das Holz gelagert war. Es war neben der Säge, in der Nähe des Flusses, und sie wunderte sich darüber, dass die Weißen ganze Bäume fällten, um ihr Hütten zu bauen und ihre Öfen zu feuern. Die Cheyenne sammelten totes Holz, das einfach am Boden lag, und schlugen dazu keine lebenden Bäume. Sie versteckte ihr Gesicht unter der Decke, bis nur noch ihre Augen hervorlugten, drehte sich um und ging zurück. Sie wollte Rotes-Blatt nicht so lange allein lassen. Auch andere Frauen folgten ihr und der Soldat schien unsicher zu sein, wie er darauf reagieren sollte. „Hey!“, rief er mit lauter Stimme. „Bleibt stehen!“
Die Frauen reagierten nicht und gingen einfach den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dem Soldaten blieb nichts anderes übrig, als ihnen grummelnd zu folgen, und Moekaé war fast zum Lachen zumute. Sie huschte in die Baracke und setzte sich neben Rotes-Blatt. Dann kamen bereits wieder Soldaten herein und brachten weitere Kessel mit Essen. Dieses Mal wurde das Geschirr an die Frauen und Kinder verteilt und es hieß, dass nun jeder selbst für seine Sachen sorgen sollte. Der Dolmetscher sagte, dass sie bis zum Fluss gehen dürften, um sich zu waschen und das Geschirr abzuspülen. Der Kessel wurde in die Mitte des Raumes gestellt und zwei ältere Frauen traten vor, um das Essen zu verteilen. Moekaé fand das gut, denn so hatten sie wenigstens etwas zu tun.
Am Nachmittag ging sie mit Rotes-Blatt zu dem Gebäude, das die Weißen Hospital nannten. Es wunderte sie, dass es für kranke Menschen ein eigenes Haus gab, denn bei den Cheyenne wurden Kranke im Kreise der Familie behandelt. Die Weißen hatten merkwürdige Sitten. Sie stellte sich in die Reihe der Frauen, die mit ihren Kindern gekommen waren und wartete darauf, dass der Arzt Rotes-Blatt untersuchte. Sie erblickte Heskovetse, der mit zwei anderen Männern etwas abseits stand und ebenfalls darauf wartete, behandelt zu werden. Er unterdrückte einen Hustenanfall, was ihm nicht gelang, und Moekaé sah, dass er Blut spuckte. Sie hatte Angst um ihn und trat aus der Reihe der wartenden Frauen, um zu ihrem Mann zu laufen. Ein Soldat versperrte ihr den Weg und drängte sie grob in die Reihe zurück. Plötzlich war es still und eine unangenehme Spannung breitete sich aus. Wie auf Befehl drehten sich die Frauen einfach um und verließen den Raum wieder, ohne dass der Arzt die Möglichkeit hatte, nach den Kranken zu sehen. „Hey!“, rief er empört. „Jetzt wartet doch. Ich will euren Kindern doch nur helfen!“
Niemand beachtete ihn und in wenigen Sekunden war der Raum leer. Die Männer waren ebenfalls gegangen, ohne sich behandeln zu lassen. Nur am hinteren Ende des Raumes standen zwei Betten, in denen zwei kranke Frauen lagen, die zu schwach waren, um aufzustehen. Ihre Augen waren ausdruckslos, ohne Regung, doch in ihrem Inneren tobte es. Sie schlugen die Decke über ihre Gesichter und der Arzt verließ kopfschüttelnd den Raum.
Moekaé kehrte mit Rotes-Blatt auf dem Arm zu den Baracken der Gefangenen zurück und ging geradewegs zu dem Gebäude, wo die Männer eingesperrt waren. Niemand sprach mehr von Bewegungsfreiheit oder Verhandlungen, denn es war klar, dass die Cheyenne als Kriegsgefangene galten. Aber Moekaé hatte genug. Sie wollte zu ihrem Mann und kein Soldat würde ihr den Weg versperren. Auch andere Frauen zeigten diese Entschlossenheit und drückten sich erhobenen Hauptes an den Wachen vorbei, um zu ihren Ehemännern zu gelangen. Die Wachen wussten nicht, wie sie reagieren sollten, und ließen die Frauen einfach passieren. Noch wurde offensichtlich versucht, eine Eskalation zu vermeiden.
Moekaé huschte in den Raum und ließ ihren Augen Zeit, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Einige Männer saßen in einem Kreis am Boden und unterhielten sich. Als sie die Frauen erblickten, unterbrachen sie das Gespräch und standen auf, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Die Ehepaare verschwanden in den Ecken, um leise miteinander zu reden, und Moekaé sah sich suchend um. Wirres-Haar winkte sie herbei und führte sie zu einem Lager an der Wand, auf das sich Heskovetse niedergelegt hatte. Er lächelte flüchtig, als er Moekaé sah und fasste nach ihrer Hand. Moekaé setzte sich zu ihm und nahm Rotes-Blatt auf ihren Schoß. Das Kind hustete wieder und sie klopfte ihm den Rücken, damit sich der Schleim lösen konnte. Die Nase war verklebt und sie nahm einen Zipfel ihrer Schürze, um dem Kind die Nase zu putzen.
„Wie geht es ihr?“, fragte Heskovetse besorgt.
