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Indianisch für Anfänger

Ein Au-pair-Mädchen auf Pine Ridge

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Voller Hoffnungen und Träume bricht Kaja nach bestandenem Abitur auf, um als Au-pair-Mädchen ein unvergessliches Jahr in Amerika zu verbringen. Sie freut sich auf wilde Partynächte, ausgiebige Shoppingtouren und Großstadtabenteuer. Dummerweise findet sie sich statt in Washington, Los Angeles oder New York auf einer abgelegenen Indianerreservation in South Dakota wieder. Kaum in ihrem neuen Heim angekommen, wartet auch schon die nächste Hiobsbotschaft auf die junge Frau: Ihre Gastmutter liegt nach einem Schlaganfall im Koma und von plötzlich muss sie nicht nur den kompletten Haushalt der Familie übernehmen, sondern auch ganz allein für den kleinen Sohn sorgen. Um den vielen Pflichten und der Einsamkeit wenigstens für eine Weile zu entkommen, beschließt Kaja spontan, einen Sprachkurs zu belegen. Am College begegnet sie dem attraktiven und geheimnisvollen Lakota-Indianer Sonny, der ihr Herz im Sturm erobert und sie in die faszinierenden Traditionen und Geheimnisse seines Volkes einweiht. Doch die Beziehung der beiden steht von Anfang an unter keinem guten Stern, denn Sonnys Stammesangehörige misstrauen der unwillkommenen Fremden und setzen alles daran, sie zu vertreiben. Hat ihre Liebe trotzdem eine Chance?

Begleiten Sie in Kerstin Groepers gefühlvollem Roman „Indianisch für Anfänger“ eine mutige junge Frau bei dem größten Abenteuer ihres Lebens.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wolkenschafe und Mutter-Walrosse

Kaja beobachtete die Wolkenberge, die aus dem Fenster des Flugzeuges aussahen wie Schafe, die langsam über eine Wiese wanderten, immer dem Leithammel hinterher. Darunter konnte man zwischen den Wolken das Festland aus Eis erahnen. Der Bordcomputer vermeldete, dass sie gerade über Grönland flogen, und sie wunderte sich, dass das Flugzeug auf dem Weg nach New York einen solchen Umweg machte. Das hatte wohl mit dem Wind zu tun, oder so. Ihr Magen rumorte ein bisschen vor Aufregung. Immerhin war es das erste Mal, dass sie nach Amerika flog. Ein ganzes Jahr lang! Sie hatte gegoogelt, wohin die Reise gehen würde: Süd-Dakota. Eine Familie wohnte dort, die sie als Nanny für ihr drei-jähriges Kind angestellt hatte. Ein Professor und seine Frau. Sie hatten auch ein paar Pferde und das hatte den Ausschlag gegeben, dass sie sich für diese Familie entschieden hatte. Ansonsten gab das Internet nicht so viel her. Kyle war ein kleiner Ort mitten in einer Indianerreservation und von der Landschaft her schien es wohl atemberaubend zu sein. Sie las etwas über die dortige Armut und hatte sich einige Beiträge über Touristenattraktionen angesehen. Viel Zeit war ihr nicht geblieben, weil die Familie erst in letzter Sekunde zugesagt hatte. Sie hatte ein wenig gezögert, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie das Leben auf einer Indianerreservation sein würde. Kaja hatte nichts gegen Indianer. Sie hatte als Kind Winnetou-Filme gesehen, dachte an edle Wilde mit langen Haaren und schwarzen Augen. Ihr war klar, dass sie wohl nicht mehr in Tipis lebten, aber mehr Gedanken machte sie sich nicht.

Kaja dachte an den Fragebogen, den sie hatte ausfüllen müssen. Ihr kam zugute, dass sie während ihrer Zeit in der Fachoberschule bereits im Kindergarten gearbeitet hatte. In Amerika war man sehr wählerisch, wen man auf Kinder losließ. Man musste Babysitterkurse und Lehrgänge in Erster Hilfe nachweisen, sonst konnte man die Bewerbung vergessen. Kaja schüttelte unmerklich den Kopf. Schließlich sollte sie ja auf kein kleines Baby aufpassen. Ihr Pflegekind war immerhin schon drei! Auf den Fotos, die ihr die Gasteltern geschickt hatten, sah er süß aus. Blond, mit blauen Augen. Er hieß Jaden. Amerikaner liebten eben Namen mit „J“. Sie sollte den Kleinen morgens in den Kindergarten bringen, ein wenig auf das Haus aufpassen, das Kind wieder abholen und mit ihm spielen. Da blieb noch genug Zeit, um zu reiten, zu chatten und sich mit ihren Freundinnen auf Facebook auszutauschen. Als Erstes brauchte sie ein amerikanisches Handy, mit dem sie Fotos posten konnte. Ihr eigenes hatte sie zwar dabei, aber das funktionierte hier aus unerfindlichen Gründen nicht.

„Wahrscheinlich gibt es da nur Präriehunde!“, hatte Christine gelästert. Manchmal wusste Kaja nicht, ob Christine wirklich ihre beste Freundin war. Ihre schnippischen Bemerkungen taten nämlich weh.

„Dann poste ich halt Fotos von Präriehunden!“, hatte sie mit einem Lächeln geantwortet, das über ihre Ängste hinwegtäuschen sollte. „Du weißt ja eh nicht, wie die aussehen!“ Bamm, schnell mal die Freundin kaltgestellt.

Kaja sah wieder auf die Wolken hinunter und lauschte dem Brummen der Triebwerke. Und was, wenn ihre Freundin recht hatte? Wenn es da tatsächlich nur Präriehunde gab? Sie hatte nach einem Kino gegoogelt, aber da sah es eher schlecht aus. Das nächste Kino gab es erst in Rapid City. Dort war auch der Flughafen. Einfache Fahrzeit anderthalb Stunden.

Tatsächlich schien Kyle am Ende der Welt zu liegen. Mit ihrer Bewerbung war es nicht so gut gelaufen, nur deshalb war sie nun unterwegs ins Outback. Eine Familie in New York, die sie zuerst buchen wollte, hatte im letzten Moment abgesagt und ihr ganzer Plan, ein Jahr im Ausland zu verbringen, war ins Wanken geraten. Es war schade gewesen, denn sie hatte sich schon Pläne gemacht, was sie dort alles anschauen wollte. Letztendlich hatte sie nur noch die Wahl zwischen Süd-Dakota und einer Familie in Texas mit drei Kindern. Texas wäre natürlich auch cool gewesen, aber drei Kinder? Kaja seufzte lautlos. Ihre zwei Nachbarn im Flugzeug schienen zu schlafen und so wollte sie sie nicht stören. Außerdem hatte sie Angst, dass das Mutter-Walross neben ihr wieder mit lästigen Fragen anfing. Ihr war die Frau schon im Wartebereich des Flughafens aufgefallen und es war ja klar, dass die Tonne mit der Selbstverständlichkeit einer ferngelenkten Rakete genau auf sie zusteuerte und neben ihr Platz nahm. Sie hatte schon wieder vergessen, wie die Dame hieß, weil sie ihre Ohren auf Durchzug geschaltet hatte. Das Fett schien überall hervorzuquellen, sodass Kaja sich gegen das Fenster lehnte, um den auswuchernden Tentakeln dieser Qualle zu entgehen. Kaja selbst war stolz auf ihre schlanke Gestalt und schwor sich, niemals so auszusehen wie dieses Ungetüm. Ihre Jeans passten perfekt zu den Ballerina-Schuhen, dem rosa T-Shirt und ihrem leichten Make-up, das so dezent war, dass man es kaum bemerkte. Sie hasste aufgedonnerte Frauen. Ihre blonden Haare hatte Kaja zu einer Flechtfrisur hochgesteckt, damit sie während des langen Fluges nicht in Unordnung gerieten. Sie hatte wunderschöne blaue Augen und ein ovales Gesicht. Nur das Kinn war für ihren Geschmack ein wenig zu spitz. Aber vielleicht war sie auch nur zu selbstkritisch. Das Parfüm der Dame war aufdringlich und so schaltete Kaja die Lüftung über sich auf Hochtouren.

Sie selbst war viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Sie riss sich von dem Anblick der Wolkenschafe los und wandte sich dem kleinen Computer zu, der in den Sitz vor ihr eingebaut war. Sie hatte die Auswahl zwischen mindestens zwanzig Filmen und setzte sich die Kopfhörer auf, um einen Actionfilm mit Jason Statham anzuschauen.

Der Film hatte keinerlei Handlung, aber vielleicht war sie auch nicht in der richtigen Stimmung. Irgendwann ging ihr jedenfalls das ständige Geballern auf die Nerven und sie suchte nach einem anderen Film. Dabei mochte sie Jason Statham. Er war cool, sah gut aus und war ganz ihr Typ.

Sie wurde unterbrochen, als das Mittagessen serviert wurde und auch die Sitznachbarn sich wieder regten. Das Essen war okay. Ein bisschen Salat, Hühnchen, Nudeln, viel Curry und als Nachtisch abgepackter Kuchen. Er gehörte zur Krönung der Lebensmittelindustrie, denn gleichgültig in welche Richtung man ihn drückte, er schaffte es immer wieder in die ursprüngliche Form zurück. Sie quetschte das Ding mehrmals zum Test in der Hand und erntete dabei einen rügenden Blick der Qualle.

„Chemie!“, erklärte Kaja und erntete ein fröhliches Lächeln. Wenigstens das Lächeln war nett.

„Und, bist du denn schon aufgeregt?“, fragte das Lächeln. Der grell-rot geschminkte Mund passte nicht in das fleckige Gesicht.

„Nee“, murmelte Kaja. Sie fummelte wieder an ihren Kopfhörern herum, um das Gespräch zu beenden, ehe es angefangen hatte.

„Meine Tochter war auch mal im Ausland. In England. Das war vielleicht eine Katastrophe“, fuhr die Frau unbeeindruckt fort. „Sie wäre vor Heimweh fast gestorben. Ich habe sie dann besucht …“

„Blah, blah, blah“, dachte sich Kaja lautlos. Sie würde garantiert kein Heimweh haben. Sie war froh, dass sie dem Zirkus daheim endlich entkommen konnte.

Ihre Oma war gerade gestorben und hatte ihren jüngeren Sohn, sprich ihren Papa, enterbt. Jetzt war die Kacke am Dampfen, denn dass der böse Onkel nun alles bekam, war schlimmer, als wenn die Oma alles dem Tierschutzverein oder der Kirche vermacht hätte. Kaja war ebenso entsetzt, denn sie hatte ihre Oma geliebt. Die Oma war alle Weihnachten und Ostern bei ihnen gewesen, teilweise wochenlang und sie verstand nicht, was ihre Eltern falsch gemacht hatten, um nun so bestraft zu werden. Immer hatte die Oma über den anderen Sohn und dessen grässliche Frau geschimpft. Warum die nun alles kriegen sollten, war ihr schleierhaft. Sie erinnerte sich an die Zeit, in der sie als kleines Mädchen bei der Oma übernachtet und mit ihr Sissi-Filme angeschaut hatte. Sie wollte immer wie diese Prinzessin sein und hatte mit dem Porzellan der Oma gespielt. Das war auch so schön wie im Film. Mit Rosen verziert. Sie fühlte sich verraten und hatte alle Fotos der Oma gelöscht. Für sie gab es diese Person nicht mehr. Sie würde später mal ihren Kindern erzählen, dass die Großmutter bereits vor ihrer Geburt gestorben war. Ausgelöscht. Einfach aus der Erinnerung gestrichen. Datei, Papierkorb, löschen.

Aber ihrem Papa ging es schlecht damit. Von der eigenen Mutter beschissen zu werden, machte einen ganz schön fertig. Er fühlte sich, als hätte er das Tafelsilber gestohlen und schluckte Antidepressiva wie andere Leute Bonbons. Kaja hatte Angst um ihn und sie hasste ihre Oma. Immer hatte sie bei ihnen über den Onkel und die grässliche Tante geschimpft. Kaja wusste nun, dass die Oma genauso über ihre Familie hergezogen war, wenn sie bei den anderen gewesen war.

Kaja hasste Scheinheiligkeit und Lügen. Es war Verrat gewesen. Und damit wollte sie nichts mehr zu tun haben.

Kaja wählte einen Film mit Jet Li und verdrängte die unschönen Erinnerungen. Sie wollte möglichst weit weg und Amerika war für sie der weiteste, aber immer noch erreichbarste Ort gewesen. Australien und Neu-Seeland wären vielleicht noch besser gewesen, aber sie hatte was von dem Ozonloch dort gehört und wollte nicht mit Hautkrebs heimkommen. Amerika war schon in Ordnung. Sie würde nun Gasteltern und ein Gastkind und vielleicht mal eine nette Familie um sich herum haben. Die ersten Telefonate waren vielversprechend gewesen. Was sie denn als Lieblingsessen hätte und so. Einmal hatte sie schon mit Jaden, ihrem zukünftigen Schützling, telefoniert und kein Wort verstanden. Ihr Englisch war wirklich gut, aber kleine Kinder in einer anderen Sprache zu verstehen, war eine Herausforderung. Da brauchte sie noch die Mutter zum Übersetzen. Die Gastmutter hieß Caren und war die zweite Frau des Professors. Der Professor hieß Dave Overstreet. Er war bereits älter, irgendwas über fünfzig und war somit für sie ein Dinosaurier, kurz vor dem Sterben halt. Wieso so ein alter Mann noch ein kleines Kind hatte, verstand sie ohnehin nicht. Die Mutter war mit Mitte dreißig auch schon ziemlich alt, fand sie. Kaja war einundzwanzig. Gerade alt genug, dass sie in Amerika Alkohol einkaufen durfte.

Der Redefluss neben ihr hatte aufgehört und sie konzentrierte sich auf den Film. Die Stewardess hatte das Essen wieder abgeräumt und kam ein weiteres Mal mit Getränken vorbei. „Cola!“, bestellte Kaja wortkarg. Der Tag würde mit der Zeitverschiebung lang werden.

Über den Bordcomputer verfolgte sie die kürzer werdende Flugstrecke und seufzte, als das Flugzeug schließlich die Grenze von Kanada in die Vereinigten Staaten überquerte und zum Landeanflug auf New York ansetzte.

Unruhe baute sich bei den Passagieren auf. Das Mutter-Walross hatte sich etwas aufgerichtet und malte die grelle Kriegsbemalung nach. Fast musste Kaja ein Kichern unterdrücken, als sie daran dachte, dass sie auf dem Weg in eine Indianerreservation war. Hoffentlich liefen die dort nicht mehr mit Kriegsbemalung herum! Eigentlich war die Dame neben ihr ganz nett, stellte Kaja mit schlechtem Gewissen fest. Sie durfte nicht immer alles so negativ sehen.

Drogen und Baby Entertaining

Die Zeit bis zur Landung verging wie im Flug. Ob der Begriff wohl daher kam? Ohne sich zu verabschieden schnappte Kaja sich ihr Handgepäck und folgte den Menschen zum Ausgang. Der Flughafen sah aus wie jeder andere Flughafen auch. Sie folgten den anderen Passagieren durch fensterlose Gänge und reihte sich schließlich in die Schlange der ausländischen Besucher ein. Für einreisende Amerikaner gab es eigene Schalter. Staunend beobachtete Kaja das Einreisezeremoniell. An die fünfzig Schalter waren besetzt, um jeden einzelnen Touristen nach seinem Begehren zu fragen. Krass! Es dauerte zwei Stunden, ehe sie endlich vortreten durfte.

„Reason for your stay?“, murmelte der farbige Beamte gelangweilt.

„Work!“, antwortete Kaja wahrheitsgemäß.

Der Beamte blätterte durch den Pass und die Papiere, zückte einen Stempel und stempelte die Papiere ab. Schließlich durfte sie weitergehen. War das alles? Verunsichert starrte Kaja den Beamten an, doch der zeigte mit einem Nicken an, dass sie tatsächlich weitergehen durfte. „Have fun!“, meinte er noch mit einem Lächeln. Doch kein Arschloch.

Kaja strahlte ihn an, ging weiter und suchte nach dem Gepäckband, an dem ihr Koffer sicher schon seit längerem einsame Kreise ziehen würde. Sie fand die Ausgabestelle mit „Munich“ und sah ihren Koffer in einem Berg von anderen Koffern, die bereits neben dem Band auf ihre Besitzer warteten. Ihr Koffer platze aus allen Nähten, aber es war schwierig gewesen, zu entscheiden, was alles mit sollte. Was brauchte man für ein Jahr in der Wildnis? Allein die Auswahl der Schuhe zu treffen, war eine Herausforderung gewesen. Sie hatte sich auf ein Minimum beschränkt, weil ihre Mutter gemeint hatte, dass Schuhe in den USA sehr günstig wären. Wahrscheinlich brauchst du bei deiner Rückkehr zwei Koffer, hatte sie geulkt. Ganz bestimmt würde sie bei ihrer Rückreise zwei Koffer brauchen! Kaja näherte sich dem nächsten Checkpoint und wunderte sich nicht, als gerade sie für eine weitere Inspektion ausgewählt wurde. Ihr Koffer wirkte wirklich zu verdächtig. Mit Schrecken dachte sie an die vielen Kopfschmerztabletten, die sie zur Sicherheit eingepackt hatte. Hoffentlich wurde sie jetzt nicht verhaftet!

Sie zog den Koffer hinter eine Sichtschutzwand und öffnete ihn vor den strengen Augen des Zollbeamten. „Any fruits, seeds or other organic foods?“, fragte er.

„No“, hauchte Kaja. Ein Kloß hatte sich auf ihre Stimme gelegt. Peinlich berührt beobachtete sie, wie die Hände mit Plastikhandschuhen sich durch ihre Schlüpfer, BHs und Kleidung wühlten. Selbstverständlich fand der Beamte die Plastiktüte mit den Medikamenten und öffnete sie misstrauisch. Er zählte über hundert Paracetamol und hielt sie fragend in die Höhe.

„Ich habe oft Kopfschmerzen!“, erklärte Kaja nervös.

„Aha, und wie viele Tabletten nehmen Sie am Tag?“, fragte der Beamte süffisant.

Kaja zog die Papiere heraus und reichte sie dem Beamten. „Ich bin doch ein ganzes Jahr hier!“, versuchte sie ihn gnädig zu stimmen.

„Ach so!“ Wieder studierte der Beamte die Packungen, kontrollierte die Inhaltsstoffe und entschied, dass es sich wohl nicht um Drogen handelte. Kaja schwitzte und dachte an die Schokolade und den Kaffee, den sie im Handgepäck schmuggelte. Aber der Beamte schien ein Einsehen zu haben und ließ sie den Koffer wieder packen. „Have a nice stay!“, grüßte er freundlich.

„Thank you, Sir!“, bedankte sich Kaja höflich. Die Augen des Beamten strahlten und er nickte ihr wohlwollend zu. Kaja merkte sich das. „Sir!“ öffnete Türen und Tore, hatte die Mutter ihr noch gesagt. Stimmt!

