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Zusammenfassung

Jeder kennt sie – die Geschichten über wagemutige Seefahrer, tragische Schiffsunglücke und blutige Meutereien. Aber was verbirgt sich hinter den Mythen um Kapitän Ahab, William Bligh und den berühmt-berüchtigten Sklavenaufstand auf der Amistad?
Dicht und hoch spannend erzählen Joachim und Susanne Wahl neun prägende Begebenheiten aus der Geschichte der Seefahrt und nehmen Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Begegnen Sie tollkühnen Abenteurern, eitlen Emporkömmlingen, grausamen Menschenschindern und wahren Helden. „Brutale See“ ist ein Buch über stolze Schiffe, nautische Meisterleistungen und mächtige Nationen. Aber vor allem ist es ein Buch über Menschen, die durch ihr Können und ihre Selbstlosigkeit, ihre Schwäche und Lasterhaftigkeit entscheidend zu dem Verlauf einiger der aufsehenerregendsten Kapitel der Seefahrtsgeschichte beigetragen haben.

Jedes Kapitel enthält eine Einführung zum Zeitgeschehen, eine Beschreibung der Schiffe und ihrer Besatzungen sowie Erläuterungen zu Motivation und Ziel der Reisen. Wer mehr über die einzelnen Ereignisse oder allgemeine Aspekte der Seefahrt erfahren möchte, findet Infokästen zu ausgewählten Themen sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Das 16. bis 19. Jahrhundert war die Zeit der großen Entdeckungsreisen und weitreichenden Kolonialisierungsbestrebungen. Die Weltmeere wurden befahren, um unbekannte Länder zu entdecken sowie neue Märkte und lukrative Handelswaren zu erschließen. Landnahme, Ausbeutung, kommerzieller Walfang und das Aufeinandertreffen von fremden Kulturen führten ebenso zu Konflikten wie die schwierigen Lebensbedingungen während monatelanger Schiffspassagen. Zivilisten, Soldaten und Matrosen waren auf engstem Raum zusammengepfercht. Es gab kaum eine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen. Das strenge Regiment, der nicht selten triste Alltag an Bord, physische und psychische Belastungen und die meist bunt zusammengewürfelten Besatzungen lieferten den Nährboden für Revolten. Dass missliebige Besatzungsmitglieder ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen wurden, war nicht nur bei Piraten üblich, und gestrandete Schiffsbesatzungen sahen sich mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Sie hatten sowohl gegen Hunger und Durst zu kämpfen als auch Auseinandersetzungen mit aggressiven Leidensgenossen und mitunter feindseligen Eingeborenen zu erwarten. So sollen bereits 1525 sämtliche Überlebenden einer bei Cape St. Helen in Florida gestrandeten, spanischen Karavelle von Ureinwohnern niedergemacht worden sein. Später eingeleitete Bergungs- und Rettungsaktionen waren nur in wenigen Ausnahmefällen von Erfolg gekrönt.

Verschiedene Ursachen

Die Archive großer Seefahrtsnationen, zum Beispiel der Niederlande, Englands, Spaniens und Portugals, sind voll mit Berichten von Schiffsunglücken, deren Ursachen und Folgen – Havarien, die durch den Verlust der Schiffe und ihrer Ladungen einen beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden darstellten und nicht selten gleich mehrere Hundert Menschen das Leben kosteten. Auslöser waren vielfach Naturgewalten, insbesondere tage- oder wochenlang anhaltende Stürme, die alleine den größten Zoll an Menschen und Material auf See gefordert haben. Daneben liest man von Monsterwellen, die noch bis vor wenigen Jahren als Seemannsgarn abgetan wurden, von Tsunamis, die durch Erd-, Seebeben oder Vulkanausbrüche verursacht wurden und von der Begegnung mit „Seeungeheuern“, die zumindest im Fall der Essex nicht gänzlich ins Reich der Phantasie verbannt werden können.

Andere Gründe für Schiffsdesaster waren technisches Unvermögen, verrottete Planken, versehentlich ausgelöste Feuersbrünste, bedrohliche Hungersnöte oder ansteckende Krankheiten an Bord, die mitunter komplette Schiffsmannschaften ins Verderben rissen. Walfänger gingen in ihren kleinen Fangbooten ein extrem hohes Risiko ein, denn der Waltran versprach enorme Gewinne. In unbekannten Gewässern lauerten Riffe nahe unter der Wasseroberfläche und die Seekarten der Zeit boten nur vermeintliche Sicherheit, denn Navigationsfehler zählten mit zu den häufigsten Gründen für den Verlust ganzer Schiffskonvois. Einige Ereignisse dieser Art mögen hier als Beispiel dienen:

Das britische Kriegsschiff Mary Rose sinkt in der im Ärmelkanal zwischen Hampshire und der Isle of Wight gelegen Meerenge Solent am 19. Juli 1545 bei ruhiger See und ohne direkte Feindeinwirkung bei der Abwehr eines französischen Flottenverbands. Die Viermastkaracke bekommt während eines Wendemanövers Schlagseite nach Steuerbord. Durch die offenen Stückpforten dringt Wasser ein. Mehr als 650 schwer bewaffnete Soldaten finden den Tod. 1968 wird das Wrack von Unterwasserarchäologen geortet, dann in mühsamer Kleinarbeit geborgen und später im Museum von Portsmouth präsentiert. Die Ausrüstungsgegenstände und Skelettreste, die im Schlick überdauert haben, sind einmalige Zeugnisse ihrer Zeit.