„Sehr schlecht. Sie hustet und hat Fieber!“, antwortete Moekaé wahrheitsgemäß. „Ich wollte die Frauen um Rat fragen. Ich traue dem Medizinmann der Weißen nicht.“
„Ich werde für sie beten“, murmelte Heskovetse. Dann schloss er kurz die Augen. Sein Gesicht war eingefallen und die Haut wirkte fleckig. Er fröstelte leicht und Moekaé nahm die Decke, die am Ende des Lagers lag, und deckte ihn zu.
„Sie haben Crazy-Horse hier getötet“, erzählte Heskovetse unvermittelt.“
Moekaé schluckte schwer und starrte ihren Mann ungläubig an.
„Woher weißt du das?“, fragte sie betroffen.
„Von dem Mann, der für uns spricht. Die Soldaten sprechen offen darüber und scheinen sehr zufrieden zu sein, dass sie Crazy-Horse getötet haben. Sie haben keine Ehre!“ Sein Tonfall triefte vor Verachtung. Dann meinte er bitter: „Sie warten nur auf eine Gelegenheit, um uns auch zu töten.“
„Crazy-Horse hat es vorhergesehen“, meinte Moekaé voller Trauer.
„Ja!“
Die beiden Menschen schwiegen und dachten an all die Menschen, die bereits von ihnen gegangen waren. Es waren gute Menschen gewesen.
„Hast du noch den Revolver?“, fragte Heskovetse.
Moekaé nickte bestätigend. „Ja, unter meinem Kleid!“
„Gib ihn mir. Die Soldaten suchen immer wieder nach Waffen, aber wir haben sie längst unter dem Boden versteckt. Sie wollen, dass wir wieder nach Süden gehen. Wenn sie uns zwingen, dann wird es zum Kampf kommen.“ Heskovetse erzählte diese Tatsache fast beiläufig, ohne Emotion. Er würde lieber sterben, als wieder in den Süden zu gehen. Moekaé wusste das und schwieg. Sie fasste kurz an ihren Bauch, in dem das Ungeborene heranwuchs. Im Grunde war es ein Wunder, dass es immer noch da war. Es wollte leben und sie wollte nicht, dass es im Süden dahinsiechte und starb. Sie hatte zu viele Kinder sterben sehen. „Wir gehen niemals wieder in den Süden!“, erklärte sie mit fester Stimme.
„Nein!“, stimmte Heskovetse zu.
„Die Soldaten müssen doch wissen, dass sie uns nicht zwingen können. Nicht nachdem sie gesehen haben, was wir bereit sind auf uns zu nehmen.“
„Sie sind wütend. Sie sagen, dass wir weiße Siedler getötet haben und nun bestraft werden müssen.“
„Die Weißen haben doch uns verfolgt und bekämpft …“, meinte Moekaé. „und sie haben unsere Ponys getötet.“ Für sie war dies alles eine verdrehte Welt.
„Ja, aber wir haben weiße Siedler getötet und Schlimmeres getan! Deswegen sind sie wütend. Es wird keine Verhandlungen geben. Sie behandeln uns wie Gefangene und eines Tages werden sie uns wieder in den Süden bringen.“
Moekaé hob ihr Kleid und brachte den Revolver zum Vorschein, der dort schon so lange verborgen war. Wortlos drückte sie ihn Heskovetse in die Hand. Dann kramte sie aus ihrem Zundertäschchen einige Kugeln hervor und reichte sie ebenfalls ihrem Mann. Es waren elf.
Entschlossen lud Heskovetse den Revolver, dann rief er leise nach Hohes-Pferd, damit er die Waffe versteckte. „Hier, mein Freund, bald werden wir sie brauchen!“
Hohes-Pferd zeigte seine Zähne und verschwand unauffällig im Hintergrund des Raumes. Oft waren Soldaten anwesend, die alles überwachten, was die Indianer taten, so musste er eine günstige Gelegenheit abwarten, um ein Dielenbrett zu lockern und die Waffe darunter verschwinden zu lassen. Heskovetse wurde wieder von einer Hustenattacke geschüttelte und ein Soldat näherte sich misstrauisch. Er ließ den kranken Mann aufstehen und durchsuchte ihn nach Waffen. Es war demütigend und doch stand Heskovetse einfach nur da und ließ es über sich ergehen. Dann sollte auch Moekaé durchsucht werden, doch ein gereiztes Murmeln der Männer unterband diese Aktion. Stattdessen wurde Moekaé aufgefordert, den Raum zu verlassen. Sie fügte sich und schloss sich den anderen Frauen an, die wieder in die andere Baracke zurückgeführt wurden. Dort blieben sie unbelästigt und es wurde ihnen sogar ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit eingeräumt. Die Kinder tollten herum, tagsüber durften die Frauen das Camp verlassen oder sogar ihre Männer besuchen, nur zum Appell mussten sich alle wieder einfinden.
Einige Männer erklärten sich bereit, den Soldaten als Scouts zu dienen, um der Eintönigkeit der Gefangenschaft zu entfliehen. Sie sollten das Versteck von Little-Wolf finden und so führten sie die Soldaten in die winterliche Landschaft. Niemand forderte sie zur Rechenschaft auf, als sie unverrichteter Dinge zurückkehrten, denn es war klar, dass bei diesem Schnee niemand irgendwelche Spuren finden würde. Die Cheyenne lachten sich ins Fäustchen, wenn sie die Soldaten im Kreis herumführten, bis die Suche schließlich ganz eingestellt wurde.