Mit dem Taxi fuhr Kaja in das gebuchte Hotel der Agentur. Sie würde die nächsten zwei Tage in New York an einem Einführungskurs über amerikanische Lebensweise teilnehmen. Erst dann durfte sie zu ihrer Gastfamilie weiterfliegen. Das Hotel war ein anonymer Schuppen in der Nähe des Flughafens und während der kurzen Fahrt starrte sie auf die Häuserschluchten mit den riesigen Reklametafeln. Es war so, wie sie es aus „Germany’s Next Top Model“ kannte, nur schmuddeliger und grauer. Auch das Hotel hatte schon bessere Zeiten gesehen. Der Teppich im Eingangsbereich war abgenutzt und wirkte schmutzig. Egal. Sie würde hier ohnehin nur drei Nächte bleiben. Sie bekam eine Chipkarte und erfuhr, dass sie das Zimmer mit einem anderen Mädchen aus Deutschland teilen würde. Es hieß Sonja und hatte bereits vor einer Stunde eingecheckt. Zimmer teilen! Wie uncool war das denn? Kaja unterdrückte ein Stöhnen und füllte mit zusammengebissenen Zähnen den Meldezettel aus. Schwimmbad gab es hier auch nicht! Dafür hatte das Hotel einen Fitnessraum. Sie erfuhr, dass es um achtzehn Uhr ein gemeinsames Abendessen für alle Nannys in einem Nebenzimmer des Restaurants gab. Kaja schaute missmutig auf die Uhr. Noch zwei Stunden! Dabei war sie hundemüde und wollte endlich schlafen gehen. In Deutschland war es jetzt kurz vor Mitternacht.

Sie zog den schweren Koffer zum Aufzug und fuhr in den achtzehnten Stock des Hotels. Ihr Zimmer lag am Ende eines gefühlt fünfhundert Meter langen Ganges. Sie klopfte an und öffnete die Tür mit der Chipkarte. Ein verschlafenes Gesicht tauchte aus den Decken eines Doppelbetts auf.

„Hi!“, grüßte Kaja. „Ich bin Kaja!“

„Ich bin Sonja!“, murmelte das Mädchen. „Gibt es schon Abendessen?“

„Nee, erst in zwei Stunden!“

Kaja stellte den Koffer vor das Bett und legte ihre Tasche auf den Schreibtisch. Das Zimmer lag im Halbschatten, weil Sonja die Vorhänge zugezogen hatte. Kaja öffnete sie einen Spalt und warf einen Blick auf die Stadt. Außer Hochhäusern mit Reklame war nichts zu sehen. Kein Baum, kein Strauch, nur Häuser, Autos und Menschen, die von oben wie geschäftige Ameisen hin und her rannten.

„Bist du auch als Au-pair hier?“

„Hmh!“, brummte Kaja.

„Wo gehst du denn hin?“

„Süd-Dakota!“

„Ich geh nach Texas!“

„Aha, eine Familie mit drei Kindern?“, vermutete Kaja.

„Woher weißt du das?“ Sonja hatte sich erhoben und strich sich einige Strähnen ihres langen, braunen Haars nach hinten. Sie war groß und schlank, mit langen Beinen und einem perfekten Körper. Kaja war neidisch, denn Sonja hatte die Maße für ein Topmodel. Nur ihre Augen waren leicht schräg und entsprachen wahrscheinlich nicht dem Schönheitsideal einer Heidi Klum.

„Ach, nur so eine Ahnung! Ich hatte die Wahl zwischen einem Professor in Süd-Dakota mit einem Kind und einer Familie in Texas mit drei Kindern.“ Sie kicherte.

„Aha, und du hast dich für das eine Kind entschieden“, stellte Sonja altklug fest.

„Nein, für das Pferd!“

Sonja hob erstaunt die Augenbrauen. „Welches Pferd?“, wollte sie wissen.

„Der Professor hat auch Pferde“, erklärte Kaja. „Ich reite gern.“

„Ach so!“ Sonja lächelte etwas. „Ich reite auch!“

„Wirklich?“ Zum ersten Mal interessierte sich Kaja für ihre Zimmergenossin.

„Ja, ich hatte eine Weile eine Reitbeteiligung, aber das Pferd ist an einer Kolik gestorben. Es war schrecklich. Ich habe tagelang geweint. Jetzt bin ich erst einmal weg und wenn ich nach Hause komme, kaufe ich mir ein eigenes Pferd.“

Kaja senkte betreten den Kopf. „Schade!“, meinte sie ehrlich.

„Seit wann reitest du?“, fragte Sonja.

Kaja zuckte die Schultern. „Ich glaube, schon immer! Meine Ma hat mich auf Pferde gesetzt, als ich noch nicht einmal laufen konnte.“

„Echt?“

Kaja kicherte wieder. „Ja, echt! Ich konnte auch eher schwimmen als laufen. Meine Mutter ist so eine ganz tolle Mutter … Babyschwimmen, Kinderturnen, Frühes Englisch und so …“

„Oh je … Baby-Entertaining!“, stellte Sonja fest.

„So ungefähr. Ich musste ganz schön kämpfen, um meine Sachen durchzusetzen. Ich musste auch Gitarre spielen, bis ich ihr diesen Unsinn ausreden konnte. Aber das Reiten macht mir tatsächlich Spaß.“

„Und was sagt deine Über-Mama dazu, dass du jetzt in Amerika bist?“

„Ach, das ist schon okay für sie. So überbehütend ist sie dann doch nicht.“

Kaja musterte ihre Zimmerkollegin kurz und legte neugierig den Kopf schief. „Und? Wo kommst du her?“ Sonja sprach ganz bestimmt kein Bairisch. Klang eher nach Berlin oder so.

„Berlin!“, antwortete Sonja kurz angebunden. „Und du?“

„Kleines Kaff in der Nähe von München. Ich habe gerade Fachabi gemacht und will studieren, wenn ich wieder zurück bin. Soziale Arbeit.“ Sie verschwieg ihren schulischen Leidensweg, denn tatsächlich hatte sie zweimal wiederholt. Einmal in der fünften und einmal in der neunten Klasse. Wegen Mathe und Physik. Deshalb war sie auch nach der zehnten Klasse in die Fachoberschule gewechselt.

„Aha. Ich bin Erzieherin und will einfach mal ein Jahr im Ausland arbeiten“, erzählte Sonja unaufgefordert.

„Na, da bist du ja bei den drei Kindern gerade richtig!“

Sonja zuckte die Schultern. „Mag sein. Am Telefon klangen die ganz nett. In der Nähe ist ein Luftwaffenstützpunkt. Vielleicht finde ich da einen Freund, heirate und bleibe in Amerika.“

Kaja blieb die Spucke weg, als sie von den Plänen erfuhr. Ein Luftwaffenstützpunkt. Sonja wollte einen Mann! Hatte sie zu oft „Ein Offizier und Gentleman“ oder „Top Gun“ gesehen? Sie schnaubte geringschätzig. „Ehe ich nicht studiert habe, will ich erst einmal gar nichts!“ Sie machte sich doch nicht abhängig von einem Ehemann!

„Ich habe ja schon einen Beruf. Wenn ich mit einem Amerikaner verheiratet bin, kann ich hier auch arbeiten!“

„Hmh!“ Kaja behielt ihre Gedanken lieber für sich. Jeder hatte andere Pläne für sein Leben. Ein Mann gehörte in ihrem Leben erst einmal nicht dazu. Sie packte ihre Turnschuhe aus und suchte nach ihrem Jogginganzug, um vor dem Essen noch in den Fitnessraum zu gehen. Nach dem langen Sitzen im Flugzeug würde ihr die Bewegung sicherlich guttun. Anschließend blieb hoffentlich noch Zeit für eine Dusche. „Kommst du mit?“, fragte sie höflich. „Ich schaue mir mal diesen Fitnessraum an.“

„Nee, geh mal! Vielleicht morgen“, wehrte Sonja ab. „Ich bin echt k.o. vom Flug.“

Kaja zuckte mit den Schultern und verschwand durch die Tür. Sie hatte nicht den Eindruck, als würde Sonja sich viel aus Fitness machen. Wahrscheinlich würde sie in zehn Jahren auch so herumwabbeln wie die Dame im Flugzeug. Mit drei Kindern von einem Macho-Fliegerass. Warum wieder diese Gedanken? War es Neid?

Der Fitnessraum war okay. Einige Ergometer standen herum, halbwegs modern, und es gab ein Laufband und mehrere Geräte zum Muskelaufbau. Sie stellte das Laufband an und begann im mäßigen Tempo zu laufen. Sie wollte keine Höchstleistung vollbringen, sondern lediglich die Muskeln entkrampfen und den Körper nach dem langen Sitzen dehnen. Nach zwanzig Minuten hatte sie genug. Sie verließ den Raum und fuhr wieder in ihr Stockwerk, um zu duschen. Sonja hatte das Zimmer bereits verlassen. Kaja war ganz froh, denn so konnte sie in Ruhe duschen und sich für das Abendessen zurechtmachen. Es war schön, wie der Dreck und Schweiß abgewaschen wurde. Sie fühlte sich erfrischt und auch nicht mehr so müde. Frisch gestylt und mit sauberen Klamotten fuhr sie ins Erdgeschoss und betrat ein Nebenzimmer des Konferenzkomplexes. An die fünfzig Personen hatten sich bereits an den langen Tafeln niedergelassen. Die meisten waren Mädchen in ihrem Alter, aber es gab auch einige wenige Jungen. Am Ende des Raumes war ein Beamer aufgebaut und eine Dame mittleren Alters stand bereits abwartend da und wartete auf die letzten Trödler. Kaja erblickte Sonja und setzte sich auf dem freien Platz neben ihr.

„Und, wie ist der Fitnessraum?“, raunte Sonja ihr zu.

„Ganz okay!“, wisperte Kaja zurück. „Ich war wie zerschlagen nach dem langen Flug, aber jetzt geht’s mir besser.“

Die Gespräche verstummten, denn die Dame forderte mit einem kleinen Gong die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Kaja fand es affig, fast wie in der Schule. An der Wand öffnete sich eine Power-Point Präsentation, auf der völlig unwichtige Details über den Verlauf der nächsten zwei Tage vorgestellt wurden.

Das Essen war auch kein Hit. Nudeln mit Soße und ein Salat. Möglichst billiges Essen, damit die Agentur, die die Nannys vermittelte, den größtmöglichen Profit hatte. Wahrscheinlich waren es Ferengis, wie aus Star Trek.

Noch war Kaja tolerant. Sie würde die zwei Tage Training durchstehen und anschließend an ihren Bestimmungsort weiterreisen.

Sie lernte noch ein weiteres Mädchen aus Bayern kennen, das ganz nett war und tauschte mit ihr die Adressen und Telefonnummern aus. Marie würde bei einer Familie in Montana sein. Das war nicht so weit von Süd-Dakota entfernt. Vielleicht war es ja möglich, sich gegenseitig zu besuchen? Sie tauschte auch mit Sonja die Adressen und versprach, an einem verlängerten Wochenende vorbeizukommen. Texas war schon interessant. Außerdem wollte sie sehen, ob sie bei der anderen Familie etwas verpasst hatte. Sie verbrachten die Zeit meist gemeinsam und Kaja genoss das Herumalbern und Kichern mit den beiden. Beide waren nett und unklompliziert und sie wollten über Facebook den Kontakt halten.

Die nächsten zwei Tage waren nicht so überwältigend. Die Vorträge plätscherten auf Englisch dahin, da die Teilnehmer aus aller Herren Länder kamen. Kaja traf Mädchen aus Frankreich, der Ukraine und von den Philippinen. Die Mädchen aus Deutschland waren tatsächlich in der Unterzahl. Sie erfuhren, welche Feiertage es gibt und wie sie gefeiert werden, einen kurzen Abriss der Geschichte der Vereinigten Staaten, allerdings ohne irgendetwas über Indianer zu erwähnen, und welche Einkaufsgewohnheiten Amerikaner hatten. Am interessantesten fand Kaja den Vortrag über sexuellen Missbrauch. Warum man ein Kind nicht in den Arm nehmen durfte, um es zu trösten, ging über ihren Verstand. „Wie soll ich denn das Kind sonst trösten?“, wagte sie zu fragen.

„Nur mit Worten!“, erklärte die Dame streng.

„Ein kleines Kind kann ich doch nicht mit Worten trösten!“, wunderte sie sich.

„Wenn Sie nicht verhaftet werden wollen, halten Sie sich lieber an diese Regel. Sie müssen mit Körperkontakt sehr vorsichtig sein!“

Und wie sollte sie das Kind in die Badewanne setzen, abtrocknen und wieder anziehen? Wie sollte sie es ins Auto heben? Ihr fielen tausend Situationen ein, bei denen man ein dreijähriges Kind hochheben musste, aber sie sagte nichts, weil die Kursleiterin sie ohnehin schon misstrauisch beäugte. Sie sollte Distanz wahren, das war ihr klar geworden.

Das Rahmenprogramm war wenig spektakulär. Sie besuchten ein Museum und durften am Abend in der Disco des Hotels zum Tanzen gehen, wobei die Mädchen unter einundzwanzig mit einem Band gekennzeichnet wurden, weil sie keinen Alkohol trinken durften. Es war total ätzend. Kaja war froh, dass sie nicht auf diese Weise stigmatisiert wurde. Das machte das Manko, dass sie wiederholt hatte, leicht wieder wett. Wie hatte ihre Mutter sie immer getröstet? „Wenn du mal das Fachabitur hast, kräht kein Hahn danach, wie du es geschafft hast!“

Tornado-Shelters und Klapperkisten

Kurze Zeit später saß sie endlich im Flugzeug nach Denver und ihr Herz klopfte, wie wohl die neue Familie sein würde. Der Himmel war klar und sie sah das Land unter sich vorbeigleiten. Drei Stunden später landete sie in Denver und machte sich auf die Suche nach dem Flugsteig, von dem aus es weiter nach Rapid City gehen würde. Er war am allerletzten Ende des Flughafens! Draußen war flaches Land zu sehen und in der Ferne die Bergkette der Rocky Mountains. Der Wind wirbelte den Staub auf und sie schielte etwas ängstlich auf die Schilder der „Tornado-Shelters“, die in Abständen im Gebäude auftauchten. Sie hatte vergessen, dass es hier Tornados gab!

Ihr flaues Gefühl im Magen wurde auch nicht besser, als sie die wackelige Treppe hinaufkletterte, die an Bord der zweimotorigen Maschine führte. Das Ding war ja ein Vorkriegsmodell! Sie hatte nicht gewusst, dass so alte Maschinen überhaupt noch eingesetzt wurden. Kurz zögerte sie an der Tür, als sie in die Kabine blickte. Auf jeder Seite des Ganges war nur ein Platz! Sie flog mit einer Sardinenbüchse! Am liebsten wäre sie umgekehrt und wieder ausgestiegen, aber hinter ihr war ein Bär von Mann, der sie ungeduldig nach vorne schob. „Hey!“, schimpfte sie bissig. Sofort schaltete sich eine resolute Stewardess ein, die den Mann auf eine respektvolle Distanz gegenüber weiblichen Passagieren aufmerksam machte. „Oh, excuse me, M’am!“, entschuldigte sich der Bär und hob hierzu sogar seinen Cowboyhut.

Kaja erwiderte nichts, weil sie nicht wusste, ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Sie ließ sich auf ihren Platz plumpsen und schickte ein kurzes Gebet nach oben. Sie war schon lange in keiner Kirche gewesen und plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Ob Gott sie für diese Nachlässigkeit strafen würde? Vielleicht ließ er das Flugzeug ja nur wegen ihr abstürzen? Der Cowboy war bestimmt auch kein Grund, das Flugzeug länger am Himmel zu lassen. Kurz musterte sie die anderen Todgeweihten in der Maschine. Es war kein einziges unschuldiges Kind dabei, auf das der liebe Gott vielleicht Rücksicht nehmen würde. Die anderen sahen eindeutig wie Geschäftsreisende aus. Kapitalisten, um die es nicht schade war. Ihr war zum Heulen zumute.

Die Stewardess überprüfte, ob sie den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Kaja verkniff sich eine bissige Bemerkung. Wenn das Flugzeug aus dem Himmel gepustet wurde, würde auch der Sicherheitsgurt nicht helfen.

Die Ansage des Captains war launig und sollte die Passagiere wohl auf einige Turbulenzen vorbereiten. Kaja wurde schlecht und sie wäre am liebsten aufgesprungen und aus der Maschine geflüchtet. Die Stewardess hatte die Tür schon geschlossen und so ergab sich Kaja ihrem Schicksal. Vielleicht sah sie gleich ihre Großmutter im Himmel wieder und würde ihr gehörig die Meinung sagen! Sie überlegte sich eine gepfefferte Rede, die sie der Oma ins Gesicht schreien würde und dies lenkte sie vom Start des Flugzeugs ab.

Der Flug war holprig und manchmal wurde die Maschine ganz schön durchgerüttelt, aber da Kaja ohnehin mit ihrem Tod gerechnet hatte, war sie eher angenehm überrascht, dass das Ding tatsächlich am Himmel blieb. Irgendwann riss sie sich von ihren Rachefantasien los und schaute auf das Land unter sich. Sie hatte sich die Prärie immer flach vorgestellt und war nun überrascht, dass das Land in braunen Wellen unter ihr vorbeiglitt. Sie sah Flüsse, die sich wie Ringelnattern durch diese braunen Wogen schlängelten, und die blauen Tupfen der Seen, die ein Maler einfach in die Landschaft gekleckst hatte. Manchmal wurde das Braun von einigen Flecken Grün abgelöst, wenn die Felder von Wald unterbrochen wurden. Wald gab es aber nicht so viel. Dann tauchte in der Ferne eine Bergkette auf, an der sie eine Weile dahinflogen. Die Spitzen der Berge waren kahl und manchmal schon von Schnee bedeckt. Es war Anfang September.

Mit einem Ruck setzte das Flugzeug auf und Kaja seufzte laut. Sie fühlte sich wie eine Überlebende. Draußen flogen vertrocknete Büsche an dem Flugzeug vorbei und sie konnte hören, dass der Wind sogar noch zunahm. Hatte der Flughafen von Rapid City auch einen Tornado-Shelter?

Der Cowboy ließ sie höflich vor, als sie von ihrem Sitz aufstand und hob erneut seinen Hut. Fast musste sie kichern.

„You are not from here?“, vermutete er mit einem Lächeln.

„No, I am from Germany!“

“Oh, have a nice stay!”, grinste der Bär.

Kaja nickte hoheitsvoll und verließ das Flugzeug über einen Laufsteg, der direkt ins Gebäude führte. Sie folgte den anderen Passagieren zum Gepäckband und wartete ungeduldig auf den Koffer. Ihr Herz klopfte, aber dieses Mal vor Vorfreude. Gleich würde sie ihren Gastvater sehen!