Am 1. April 1585 begibt sich die Santiago zusammen mit anderen Schiffen auf die Fahrt von Portugal nach Indien. Ein Sturm zerstreut die Flotte und isoliert das Schiff. Später läuft es vor der Küste von Mosambik auf ein Riff. Admiral Fernão de Mendonça und 18 weitere Männer besteigen das einzig unbeschädigte Beiboot und wollen Hilfe holen – kehren allerdings nie zurück. Ein Teil der Menschen rettet sich vorübergehend auf nahe gelegene Felsen, einige bleiben auf dem Wrack, andere ertrinken in der aufsteigenden Flut, die das Riff überspült. Um die notdürftig reparierte Schaluppe nicht zu überlasten, werden zahlreiche Personen ins Meer geworfen, so auch Fernão Ximenes, der sich anstelle seines älteren Bruders Gaspar zur Verfügung stellt, dann aber stundenlang hinter dem Boot her schwimmt und letztlich aus Barmherzigkeit doch wieder aufgenommen wird. Münzen aus dem Wrack sind noch heute im Antikhandel erhältlich.

Das fast 70 Meter lange, schwedische Flaggschiff Wasa versinkt am 10. August 1628 kurz nach seinem Stapellauf vor Stockholm. Beim Untergang des pompös ausgestatteten, aber völlig see-untüchtigen Dreimasters ertrinken etwa 50 Personen in Sichtweite des Ufers. In den Jahren von1956 bis 1961 wird das Wrack geborgen und archäologisch untersucht.

Beim Untergang der 26 Jahre alten und mit 100 Kanonen bestückten HMS Royal George, die für Reparaturarbeiten gekrängt im Spithead, dem östlichen Teil der Meerenge Solent, ankert, kommen am 29. August 1782 mindestens 800 Personen, fast die Hälfte davon Frauen und Kinder, ums Leben. Aufgrund der Seitenlage war Wasser in die Stückpforten eingedrungen. Laut Untersuchungsbericht sollen Planken, Kiel und Spanten vom Schiffsbohrwurm zerfressen gewesen sein.

Am frühen Morgen des 26. Februar 1852 läuft die Fregatte Birkenhead, ein Dampfschiff mit eisernem Rumpf, Schaufelradantrieb und Besegelung, vor Kapstadt in haiverseuchtem Gewässer auf ein Riff und sinkt innerhalb von 25 Minuten. Von den insgesamt etwa 690 Besatzungsmitgliedern, Soldaten und Passagieren überleben nur weniger als 200. Zum ersten Mal in der Seefahrtsgeschichte gilt nicht der Grundsatz „Jeder ist sich selbst der nächste“, sondern „Frauen und Kinder zuerst“. Die meisten Militärs ertrinken unter Deck im Schlaf. Ein Großteil der Soldaten des 74. schottischen Hochland-Infanterieregiments versinkt in Hab-Acht-Stellung.

Meuterei

Der Begriff „Meuterei“ ist militärischen Ursprungs und steht für gemeinschaftlich begangene Gehorsamsverweigerung, Bedrohung oder tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte. Der Sachverhalt ist heute sowohl im deutschen Wehrstrafgesetz (WStG §§ 20 ff.) wie im Seemannsgesetz (SeemG §§ 115 f.) als auch im Zusammenhang mit der Gefangenenmeuterei im Strafgesetzbuch (StGB § 121) verankert, wird rückblickend und im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch vor allem mit der Schifffahrt in Verbindung gebracht. Zu meutern heißt, die bestehende Hierarchie in Frage zu stellen. Es gilt der Grundsatz: Eine (dienstliche) Anordnung, und sei sie auch noch so sinnlos, muss ausgeführt werden – Nichtbefolgung bedeutet Meuterei. Bereits die Verabredung oder der Versuch einer Auflehnung gegenüber weisungsbefugten Personen sind strafbar. Unter Umständen genügt schon ein nur widerwillig oder zögerlich ausgeführter Befehl, um eine entsprechende Strafe zu provozieren. Und ein Schiff auf hoher See ist eine Welt für sich. Man kann sich auch bei persönlichen Animositäten kaum aus dem Weg gehen, ist im Rahmen der Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten einzelner Besatzungsmitglieder wohl oder übel aufeinander angewiesen. Das reibungslose Zusammenspiel Aller ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Mission.