Langeweile breitete sich aus, denn die Cheyenne, die sonst im Winter ihren handwerklichen Beschäftigungen nachgingen, waren zur Untätigkeit verdammt. Selbst das Essen wurde ihnen geliefert, sodass den Cheyenne nichts anderes übrig blieb, als an vergangene Zeiten zu denken. Geschichten wurden erzählt, Pläne geschmiedet, Kleidung ausgebessert und heimlich Vorräte angelegt. Die fertige Suppe konnte nicht aufbewahrt werden, aber die Frauen hatten herausgefunden, dass unter dem Kornspeicher beträchtliche Mengen Mais durch die Ritzen des Bodens fielen. So krochen sie darunter und sammelten die einzelnen Körner auf. Die Körner konnte man zerstoßen und mahlen und einen schmackhaften Brei daraus zubereiten.
Viele Cheyenne vertrugen das Essen der Weißen nicht und litten unter Darmerkrankungen. Der Maisbrei war da eine willkommene Abwechslung. Die Häuptlinge mahnten jedoch, die Körner für Notzeiten aufzubewahren und Vorräte für eine mögliche Flucht anzulegen. „Wir haben kein Fleisch, denn mit dieser Suppe wollen sie uns schwach machen! Aber mit dem Mais können wir eine Weile überleben und die Kinder füttern.“
Auch Moekaé nutzte die Möglichkeit, nach diesen Maiskörnern zu suchen. Es lenkte von der Eintönigkeit des Lagerlebens ab. Außerdem verschärfte sich der Ton ihnen gegenüber und es war klar, dass irgendwann die weißen Soldaten sie zur Rückkehr zwingen würden. Buffalo-Hump, der Sohn von Dull-Knife, war diesem Leben inzwischen entflohen. Seine Frau war Lakota und der junge Mann hatte sich entschieden, lieber Unterschlupf bei seinen Verwandten zu suchen. Alle fanden seine Flucht gut, obwohl die Soldaten die verbliebenen Cheyenne bestraften, indem sie den Männern das Verlassen der Baracke nun ganz verboten. Auch die Frauen wurden stärker überwacht, wenn sie das Camp verließen. Stets wurden sie von Wachposten begleitet, wenn sie zum Waschen oder Holzsammeln gingen, sodass es unmöglich war, sich alleine zu bewegen. Die Soldaten nutzten die Situation aus und machten sich an die jungen Mädchen heran, wenn sie es wagten, sich alleine zu bewegen. Sie boten Lebensmittel, wenn eine Frau mit ihnen hinter den Schuppen verschwand. Die Cheyenne hatten immer noch hübsche Mädchen und die Soldaten gaben ihnen Namen. „Blanche“ nannten sie Tochter von Dull-Knife, doch der Häuptling wachte über die Tugend seiner Tochter.
Der Druck nahm zu, nur die Kinder spielten ihre Spiele und bastelten aus den einfachsten Materialien irgendwelche Reifen und Stöcke, sogar einfache Bögen, mit denen sie sich beschäftigen konnten.
Hunger
Im Januar änderte sich die Situation schlagartig. Ein neuer Kommandant hatte nun den Befehl, die Abreise der Cheyenne vorzubereiten, und so verschärfte sich der Tonfall von Tag zu Tag. Captain Wessels, der neue Kommandant, war mit der Situation völlig überfordert. Er wollte die Befehle umsetzen und setzte die Cheyenne unter Druck, damit sie in den Süden zurückkehrten. Es kam zu kleineren Auseinandersetzungen, vor allen Dingen, als Wild-Hog und einige andere Männer verhaftet und in Ketten gelegt wurden, weil sie sich für die Überfälle in Kansas vor Gericht verantworten sollten. Dabei war es Wild-Hog gewesen, der immer wieder diese Überfälle verurteilt und versucht hatte, die jüngeren Männer zu mäßigen. Die Cheyenne wussten das natürlich. „Seht nur, nun nehmen sie bereits unsere Anführer fest! Wild-Hog ist ein guter Mann, der den Frieden liebt und uns stets gewarnt hat. Genauso haben sie es mit Crazy-Horse getan! Seht nur, wie sie uns verraten und versuchen, uns weiter zu schwächen.“
Mit der Verhaftung von Wild-Hog war ein Fürsprecher für eine friedliche Lösung verschwunden und die Stimmung weiter angeheizt worden. Als Nächstes wurden die Frauen und Kinder mit den Männern zusammengepfercht und die Holzlieferungen eingestellt. Bei eisigen Temperaturen wurde die Lage schnell unhaltbar für die Menschen. Viele Menschen erkrankten und einige mussten auf die Krankenstation verlegt werden. Andere weigerten sich entschieden, überhaupt noch Wohltätigkeiten der Weißen anzunehmen.
„Wir werden kämpfen!“, erklang es nun immer öfter. Die Soldaten wurden mit aggressiven Gesten gereizt und die Cheyenne machten sich einen Spaß daraus, die Soldaten mit Stöcken zu berühren, als würden sie einen Coup erringen.