Mr Overstret hatte geschrieben, dass er sie vom Flughafen abholen würde. Der Professor hatte an diesem Tag frei. Sie schulterte den Rucksack, griff nach ihrem Koffer und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Es gab keine weiteren Kontrollen, da es sich ja um einen Inlandsflug handelte und so ging sie durch die Absperrung und hoffte auf ein bekanntes Gesicht. Sie hatte sich das Foto ihres Gastvaters eingeprägt, damit sie ihn gleich erkannte. Im Ankunftsbereich des Flughafens standen nur drei Personen, die nacheinander ankommende Familienangehörige begrüßten und mit ihnen verschwanden. Der Professor war nicht unter ihnen. Der Bär tippte sich grüßend an den Hut, warf ihr noch ein Lächeln zu und entschwand ebenfalls aus ihrem Blickfeld.

Kaja rutschte das Herz in die Hose. Hatte der Professor sie vergessen? Sie überprüfte die Ankunftszeit und stellte fest, dass sie bereits eine halbe Stunde verspätet war. In Amerika kam ohnehin nie ein Flugzeug pünktlich an. Vielleicht hatte der Professor das mit einkalkuliert? Sie ging einige Schritte in Richtung Ausgang und schaute sich die Indianerkleidung an, die in einigen Vitrinen ausgestellt war. Es sah ganz nett aus. Dann schaute sie sich misstrauisch um, als sich das Gebäude zunehmend leerte. Eine Person stand noch an der Theke einer Autoverleihfirma, ansonsten irrte hier niemand mehr herum. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf einen Stuhl und wartete ab. Aus ihrer Handtasche holte sie einen zerknüllten Zettel, auf dem die Kontaktdaten des Professors standen. Ob sie ihn anrufen sollte? Vielleicht hatte er den Tag verwechselt oder so? Mit ihren Augen suchte sie nach einem Münzfernsprecher. Ob es hier so etwas überhaupt gab? Sie war völlig verunsichert. Bisher war sie rund um die Uhr von der Agentur betreut worden, aber hier saß sie plötzlich mitten im Nirgendwo, allein auf sich gestellt, und wusste nicht, was sie tun sollte. Mit Schrecken dachte sie an ihr schwindendes Bargeld. Wenn sie jetzt noch ein Taxi und ein Hotel bezahlen musste, war sie pleite! Ihre Lippen zitterten plötzlich, als sie das heulende Elend überkam. Auf was hatte sie sich nur eingelassen?

Sie wartete weitere zwanzig Minuten und stand schließlich auf, um nach einem Telefon zu suchen. Es hatte ja keinen Sinn, hier untätig herumzusitzen. Vielleicht war etwas passiert? Zumindest konnte sie versuchen, den Professor anzurufen. Mit ihrem Koffer im Schlepptau ging sie durch den Flughafen und suchte nach einem Telefon. Es hatten sich wieder einige Personen eingefunden, die auf den nächsten Flug warteten. Sie war froh, nicht mehr ganz allein zu sein.

Endlich kam ein Mann auf sie zu, den sie in Europa wohl als Italiener oder Spanier identifiziert hätte, der aber hier eindeutig wie ein Indianer aussah. Er hatte keine langen Haare, sondern einen Haarschnitt wie ein Igel. Sein Gesicht war rund, mit geschwungenen Lippen, einer breiten Nase und schwarzen Augen. Er war etwa so alt wie sie, obwohl das wirklich schwierig zu schätzen war. Er trug eine schmutzige Jeans, Cowboystiefel und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck „Oglala Lakota College“.

Er blieb vor ihr stehen, steckte die Hände verlegen in die Taschen seiner Jeans und machte eine fragende Bewegung mit den Lippen. „Are you Kaja?“

Er nuschelte dermaßen, dass Kaja nur ihren Namen verstanden hatte.

Vorsichtig legte sie den Kopf zur Seite. „Ja?“

Wieder murmelte der Mann etwas absolut Unverständliches und Kaja befürchtete, dass sie all ihr Englisch vergessen hatte. Sie hätte im Unterricht doch besser aufpassen oder sich mehr Filme im englischen Original ansehen sollen.

„What?“, fragte sie konsterniert.

„Professor Overstreet asked me to pick you up”, kam es nun etwas verständlicher.

Kaja starrte den Indianer fassungslos an. Sie würde doch mit keinem Wildfremden mitfahren! Schon gleich gar nicht mit diesem schmuddeligen Typen! „What?“, wiederholte sie heiser. In ihrem Vertrag stand nichts davon, mit unbekannten Subjekten durch die Gegend gefahren zu werden.

„You wanna talk to him?“, fragte der Indianer. Er schien sich über ihre Hilflosigkeit zu amüsieren.

Allerdings wollte sie mit dem Professor reden! Zumindest wollte sie sichergehen, dass sie hier keiner Entführung zum Opfer fiel. Misstrauisch beobachtete sie, wie der Indianer aus den Tiefen seiner verbeulten Jeans ein Handy hervorzog. Ein ebenso vorsintflutliches Model wie das Flugzeug. Dabei hatte es vor dem Krieg und der Sintflut noch gar keine Handys gegeben! Sie schnaubte empört und beobachtete, wie der Junge auf eine gespeicherte Nummer tippte. Sie wunderte sich, dass das Ding tatsächlich einen Speicher hatte.

„Hi, here is Phil“, hörte sie den Jungen sagen. „That girl doesn’t wanna come!“

„That girl!“, hatte er gesagt. Sie hieß Kaja und nicht ‚that girl‘. Sie hörte auf die Stimme, die aus dem Handy drang, und hielt fordernd die Hand hin. Sie wollte selbst mit dem Professor reden. Außerdem wollte sie sich überzeugen, dass sie die Stimme wiedererkannte. Wortlos drückte ihr der Junge das Handy in die Hand und wartete geduldig ab. Er schien es okay zu finden, dass sie misstrauisch war.

„Hello?“, sagte sie höflich.

Sie lauschte der Stimme am anderen Ende und war überhaupt nicht begeistert. Der Professor erzählte völlig zusammenhanglos etwas von einem schweren Unfall, dass es seiner Frau so schlecht ginge und dass Kaja bitte mit Phil fahren sollte, um sich zuhause um das Kind zu kümmern. Er würde erst irgendwann in der Nacht nach Hause kommen, weil er hier in Rapid bei seiner Frau im Krankenhaus sei.

Kaja wurde nicht ganz schlau aus seinen Worten, aber sie hatte die Stimme identifiziert und glaubte nun daran, dass dieser Indianer sie zum Haus des Professors bringen würde. Hauptsache, sie stand hier nicht mehr am Flughafen herum. Alles andere würde sich bestimmt bald klären. Sie verabschiedete sich von dem Professor und gab Phil das Handy zurück. „Okay!“, nickte sie gnädig. Sie folgte dem Indianer, der sich nicht dazu herabließ, ihr beim Tragen des Gepäcks zu helfen. Stirnrunzelnd trat sie vor das Flughafengebäude und kniff die Augen zusammen, als eine Windböe ihr den Sand ins Gesicht blies. Dann blickte sie ratlos auf den rostfarbenen Pick-up, in den sie einsteigen sollte. Dieser Karren war ganz sicher vor dem Krieg gebaut worden, wahrscheinlich sogar vor der Sintflut! Er war auch nicht rostfarben, sondern verrostet!

Phil nahm den Koffer am Handgriff und warf ihn schwungvoll auf die Ladefläche des Pick-ups, anschließend ging er zur Fahrerseite und stieg ein. Mit einem Rucken seines Kopfes wies er Kaja an, ebenfalls einzusteigen. „We’re late! Gonna hurry!“, nuschelte er.

Kaja öffnete die Beifahrertür und konnte sich einen entsetzten Blick nicht mehr verkneifen. Überall lag Müll im Auto und der Sitz wies Flecken auf, die nicht nur durch eine ausgelaufene Cola entstanden sein konnten. Phil sah ihren Blick und holte eine Decke aus der Versenkung. „Sorry!“, murmelte er. Er legte die Decke auf den Sitz und ruckte erneut mit dem Kopf, damit sie endlich einstieg. Die Decke sah auch nicht besser aus. Anstelle der Essenflecke war sie voller Hundehaare. Aber Hundehaare konnte man ausbürsten. Bei den anderen Flecken war sie sich nicht so sicher, ob es hierfür ein Waschmittel gab. Halbwegs angeekelt kletterte Kaja in den Pick-up und suchte nach dem Sicherheitsgurt. Sie war überrascht, dass das Vehikel so etwas überhaupt besaß. Ein Blick nach vorne genügte, um ihr zu sagen, dass das Auto mit keinem Airbag ausgestattet war. Ihr Vater würde sie in so etwas überhaupt nicht einsteigen lassen!

Phil startete den Motor, der an Lautstärke durchaus mit den Triebwerken des Flugzeuges mithalten konnte, dem sie gerade entkommen war. Warum alle Fahrzeuge Amerikas es auf ihr Leben abgesehen hatten, ging über ihren Verstand.

Sie klammerte sich an dem Haltegriff seitlich über ihrem Kopf fest, als Phil viel zu schnell um die erste Kurve lenkte. Das konnte ja was werden!

Kaja seufzte erleichtert, als sie merkte, dass die Straßen schön breit und gerade verliefen. Da machte es nichts, wenn die Karre gefährlich hin und her schwankte. Phil sagte nichts und so sah Kaja auf die vorbeigleitenden riesigen Reklametafeln. Die meisten Tafeln zeigten Werbung für irgendwelche Hotels und mehrmals tauchte eine Tafel für ein Kasino auf. Alles war grell und übergroß, sodass sie bereits nach kurzer Zeit die Lust verlor, sich berieseln zu lassen. Alles war „best prize“ und „cheap“ oder „special offer“ und blinkte ihr fast drohend entgegen. Einmal fuhren sie über eine Brücke und sie schaute gebannt auf den schmalen Fluss, der sich dort durch ein grünes Tal schlängelte. Es sah aus wie die Kulisse von „Der mit dem Wolf tanzt“. Genau an so einer Stelle hatten die Tipis gestanden! Schade, dass es heutzutage so etwas nicht mehr gab. Tipis wären schöner als diese aufdringlichen Reklametafeln.

Gandalf und Jaden

Nach einer Weile wurde die Landschaft rauer und sie schaute staunend auf die grotesken Felsformationen, die vor ihr auftauchten. Die untergehende Sonne hatte sie in Lila getaucht und es sah aus, als würde in der Ferne eine riesige Leinwand aufgebaut sein, auf der ein alter Western lief. Wie gebannt verfolgte Kaja das Farbenspiel auf den Felsen. Es wurde rasch dunkler und die Felsen verwandelten sich plötzlich in die verblichenen Skelette von Elben und Orks, die nach der Schlacht um Mittelerde dort seit Urzeiten der Erosion ausgesetzt waren. Es hätte sie nicht verwundert, wenn plötzlich Gandalf in seinem Umhang und mit seinem Zauberhut am Straßenrand auftauchen würde und mit erhobenem Daumen nach einer Mitfahrgelegenheit gesucht hätte. Mit einem hämischen, unterdrückten Kichern fiel ihr ein, dass Gandalf vermutlich nicht in diese Klapperkiste einsteigen würde. Er würde nach dem weißen Hengst pfeifen! Wieder unterdrückte sie ein Kichern, als sie über ihren eigenen Unsinn lachte.

Es wurde Nacht und sie überlegte, wie lange die Reise neben dem schweigsamen Fahrer wohl noch dauern würde. Seit Rapid City hatte er keinen Ton mehr gesagt und sie auch keines Blickes gewürdigt. Er fummelte an den Armaturen herum und stellte tatsächlich einen Sender ein, aus dem uralte Country-Musik schallte. „This is Kili-Radio, the voice oft the Oglala Nation!“, dröhnte nach dem Lied die gut gelaunte Stimme des Moderators. Es folgten einige Sätze in einer ihr unbekannten Sprache. Sie klang weich und schön.

Phil zündete sich eine Zigarette an und ignorierte ihren Blick, der an Intensität durchaus mit dem tödlichen Strahl des Todessterns zu vergleichen war. Kaja hasste es, wenn Zigarettenqualm sich auf ihre Kleidung und Haare setzte. Immerhin öffnete er das Fenster, sodass der Rauch im Inneren nicht so schlimm war. Er schaltete das Fernlicht an, weil die Umgebung inzwischen stockfinster war. Es gab keine Hinweisschilder mehr, keine Lampen und auch keine Fahrbahnmarkierungen. Irgendwann bog er auf einen Feldweg ab und der Wagen holperte über Steine und ausgefahrene Rillen. Der Staub wirbelte meterhoch und drang durch das offene Fenster in das Innere.

Nach der langen Fahrt hielt der Wagen unvermittelt vor einem Haus und Kaja versuchte durch den Staub und das Fernlicht des Autos etwas zu erkennen. Sie sah einige Stufen und eine Veranda, die von einer einsamen Lampe an der Hauswand erhellt wurde, sonst nichts. Der Rest des Hauses war im Dunkeln verschwunden.

Phil nickte ihr wieder mit dem Kopf zu, dass sie aussteigen sollte. „Bye!“, murmelte er. Er blieb einfach sitzen.

Kaja stieg mit einem Seufzen aus und hievte den schweren Koffer von der Ladefläche herunter. Er plumpste in den Staub und etwas schadenfroh stellte sie fest, dass allein der Koffer wohl viel Dreck in das Haus bringen würde. Warum hatte der Professor ihr auch einen absoluten Barbaren geschickt?

Sie schleifte den Koffer zu den Stufen und rollte ihn polternd zur Veranda hoch. Die Räder des Wagens hinter ihr drehten durch, als der Indianer zu schnell wendete und in einer weiteren Staubwolke einfach verschwand. Kurz schoss der Gedanke durch Kajas Kopf, was wohl wäre, wenn hier überhaupt keiner zuhause war?

Sie suchte vergeblich nach einer Klingel, öffnete schließlich die Fliegentür und klopfte schließlich gegen die Haustür. Sie war aus Plastik und nicht besonders stabil. Die Tür öffnete sich ruckartig und eine dunkelhäutige Frau ließ sie eintreten. Noch eine Indianerin, vermutete Kaja scharfsinnig.

„Hi!“, sagte die Frau freundlich. „Ich bin Thalia, Jadens Lehrerin. Gut, dass du endlich da bist. Ich muss nämlich gleich weg. Schön dich kennenzulernen!” Sie griff bereits nach ihrer Jacke, als hätte sie wirklich ungeduldig auf die Ankunft der Nanny aus Deutschland gewartet. Sie war groß und schlank, trug eine einfache Jeans und ein gestreiftes T-Shirt. Ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Sie sah mehr wie eine Kindergartentante aus und nicht wie eine Lehrerin. Aber vielleicht hießen die Kindergartentanten hier auch Lehrer?

Kaja stellte den Koffer neben die Tür und musterte die Frau mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Das war vielleicht ein Willkommen. Sie stand bereits mitten im Wohnzimmer, das lediglich aus zwei Sofas, einem Bücherschrank, einem Couchtisch und einem modernen Flachbildfernseher bestand. Im Fernsehen lief eine Comicserie und ein kleiner Junge saß zwanzig Zentimeter vor dem Bildschirm und schien in dem Film verschwinden zu wollen.

Thalia redete immer noch auf sie ein und erklärte gerade, dass sie Jaden hierher gebracht hatte, weil der Professor im Krankhaus bei seiner Frau wäre und so weiter. Sie müsste nun heim zu ihren eigenen Kindern. Im Kühlschrank sei Essen und Kaja sollte das Kind baden und ins Bett bringen. Mr Overstreet würde später heimkommen und sich um alles Weitere kümmern. Auch sie sprach irgendwie ein komisches Englisch.

Kaja nickte abwesend und setzte sich erst einmal neben das Kind. „Hi“, versuchte sie Kontakt aufzunehmen. „I am Kaja!“

Die Indianerin verließ das Haus und Kaja hörte wenig später, wie die Geräusche eines Motors sich langsam entfernten. Sie war allein.

Der Film war aus und Kaja nutzte die Gelegenheit, um den Fernseher einfach auszuschalten. „Hast du Hunger?“, fragte sie den kleinen Jungen in ihrem vorsichtigen und korrekten Englisch.

Große blaue Augen musterten sie abschätzend. Dann nickte das Kind. „Mama und Papa sind weg!“, erklärte es.

„Ich bin jetzt da!“, versicherte Kaja. „Ich bin hier, um auf dich aufzupassen. Weißt du noch? Wir haben doch schon telefoniert!“

Der Junge nickte freundlich. „Stimmt, du bist das Mädchen aus dem Märchenland!“

„Aus welchem Märchenland?“, fragte Kaja verwirrt.

„Na, mit den Trollen und Wichteln! Mein Papa hat es mir erzählt.“

„Aha!“ Kaja legte den Kopf schief und überlegte, was das Kind wohl meinte. Wahrscheinlich eine Anspielung auf ihren Namen. Kaja hatte sich nicht wirklich mit der Herkunft ihres Namens beschäftigt. Ihr Vater hatte ihr mal erklärt, dass er gern nordische Sagen las und Kaja wohl Waldhexe oder Rabe bedeutete. Beides fand sie nicht besonders schmeichelhaft.

„Wollen wir mal schauen, ob wir etwas zum Essen finden?“, lenkte sie das Kind ab.

Der Junge nickte heftig und Kaja nahm ihn an der Hand. „Zeig’ mir doch mal die Küche.“

Sie ließ sich von Jaden in den nächsten Raum ziehen und schaltete das Licht ein. Dieses Mal seufzte sie laut. Die Küche sah doch ganz gut aus! Sie war groß und modern. Eine Einbauküche mit grau-blauen Schränken und Herd, Ofen, Mikrowelle und einem überdimensionierten amerikanischen Kühlschrank, der aussah, als könnte er mittels Stimmerkennung Eiswürfel in einem Glas samt Schirmchen ausspucken. „Pina Colada!“, bestellte sie zum Test.

Der Kühlschrank brummte nur laut, als sie ihn öffnete. Unten waren zwei Schubfächer, die vollgestopft mit Salat und Gemüse waren. In den übrigen Regalen waren ordentlich andere Lebensmittel gestapelt. Sie fand Milch, Eier, Joghurt, Fleisch, Wurst, Käse und Obst. Alles in Mengen, als stünde die nächste Eiszeit bevor. In einem weiteren Schrank fand sie Konserven und Mehl. „Magst du Pfannkuchen?“, fragte sie ihren Schützling.

Sie setzte den Jungen auf die Arbeitsplatte und suchte einen Schneebesen und eine Schüssel. Pfannkuchen waren immer der Hit bei Kindern. Schnell rührte sie den Teig an, suchte sie eine Pfanne und stellte sie auf den Herd. Wie schaltete man dieses Ding an? Sie versuchte einen der Knöpfe und hielt probeweise die Hand über die Platte. Sie fühlte die Wärme und nickte zufrieden. Zumindest für die Küche brauchte sie keine Einweisung. Sie deckte den Esstisch und setzte Jaden auf den Kinderstuhl. Apfelmus und Nutella gab es nicht, aber zur Not konnte man ja auch Marmelade auf den Pfannkuchen schmieren. Sie fand Wildpreiselbeeren und drehte das Glas vor den Augen des Kindes verführerisch hin und her. „Magst du das?“, fragte sie.

Jaden nickte und wirkte mit seinen großen Augen ziemlich müde. Sie setzte ihm den ersten Pfannkuchen vor die Nase, schmierte Marmelade darauf und schnitt ihn in kleine Stücke. Dann drückte sie dem Kind eine Gabel in die Hand. Etwas ungeschickt spießte Jaden ein Stück auf und schob es sich in den Mund. Sofort klebte überall in seinem Gesicht Marmelade und erste Tropfen fielen bereits auf das T-Shirt. „Shit!“, fluchte Kaja laut, was ihr einen vorwurfsvollen Blick des Kindes einhandelte. Kaja runzelte die Stirn und merkte sich das. Nicht dass dieses Monster seinen Eltern von ihrer vulgären Sprache erzählte! Er war bereits in einem Alter, in dem er sie verpetzen konnte. „Sorry!“, murmelte sie. „Hast du denn einen Latz?“

Mit vollem Mund schüttelte Jaden den Kopf. „Ich bin doch kein Baby!“

„Aber du kleckerst wie ein Baby!“, stellte Kaja fest. „Warte mal, ich binde dir ein Tuch um, dann wird dein T-Shirt nicht schmutzig. Und Mama und Papa merken nichts!“

Jaden ließ es zu, dass Kaja ein Geschirrtuch um seinen Hals wickelte, und nickte gönnerhaft. Schweigend stopfte er weiter die Pfannkuchenstücke in seinen Mund. Jetzt sah er ganz süß aus.

Kaja legte sich ebenfalls einen Pfannkuchen auf den Teller und aß mit Heißhunger. Seit dem Flug hatte sie nichts mehr gegessen und ihr Magen knurrte unüberhörbar. Sie hatte unterwegs nach einem McDonald’s Ausschau gehalten, aber auf der Fahrt hierher war sie an keinem Geschäft vorbeigekommen. Sie hatte nicht einmal eine Tankstelle gesehen!

Es war lustig, wie sie gemeinsam mit dem Kind deutschen Pfannkuchen futterte. Jaden rieb sich die Augen und schien langsam müde zu werden. Kaja beendete das Essen, stellte die Teller in die Geschirrspülmaschine und nahm das Kind an der Hand. „Wo ist denn das Badezimmer?“, fragte sie.

Jaden zog sie einen Flur entlang und zeigte ihr das Badezimmer. Kaja ließ Wasser in die Wanne laufen und zog Jaden das T-Shirt über den Kopf. „Das soll Mama machen!“, forderte das Kind plötzlich mit Tränen in den Augen. Verunsichert zögerte Kaja. Wenn Jaden jetzt zum Weinen anfing, hätte sie ein Problem. „Hmh, was hältst du davon, wenn ich dir nur den Schlafanzug anziehe und dir etwas vorlese?“ Bestimmt wäre es okay, wenn das Bad heute mal ausfiel.

Die Tränen versiegten und Jaden nickte verhalten.

„Aber den Mund wasch ich dir ab. Da ist ja ganz viel Marmelade dran!“, scherzte Kaja.

Jaden erlaubte ihr diese kleine Prozedur, dann putzte er sich selbständig die Zähne. Er drehte hierzu eine Sanduhr um und rubbelte brav mit der Zahnbürste über seine spitzen Milchzähne bis der Sand abgelaufen war. Kaja lächelte wohlwollend und nahm ihn an der Hand, um ihn in sein Zimmer zu bringen. Das Kinderzimmer war klein. An einer Seite stand ein Bett, daneben ein Spieltisch, der unter dem Spielzeug kaum zu sehen war und auf der anderen Seite ein bunt bemalter Kleiderschrank. Ansonsten starrten einen von den Regalen ungefähr tausend Kuscheltiere an und der Boden war übersät mit Plastikspielzeug. Die Lampe war ein umgebautes Flugzeug, das das Zimmer in einen warmen Schein tauchte. Prüfend musterte Kaja das Zimmer. Hier musste dringend ausgemistet und aufgeräumt werden. Das Kind hatte so viel Zeug, dass es wahrscheinlich gar nicht wusste, mit was es zuerst spielen sollte. „Hast du denn ein Buch?“, fragte sie.

Jaden hüpfte in sein Bett und zog aus einem Nachtkästchen ein Bilderbuch hervor. Mit einem Seufzen setzte sich Kaja neben ihn und begann dem Kind daraus vorzulesen. Sie las und las, bis Jaden die Augen zufielen und er eingeschlafen war, ohne zu merken, dass Mama und Papa immer noch nicht da waren.

Kaja ging in die Küche zurück und räumte auf. Als sie fertig war, setzte sie sich ins Wohnzimmer. Ihr Koffer stand immer noch neben der Haustür und sie wusste nicht wohin. Sollte sie auf Entdeckungsreise gehen? Es war schon spät und sie war hundemüde. Sie sehnte sich nach einem Bett! Weiter hinten im Flur hatte sie eine Treppe entdeckt, die anscheinend ins Obergeschoss führte, und neben der Küche gab es eine Treppe in den Keller. Sie schaltete alle Lichter ein, um nicht das Gefühl zu haben, so allein zu sein, und machte sich auf Entdeckungsreise. Sie fand das Schlafzimmer der Eltern und schloss die Tür, weil sie nicht zu neugierig erscheinen wollte. Neugierig ging sie in das Obergeschoss und machte dort alle Lichter an. Oben war nur eine kleine Mansarde mit einem kleinen Zimmer und einem winzigen Bad. Immerhin hatte es Dusche, Waschbecken und Toilette. Das Bett war bezogen und ein kleines buntes Schild mit Herzchen leuchtete ihr entgegen. „Welcome Kaja!“ stand dort. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen, als sie erkannte, dass die Familie sich auf ihre Ankunft gefreut hatte. Dieses kleine Schild machte die Enttäuschungen des ganzen Tages wett! Sie setzte sich auf das Bett und grub ihre Finger in die weiche Decke. Das hier war ihr Zimmer! Es war schön! Es hatte nur das Bett, einen Schreibtisch und einen Schrank, aber es war liebevoll dekoriert worden. Am Fenster hingen Vorhänge mit einem Blumenmuster, auf einem Regal stand ein Topf mit einer Zimmerpflanze und an der Wand hingen zwei gerahmte Landschaftsbilder. Sie zeigten einen Sonnenuntergang über diesen typischen weißen Felsen und eine Koppel mit Pferden. Die Pferde gefielen ihr. Eines war schwarz-weiß gefleckt und schaute mit wilden Augen in die Kamera.

Kaja ging ins Erdgeschoss zurück und holte ihren Koffer. Sie zog ihn über die Stufen nach oben und begann ihn auszupacken. Es war bereits September und so hatte sie hauptsächlich warme Kleidung eingepackt. Ordentlich verschwanden ihre Jeans, Pullis und ihre Unterwäsche in den Schubfächern oder auf Kleiderbügeln. Sie stellte ein Foto ihrer Familie neben den Blumentopf und legte ein Buch auf das kleine Nachtkästchen neben dem Bett. Sie hatte es, seit sie Deutschland verlassen hatte, nicht mehr gelesen. Keine Zeit. Ihren Kulturbeutel nahm sie mit ins Bad und packte ihr Schminkzeug in ein winziges Regal. Sie war froh, dass sie hier ihr eigenes Reich hatte. Sie versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, konnte aber im Licht der Sterne kaum etwas erkennen. Vielleicht waren da Bäume oder andere Gebäude? Sie freute sich auf den Morgen, wenn sie die nähere Umgebung erkunden konnte.

Mit prüfendem Blick schaute sie sich um, dann kehrte sie ins Erdgeschoss zurück. Sie schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Zum Glück hatte die Familie Pay-TV und so blieb sie an einer Folge „Game of Thrones“ hängen, die sie aber schon kannte. Der Jugendschutzcode war bequemerweise auf der Fernbedienung angebracht, sodass sie alle Programme empfangen konnte.

Die digitale Zeitanzeige am Fernseher zeigte bereits weit nach Mitternacht, als sie endlich das Geräusch eines näherkommenden Autos hörte. Sie schob die Vorhänge am Fenster zur Seite und schaute auf die Lichtkegel, die durch den aufwirbelnden Staub zu sehen war. Die Lichter wurden ausgeschaltet und eine Tür zugeschlagen. Schritte kamen auf das Haus zu. Und wenn es nun gar nicht der Professor war, fuhr es Kaja in den Sinn. Vielleicht wussten längst alle auf der Reservation, dass sie allein im Haus war. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und sie atmete auf. Wenigstens kam jemand, der eine Zugangsberechtigung hatte.

Es war Professor Overstreet, der müde und sichtlich angeschlagen ins Wohnzimmer trat. Er rang sich ein Lächeln ab, als er Kaja erblickte.

„Oh, wie schön, dass du endlich da bist! Tut mir leid, dass ich dich nicht persönlich abholen konnte. Hat das mit Phil geklappt?“

„Ja, alles klar, kein Problem!“, murmelte Kaja etwas verlegen.

„Phil ist ein netter Kerl. Einer meiner Studenten“, erklärte der Professor.

„Ah!“, brummte Kaja. Sie war da ganz anderer Meinung. „Wie geht es Caren?“

Es war erschreckend zuzusehen, wie der Professor buchstäblich in sich zusammensank. Er war an sich eine stattliche Erscheinung. Groß und schlank, mit etwas strubbeligem weißen Haar und einer tiefbrauen Haut. Er sah aus wie ein älterer Indiana Jones, fehlte nur der Schlapphut und die Peitsche. Er plumpste in das Sofa und schob sich mit der Hand die Haare nach hinten. Kaja setzte sich ihm gegenüber und wartete ab.

„Tut mir leid“, murmelte der Mann. Seine blauen Augen wirkten müde und traurig. „Caren brach plötzlich auf der Arbeit einfach zusammen. Sie hatte eine Gehirnblutung und die Ärzte haben sie in ein künstliches Koma gesetzt. Keiner weiß, wie schwer die Schäden sind und ob sie je wieder aufwacht.“

Kaja musste diese Information erst einmal verdauen. Sie sah die Verzweiflung in dem Gesicht des Mannes und schluckte schwer. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte und was jetzt von ihr erwartet wurde. Mit großen Augen starrte sie ihren Gastvater an und schwieg.

Er machte eine leichte Bewegung mit der Hand und biss die Zähne zusammen. „Keine schöne Situation für dich!“, stellte er fest. „Ich kann natürlich verstehen, wenn du unter diesen Umständen wieder abreisen möchtest.“

Kaja senkte den Blick. Sie war noch nicht einmal angekommen und schon sprach dieser Mann von Abreise! Sie schüttelte empört den Kopf. „Und was ist mit Jaden?“, konterte sie. „Ich bin doch hierhergekommen, um mich um das Kind zu kümmern. Jetzt braucht ihr mich doch erst recht.“

Der Professor sah sie seltsam an. „Ja, schon …“, stotterte er, „… aber die Verantwortung! Ich habe keine Ahnung, wie das hier weitergehen soll. Du bist noch so jung und solltest doch auch ein bisschen Spaß haben …“

„Jetzt warten wir doch erst einmal ab“, schlug Kaja resolut vor. „Im Moment kann man doch noch gar nichts sagen. Ich bleibe hier und dann sehen wir, wie sich alles entwickelt. Du brauchst ja auch Zeit, nach einer langfristigen Lösung zu suchen, wenn das nötig sein sollte. Vielleicht ist in zwei Wochen alles ganz anders?“

Professor Overstreet schien von ihren Worten beeindruckt zu sein. „Ja, vielleicht hat du recht. Wir sollten nichts überstürzen. Ich zeige dir morgen, was es zu tun gibt und dann warten wir ab. Vielleicht wissen wir ja in ein paar Tagen mehr.“

Kaja nickte aufmunternd. „Genau! Ich bin ja schließlich eine Nanny! Wäre ja schlimm, wenn ich nicht helfen könnte.“

Der Professor lächelte schief. „Na ja, immerhin hast du es geschafft, Jaden ins Bett zu bringen!“

„Wieso? Ist das sonst ein Problem?“, erkundigte sie sich.

Der Professor winkte ab. „Ein immenses! Meine Frau muss immer neben ihm liegen, bis er eingeschlafen ist.“

Kaja schüttelte ungläubig den Kopf. „Na, das gewöhnen wir ihm aber ab, bis deine Frau aufwacht!“

Der Professor lachte amüsiert und nickte ihr wohlwollend zu. „Keine schlechte Idee, sich eine deutsche Nanny zu holen. Der Junge braucht ein bisschen Zucht und Ordnung.“

„Na ja, weniger Zucht, aber Ordnung auf alle Fälle“, schränkte sie ein.

Sie schwiegen kurz und Kaja hielt sich die Hand vor den Mund, als sie ein Gähnen unterdrückte.

Der Professor stand auf und verriegelte die Haustür. „Ich wecke dich morgen und zeige dir die Pferde. Außerdem fahre ich mit dir zum Kindergarten, damit du Jaden dort gegen Mittag abholen kannst. Lebensmittel müssten noch genug da sein.“

Kaja nickte bestätigend und schenkte ihrem Gastvater ein Lächeln. „Gute Nacht, Mr Overstreet!“

„Gute Nacht!“, grüßte er zurück. „Und nenn mich Dave!“

Kurze Zeit später lag Kaja unter der Decke ihres Bettes und überdachte die Situation. Sie hatte versucht, ihrem Gastvater Mut zuzusprechen, dabei war ihr überhaupt nicht wohl zumute. Sie hatte plötzlich die Verantwortung für diese Familie, den Haushalt, irgendwelche Pferde und einen kleinen Jungen. So war das nicht geplant gewesen! Sie wollte Spaß, Disco, Abenteuer, Leute kennenlernen und Party, aber nicht Verantwortung! Gut, sie konnte immer noch die Familie wechseln oder ganz abbrechen und nach Deutschland zurückkehren, wenn ihr die Arbeit zu viel wurde. Gleichzeitig wusste sie, dass sie mit jedem Tag, den sie länger blieb, auch mehr in die moralische Pflicht ging, dies durchzustehen. Wenn das Kind sich erst an sie gewöhnt hatte, wäre es unmöglich, die Arbeit hier zu beenden. Dann musste sie tatsächlich warten, bis Professor Overstreet eine langfristige Lösung gefunden hatte oder ihre Gastmutter endlich aufwachte. Sie hatte Mitleid mit Caren. So jung und schon eine Gehirnblutung? Außerdem tat ihr Jaden leid, der seine Mutter jetzt schon vermisste. Er war noch so klein und verstand vermutlich gar nicht, was mit seiner Mutter geschehen war. Sollte sie morgen die Agentur anrufen und erzählen, was hier los war? Mit diesen Gedanken schlief sie ein.

Cornflakes und Plastikmöbel

Am Morgen wurde sie von einem vorsichtigen Klopfen an ihrer Zimmertür geweckt. „Guten Morgen!“, erklang die tiefe Stimme ihres Gastvaters.

„Ich komme gleich!“, rief sie hellwach zurück. Sie hechtete aus dem Bett und zog die Vorhänge zur Seite, um einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Die Sonne ging gerade auf und tauchte alles in ein orangenes Licht. Sie sah einige Pappeln und einen Pfad, der zu mehreren Koppeln führte. Auf einer Koppel standen drei Pferde und sie erkannte das gescheckte Pferd mit dem wilden Blick. Seitlich auf einer Koppel standen ein Stall und daneben ein Unterstand. Das Land war hügelig, manchmal von kleinen Senken durchzogen, in denen Büsche wucherten. Nachbarhäuser waren keine zu sehen.

Sie überlegte, welche Schuhe sie anziehen sollte und entschied sich für ihre Flip-Flops. Ihre Stiefel und Joggingschuhe nahm sie in die Hand, um sie nach unten zu tragen. Das Haus war mit Teppich ausgelegt und so war es wohl besser, so etwas Ähnliches wie Hausschuhe anzuziehen. Sie sprang die Treppe hinunter und stellte die Schuhe neben die Haustüre. Dann ging sie dem Geräusch aus der Küche nach.

Professor Overstreet stand bereits an der Kaffeemaschine und goss sich gerade einen Kaffee ein. „Magst du auch einen?“, fragte er.

Sie nickte und setzte sich an den Esstisch. „Soll ich Jaden wecken?“

Der Professor winkte ab. „Noch nicht. Wir haben ein bisschen Zeit. Ich wollte dir erst die Pferde zeigen. Sie sind Carens ganzer Stolz!“

Er schüttete Cornflakes in zwei Schüsseln und reichte auch ihr eine, dann stellte er eine Karaffe Milch auf den Tisch. Kaja überlegte, wann sie das letzte Mal Cornflakes gegessen hatte, aber hier gehörten sie wohl zum Standardfrühstück. Sie schlürfte den heißen Kaffee und stocherte in ihrem Frühstück herum. Es war zu früh, um etwas zu essen.

„Magst du keine Cornflakes?“, erkundigte sich der Gastvater mit einem Stirnrunzeln.

„Doch, doch!“, versicherte Kaja. „Es ist nur so früh! Meistens esse ich erst später!“

„Na ja, kannst es ja stehen lassen. Wenn du Jaden im Kindergarten abgeliefert hast, kannst du ja ein zweites Frühstück einnehmen.“

Sie nickte kurz und folgte Professor Overstreet, als er ihr das Haus zeigte und kurz erklärte, was sie zu tun hatte. Als Erstes führte er sie in den Keller. Kaja war überrascht, denn das Haus war in den Hang gebaut worden, sodass es unten einen ebenen Ausgang in einen kleinen Garten hatte. Sie erblickte durch eine große Glasfront eine Terrasse mit Sitzgarnitur, einen Pool und einen kleinen Spielplatz. Der Raum war wie ein kleines Büro ausgestattet. An den Wänden standen Regale mit Büchern, an einer Seite stand ein riesiger Schreibtisch mit Computer und jeder Menge Unterlagen und vor dem Fenster ein Ergometer. Außerdem sah sie einen kleineren Tisch mit Nähmaschine und Nähutensilien.

Der Professor zeigte mit einer Geste auf die Dinge und meinte: „Das darfst du natürlich alles benutzen! Auch den Computer! Das Passwort ist Caren123!“

„Oh, danke!“, flötete Kaja erleichtert. Die Verbindung zur Außenwelt! „Ich brauche unbedingt noch ein Handy!“

Der Professor lächelte. „Haben wir schon! Hätte ich fast vergessen! Wir wollen nicht, dass du hier draußen unterwegs bist und kein Handy dabei hast. Es liegt oben. Du hast einen Vertrag, mit dem du auch ins Internet gehen hast. Bloß Telefongespräche nach Deutschland sind nicht möglich. Das machst du besser von unserem Telefon aus oder noch besser über Skype.“

„Das ist aber nett!“, stotterte Kaja verlegen. „Kann ich damit auch Fotos machen?“

„Na sicher, sonst macht Facebook ja keinen Spaß, oder?“ Professor Overstreet lächelte freundlich. Man merkte, dass er durch seine Studenten auf dem Laufenden war, was bei jungen Leuten gefragt war. Aber seine Frau war ja auch noch relativ jung. Kaja hatte Caren längst über Facebook gefunden und bereits mit ihr gechattet. Der Gastvater führte sie in die anderen Räume des Souterrains. Er zeigte ihr die Waschküche und erklärte ihr, wie sie die Maschinen bedienen musste. Ansonsten gab es nur Abstellräume und die Heizung.