Moekaé sah dies alles mit Entsetzen. Sie hatte sich damit abgefunden, als Gefangene behandelt zu werden, und hoffte auf eine friedliche Lösung. Jetzt drängte sie sich mit den anderen auf engstem Raum zusammen und hörte die Gespräche der Männer, die offen von Kampf sprachen. Hatten sie die Flucht und die Entbehrungen bereits vergessen? Niemand würde hier lebendig entkommen. Die Kälte machte sie mürbe und sie hatte Angst, dass Rotes-Blatt wieder hustete.
Dann wurde die Essensausgabe eingestellt und die Menschen wurden damit konfrontiert, entweder in die Umsiedelung einzuwilligen oder zu sterben. Hunger breitete sich aus, doch die Cheyenne schüttelten stur die Köpfe, wenn die Soldaten wieder zu Verhandlungen kamen. „Wir gehen nicht in den Süden!“, lautete die stoische Antwort.
„Dann lasst wenigstens die Kinder hier raus!“, versuchte der Kommandant einen Kompromiss. „Wir füttern sie und geben sie euch zurück, wenn eine Lösung gefunden wurde.“
Wieder weigerten sich die Cheyenne, denn sie sahen in diesem humanitären Angebot lediglich den Versuch, dass nun über die Kinder Druck auf sie ausgeübt werden sollte. „Lieber essen wir unsere Kinder und dann noch unsere Frauen, ehe wir nachgeben!“, lautete die aggressive Antwort.
Captain Wessels geriet diplomatisch in eine unhaltbare Situation, denn er erkannte, dass die Cheyenne niemals aufgeben würden, wenn er jetzt irgendwelche Zugeständnisse machte. Er verschärfte die Maßnahmen, um die Cheyenne buchstäblich auszuhungern. Einige Krieger verließen daraufhin mit ihren Familien die Baracke und die Soldaten schickten Wild-Hog, damit er versuchte, seine Familie und andere zu überreden, aufzugeben. Einige Alte und Kranke gingen mit ihm, während die anderen stoisch ihrem Schicksal entgegenblickten. Lieber würden sie verhungern und erfrieren, als in den Süden zu gehen, doch die Verzweiflung war ihnen in die Gesichter geschrieben.
Auch Moekaé war über jeden Punkt hinweg, wo sie noch an eine Zukunft für sich und die Kinder glaubte. Ihr Bauch hatte sich gewölbt und sie fühlte die Bewegungen des Ungeborenen, andererseits magerte sie ab und sie wusste, dass sie von Tag zu Tag schwächer wurde. Auch Rotes-Blatt hatte wieder diese seltsam blasse Haut und ihr Gesicht schien nur noch aus riesigen, hungrigen Augen zu bestehen. Sie war so zart und klein. Viel zu klein für ihr Alter. Den ganzen Winter hatte sie immer wieder mit Husten und Fieber gekämpft. Manchmal gab es Zeiten, in denen es ihr besser zu gehen schien, doch dann fiel sie wieder in sich zusammen und der Zustand verschlechterte sich. Moekaé wusste, dass das Kind Wärme und Essen brauchte. Die Gefangenschaft und die Kälte würden dem Kind das Leben kosten. Immer wieder betete Moekaé zu Mahéo und flehte um Hilfe, doch der Spender allen Lebens schwieg.
Die Krieger rissen die Bretter aus dem Boden, um das Feuer in Gang zu halten, und als es keine Bretter mehr gab, verbrannten sie die Strohsäcke. Die Frauen bereiteten aus den Maiskörnern einfache Mahlzeiten zu und die Krieger verzichteten auf Nahrung, damit wenigstens die Kinder etwas essen konnten. Einmal erschlugen sie einen Lagerhund und brieten ihn unter dem Protest der Soldaten auf dem Feuer. Die Krieger bauten sich drohend auf und die Stimmung war so angespannt, dass die Soldaten die Baracke verlassen mussten. Sie stellten nun nur noch draußen Wachen auf und trauten sich nicht mehr hinein.
Das Hundefleisch wurde gerecht verteilt, doch für so viele Menschen war es höchstens ein Bissen für jeden. Es war das erste Fleisch seit Wochen und die Menschen lutschten daran, um möglichst lange den Geschmack im Mund zu haben.
Moekaé überließ ihre Portion Heskovetse, doch ihr Mann schüttelte den Kopf und deutete auf das Kind. „Lass es ihr. Unsere Kinder werden die Erinnerung an uns tragen, wenn sie überhaupt überleben.“
„Sie ist so schwach“, meinte Moekaé hilflos vor Angst.
„Aber sie ist zäh!“ Ein Hustenanfall nahm ihm die Luft und Moekaé klopfte ihm heftig auf den Rücken, um ihm das Atmen zu erleichtern. Sie wusste, dass ihr Mann sterben würde. Er wehrte sich nur noch ein bisschen. Er schien auf etwas zu warten, aber sie wusste nicht, auf was. Er lächelte, als er wieder atmen konnte und kurz blitzte sein Humor auf, die Persönlichkeit, die er einst gewesen war. „Huh, bald habe ich mehr Blut auf meiner Brust als in meinem Körper!“
Moekaé senkte den Blick, damit er ihre Trauer nicht sah. Was sollte sie auch sagen? Sie wussten beide, wie es um ihn stand. Vorsichtig tastete Heskovetses Hand nach ihrem Bauch. „Ich würde es gern sehen!“, meinte er mit einem tiefen Bedauern in seiner Stimme.