Etwas ernüchtert schlüpfte Kaja in ihre Cowboystiefel, als Professor Overstreet sie zu den Koppeln mitnahm. Es war kühl und Kaja fröstelte, als sie den Pfad zu den Koppeln entlangging. Der Wind zerzauste ihr die Haare und sie überlegte, ob er je zu blasen aufhören würde. Das konnte ja was werden!

Die Pferde spitzten die Ohren und kamen zutraulich näher, als sie die Menschen erblickten. Der Professor kraulte sie der Reihe nach und öffnete das Gatter, um hineinzugehen. Kaja folgte ihm unaufgefordert und schloss das Gatter hinter sich. Sie sah zu, wie der Gastvater den Pferden Heu vor die Hufe warf und mit einem Gartenschlauch Wasser in eine alte Badewanne füllte. „Es wäre schön, wenn du ab und zu mal schaust, ob sie noch genügend Wasser haben!“, bat er leise.

„Klar! Mach ich!“, versicherte Kaja. Ihre Stimme klang belegt.

Geschäftig zeigte ihr der Mann, wo sie Sattel und Zaumzeug finden konnte. „Du kannst ja reiten, nicht wahr?“

Kaja nickte reichlich verwirrt. Durfte sie einfach so diese Pferde reiten? Waren sie denn brav? Gab es etwas zu beachten? Verunsichert musterte sie die drei Pferde und überlegte, ob sie wohl irgendwelche Unarten hatten.

„Sie sind brav!“, erklärte der Professor gerade. „Ich wäre froh, wenn du sie ein bisschen bewegst. Aber bleib auf der Koppel. Ich organisiere jemanden, der mit dir ausreitet und dir die Gegend zeigt. Solange ist es besser, wenn du in der Umzäunung bleibst. Hier in der Nähe gibt es schöne Wege ins Gelände, aber die muss dir jemand zeigen.“

„Ja, darf ich denn alleine ausreiten?“, wunderte sich Kaja.

„Aber klar. Die Pferde sind sehr trittsicher und geländeerfahren. Kein Problem. Nur auf Klapperschlangen musst du aufpassen.“

Aha. Kaja verkniff sich eine Bemerkung. In Deutschland ginge das gar nicht! Ihre Reitlehrerin ließ Reiter erst ins Gelände, wenn sie sämtliche Kurse und Reitabzeichen bestanden hatten. Und alleine sowieso nicht.

„Weißt du denn, wie man ein Pferd sattelt? Ich meine, wir haben hier Sättel im Western-Style … nicht englisch!“, riss der Mann sie aus den Gedanken.

Kaja nickte. Sie hatte in Deutschland jahrelang Westernreiten gemacht.

„Die Sättel und Trensen sind beschriftet. Bei dem Schecken musst du ein bisschen aufpassen. Er hat ein leichtes Hohlkreuz und scheuert sich schnell wund.“

„Wie heißen sie denn?“, fragte Kaja.

„Der Schecke heißt Cheyenne! Die Braune dort heißt Amber und der kleine Falbe heißt Sand.“ Er schubste die Pferde etwas zur Seite, die in seinen Taschen nach Leckereien suchten. „Hey!“, schimpfte er zum Schein.

Er führte Kaja zum Gatter zurück und machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. „Also, das ist jetzt alles deins!“

Kaja schüttelte protestierend den Kopf. Sie konnte unmöglich drei Pferde bewegen! Aber vielleicht schickte der Gastvater ja wirklich Hilfe. Mit einem Indianer im Galopp über die Hügel zu preschen, war schon sehr verlockend!

Sie kehrten zum Haus zurück und weckten Jaden auf, der ihnen reichlich verschlafen zublinzelte. „Mama?“, fragte er weinerlich.

Kaja lächelte freundlich. „Die Mama ist doch krank. Weißt du noch?“

Jaden schaute sie mit großen Augen an und nickte traurig. „Wann kommt sie denn?“

Professor Overstreet nahm seinen Sohn auf den Arm. „Das wissen wir nicht! Du musst jetzt ein großer Junge sein und uns ein bisschen helfen. Kaja ist jetzt hier, um sich um dich zu kümmern. Ich möchte, dass du gut auf sie hörst. Dann kann ich mich besser um Mama kümmern und sie kommt bestimmt bald nach Hause. Okay?“

„Okay“, piepste Jaden. Er warf Kaja einen prüfenden Blick zu. „Machst du mir auch wieder Pfannkuchen?“

„Klar!“, bestätigte Kaja. „Aber nicht jeden Tag … das ist nicht gesund!“

Sie half dem Kind beim Anziehen und brachte es anschließend in die Küche. „Was magst du denn zum Frühstück?“, erkundigte sie sich.

„Cornflakes!“

Aha, es war tatsächlich das Standardfrühstück in Amerika.

Professor Overstreet saß ebenfalls am Küchentisch und schrieb an einigen Notizen. Schließlich drückte er ihr eine Liste in die Hand. „Hier, das sind die wichtigsten Daten und Telefonnummern! Ich werde heute wieder in Rapid bei meiner Frau sein und erst spät nach Hause kommen. Ich gehe auch einkaufen. Brauchst du was?“

Kaja dachte nach. „Vielleicht Shampoo und Damenbinden?“ Sie war in New York nicht zum Einkaufen gekommen und befürchtete, dass ihr kleiner Vorrat nicht ausreichen könnte. Im Gepäck war kein Platz dafür gewesen, weil ihr Schuhe und Kleidung wichtiger gewesen waren.

Es war lustig zu sehen, wie der Professor tatsächlich leicht errötete. „Oder gibt es hier in der Nähe kein Geschäft, wo es so etwas gibt?“, fragte sie misstrauisch.

„Doch! In Kyle oder bei der Tankstelle in Pine Ridge! Aber du kannst gern schauen, ob du solche Dinge bei Caren im Bad findest. Die kauft das immer auf Vorrat.“

„Aha!“ Das konnte ja was werden. Sie strich Shopping von ihrer Aktivitätenliste. Dafür nahm sie interessiert das Handy entgegen, das der Mann ihr reichte. Es war halbwegs modern und steckte in einem rosa Leder-Etui. Sie änderte sofort den Pin und vertiefte sich in das umfangreiche Menu. Einige Nummern waren bereits unter dem Punkt „Kontakte“ eingespeichert worden. Sie fand „Home“, „Dave“, „Caren“, „Kindergarden“ und einige andere, die ihr nichts sagten.

Professor Overstreet schaute von hinten über ihre Schulter und tippte auf die Namen: „Das hier ist die Stammespolizei“, erklärte er. „Und das hier ist der Notruf vom Hospital!“

„Das Krankenhaus in Rapid City?“, wunderte sich Kaja.

„Nein, nein, der Notarzt hier auf Pine Ridge. Wenn mal was mit Jaden oder dir ist …!“

„Und diese Nummer?“, fragte Kaja interessiert.

„Das ist mein Büro im College. Während der Vorlesung habe ich mein Handy aus, aber dann kannst du bei Leslie im Büro eine Nachricht hinterlassen.“

Kaja fühlte sich etwas besser. Der Mann hatte scheinbar an alles gedacht. Er reichte ihr auch einen zusammengefalteten Plan, auf dem die Straßen und Orte der Reservation abgebildet waren. Der Wohnsitz der Familie war mit einem Kreuz vermerkt. Ebenfalls der Kindergarten, die Tankstelle und das College. „Unsere Einfahrt ist leicht zu übersehen, aber ich zeige dir, wie du sie erkennen kannst. Wir haben einen Bottich mit Seerosen hingestellt. Sieht ganz hübsch aus.“

Aha, der war natürlich in der Dunkelheit nicht zu sehen gewesen!

„So, wir müssen jetzt los! Wir fahren mit zwei Autos, weil ich gleich weiter muss. Der Kindergarten ist nicht weit von hier. Normalerweise fährt Jaden mit dem Schulbus. Der Bus holt ihn morgens um halb acht vorne an der Einfahrt ab. Um halb drei kommt er wieder zurück. Er hat dann schon gegessen.“

Und was mache ich die ganze Zeit, überlegte Kaja. Aber sie sprach den Gedanken nicht aus. Sie hätte doch zu einer Familie mit Baby gehen sollen. Sieben Stunden Zeit totschlagen! „Die Agentur sagte, dass ich Englisch-Kurse im College besuchen könnte …“, murmelte sie enttäuscht.

„Oh, habe ich ganz vergessen! Ich kläre nachher, welche Kurse du besuchen kannst“, entschuldigte sich der Professor. „Zweimal die Woche, nicht wahr?“

Kaja nickte bestätigend. „Hmh!“

„Ach, am Vormittag ist ja Zeit! Und einmal die Woche könntest du zum Einkaufen nach Rapid fahren! Das wäre sehr hilfreich. Außerdem gibt es da ein Kino!“

Das klang doch schon besser! Kino war ein magisches Wort, das ihre Laune gleich verbesserte. Der Professor drückte ihr die Autoschlüssel in die Hand und winkte sie nach draußen. Sie nahm Jaden auf den Arm und sah zu, wie der Professor alles verriegelte. „Hier wird viel geklaut“, erklärte er.

Die Autos standen in der Garage nebenan. Wie alles in Amerika sahen das Haus und die Garage von außen toll aus. Der Eingang des Hauses war mit Säulen umfasst, sodass das Haus wie eine Südstaatenvilla aussah. Kaja wusste aber, dass alles nur billiges Plastik war, das keinem Sturm trotzen würde. Aber in Disneyland war ja auch nichts echt. Zumindest der Keller war aus Beton, aber sie fürchtete, dass die Kellerdecke auch nur aus Holz war und bei einem Tornado einfach davonflog. Genauso wie der Rest des Hauses. Das Garagentor rollte elektrisch nach oben und offenbarte zwei neuwertige Autos. Ein kleinerer Suzuki Jeep und ein blauer amerikanischer Geländewagen. Bei den Straßen hier waren Jeeps auch nötig, dachte Kaja etwas bissig. Beide Autos waren staubig und hatten schon länger oder noch nie eine Waschanlage gesehen. Die Fenster zeigten deutlich die Spuren der Scheibenwischer, die zumindest einen gewissen Radius der Scheibe vom Staub befreit hatten. Kaja setzte sich in den kleineren Jeep und stellte mit Genugtuung fest, dass die Polster und der Innenraum sauber waren. Hinten war ein Kindersitz befestigt und daneben lag ein bisschen Spielzeug. Aber sie konnte keine verdächtigen Schokoladenflecken entdecken. Anscheinend legte Caren Wert auf Sauberkeit in ihrem Auto. Der Professor setzte das Kind zu ihr inden Wagen und sie drehte sich um, um besser zu sehen, wie es angeschnallt wurde. Die Sicherheitsgurte über die Schultern legen und zwischen den Beinen in der Schnalle einrasten lassen. Schien einfach zu sein. Ein roter Knopf zeigte ihr, wo man den Sicherheitsgurt wieder öffnen konnte. Jaden lachte vergnügt und freute sich auf den Kindergarten. Sie wartete, bis der Professor mit dem Schlachtschiff die Garage verlassen hatte und folgte ihm vorsichtig. Die Garage blieb offen. Aber es stand auch nichts drin, was für Diebe von Wert gewesen wäre. Kaja wendete auf dem großzügigen Platz vor dem Haus und rollte den Schotterweg entlang. Es holperte und polterte und das Kind lachte vergnügt. Endlich erreichten sie die geteerte Straße und Kaja entdeckte den Bottich mit den Seerosen. Sie prägte sich die Umgebung ein, um das Haus wiederzufinden. Sie sah das Schild mit dem Namen der Overstreets und merkte sich eine Gruppe von Pappeln auf der anderen Straßenseite. Das Haus selbst war von der Straße aus nicht zu sehen.

Kaja folgte dem Auto des Professors und bog nach einigen Minuten in die Auffahrt zu einer Baracke ein. Einige klägliche Klettergerüste aus Eisen wiesen darauf hin, dass hier der Kindergarten war. Sie hielt neben dem Jeep und stieg aus, um Jaden aus dem Kindersitz zu befreien. Das Kind hatte den Sicherheitsgurt bereits selbst gelöst und kletterte ihr entgegen. „Na, kleiner Mann, du bist aber ganz schön clever!“

Jaden lächelte stolz und hüpfte aus dem Auto. Er begrüßte ein anderes Kind, das eben von der Mutter gebracht wurde. Einige Meter weiter stand der gelbe Schulbus. Professor Overstreet nahm Jaden an der Hand und nickte Kaja zu, ihm ins Haus zu folgen. Thalia kam ihnen entgegen und grüßte freundlich. „Ah, wir haben uns gestern schon kennengelernt!“, meinte sie freundlich zu Kaja. Freundlich ging sie in die Knie, um Jaden und das andere Kind zu begrüßen „Hi, Jaden! Hi, Heath!“

Kaja blickte sich um und rümpfte die Nase. Die Möbel des Kindergartens waren alle aus Plastik und sahen aus, als wären sie bei IKEA gekauft worden. Sie sah jede Menge Plastikspielzeug, Malstifte und Plastiktafeln, aber kaum Spielzeug, das in Deutschland den Stempel „pädagogisch wertvoll“ erhalten hätte. Die Kinder waren allesamt dunkelhäutig, meist mit schwarzem Haar, manchmal aber auch dunkelblond, was ein bisschen seltsam anmutete. Jaden war das einzige weiße Kind in dieser Umgebung. Aber er schien integriert zu sein und setzte sich ganz selbstverständlich zu einigen Jungen, die mit Autos spielten. Er schien sie und den Vater bereits völlig vergessen zu haben.

Professor Overstreet sprach kurz mit Thalia und zeigte auf Kaja. „Ich wollte, dass sie weiß, wo Jaden in den Kindergarten geht. Für alle Fälle! Sie hat die Telefonnummer, wenn irgendetwas sein sollte.“

Thalia nickte mit einem Lächeln. „Fährt Jaden heute mit dem Bus nach Hause?“, forschte sie nach.

„Ja, ja … ich wollte Kaja nur schnell den Kindergarten zeigen!“

„Und wie geht es deiner Frau?“, erkundigte sich Thalia mitfühlend.

Der Professor zuckte traurig die Schultern. „Man kann noch überhaupt nichts sagen. Ich fahre heute wieder zu ihr nach Rapid!“

„Wenn ich irgendwie helfen kann …“, bot Thalia an.

Der Professor nickte dankbar. „Das ist nett. Vielen Dank, dass du dich gestern um Jaden gekümmert hast. Vielleicht kannst du am Abend mal nach dem Rechten sehen? Kaja ist ja ganz neu hier …!“

„Mach ich!“, willigte Thalia ein. Sie wandte sich an Kaja und lächelte freundlich. „Ich sehe später mal bei euch vorbei!“

Kaja schnaufte erleichtert. „Das wäre toll!“

Sie verabschiedete sich von Thalia und verließ mit dem Professor das Gebäude. Unsicher blieb sie vor ihrem Auto stehen. Sollte sie tatsächlich alleine nach Hause fahren? Der Professor zeigte auf ihren Schlüsselbund. „Da sind alle Schlüssel dran! Ich fahre weiter zum College. Ich habe heute noch eine Vorlesung, dann besuche ich meine Frau im Krankenhaus. Es wird sicherlich wieder spät! Aber morgen ist ja Wochenende. Da haben wir etwas mehr Zeit uns kennenzulernen und alles zu besprechen.“ Er suchte nach Verständnis.

Kaja biss die Zähne zusammen und murmelte: „Keine Sorge! Ich schaff das schon!“ Es war eine glatte Lüge, denn sie hatte sich im Leben noch nie so einsam und verlassen gefühlt. Sie zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Da lang, oder?“

Der Mann lächelte ermunternd. „Genau! Nach zehn Meilen findest du hoffentlich die Seerosen!“

Na hoffentlich, dachte Kaja spöttisch. Vielleicht finden sie auch mein Skelett in zehntausend Jahren und wundern sich, wie meine DNA hierher passt. Dann würde irgendein Wissenschaftler eine Wahnsinnstheorie aufstellen, die erklärte, warum Germanen vom europäischen Festland bis in die Prärie vorgedrungen waren. Jedenfalls würde keiner auf die Idee kommen, dass ein deutsches Au-pair-Mädchen sich verfahren hatte.

Tafelsilberdiebe und To-do-Listen

Sie steuerte in die angegebene Richtung und musste tatsächlich zwei Mal wenden und die Straße erneut entlang fahren, ehe sie die Einfahrt zu dem Grundstück fand.

Sie parkte das Auto in der Garage und sperrte die Haustür auf. Sie fühlte sich unwohl und verriegelte die Tür hinter sich. Dann überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte. Sie setzte sich in die Küche und schenkte sich einen kalten Kaffee ein. Sie fühlte sich völlig verloren und fehl am Platz. So hatte sie sich das Abenteuer Amerika wahrlich nicht vorgestellt!

Irgendwo klingelte ein Telefon und sie sah sich suchend um, von wo das Klingeln kam. Schließlich entdeckte sie die Festnetzstation auf einem schmalen Regal neben der Wohnzimmertür. „Hier bei Overstreet!“, meldete sie sich höflich.

Die Stimme ihres Vaters schlug ihr entgegen. „Hey, hier ist der Tafelsilberdieb! Meine Güte, endlich erwischen wir dich mal! Wie geht es dir denn? Bist du gut angekommen?“

Im Hintergrund konnte sie die Stimme ihrer Mutter erkennen, die anscheinend schon ungeduldig nach dem Hörer griff. Ihre Eltern hatten noch so ein altmodisches Telefon mit Schnur und Hörer, weil sie die Strahlung von schnurlosen Telefonen nicht im Haus haben wollten.

Kaja ließ sich mit dem Telefon ins Sofa fallen und unterdrückte die Tränen. Für einen kurzen Augenblick versagte ihr die Stimme. Es war so schön, ihre Eltern zu hören! Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht gemeldet hatte, als sie in New York gewesen war. Aber von ihrem Zimmer aus hatte sie tatsächlich nicht nach Deutschland telefonieren können. Das Hotel hatte keine internationale Leitung! Auf so eine Idee war sie gar nicht gekommen, dass es einen Ort auf der Welt gab, von dem man nicht nach Hause telefonieren konnte. Na ja, sie hatte entschieden, ihre Eltern anzurufen, wenn sie bei den Overstreets angekommen wäre. Nun waren sie ihr zuvorgekommen.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihr Vater verwundert, als sie nichts sagte.

„Nee!“, antwortete sie ehrlich.

„Was ist los?“

„Ach!“ Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte.

„Ist die Familie nicht nett?“, bohrte der Vater. Im Hintergrund war wieder das Flüstern der Mutter zu hören und durch das Knacken in der Leitung wusste sie, dass der Vater die Lautsprecher- Funktion gedrückt hatte.

„Doch!“, versicherte Kaja. Von einer Sekunde auf die andere überkam sie das heulende Elend. Schluchzend erzählte sie ihrer Familie, in welchen Schlamassel sie hier geraten war. „Ich bin hier ganz allein, ohne Nachbarn … die Frau liegt im Krankenhaus und der Professor ist den ganzen Tag weg … ich weiß gar nicht, was ich tun soll!“

Der Vater seufzte tief. „Jetzt beruhige dich erst einmal! Du kümmerst dich um den Haushalt und um das Kind, so wie du es gelernt hast. Mach dir eine Liste, die du abarbeitest. Gerade jetzt brauchen sie dich doch am meisten! Weißt du denn schon, wie lange Caren im Krankenhaus bleibt?“

„Nein, die wissen gar nichts“, schniefte Kaja. „Sie hatte wohl eine Gehirnblutung.“

„Um Gottes willen! Das ist ja entsetzlich!“, rief die Mutter aus dem Hintergrund. „Wie ist denn das passiert?“

„Keine Ahnung! Ich hatte überhaupt noch nicht die Gelegenheit, mit dem Professor zu reden. Ich habe eine Liste mit den wichtigsten Telefonnummern und das war es!“

Die Stimme der Mutter erklang nun ganz nahe, als sie dem Vater einfach den Hörer aus der Hand nahm. „Nun hör mal, mein Schatz … du kümmerst dich jetzt erst einmal um den Haushalt und das Kind!“, befahl sie resolut.

„Was soll ich denn machen?“, flüsterte Kaja hilflos.

„Küche aufräumen, kochen, Kinderzimmer aufräumen, Wäsche waschen …“ Die Mutter schnaufte kurz. „Staubsaugen …“

„Oh ja, das ist eine gute Idee!“, unterbrach Kaja den Redefluss. „Hier ist alles so staubig.“

„Wie ist denn dein Zimmer?“

Kaja seufzte. „Ach, ganz schön. Ich bin allein im Dachgeschoss und habe sogar mein eigenes Bad. Von meinem Fenster aus kann ich die Koppel mit den Pferden sehen. Stellt euch vor, ich darf sogar reiten …“ Ihre Stimme wurde wieder optimistischer.

„Setz aber einen Helm auf!“

„Sicher!“ Kaja verdrehte etwas genervt die Augen. Sie wusste nicht einmal, ob die Overstreets so etwas überhaupt hatten. „Und, was ist bei euch los?“, erkundigte sie sich.

„Ach, Papa geht jetzt zu einer Psychologin. Das hilft ein bisschen. Und ich habe einen Drogenspender auf den Tisch gestellt. Immer wenn dein Vater wieder mit der Leier des verratenen Sohnes anfängt, drücke ich auf den Spender und er wirft eine Tablette direkt in seinen Mund.“

Kaja kicherte. Es war schön, dass die Mutter wieder ihren Humor gefunden hatte. Dabei war auch sie enttäuscht worden, denn sie hatte sich zwanzig Jahre lang bemüht, eine gute Schwiegertochter zu sein. Blöde Oma!

„Wie geht es Arn?“, fragte sie nach ihrem Bruder. Das tiefe Seufzen der Mutter verriet mehr als ein ganzes Buch. Ihr Bruder war absolut verantwortungslos und unbedarft wie ein Häschen auf der grünen Wiese. Er war auf der Fachoberschule und tat alles andere als zu lernen. Die Mutter trieb das in den Wahnsinn, während der Vater immer Entschuldigungen für den Sohn hatte. „Ich war als Jugendlicher genauso!“, war sein Standardspruch. Arn machte mit seiner guten Laune und seinem jungenhaften Charme viel wett, aber die Lehrer auf der Fachoberschule hatten ihn längst durchschaut und erwarteten bessere Leistungen. Obwohl er schon achtzehn war, durfte er sich seit einiger Zeit die Entschuldigungen nicht mehr selbst schreiben. Schwänzen war dort nicht so gern gesehen.

Kaja lauschte kurz der Litanei ihrer Mutter und schaltete auf Durchzug. Eigentlich hatte sie keine Lust, die neuesten Verfehlungen ihres Bruders zu hören und so ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie das Thema auf ihn gebracht hatte. Zum Glück beendete ihr Vater die Unterhaltung, als er der Mutter den Hörer wieder aus der Hand nahm. „Und, wie ist es sonst so in Amerika?“, wollte er wissen.

„Schön!“, antwortete Kaja nichtssagend. Sie hatte sich wieder im Griff und wollte sich erst einmal einen Eindruck verschaffen, ehe sie vielleicht zugab, dass sie in der Wahl der Familie einen Missgriff getan hatte. „Ich habe ein Handy und werde später mal Bilder auf Facebook posten.“

Manchmal war es doch ganz praktisch, wenn man die Eltern in der Freundesliste hatte.

„Toll!“, freute sich der Vater. „Dann sehen wir endlich, wohin es dich verschlagen hat!“

„Absolutes Outback!“, kicherte Kaja. „Das ist mal klar! Hier gibt’s nur die drei P: Pappeln, Pferde und Präriehunde.“ Auweia, einen Präriehund musste sie auch noch finden. Für Christine! Sie verabschiedete sich von ihren Eltern und schenkte ihnen einen Kuss durch den Äther. Es wurde wieder still. Totenstill. Die Einsamkeit war körperlich zu spüren. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und schrieb sich eine gedankliche To-do-Liste. Küche, Kinderzimmer, Waschküche. In dieser Reihenfolge wollte sie vorgehen. Und dann die Pferde besuchen. Ohne Reithelm! Die Arbeit würde sie ablenken.

Die Küche war nach dem einfallslosen Frühstück schnell aufgeräumt und so machte sie sich an die Arbeit, das Kinderzimmer aufzuräumen. Es war ein heilloses Chaos und so setzte Kaja sich seufzend auf den Boden und begann das Spielzeug zu sortieren. Schließlich holte sie sich einen großen Müllsack und trennte das Babyspielzeug von den Dingen, die ihrer Meinung nach für ein Kind seines Alters angemessen waren. Die Mutter hatte dies offensichtlich noch nie getan, denn Kaja fand Babyrasseln, Mobiles und Greifspielsachen unter Unmengen an Spielzeugautos, Traktoren und Duplosteinen. Dabei war das Kinderzimmer durchaus praktisch eingerichtet. Es hatte ein kleines Regal mit Plastikcontainern, in die man die Sachen wunderbar sortieren konnte. Rigoros mistete sie das Spielzeug aus und ließ alles in dem Plastiksack verschwinden, was nicht altersgemäß war. Danach trennte sie die Fahrzeuge von den Duplosteinen, fand schließlich die Bauteile für eine kleine Eisenbahn samt dem dazugehörigen Zug und vervollständigte mehrere Puzzles. Sie reduzierte die Kuscheltiere im Regal um die Hälfte und stellte übersichtlich die Bilderbücher dazu, dann prüfte sie ihr Werk zufrieden. Als Erstes wollte sie Jaden beibringen, dass man am Abend sein Zimmer aufräumte!

Sie hatte inzwischen zwei Plastiksäcke gefüllt und stellte diese in den Abstellraum im Keller. So konnte Caren immer noch entscheiden, was sie behalten wollte. Die Zeit war wie im Flug vergangen und sie stellte verblüfft fest, dass es bereits gegen Mittag war. Haushalt machte ganz schön viel Arbeit! Sie musste sich beeilen, wenn sie vor der Rückkehr des Kindes noch reiten wollte! Sie ging in die Waschküche und trennte die Wäscheberge in zwei Haufen aus heller und dunkler Wäsche. Zufrieden stellte sie die erste Maschine auf „Warm“ ein. Die Temperaturen in Fahrenheit sagten ihr noch nichts und so traf sie die Auswahl nur zwischen „Warm“ und „Cold“.

Draußen war es warm und so lief sie nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet zu der Pferdekoppel. Der Wind blies ihr den Staub ins Gesicht, aber inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Die Pferde sahen auf, als sie auf den Zaun kletterte und die Hand nach ihnen ausstreckte. „Hola!“, rief sie lockend. Alle drei kamen neugierig näher und streckten ihr die weichen Nüstern entgegen. „Na, wer will ein bisschen bewegt werden?“

Sie kletterte einfach über den Zaun, ohne das Gatter zu öffnen, und ging zu dem Stall. Das gescheckte Pferd folgte ihr willig und blieb abwartend stehen, als sie die Tür des Stalles öffnete, um das Zaumzeug zu holen. Sie fand das Zaumzeug für Cheyenne und lächelte, als das Pferd geduldig stehenblieb und es sich das Zaumzeug anlegen ließ. Es schnaubte freudig und stupste sie mit dem Nüstern an, als wollte es fragen, wo sie den Apfel versteckt hatte. Sie band das Pferd am Gatter fest und kehrte in den Stall zurück, um Decke und Sattel zu holen. Prüfend sah sie sich um, ob sie eine Futterkiste entdeckte. Sie fand einen Sack mit Mohrrüben und nahm eine als Bestechung für das Pferd mit. Sie steckte die Mohrrübe in die Hosentasche, damit das Pferd sie selbst herausziehen konnte. Es war lustig, wie Cheyenne danach schnappte und genüsslich kaute. Er sah aus wie ein Lausbub. Kaja sattelte das Pferd, dann löste sie den Zügel und führte es in die Mitte der Einzäunung. Die anderen Pferde hoben interessiert die Köpfe und beobachteten, was sie da machte. Die Koppel war ziemlich groß und so störten sie nicht. Kaja zog sich in den Sattel und rief „ho“, als das Pferd ungeduldig nach vorne ging. Sofort stand es still und drehte ihr den Kopf zu. Es sah aus, als entschuldigte es sich. Kaja kicherte. „Jetzt warte mal, bis ich oben bin!“, schimpfte sie gut gelaunt. Sie prüfte die Länge der Steigbügel und stellte fest, dass sie wohl die gleiche Größe wie Caren oder der Reiter davor hatte. Fachmännisch zog sie den Sattelgurt fester, während das Pferd nun brav stehenblieb. Mit ihren Hacken trieb sie es an und gehorsam drehte Cheyenne die ersten Runden auf der Koppel. Es war wirklich so, wie Professor Overstreet es vorhergesagt hatte. Das Pferd war gut ausgebildet und ausgesprochen brav. Es reagierte auf die leichtesten Hilfen und hörte genau auf die Stimme des Reiters. Kaja entschied, dass allein Cheyenne alle Widrigkeiten wettmachte. Bereits nach einer halben Stunde liebte sie das Pferd.

Es lief zickzack, rückwärts und vorwärts, ganz wie sie es wollte. Es wechselte die Gangarten, lief Kurven, Zirkel und Geraden, als wollte es einen Preis in Dressur gewinnen. Die Ohren spielten aufmerksam und selbst als Sand und Amber angaloppiert kamen, ließ es sich nicht aus der Ruhe bringen. Kaja lachte begeistert und trieb die anderen Pferde mit Schnalzen und Pfiffen durch die Koppel, um sie ebenfalls zu bewegen. Es war wie ein Hasch-mich- Spiel. Manchmal versteckten sich Sand und Amber wie ungezogene Kinder hinter dem Stall, bis Kaja sie wieder hervorscheuchte. Buckelnd stoben sie über die Koppel und Kaja glaubte fest daran, dass sie dabei lachten. Sie war glücklich, als sie irgendwann abstieg und Cheyenne den Hals tätschelte. „Danke!“, flüsterte sie dem Pferd ins Ohr. „Du bist ein ganz Braver!“

Pool und Waldhexen

Sie räumte Sattel und Zaumzeug ordentlich auf und ging zum Haus zurück. Es war zwei Uhr und ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bis Jaden auftauchen würde. Sie wechselte die Jeans und legte die andere Hose über einen Stuhl. Dann warf sie Wäsche in den Trockner und stellte die nächste Maschine an. Zu Fuß machte sie sich auf den Weg zur Kreuzung, um Jaden dort in Empfang zu nehmen. Sie hatte die Entfernung unterschätzt, denn so brauchte sie fast zehn Minuten, um die Straße zu erreichen. Sie sah, dass der Bottich mit den Seerosen nicht genügend Wasser hatte und fügte das ihrer To-do-Liste hinzu. Endlich sah sie in einiger Entfernung bereits den gelben Bus. Er hielt genau vor ihren Füßen und ein Indianer mit Igel-Mecki-Frisur ließ Jaden aussteigen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, schloss der Indianer die Tür und fuhr weiter. Kaja wunderte sich über das unfreundliche Benehmen.

Jaden schaute sie prüfend an und schüttelte missbilligend den Kopf. „Wo ist denn das Auto?“, wollte er wissen.

„Zu Fuß gehen ist gesund!“, antwortete sie schnippisch.

„Meine Mama holt mich immer mit dem Auto ab!“, erklärte Jaden unbeeindruckt.

„Deswegen sind viele Amerikaner auch später so dick!“, erklärte Kaja. „ … weil sie nie zu Fuß gehen!“

Jaden schwieg und stapfte tapfer neben ihr her. Schließlich nahm er seine Eltern in Schutz. „Mama ist nicht dick … und Papa auch nicht!“

„Hm!“, überlegte Kaja. „Na ja, sie reiten ja auch. Das hilft vielleicht gegen das Dickwerden.“ Sie biss sich auf die Zunge. „Na ja“, meinte sie versöhnlich, „In Deutschland gibt es auch viele dicke Menschen.“

„Die müssen halt auch mehr spazieren gehen“, meinte Jaden altklug.

„Wenn es so einfach wär“, seufzte Kaja. „Weißt du, manchmal können die Leute auch gar nichts dafür, sondern sind krank oder es geht ihnen schlecht.“ Sie dachte an die Dame im Flugzeug. Ob sie wohl Diabetes hatte, oder irgendwas anderes?

„Genauso wie Mama?“

„So Ähnlich!“ Kaja schloss die Haustür auf und hängte Jadens Rucksack an einen Haken neben der Tür, dann musterte sie das Kind. „Wollen wir mal den Pool ausprobieren?“ Noch war es warm und sie wollte das schöne Wetter ausnutzen.

Das Kind klatschte begeistert in die Hände. „Ja!“

„Na, komm mal mit. Schauen wir mal, ob wir deine Badehose finden.“ Sie hatte gelernt, dass man in Amerika ins Gefängnis kommen konnte, wenn man ein Kind nackt baden ließ. Sei es noch so klein. Da schützte auch das eigene Grundstück nicht. Im Kleiderschrank herrschte ein ebenso heilloses Durcheinander wie im Zimmer vorher und sie setzte das Aufräumen des Kleiderschrankes ebenfalls auf die morgige To-do-Liste. „Hilf mir mal!“, forderte sie das Kind auf. Jaden hatte sich staunend in seinem Zimmer umgesehen und den Container mit der Eisenbahn hervorgezogen. Er setzte bereits die Gleise zusammen und genoss es sichtlich, hierzu den ganzen Boden zur Verfügung zu haben. Kaja schüttelte den Kopf, als sie unter den Kleiderbergen keine Badehose finden konnte, und beschloss, im Keller nachzusehen. Das Kind schien beschäftigt zu sein und so eilte sie in das Unterschoss, um dort nach einer Badehose zu suchen. Sie hing ordentlich auf einer Wäscheleine. Kaja schnappte sie sich und ging ins Obergeschoss, um sich den Badeanzug anzuziehen. Sie band sich ein Gummi in die Haare und ging zurück ins Kinderzimmer. Sie blieb wie vom Donner berührt im Türrahmen stehen und starrte auf das Chaos, das sich ihr bot. Jaden hatte den Container mit Schienen ausgeleert, daneben die Duplosteine und Autos geschüttet und war gerade im Begriff eine weitere Schublade mit Plastikteilen umzukippen. „Was machst du da eigentlich!“, schimpfte sie aufgebracht.

Jaden schaute sie mit unschuldigen Kinderaugen an. „Ich suche den Schaffner!“

„Aber dazu brauchst du doch nicht alles ausschütten. Jetzt kannst du ja gar nichts mehr bauen.“

Jaden sah sie empört an. „Bei Mama darf ich das auch immer!“, behauptete er.

„Nun, bei mir nicht!“, erklärte Kaja. „Ehe wir in den Pool gehen, räumst du erst alles wieder auf.“

Entgeistert starrte Jaden sie an. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie aufgeräumt und wusste anscheinend gar nicht, was das war. Kaja setzte sich zu ihm, stellte die Container hin und zeigte darauf. „Hier sortierst du die Autos rein und dort die Duplosteine. Die Eisenbahn darfst du stehenlassen, denn die hast du wirklich schön aufgebaut. Wenn wir vom Baden kommen, helfe ich dir, den Schaffner zu suchen.“

„Und wo sind meine andere Sachen?“, fragte Jaden. Ihm war schließlich aufgefallen, dass sich das Spielzeug auf magische Weise verringert hatte.

„Weißt du …!“, erklärte Kaja. „Ich bin eine Waldhexe. Und Waldhexen mögen es gar nicht, wenn Kinder unordentlich sind. Waldhexen werfen alles weg, was unordentlich am Boden liegt.“

Die Augen des Kindes wurden groß. „Wirklich?“

„Wirklich!“

„Sind denn Waldhexen böse?“, vergewisserte sich Jaden.

„Aber nein! Waldhexen sind ganz liebe Menschen. Sie mögen nur keine Unordnung. Sie mögen es auch nicht, wenn Menschen Müll auf die Straße werfen oder Unrat im Wald liegen lassen. Aber wenn die Kinder schön aufgeräumt haben, spielen sie ganz lange mit den Kindern und lesen schöne Geschichten vor.“

Das schien Jaden zu beruhigen. „Ich bin immer sehr ordentlich!“, versicherte er.

„Na prima, dann sind wir ja beste Freunde!“, lächelte Kaja.