Moekaés Kehle wurde so eng, dass sie nichts mehr sagen konnte. Sie dachte an Kleiner-Biber, der im Schnee gestorben war, und all die anderen Kinder, die wahrscheinlich den Winter nicht überleben würden. Sie drückte Rotes-Blatt an sich, die längst wie ihr eigenes Kind geworden war, und fühlte eine lähmende Hilflosigkeit. Sie konnte nur mitansehen, wie die Menschen dahinsiechten, ohne ihnen helfen zu können. Noch war das Ungeborene geschützt in ihrem Leib, doch wenn es erst geboren war, dann würde es das gleiche Leid erfahren wie all die anderen. Ihr Körper war ausgemergelt und sie fürchtete, dass sie nicht genügend Milch haben würde, um das Neugeborene zu ernähren. Mit trüben Augen starrte sie in die Luft und hing ihren Gedanken nach. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. Während der Schwangerschaft gab es viele Tabus und Rituale, die einzuhalten waren, aber hier war dies alles nicht möglich. Wie sollte so ein Ungeborenes gedeihen?
Im Moment schien das alles gleichgültig zu sein. Im Grunde hoffte sie nur auf den Tag, an dem dies alles enden würde. Sie lebte nur noch für Rotes-Blatt und hoffte, dass sie dem Kind den Weg in das andere Leben erleichtern könnte. Manchmal sang sie leise Lieder oder erzählte uralte Geschichten der Cheyenne. Dann hörte das Kind mit fiebrig glänzenden Augen zu oder schlief einfach ein. Im Schlaf konnte man den Hunger eine Weile vergessen.
Heskovetses Zustand verschlechterte sich, wenn dies überhaupt noch möglich war. Sein Atem kam nur noch rasselnd und jede Bewegung strengte ihn an. Meist lag er dösend auf seinem Lager und wartete auf den Tod.
Längst war das Feuer in dem Ofen erloschen, doch Heskovetse schien über den Punkt hinweg zu sein, an dem man noch Hitze oder Kälte empfindet. Die Baracke war überfüllt und trotzdem war es bitterkalt. Die Menschen hüllten sich in ihre Decken und warteten, selbst die Kinder. Es war zu kalt, um umherzutollen. Die Stimmung aber wandelte sich von Verzweiflung in Wut. Allen war klar, dass etwas geschehen musste, oder die Menschen würden einfach sterben. Auch Heskovetse raffte sich auf, als die Anführer zur Beratung riefen, und setzte sich in den Kreis der Krieger. Hohes-Pferd und Wirres-Haar blieben neben ihm und stützten seinen geschwächten Körper. Die Frauen blieben in ihren Ecken sitzen und verfolgten mit großer Sorge, was die Männer dort berieten. Die Stimmen waren leise, nichtsdestotrotz entschlossen.
„Wir müssen hier raus!“, sprach Hohes-Pferd die Gedanken aller aus.
„Aho“, murmelten alle. Keiner hatte die Stimme erhoben, denn es war eine einfache Tatsache.
„Sie wollen uns aushungern. Aber die Ersten, die sterben werden, sind unsere Kinder. Das dürfen wir nicht zulassen.“
Dull-Knife nickte bestätigend. „Ich bat euch, aufzugeben, doch das war keine weise Entscheidung. Ich sagte euch, dass wir nun hier sind und bleiben werden, doch auch das war eine Lüge der Weißen. Wir könnten in den Süden zurück, doch ihr alle wisst, was uns dort erwartet. Ich sehe keine Zukunft mehr für uns. Wir wollten zu unseren Verwandten, den Lakota, doch selbst diesen Wunsch wollen sie uns nicht gewähren. Ich bin krank und mein Volk ist geschwächt. Je länger wir hier ausharren, desto schwächer werden wir. Wenn wir fliehen, werden viele sterben, aber vielleicht gelingt es uns auch, wenn wir mutig und klug handeln.“
„Noch haben wir Waffen!“, nickte Wirres-Haar herausfordernd. „Wenn nur einige überleben, so überlebt auch unser Volk. Hier erwartet uns nur der Tod.“
„Wie viele Waffen haben wir noch?“, fragte Dull-Knife.
„Einige Gewehre und Revolver. Wir müssten die Frauen fragen, ob sie noch Munition versteckt haben.“
Leises Lachen erklang, als die Männer kurz daran dachten, wo die Frauen überall Gewehrteile und Patronen versteckt hatten. Manche nutzten sogar die Windeln der Kinder als Versteck oder hingen die Teilchen als Schmuck an ihre Halsketten. Lange konnte man sich jedoch mit den wenigen Waffen kein Gefecht mit den Soldaten liefern.
„Wir müssen es im Dunkeln wagen!“, meinte Heskovetse ernst. „Die Soldaten schlafen dann und brauchen Zeit, um sich zu sammeln. Die Dunkelheit wird uns verschlucken und wenn wir uns aufteilen, dann wissen die Soldaten nicht, wem sie folgen sollen.“
„Und wohin sollen wir gehen?“
„Wir müssten den White-Fluss erreichen. Dort finden wir Deckung und können uns verstecken. Von dort gehen wir nach Norden und suchen die Dörfer der Lakota.“
„Im Winter ist der Weg weit und beschwerlich. Die Kinder werden kaum durchhalten!“, warnte ein Krieger.
„Sie halten länger durch als hier“, meinte Heskovetse leise. „Außerdem gibt es nördlich von hier Höhlen, in denen wir uns verstecken können. Dort gibt es auch Feuerholz und wir können den Mais kochen, den die Frauen gesammelt haben. Hier haben wir nicht einmal Feuer.“
Alle murmelten zustimmend und Schweigen breitete sich aus. Schließlich machte Dull-Knife eine abschließende Geste und beendete die Versammlung. „Denkt über die Worte nach. Ich möchte alle Stimmen hören. Redet auch mit euren Frauen. Vielleicht entscheiden sie sich anders und bleiben lieber in dem Hospital der Weißen.“
Es war seltsam still im Raum, als die Männer zu ihren Frauen gingen. Alle hatten die Worte gehört und doch war allen längst klar, wie ihre Entscheidung sein würde. Sie wollten Freiheit oder den Tod. Die Gefangenschaft war zermürbend, die Enge und der Dreck unerträglich und der Hunger und die Kälte nicht mehr auszuhalten. Die Kinder jammerten, doch außer einer Handvoll Schnee gab es nichts, was die Mütter ihnen in die Hand drücken konnten.
Am nächsten Tag kam wieder der Kommandant und teilte mit schneidender Stimme mit, dass bald die Zeit der Abreise gekommen sei. Die Indianer reagierten mit stoischen Gesichtern und schüttelten nur ihre Köpfe. Sie wollten nicht mehr verhandeln. Manche Krieger schlugen die Decken über ihre Köpfe und wandten sich demonstrativ ab. Sie wollten nicht einmal mehr reden.
„Wenn ihr euch nicht beugt, dann gibt es auch kein Wasser mehr!“, brüllte der Kommandant unbeherrscht. Der Druck auf ihn hatte zugenommen und langsam wollte er Erfolge sehen und die lästigen Indianer loswerden. Der schlechte Zustand der Gefangenen hatte sich bis zur Presse herumgesprochen und erste Reporter belagerten ihn mit unangenehmen Fragen. Die Disziplin seiner Soldaten begann zu leiden, weil die ständige Bewachung der Gefangenen an den Nerven zehrte und langsam zu einem logistischen Desaster führte. Er brauchte Erfolge, und zwar schnell. Die Cheyenne konnten vielleicht Hunger ertragen, aber Durst war etwas anderes. In ein oder zwei Tagen wäre das Problem gelöst. Triumphierend verließ der Kommandant die Baracke und wies an, dass niemand mehr hinein oder hinaus ging.
Mit Wut im Herzen blickten ihm die Krieger hinterher, doch niemand äußerte sich oder ließ sonst eine Reaktion zu. Sie wussten nur, dass sie schnell handeln mussten.
Als Heskovetse sich zu seiner Frau zurückschleppte, blickte sie ihn mit fassungslosen Augen an. „Ich brauche Wasser“, meinte sie verzweifelt. „Rotes-Blatt hat wieder Fieber und sie dörrt aus. Und mein Ungeborenes wird sterben, wenn ich kein Wasser habe!“
Heskovetse nickte nur und sagte nichts. Er ließ sich neben seine Frau plumpsen und hustete schwer. Nachdenklich blickte er auf das Blut, das er gespuckt hatte. „Wir werden heute Nacht gehen. Bist du bereit?“
„Wohin?“
Heskovetse hörte und spürte ihre Verzweiflung. „Weg von hier!“, meinte er ruhig.
„Und du?“
„Ich werde auch gehen und kämpfen.“
Moekaé spürte eine solche Hoffnungslosigkeit, dass sie es nicht verhindern konnte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
„Wir werden sterben!“, meinte sie traurig.
„Ja!“, antwortete Heskovetse ehrlich. „Wahrscheinlich.“
„Oh!“ Moekaé fiel sichtlich in sich zusammen und legte die Hand auf ihren Bauch. Längst konnte sie das Kind fühlen und spürte die sanften Tritte. Noch war es zu früh für eine Geburt, aber bald wäre es vielleicht so weit. Die Zugvögel würden kommen und dann wäre es auch die Zeit für ihr Baby. „Du kannst gehen, wenn du willst“, hörte sie die Stimme ihres Mannes.
„Wohin?“, flüsterte Moekaé.