Sie steckte das Kind in eine Badehose und führte es an der Hand in den Keller. Sie öffnete die Glastür in den Garten und stellte sich an den Pool. Es war ein aufblasbarer Pool, der aber ein Filtersystem zur Reinigung hatte. Das Wasser war warm und sie kletterte über den Rand und wartete, bis Jaden über eine kleine Rutsche ins Wasser sauste. Der Kopf des Jungen ging unter Wasser und sie zog ihn hoch. „Ups!“, rief sie lachend. Zum Glück entdeckte sie die Schwimmflügel, die am Rand im Wasser trieben. „Hier, steck mal deine Arme durch!“

Wenn das Kind stand, reichte ihm das Wasser bis zur Nase. Schwimmflügel erschienen ihr daher sicherer. Jaden gehorchte und kletterte wieder aus dem Pool, um erneut zu rutschen. Kreischend und lachend rutschte der Junge immer wieder ins Wasser, während Kaja sich im warmen Wasser entspannte. Schwungvoll nahm sie ihm die Schwimmflügel ab und zeigte ihm, wie er zwischen ihren Beinen hindurchtauchen konnte. Tatsächlich konnte Jaden unter Wasser schwimmen wie ein Fisch. Irgendwann wollte sie mit ihm mal in ein richtiges Schwimmbad gehen und ihm Schwimmen beibringen. Tauchen konnte er jedenfalls ganz wunderbar. Schließlich wurde der Junge müde und sie rubbelte ihn ab. Er sah süß aus, wie er neben ihr in einer Hollywoodschaukel saß, eingewickelt in dem Handtuch, aus dem nur der Kopf und seine kleinen Füße schauten. Sie erinnerte sich daran, dass sie ja Fotos posten wollte und lief schnell in die Küche, um ihr Handy zu holen. Sie machte ein paar Selfies von sich und dem Kind in der Schaukel, fotografierte den Garten mit dem Pool und schoss zwei Landschaftsaufnahmen. Dann trug sie Jaden wieder ins Kinderzimmer und zog ihn an. „Komm mal mit!“, forderte sie ihn auf. „Ich muss noch ein paar Fotos machen!“

Sie fotografierte das Haus, ging anschließend zur Koppel und ließ Jaden ein paar Fotos von den Pferden machen, weil das Kind nach dem Handy quengelte. Mussten kleine Kinder eigentlich immer nerven? Dann fragte sie Jaden, ob es hier Präriehunde gab. Das Kind zuckte gelangweilt die Schultern und vertiefte sich in eine SpieleApp ihres Handys. Er kannte sich offensichtlich damit aus. Kleine Pestbeule, dachte sie unfreundlich. Wie sollte sie jetzt wieder an ihr Handy kommen? Zum Glück fiel ihr all das nutzlose Plastikspielzeug in seinem Zimmer ein. Da waren auch jede Menge elektronischer Geräte, die bimmelten und Geräusche von sich gaben. Einige dieser Activity-Pads hatte sie aussortiert, weil sie in ein Babybett gehörten, aber andere Dinge würden den Jungen vielleicht ablenken. Sie ging mit ihm ins Kinderzimmer zurück und zog ein Bord hervor, mit dem der Junge Spanisch lernen konnte. Jaden hatte keine Lust. Aber er gab ihr das Handy zurück und setzte sich auf den Boden, um seine Eisenbahn zu bauen. Wie versprochen kramte sie die Kisten auf der Suche nach dem Schaffner durch und fand ihn schließlich in der Schublade mit den Puzzles. Sie setzte sich in eine Ecke und postete die ersten Bilder auf Facebook. Innerhalb von Sekunden erhielt sie mehrere „likes“ und Freunde reagierten auf ihre Posts. „Bin gut angekommen“, schrieb sie. Mehr Enthusiasmus wollte einfach nicht aufkommen. Sollte sie schreiben, dass sie den ganzen Tag allein mit einem Kleinkind war? Sie konnte die Häme ihrer Freundin förmlich hören. „Bin heute schon auf Cheyenne geritten!“, postete sie stattdessen. Die neidvollen und bewundernden Kommentare taten gut.

„Und wie sind die Indianer so?“, schrieb Angie, eine ehemalige Klassenkameradin.

„Unhöflich!“, antwortete sie. „Zumindest die, die ich bisher kennengelernt habe.“

Sie erhielt mehrere Fragezeichen. „Na ja“, milderte sie ab. „Bisher habe ich nur einen kennengelernt und der hat nichts gesagt.“

„Können die kein Englisch?“, vermutete Angie.

„Doch, doch, aber sie sagen anscheinend nicht viel.“

„Krass!“

Sie loggte sich aus und beschäftigte sich wieder mit Jaden. Sie setzte Passagiere in die Waggons und half Jaden einen Bahnhof zu bauen. So sah das Kinderzimmer wenigstens wie ein Spielzimmer aus. Dann horchte sie auf, als ein Auto sich dem Haus näherte. Der Professor oder Thalia?

Sie ging zur Haustür und öffnete sie erwartungsvoll. Es war Thalia, die ihr mit einem Lächeln entgegentrat. „Hi!“, grüßte sie lässig. „Alles in Ordnung?“

Kaja nickte und trat beiseite, um die Lehrerin hereinzulassen. Jaden kam aus dem Kinderzimmer und begrüßte Thalia überschwänglich. „Wusstest du, dass Kaja eine Waldhexe ist?“, fragte er mit großen Augen.

Kaja biss sich auf die Lippen. Sie musste vorsichtiger sein, was sie diesem Kind erzählte.

„Wirklich?“, wunderte sich Thalia. „Und was tun Waldhexen?“, erkundigte sie sich.

„Sie räumen auf und werfen alles weg, was am Boden herumliegt!“, erklärte Jaden mit wichtiger Stimme.

„Das ist aber sehr praktisch!“, lobte Thalia und lachte.

Jaden erkannte wohl, dass er hier keine Unterstützung bekommen würde und verzog sich wieder ins Kinderzimmer.

Kaja kicherte verlegen und machte eine harmlose Handbewegung. „Ich habe sein Zimmer ausgemistet! Man konnte kaum treten, so viel Müll lag da rum.“

Thalia nickte. „Ich predige immer, dass die Kinder heutzutage zu viel Spielzeug haben, aber …“ Sie vollendete den Satz nicht und sah sich prüfend um. „Alles klar?“

„Ja, ja, ich habe mich um den Haushalt und die Pferde gekümmert. Es ist halt einsam hier.“

„Ich habe mich auch gewundert, warum die Overstreets ein Au-pair Mädchen gebucht haben. Du bist hier wahrscheinlich die Erste und die Einzige. Sie hätten ohne Weiteres eine Hausangestellte haben können. Die Arbeitslosigkeit hier ist sehr hoch.“ Es klang fast wie ein Vorwurf.

„Sie wollten wohl jemanden, der auch nachts im Haus ist, wenn sie mal unterwegs sind.“

„Ach so, na ja …“, zuckte Thalia die Schultern. „Es ist hier halt nicht wie anderswo.“

„Wie meinst du das?“, wunderte sich Kaja.

„Na ja, junge Mädchen wollen doch auf Partys gehen oder ins Kino … das gibt es hier alles nicht.“

„Hier gibt es keine Partys?“ In Kajas Gesicht spiegelte sich deutlich das Entsetzen. „Nicht mal im College?“

Thalia machte eine abwehrende Handbewegung. „Hier auf der Rez haben wir Alkoholverbot. Wir veranstalten unsere Powwows, aber das ist vielleicht nichts für dich.“

„Was ist ein Powwow?“, wollte Kaja wissen.

Thalia stieß ein himmelhohes Seufzen aus. „Du weißt wohl gar nicht, wo du hier bist, oder?“

„Wieso?“

„Na, du musst doch wissen, was ein Powwow ist, wenn du hierher kommst!“

Kaja wurde zunehmend hilfloser. „Und wieso muss ich das wissen?“, ärgerte sie sich.

„Na, das gehört zu unserer Kultur. Hast du dich nicht erkundigt, wer wir sind?“

Kaja kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich habe gegoogelt, wo Süd-Dakota liegt, und mich ansonsten auf meine Ausbildung konzentriert“, verteidigte sie sich. „Mir war nicht klar, dass Indianer irgendwie anders sind.“

„Du bist also nicht hier, weil wir Indianer sind?“

Kaja riss die Augen auf. Wieso Indianer? In erster Linie waren es mal Menschen. „Wieso sollte ich wegen der Indianer hier sein?“

Thalia lachte gut gelaunt. „Es gibt weiße Ladys, die extra herkommen, um sich einen Indianer zu schnappen.“

Kaja verstand kein Wort. „Wieso sollten die sich einen Indianer schnappen?“ Sie kam sich vor wie ein Papagei, der jedes Wort nachplapperte.

Thalia schaute sie stirnrunzelnd an und wurde wieder ernst. „Weil sie exotisch sind. Die weißen Frauen kommen hierher und schnappen sich die besten Männer weg. Und unsere Mädchen werden mit den Kindern sitzengelassen.“

Kajas Wangen brannten. So war das also! Die Indianer hier dachten, dass sie gekommen war, um sich einen Indianer zu angeln. So ein Schwachsinn. Die Indianer, die sie bisher kennengelernt hatte, waren weder exotisch noch begehrenswert. „Ich bin hier, weil Professor Overstreet mich angestellt hat. Sonst wäre ich bei einer Familie in Texas gelandet. Ich will vor meinem Studium noch ein wenig Auslandserfahrung sammeln. Das ist alles.“

„Waschté!“, murmelte Thalia ein Wort in dieser fremden Sprache. „Na, dann sei uns willkommen!“

Kaja blieb die Spucke weg. War das eine Inquisition gewesen? Es klang fast so. „Und was ist ein Powwow?“, schnappte sie ein wenig beleidigt.

„Ein Zusammentreffen mit Tanz. Manchmal gibt es auch Wettkämpfe im Tanzen und man kann Preisgelder gewinnen. Wir tanzen unseren alten Tänze und tragen unsere Regalia, unsere traditionelle Kleidung.“

„Aha, so was wie Folklore!“, stellte Kaja fest. „So etwas gibt es bei uns in Bayern auch.“

Thalia musterte sie unergründlich aus schwarzen Augen. „So ähnlich, ja!“

„Klingt doch interessant! Wieso ist das nichts für mich?“

Thalia senkte den Blick und verkniff sich ein Lachen. „Das meinte ich nicht. Vielleicht gefällt es dir ja! Ich sage Professor Overstreet, dass er dich mal mitnehmen soll.“

„Cool!“

Thalias Augen funkelten vergnügt und sie nickte Kaja freundlich zu. „Wenn hier alles in Ordnung ist, fahre ich wieder. Muss mich um meinen eigenen Haushalt kümmern!“

„Ja, hier ist alles in Ordnung!“, versicherte Kaja. „Danke fürs Vorbeischauen!“

„Aber gerne!“

Kaja verabschiedete die Indianerin und wandte sich wieder ihrem Schützling zu. „Ich mache Abendessen!“, verkündete sie. Wohlwollend bemerkte sie, dass das Kind mit der Eisenbahn spielte und es unterlassen hatte, das Kinderzimmer zu verwüsten. Kaja kochte eine Suppe mit Würstchen und setzte das Kind in den erhöhten Stuhl. Es wurde langsam dunkel, als sie in der Küche am Tisch saßen. „Weißt du, ob die Pferde abends versorgt werden müssen?“, fragte sie.

Jaden nickte wichtig. „Ja, Papa gibt ihnen immer Heu!“

„Okay, dann gehen wir nach dem Abendessen noch mal zur Koppel und füttern die Pferde. Und anschließend steck ich dich in die Badewanne und ins Bett.“

„Und wann kommt Papa?“ Die blauen Augen füllten sich verdächtig mit Tränen.

Spontan nahm sie das Kind in die Arme, um es zu trösten. „Er sagt dir auf jeden Fall noch Gute Nacht!“ Sie fühlte irgendwie die gleiche Einsamkeit wie das Kind und langsam wurde es schwierig, das nicht zu zeigen. Auch ihr war zum Heulen zumute. Sie dachte an die Schokolade und den Kaffee, der noch oben in ihrem Zimmer stand. Sie hatte sich die Ankunft hier anders vorgestellt.

Professor Overstreet und Rez

Etwas später lag sie im Bett und dachte über den Tag nach. Jaden war endlich eingeschlafen, obwohl der Vater immer noch nicht aufgetaucht war. Irgendwann waren dem Kind vor Müdigkeit die Augen zugefallen. Sie hatte noch ein bisschen Channel-Hopping gemacht und eine weitere Folge Game of Thrones gesehen. Zum Anrufen war es zu spät. In Deutschland war es mitten in der Nacht. Selbst ihre Eltern würden längst schlafen. Hoffentlich würde das Wochenende besser werden!

Sie wachte auf, als ein Auto vor dem Haus bremste und die Türen schlugen. Ihr Wecker zeigte zwei Uhr morgens und sie überlegte, ob sie aufstehen sollte, um nach dem Professor zu sehen. Lieber nicht, dachte sie verschlafen. In der Früh musste sie fit sein, wenn Jaden aufwachte. Schwungvoll drehte sich auf die andere Seite und schloss erneut die Augen. Sie war erleichtert, dass noch jemand im Haus war.

Am Morgen wachte sie auf, weil Jaden im Schlafanzug neben ihrem Bett stand und mit dem Finger gegen die Stirn tippte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es unchristlich früh war. Sechs Uhr! Das war mitten in der Nacht! „Jaden!“, schimpfte sie empört. „Geh wieder ins Bett! Es ist Wochenende!“

„Ich habe aber Hunger!“, weigerte sich das Kind.

Nie würde sie eigene Kinder haben! Nie! In Gedanken las sie ihren Arbeitsvertrag durch und versuchte sich daran zu erinnern, was er über Arbeitszeiten am Wochenende sagte. Da hatte sie eigentlich frei. Nur hin und wieder mal durfte sie zu kleineren Babysitteraufgaben herangezogen werden, wenn die Eltern mal ins Kino gehen wollten oder so. Sechs Uhr morgens war ganz bestimmt kein Babysitting. Mit einem Seufzen stand sie auf und rieb sich die Augen. „Okay!“, murmelte sie. „Ich habe auch ein bisschen Hunger!“ Das war eine glatte Lüge, aber Jaden strahlte sie so zutraulich an, dass sie ihren Ärger vergaß.

Sie ging mit ihm in die Küche, stellte ihm Cornflakes vor die Nase und sah dem Sonnenaufgang zu. Er war atemberaubend. Sie zückte ihr Handy und machte ein paar Fotos durch die Scheibe des Fensters. Dann sah sie sich nach Filtertüten und Kaffee um. Der Professor erschien ebenfalls in der Tür und strich sich durch die verwuschelten Haare. Er war eindeutig übernächtigt.

„Guten Morgen!“, grüßte Kaja ihn. „Wie geht es Caren?“

Der Professor setzte sich auf einen Stuhl und musterte sie mit einem seltsamen Blick. „Unverändert!“, erklärte er einsilbig.

„Fährst du heute wieder hin?“, forschte Kaja.

„Nein, ihre Eltern sind angereist. Sie werden am Wochenende bei ihr sein. Ich muss mich hier um ein paar Dinge kümmern.“

Es hörte sich an, als würde Caren noch länger im Krankenhaus bleiben. Sie nickte und schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. Der Professor schlürfte ihn vorsichtig und lächelte freundlich. „Nachher kommt James und reitet mit dir aus. Ich kümmere mich solange um Jaden!“

„Aha!“ Und wer war James, dachte sie im Stillen.

„James ist ein Student von mir. Der Bruder von Phil. Aus der Kills-with-Knife Familie.“ Es klang, als wäre es etwas Besonders. Auf jeden Fall hörte es sich nach einem indianischen Namen an. „Er wird dir ein paar Wege zeigen, auf denen du reiten kannst.“

„Ich bin gestern schon geritten“, erzählte sie stolz. „Auf Cheyenne.“

Der Professor lächelte. „Und wie war es?“

„Schön! Cheyenne ist sehr brav. War überhaupt kein Problem!“

„Ja, die Tiere sind gut ausgebildet. Ich bin froh, dass du sie ein bisschen bewegst. Vielleicht habe ich am Wochenende ja auch mal Zeit.“

„Hast du meine Sachen aus Rapid City mitgebracht?“, erkundigte sich Kaja.

„Welche Sachen?“

„Na, die Binden und das Shampoo!“

Der Professor zog den Kopf ein. „Vergessen! Hast du bei Caren nichts gefunden?“

Kaja seufzte lautlos. „Na ja … ich hätte schon lieber meine eigenen Sachen. Ich brauche auch eine Kurpackung für die Haare und so …“ Hier im Outback schien Einkaufen wirklich ein Problem zu sein!

„Okay!“, seufzte er. „Ich wollte dir eh etwas von der Rez zeigen und dann fahren wir halt bei dem Geschäft in Kyle vorbei und kaufen ein.“

„Prima!“, freute sich Kaja. So eine kleine Spritztour war bestimmt cool. Außerdem beruhigte es sie, dass es wohl doch Geschäfte in der Nähe gab.

Sie ging in den Keller, um sich um die Wäsche zu kümmern und legte sie ordentlich zusammen. Anschließend legte sie die Wäsche der Eltern auf das Bett im Schlafzimmer und brachte Jadens Kleidung ins Kinderzimmer. Sie räumte den Schrank komplett aus und sortierte die Kleidung, ehe sie alles wieder ordentlich in die Regale und Schubfächer legte. Bamm. Prüfend begutachtete sie ihr Werk. Ordentlich lagen nun Sweatshirts, T-Shirts, kurze und lange Hosen auf übersichtlichen Stapeln. Socken, Unterhosen und Hemden hatte sie in verschiedene Schubfächer sortiert. Nachdenklich blickte sie auf einen Stapel Wäsche, den sie aussortiert hatte, weil die Sachen offensichtlich zu klein waren. Sie holte einen Plastiksack, stopfte die Sachen hinein, und trug ihn ebenfalls in den Abstellraum.

Auf ein Klopfen hin öffnete sie die Haustür. Sie hatte überhaupt kein Auto gehört und wunderte sich, wie es der Besucher geschafft hatte, sich lautlos dem Haus zu nähern. Oje, der nächste Igel-Mecki-Indianer, dachte sie enttäuscht, als sie in das dunkle Gesicht blickte, das vor ihr auftauchte.

„Hi!“, murmelte sie abschätzend. Er war groß und schlank. Ansonsten sah er aus wie der Zwillingsbruder von Phil. Das gleiche dunkle Vollmondgesicht. Er trug verwaschene Jeans, ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Bravehearts“ und Cowboystiefel. Außerdem hatte er ein rotes Tuch um seine Stirn gewickelt.

Der Indianer nickte nur und musterte sie schweigend. Erst als der Professor auftauchte, bequemte er sich zu einem „Hau“.

„Hallo James!“, grüßte der Professor mit einem Lächeln. „Das ist Kaja! Sie kommt aus Deutschland.“

„Oh?“ Der Ausdruck im Gesicht des Indianers wurde einige Nuancen freundlicher. „Hi!“, grüßte er mit einem kurzen Nicken.

„Caren ist immer noch im Krankenhaus und die Pferde müssen dringend bewegt werden. Kaja kann zum Glück reiten, aber sie kennt die Gegend hier nicht. Ich dachte, dass du ihr den Weg über die zwei Hügel zeigst?“

„Mach ich!“, stimmte James bereitwillig zu. „Kommst du?“, wandte er sich an Kaja.