„In das Hospital der Weißen. Du musst nicht mit mir kommen. Sie werden dich in den Süden schicken. Mit denen, die uns bereits verlassen haben.“
„Nein!“, lehnte sie brüsk ab. Sie war selbst überrascht über diese Reaktion, aber ihre Entscheidung war klar. Sie würde nicht in den Süden gehen. Lieber wählte sie den Tod für sich und ihre Kinder als dieses lange Dahinsiechen, wo am Ende doch nur der Tod lauerte. Eine Kugel tötete schnell und ohne Leid. Sie war am Ende ihrer Kräfte und sehnte den Tod herbei. Bei Mahéo gab es keine Kälte und keinen Hunger. Sie hatte keine Angst mehr vor dem Wechsel in das andere Sein. Kleiner-Biber würde auf sie warten und ihre Schwester und Eltern. Sie dachte an ihre Großeltern, die schon so lange von ihr gegangen waren. Von ihrem Volk war fast nichts mehr da. Was wollte sie hier noch? Kurz dachte sie an das Ungeborene, das sie dann in ihre Arme nehmen konnte. Würde es in der anderen Welt bereits leben? Oder würde sie dort immer noch einen dicken Bauch haben? Der Gedanke war so lustig, dass sie kichern musste. Heskovetse starrte sie verständnislos an und wartete auf eine Erklärung. „Ich gehe mit dir“, meinte Moekaé ruhig.
„Es ist gut!“, meinte Heskovetse. „Ich will nicht, dass mein Sohn im Süden dahinsiecht. Ich will auch nicht, dass er auf eine Schule der Weißen geht. Und ich will nicht, dass er diese Suppe isst.“
Moekaé senkte den Blick und lächelte still in sich hinein. Immer sprach dieser Mann von einem Sohn, nie von einer Tochter.
„Kannst du laufen?“, fragte Heskovetse mit einem leichten Nicken in Richtung ihres Bauches.
„Ja!“ Moekaé wunderte sich, dass er tatsächlich an eine Flucht glaubte. Sie dagegen glaubte nicht daran, dass sie überhaupt das Gebäude verlassen würden. Draußen standen Wachposten, die sofort auf sie schießen würden.
„Wir töten die Wachposten und dann verschwinden wir in verschiedene Richtungen“, erklärte Heskovetse. „Du versuchst, den Fluss zu erreichen, und gehst dann nach Norden.“
„Und du?“, fragte Moekaé. Sie wagte nicht, ihren Mann anzusehen.
„Ich bin Blue-Soldier!“, lautete die stolze Antwort.
Moekaés Lippe wurden schmal. Sie wusste plötzlich, dass dies der Abschied war, und wieder stieg die Trauer in ihr hoch. Es war nie eine gute Ehe gewesen, weil sie nie Zeit gehabt hatten, so zu leben, wie es sein sollte. Aber manchmal hatte sie gespürt, wie Heskovetse gewesen wäre, wenn die Weißen ihnen nicht alles genommen hätten. Genau dieser Stolz und diese Selbstaufgabe waren jetzt zu sehen. Ja, er war Blue-Soldier. Ein Krieger, der sein Leben gab, um seine Familie und sein Volk zu schützen. Er wusste, dass er in seinem Zustand nicht weit laufen konnte, aber er konnte dafür sorgen, dass andere vielleicht den rettenden Fluss erreichten.
Moekaé öffnete ihr Herz und ließ dieses Gefühl der Trauer zu. Sie liebte Heskovetse für diesen Moment der Wahrheit. Erst jetzt erkannte sie, wer er wirklich war und wer er hätte sein können. Sie war dankbar, denn so konnte sie ihm alles verzeihen und ihn als guten Menschen sehen.
Der Tag verging quälend langsam. Angespannt saßen die Menschen beisammen und warteten auf die Nacht. Immer wieder jammerten Kinder nach etwas zu trinken, während die Erwachsenen sich stoisch ihrem Schicksal ergaben. In der Nacht würden sie irgendwann den Fluss erreichen, wenn sie es überhaupt so weit schafften. Am besten hatten es noch die Babys, die an den ausgetrockneten Brüsten ihrer Mütter nach dem letzten Tropfen saugten. Es reichte nicht, um satt zu werden, aber es stillte wenigstens den schlimmsten Durst, während die Mütter noch stärker unter dem Wassermangel litten.
Den ganzen Tag über bereiteten sich die Menschen auf die Flucht vor. Der Mais wurde aufgeteilt, die Mokassins mit Stoff umwickelt, Decken zerschnitten und die Waffen geladen.
Es gab keinen großen Plan. Die Männer wollten die Scheiben zerschlagen und dann sollten alle die Baracke verlassen. Es wurde kein Treffpunkt ausgemacht, an dem man sich später wieder treffen wollte, und auch sonst kein weiteres Signal vereinbart. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben.
Gegen Abend setzten sich die Männer ein letztes Mal zur Beratung zusammen. Sie sprachen leise und leidenschaftslos, damit die Soldaten, die immer noch in der Nähe postiert waren, nicht misstrauisch wurden. Hohes-Pferd erklärte sich bereit, mit einigen jungen Kriegern die Fenster zu zerschlagen.
„Wir werden als Erste nach draußen gehen und die Soldaten töten. Dann kommt ihr nach und helft den Frauen und Kindern raus. Danach muss jeder seinen eigenen Weg finden.“ Seine Worte zeigten allen, wie gefährlich das Unterfangen war, und doch sprach niemand dagegen. „Wir haben die Überraschung auf unserer Seite. Die Weißen denken, dass wir nachts nicht kämpfen und liegen wahrscheinlich in ihren Betten. Aber sie sind nachlässig und wissen im Grunde nichts. Wir kämpfen auch nachts, wenn wir dazu gezwungen werden, und dieses Mal haben wir die Dunkelheit auf unserer Seite. Seid vorsichtig, denn sie werden die nächsten Tage nach uns suchen und erst Ruhe geben, wenn sie uns getötet oder gefunden haben!“
Alle bissen die Zähne zusammen, denn die Hartnäckigkeit der Soldaten war bekannt.
Andererseits war es ihr Land und sie kannten hier jeden Schlupfwinkel. Mit einer Handbewegung schickte Dull-Knife die Männer fort, damit sie sich auf den Kampf vorbereiten konnten. Die Männer beteten um Beistand, saßen bei ihren Frauen und Kindern und überprüften zum wiederholten Mal ihre Waffen. Kleinere Kinder und Babys wurden in warme Decken eingehüllt und auf dem Rücken der Mütter festgebunden, während den älteren Kindern die Füße umwickelt wurden, damit sie länger gegen die Kälte geschützt waren. Frauen banden sich ebenfalls die Decken um den Leib und hingen sich die wertvollen Beutel mit dem Mais um den Hals. Sie trugen nur noch stinkende Lumpen, die nach Fett rochen und starr vor Schmutz waren, doch sie hatten nichts mehr. Wer Glück hatte, besaß zwei Kleider, die man gegen die Kälte übereinander tragen konnte.
Die Situation war menschenverachtend und vollkommen unverhältnismäßig, aber die Armeeführung wollte ein Exempel statuieren und allen zeigen, dass man mit den Indianern machen konnte, was man wollte.
Draußen kündigte sich mit lauten Stimmen der Wachwechsel an und langsam wurde es still im Camp. Im Winter gingen die Menschen frühzeitig zu Bett und so war auch in dieser Nacht bald niemand mehr unterwegs. Frierend standen die wachhabenden Soldaten vor der Baracke, in der die Gefangenen ausharren mussten, und verfluchten den Tag, an dem sie zur Armee gegangen waren, während drinnen die Krieger in Stellung gingen.
Dann zersplitterten die Fenster und die ersten Krieger sprangen mit einem Satz in Freie. Ehe die Soldaten überhaupt wussten, wie ihnen geschah, hatte Hohes-Pferd den Revolver auf sie gerichtet und abgedrückt. Wie vom Blitz getroffen sanken die Soldaten in den Schnee, während dunkle Gestalten aus dem Fenster kletterten und in der Dunkelheit verschwanden.
Aus den anderen Häusern quollen nun ebenfalls Soldaten, zum Teil nur mit Unterwäsche bekleidet, die verdutzt die Wege entlangliefen, um zu sehen, was da vor sich ging. Befehle wurden gebrüllt und eilig rannten die Soldaten zurück, um ihre Gewehre zu holen. Einige alte, kampferprobte Veteranen schossen bereits auf die fliehenden Indianer und warfen sich dann kopfüber in den Schnee, als ihnen eine Salve entgegenschlug. Innerhalb von Minuten war das gesamte Camp auf den Beinen und machte sich an die Verfolgung der Indianer. Wahllos wurde auf alles geschossen, was sich bewegte, und in der Panik war es gleichgültig, ob man dabei Frauen und Kinder erwischte. Immer wieder sanken dunkle Gestalten in den Schnee und erst beim näheren Hinsehen erkannten die Männer, dass sie gerade eine Frau oder ein Kind getroffen hatten. Schwerverletzte Cheyenne wurden in das Hospital getragen, während andere nicht so viel Glück hatten und bereits nach wenigen Schritten in die Freiheit im Kugelhagel starben.
Flucht
Moekaé folgte Heskovetse durch das Fenster und rannte dann den Weg entlang. Sie hörte, dass Heskovetse dicht hinter ihr war und ließ sich von ihm in Richtung des Flusses drängen. „Lauf!“, keuchte er immer wieder, „Lauf!“ Moekaé trug Rotes-Blatt auf dem Rücken und rannte so gut es ging. Ihre Hand stützte den Bauch, während die andere Hand sich in die Decke gekrallt hatte, die sie um ihren Körper trug. Sie wusste, dass sie ohne Decke niemals überleben würde. Das Kind weinte vor Entsetzen und erst jetzt erkannte Moekaé, dass sie bereits unter Beschuss lagen. Kugeln pfiffen an ihr vorbei und sie duckte sich instinktiv. „Nicht langsamer werden!“, schrie ihr Mann. „Lauf!“

Kerstin Groeper
Kerstin Groeper, als Tochter des Schriftstellers Klaus Gröper in Berlin geboren, lebte einige Zeit in Kanada. In Kontakt mit nordamerikanischen Indianern entdeckte sie ihre Liebe zur indianischen Kultur. Kerstin Groeper spricht Lakota, die Sprache der Teton-Sioux und führt regelmäßig Vorträge und Seminare über Sprache, Kultur und Spiritualität der Lakota-Indianer durch. Die studierte Sozialpädagogin arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitschriften und schreibt heute Artikel zum Thema Indianer, u.a. für das renommierte Magazin für Amerikanistik. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Sohn in der Nähe von München. Zwei erwachsene Kinder sind bereits ausgezogen.Bei hey! sind bereits Kerstin Groepers Geschichten "Die Feder folgt dem Wind" und "Kranichfrau" erschienen. Weitere Romane sind in Vorbereitung.