Kaja hatte schon wieder die Nase voll von diesen wortkargen Indianern. Normalerweise stellte man sich vor, tauschte ein paar Höflichkeitsfloskeln und zumindest die Handynummern aus, um bei Whats App chatten zu können oder trank erst einmal einen Kaffee. Zum zweiten Mal in zwei Tagen mit einem unbekannten Indianer durch die Einsamkeit zu fahren oder zu reiten stand nicht auf ihrer Prioritätenliste. Er würdigte sie keines Blickes, hatte sich bereits umgedreht und war hinter dem Haus in Richtung Koppel verschwunden. Krass! Sie warf dem Professor einen hilflosen Blick zu, doch der interpretierte ihre Sorge nur im Hinblick auf Jaden. „Geh nur! Ich pass schon auf Jaden auf! Hab Spaß!“

Sie schnaufte empört durch die Nase und schlüpfte in ihre Cowboystiefel. Das konnte ja was werden!

Sie folgte James, der bereits Sand das Halfter übergezogen hatte und im Stall verschwunden war, um den Sattel zu holen. Kaja rief nach Cheyenne, der neugierig näher kam und nach einer Karotte in ihrer Tasche suchte. Sie lächelte und verschwand eilig im Stall, um dem Pferd die Belohnung zu holen. Mit einer Karotte und dem Zaumzeug bewaffnet kam sie wieder raus. Willig ließ sich Cheyenne aufzäumen, während er die Karotte mampfte und nach ihrer Hose schielte, ob da wohl eine zweite Belohnung auf ihn wartete. Kaja schaffte es, James mit der gleichen Nichtachtung zu strafen, die er ihr entgegenbrachte. Wenn das ein Spiel war, dann hatte sie die Regeln bereits verinnerlicht. In aller Ruhe sattelte sie auf und zog sich hoch. James wartete auf sie, tat aber so, als wäre sie nicht da. Schließlich bequemte er sich doch zu einer Erklärung, als er ihr zeigte, wie sie das Gatter öffnen und wieder schließen musste. „Wir kommen über fremde Weiden, da musst du immer achtgeben, dass alles verschlossen ist“, erklärte er.

Sie nickte hoheitsvoll und schwieg. Irgendwo hatte sie gelesen, dass Indianer früher stoisch und schweigsam gewesen sein sollen. Das traf auf heutige Indianer eindeutig auch zu. Doch vielleicht war James gar nicht unhöflich, sondern nur anders?

Gedankenverloren folgte sie James auf einem sandigen Weg, der in die Hügel führte. Ohne Vorwarnung setzte er zu einem Galopp an und preschte davon. Staub wirbelte auf, dann klopfte Kaja ihrem Pferd bereits die Fersen in den Bauch. Der Weg erstreckte sich über Meilen, ehe sie ein weiteres Gatter erreichten. Kajas Wangen glühten vor Begeisterung und sie warf James einen strahlenden Blick zu. „Cool!“, rief sie begeistert.

Zum ersten Mal lächelte der Indianer ein wenig. „Du reitest gut!“, stellte er fest.

Sie versuchte, ihr klopfendes Herz zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. „Huh, das war ganz schön schnell!“

Der Junge grinste. „Es ging ja auch immer bergauf. Jetzt müssen wir ein wenig vorsichtiger sein. Wir reiten an einer Schlucht vorbei.“

Ui, der Mensch konnte sprechen, stelle Kaja ein wenig sarkastisch fest. „Okay!“, schnaufte sie. Sie hütete sich, weitere Fragen zu stellen, weil sie den Jungen nicht verschrecken wollte.

Dieses Mal durfte sie das Gatter vom Sattel aus öffnen und schließen. Bisher hatte sie das nur in der Reitschule geübt, aber noch nie im Gelände. Cheyenne war das offensichtlich gewohnt, denn er reagierte auf ihre kleinsten Hilfen und stellte sich so, dass sie den Hebel auch gut erreichen konnte. Sie ließ James mit Sand an sich vorbei und schloss das Tor wieder. Der Junge lobte sie nicht, aber er nickte anerkennend. Woanders entsprach das sicher einer Eins mit Stern.

James führte sie einen steileren Pfad entlang. Einige Meter unter ihnen floss ein schmaler Bach, an dessen Ufer einige Bäume und Büsche wuchsen. Ansonsten waren hier nur mit Gras bedeckte Hügel. Die Schlucht mit dem Bach war eine nette Abwechslung. Sie entdeckte einige Gabelantilopen und zeigte mit dem Finger darauf. „Sieh mal …!“

James drehte sich zu ihr um und nickte. „Ich geh manchmal jagen …“, erklärte er.

„Boah! So richtig mit Gewehr?“

Er legte herausfordernd den Kopf schief. „Mit Pfeil und Bogen haben wir leider verlernt.“

Sie hielt dem herausfordernden Blick stand. Sie kam aus Deutschland und hatte nichts mit der Eroberung dieses Landes zu tun. Auf ihrer Sühneliste standen andere Dinge. Obwohl sie sich für den Holocaust auch nicht verantwortlich fühlte. Sie hatte eine bissige Bemerkung auf den Lippen, aber leider fehlten ihr im Englischen dafür noch die Worte. „Du kannst mir ja das Fleisch bringen!“, lächelte sie kokett. „You kill it, I grill it!“ Sie hatte eine ähnliche Werbung bei einem Restaurant gesehen und war stolz darauf, dass ihr so etwas gerade einfiel.

Seine Augen blitzten tatsächlich anerkennend auf und er lachte kurz. „Okay!“, willigte er ein.

Wieder stob er in einer Staubwolke davon. Von Traben hatte er offensichtlich noch nie etwas gehört. Hier gab es nur schnell oder langsam. Kaja folgte ihm im Galopp auf den nächsten Hügel und zügelte schnaufend das Pferd. Staunend sah sie über das Land. Weit unten im Tal konnte sie das Haus erkennen. Weiter hinten erblickte sie eine weitere Ranch.

„Dort wohne ich!“, erklärte ihr James. Einige Bisons standen auf einer Koppel.

„Ihr züchtet Büffel?“, fragte sie erstaunt.

„Ja, wir haben einen Zuschuss für den Bau des Zauns bekommen und im letzten Herbst einige Büffel gekauft.“

„Wieso braucht ihr da einen Zuschuss?“

„Normaler Zaun reicht bei Büffeln nicht. Wir hatten kein Geld für das Holz und den Stacheldraht. Aber letztes Jahr hat es schließlich geklappt. Wir haben zehn Büffel gekauft und hatten im Frühling schon vier Kälber!“

James zeigte auf einen weiteren Weg, der wieder ins Tal führte. „Hier geht es wieder zurück. Aber es ist besser, hier nicht mehr zu galoppieren. Meinst du, dass du den Weg auch alleine findest?“

„Klar!“, meinte sie selbstsicher. Aber schöner ist es schon, wenn man gemeinsam ausreitet.“

James lächelte. „Ich werde manchmal vorbeikommen. Oder ich schicke meine Schwester.“

Sie ritten nebeneinander her und Kaja zeigte auf das T-Shirt. „Was sind denn die Bravehearts?“

„Unser Basketballteam!“

„Aha, spielst du da mit?“

„Ja!“, antwortete James in seiner knappen Art. „Unser CollegeTeam!“

„Du studierst dort, oder?“

James nickte. „Mein Vater ist auch dort. Er unterrichtet Lakotasprache.“

„Cool, habe ich mal im Radio gehört. Klingt schön! Ich werde auch studieren, wenn ich wieder in Deutschland bin. Soziale Arbeit!“

James warf ihr einen dieser seltsamen Blicke zu. „Du gehst also wieder zurück?“, wunderte er sich.

Lieber heute als morgen, dachte sie im Stillen. Was soll ich denn hier? „Ja, klar!“, antwortete sie mit fester Stimme.

James stellte keine weiteren Fragen und führte sie in diesem eigentümlichen Schweigen zur Koppel zurück. Er sattelte ab, räumte das Zaumzeug und den Sattel auf und verschwand ohne zu grüßen.

Als Kaja zum Haus zurückkehrte, war er außer Sichtweite und sie konnte nicht sagen, ob er zu Fuß, mit dem Pferd oder mit dem Auto gekommen war.

Sie hörte den Professor und Jaden im Garten draußen und ging erst einmal ins Dachgeschoss, um sich zu duschen. Dann zog sie sich saubere Sachen an und bereitete sich auf eine kleine Tour vor. Ihre blonden Haare hatte sie zu einer kunstvollen Flechtfrisur zusammengesteckt.

Der Professor wartete schon auf sie. „Wir fahren mit meinem Auto!“, verkündete er.

Sie schnallten Jaden in dem Kindersitz an und Kaja setzte sich erwartungsvoll auf den Beifahrersitz. Rumpelnd verließ der Jeep die Einfahrt und rollte in Richtung Kyle. Als Erstes hielt Professor Overstreet bei dem Lebensmittelgeschäft, damit Kaja ihre Einkäufe machen konnte. Sie setzten Jaden in den Kindersitz des Einkaufswagens und Kaja schob den Wagen an den langen Regalen vorbei. Hier gab es alles, wunderte sie sich. „Wieso kauft ihr in Rapid City ein?“

„Da ist es günstiger! Außerdem bekommt man da wesentlich frischeres Gemüse und Obst und biologische Lebensmittel.“

Ihre Augen musterten die Auswahl und insgeheim gab sie dem Professor recht. Das Obst und Gemüse fristete in der Kühlung ein Schattendasein und sah so aus, als würde es noch wochenlang durch Konservierungsmittel frisch gehalten werden. Wahrscheinlich würde es in einer Million Jahre noch genauso aussehen. Für eine Space Odyssee, auf der ein Raumschiff jahrzehntelang durch die Tiefen des Weltalls driftete, war es bestens geeignet. Wenn die Crew aus dem künstlichen Kälteschlaf geweckt wurde, wäre dieser Salat immer noch genießbar. Ohne Vitamine natürlich, die musste die Crew wohl in Form von Tabletten einnehmen.

Sie fand Shampoo und Tampons, und der Professor stellte noch Orangensaftkonzentrat und Milch in den Einkaufswagen. Dann gingen sie zur Kasse. Dort saß eine Indianerin an der Kasse, die den Professor mit einem Lächeln begrüßte, aber ihr einen abschätzenden Blick zuwarf. Kaja warf den gleichen Blick zurück und stellte mit Genugtuung fest, dass dieser Pfannkuchen keine Konkurrenz darstellen würde. Überhaupt sah sie viele übergewichtige Indianer, die überhaupt nicht zu dem Bild des schlanken, edlen Indianers passten, das sie vorher gehabt hatte. Phil und James schienen direkt löbliche Ausnahmen zu sein. Selbst die Kinder hatten schon Übergewicht und bei dem Junkfood, das die Mütter in den Einkaufswagen luden, wunderte sie das auch nicht. Sie strich die Pizza von Jadens Speisekarte und ergänzte sie in Gedanken durch Obst und Gemüse.

Sie packten die Milch in einen Thermobeutel und verstauten den Rest im hinteren Teil des Jeeps.

Kaja hüpfte auf den Beifahrersitz und langsam rollte der Jeep in Richtung der Straße. „Das ist eigentlich der alte Big-Foot-Trail!“, erklärte der Professor.

Kaja hatte keine Ahnung, wer Big Foot war, und schwieg. Manche Informationen waren einfach überflüssig.

„Nach der Ermordung von Sitting Bull flohen die Anhänger des Häuptlings Big Foot von der Standing Rock Reservation. Mitten im Winter zogen sie durch die Bad Lands bis zum Wounded Knee Fluss. Dabei kamen sie hier entlang.“

„Aha, und wann war das?“

Der Professor warf ihr einen verwunderten Blick zu. „Na, 1890! Habt ihr im Unterricht noch nie was vom Wounded Knee Massaker gehört?“

„Noch nie!“, versicherte Kaja. „Wir haben uns nur mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt!“ Sie dachte an die endlosen langweiligen Geschichtsstunden, in denen von der Schuld des deutschen Volkes gepredigt worden war.

„Na ja, Big Foot floh also vor der Armee, weil er sich mehr Schutz bei Red Cloud, einem anderen Häuptling, versprach. Sie kamen bis Wounded Knee und wurden dort von der Armee gestellt. Ein Schuss löste sich und die Soldaten haben dreihundert Männer, Frauen und Kinder einfach zusammengeschossen. Sie wurden in einem Massengrab verscharrt. Eine ganz düstere Geschichte! Heute steht dort ein Denkmal. Ich zeige es dir.“

Kaja schwieg. Sie dachte an den Film „300“. Da waren auch dreihundert Griechen gestorben. Aber keine Frauen und Kinder!

„Die Lakota haben sich nie wirklich davon erholt“, erzählte der Professor weiter. „Jedes Jahr gibt es einen Gedenkritt zu Ehren der Gestorbenen. Er findet im Dezember statt und die Lakota reiten den gleichen Weg, den Big Foot damals genommen hatte. Sie sind fast zehn Tage unterwegs.“

„Da würde ich auch gern mitreiten“, meinte Kaja spontan. Diese Art der Geschichte gefiel ihr. Man ehrte die Toten, das war ein schöner Gedanke.

„Mal sehen! Vielleicht ist das ja möglich“, meinte der Professor.

„Echt?“

Der Professor sah sie mit einem seltsamen Blick an. „Warum nicht?“

„Na ja, wegen Urlaub und so?“

Der Professor lachte. „Ach so, stimmt.“ Er wurde wieder ernst. „Das hängt davon ab, wie es meiner Frau bis dahin geht. Außerdem musst du ja nicht die ganze Strecke mitreiten, sondern schließt dich den Reitern an, wenn sie Pine Ridge erreichen.“

„Geht denn das?“

„Aber sicher. Viele Kinder schaffen das sonst gar nicht. Sie reiten nur die letzten Tage mit.“

Sie fuhren eine Weile in südlicher Richtung, bis Mr Overstreet schließlich abbog und zu einem Hügel fuhr. Er parkte das Auto unterhalb der Gedenkstätte und zeigte auf den gemauerten Torbogen, der einsam und verlassen mitten in der Prärie stand. „Dort sind das Mahnmal und das Massengrab.“

Kaja stieg aus und sah sich das Land an. Ein Scheißplatz, um hier zu sterben! Sie dachte an die Frauen und Kinder, die voller Panik vor den Soldaten weggerannt waren, nur um schließlich niedergestreckt zu werden. Niemand hatte es verdient, in einem Massengrab verscharrt zu werden. Interessant, dass nicht nur Deutsche solche Untaten verübt hatten. Professor Overstreet führte sie zu dem Grab und zeigte auf den Grabstein. „Er hat nicht genug Platz für alle Namen!“ erklärte er.

Kaja studierte die indianischen Namen und überblickte den Friedhof, der um das Massengrab herum angelegt worden war. Als wollten die Indianer noch im Tod ihren Angehörigen beistehen. Der Wind blies um ihren Körper und sie fröstelte.

„Einige Frauen versuchten, sich mit ihren Kindern dort unten in der Bodensenke zu verstecken, aber die Soldaten haben sie gefunden und allesamt erschossen. Es war wirklich keine rühmliche Geschichte“, erzählte Professor Overstreet. „Die Überlebenden wurden später aufgesammelt und in eine Kirche gebracht. Noch drei Tage später hat man ein Baby gefunden, das im Schneesturm überlebt hatte, weil der tote Körper der Mutter es beschützt hatte.“

„Schlimm!“, flüsterte Kaja entsetzt. In ihren Schulbüchern hatte nichts dergleichen gestanden. Da waren die Indianer immer die netten Einheimischen, die den Pilgervätern Essen brachten. Von Massakern hatte sie bisher nichts gehört.

Sie nahm Jaden an der Hand und überlegte, wer überhaupt in der Lage war, Kindern so etwas anzutun.

Sie war schweigsam, als Professor Overstreet durch die Reservation fuhr und ihr ein paar Sehenswürdigkeiten zeigte. Sie kamen an der Lakota Waldorfschule vorbei, in der Kinder wieder in der Stammessprache unterrichtet wurden, und an den Ausläufern der Bad Lands. Kaja machte überall Fotos und kicherte, als ihr ein Schnappschuss von einem Präriehund gelang. Der war für Christine!

Nach einer Weile steuerte der Professor wieder Kyle an und zeigte ihr das College, in dem er unterrichtete. Es waren mehrere Gebäude, die den Komplex formten, in der Mitte mit einem runden, imposanten Hauptgebäude. Daneben war auch eine kreisförmige Arena zu sehen.

„Das College arbeitet sehr dezentral, um den Studenten die langen Wege zu ersparen. Hier sind die Verwaltung, die Bücherei und einige Hörsäle. Ursprünglich war das runde Gebäude mal für die Stammesregierung vorgesehen worden, aber dann wurde es zum College umfunktioniert. Bis vor einigen Jahren hatten indianische Kinder kaum Chancen, weil sie in den Universitäten der Weißen nicht zurechtkamen. Viele Stämme haben daher ein eigenes Bildungsprogramm gestartet, damit die Kinder besser qualifiziert werden. Das hier gehört auch dazu!“

„Welche Kurse kann man hier besuchen?“

„Na ja, vieles ist natürlich sehr auf die Indianer hier abgestimmt! Sprachunterricht in Lakota, Stammesgeschichte, Programme zur Ausbildung von Erziehern und Lehrern und ein sehr gutes Ausbildungsprogramm für Krankenschwestern“, erklärte der Professor.

„Aha, und was unterrichten Sie?“

„Mathematik!“

Oje, Mathe war ihr Hassfach gewesen! Mit Großbuchstaben geschrieben. Sie hatte mit Müh und Not die nötigen Punkte für ihr Abi bekommen. Ihr fiel ein, dass das fast der Grund gewesen wäre, diese Familie abzulehnen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mathematikprofessor nett wäre.

„Es ist nicht so leicht, sich auf indianische Studenten einzustellen“, fuhr der Professor fort.

„Wieso?“

„Na ja, die denken anders.“

Kaja kicherte. „Ich denke auch anders!“

Der Professor lachte dröhnend und plötzlich mochte sie ihn. „Mathe ist nicht dein Ding, was?“, fragte er gut gelaunt.

„Nee!“, stöhnte Kaja aus tiefstem Herzen. Dann zeigte sie auf die Arena, die im Hintergrund zu sehen war. „Und was ist das da?“

„Die Arena! Dort finden die Powwows statt. Am schönsten ist immer das Abschluss-Powwow, wenn die Studenten ihre Abschlüsse bekommen. Das ist toll!“

„Und wann ist das nächste Powwow?“

„Ach, die Saison ist eigentlich um. Das nächste ist im Oktober in der großen Arena in Rapid City. Das findet jährlich statt. Das große Black Hills Powwow oder He Sapa Wacipi. Da könnten wir ja hinfahren, wenn es dich interessiert.“

„Prima!“

Jaden war eingeschlafen und so schwiegen die beiden wieder, als Professor Overstreet nach Hause fuhr. Kaja lehnte sich zurück und beobachtete die Landschaft, die an ihr vorbeiglitt. Eine unausgesprochene Frage stand zwischen ihnen.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956070594
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Indianerroman Indianer Liebe Au-pair South Dakota Lakota Annie Stone Die Frau die vorausgeht
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Titel: Indianisch für Anfänger