Die möglichen Ursachen für eine Meuterei sind vielfältig. Dazu gehören ungenügende oder schlechte Verpflegung, unpünktlich oder zu gering ausbezahlte Heuer und über längere Zeit verwehrter Landgang. Wer meutert, greift die bestehende Ordnung an, will die Machtverhältnisse ändern, will sich nicht mit den Privilegien der Höhergestellten an Bord abfinden, kann ungerechtfertigte oder übermäßig harte Disziplinarmaßnahmen gegenüber sich selbst oder seinen Kameraden nicht ertragen oder will, aus welchen Gründen auch immer, das Schiff und/oder die geladenen Besitztümer an sich bringen – und riskiert dabei wissentlich die Todesstrafe. Das trifft dann in der Regel nicht nur die Rädelsführer, sondern auch deren Mitläufer und manchmal sogar diejenigen, die sich den Meuterern lediglich im Eifer des Gefechts angeschlossen haben, um vorerst am Leben zu bleiben. Seeleute sind genügsam, leidensfähig, fatalistisch und hart im Nehmen, meist auch religiös und bis zu einem gewissen Grad abergläubisch. Es muss also schon eine außergewöhnliche Situation eintreten, um sie dazu zu veranlassen, gegen die Obrigkeit aufzubegehren. Drei Beispiele aus der jüngeren Geschichte mögen verdeutlichen, dass auch politische Motive eine solche Aktion bewirken können:

Ende Juni 1905 soll der starke Madenbefall im Suppenfleisch der unmittelbare Auslöser der Meuterei auf der Knjas Potjomkin Tawritscheski, bekannt unter der Bezeichnung „Panzerkreuzer Potemkin“, gewesen sein. Es war allerdings ein Aufstand gegen den Zaren, dem sich unter den Aktivisten Afanasij Matjuschenko und Grigori Wakulintschuk etwa einhundert Kameraden anschlossen und der den Kommandanten und einige Offiziere des Schiffes das Leben kostete. Die Aufrührer wollen zunächst der Revolution in Odessa beistehen, gewinnen unter den Verfolgern sogar noch einige Überläufer, müssen dann aber, nach einigem Hin und Her, das Scheitern ihres Vorhabens eingestehen, setzen die Potemkin im rumänischen Konstanza eigenhändig auf Grund und erbitten politisches Asyl. Zwei Jahre später wird Matjuschenko mit einem gefälschten Pass in Russland aufgegriffen, abgeurteilt und erhängt.

Zum Ende des ersten Weltkriegs plant die Admiralität am 24. Oktober 1918 eine finale Entscheidungsschlacht der deutschen Flotte gegen die britische Royal Navy. Doch die Matrosen wollen nicht aus Gründen der Ehre verheizt werden und verweigern den Befehl. Die betreffenden Schiffe werden nach Kiel zurückbeordert, wo sich die Arbeiter mit den Seeleuten solidarisch erklären. Es kommt zur sogenannten Novemberrevolution. In deren Folge ist Kaiser Wilhelm II. letztlich zur Abdankung gezwungen. Die Weimarer Republik entsteht.

Im November 1975 übernehmen der Politoffizier Kapitänleutnant Valeri Sablin und andere Mitglieder der Führungscrew in einer unblutigen Aktion das Kommando über die sowjetische Fregatte Storoschewoi („Wächter“), um mit Hilfe der Medien auf massive Missstände im Reich aufmerksam zu machen. Ein linientreuer Offiziersanwärter kann fliehen und die Behörden über das Vorhaben informieren. Sablins Fluchtversuch nach Schweden endet vor Gotland. Er ergibt sich und wird später exekutiert. Seine Geschichte lieferte die Vorlage für den Kinofilm „Roter Oktober“ mit Sean Connery in der Hauptrolle.

Die Bounty und die Hermione

Ein Kapitän, der bereits bei geringfügigen Verfehlungen zu drakonischen Maßnahmen griff, zog zwangsläufig den Unmut seiner Mannschaft auf sich. Und dass es offensichtlich sadistisch veranlagte Schiffsführer, Offiziere und Unteroffiziere gab, die ihre Untergebenen bei jeder sich bietenden Gelegenheit drangsalierten, ist mehrfach belegt. In der Unausweichlichkeit des Schiffsalltags schien daraufhin eine Meuterei in manchen Fällen regelrecht vorprogrammiert.

Der mit Abstand berühmteste Aufstand, der in diesem Zusammenhang stets genannt wird – und deswegen auch in diesem Buch nicht fehlen darf, ist die Meuterei auf der Bounty, die sich Ende April 1789 ereignete und durch mehrere Filmklassiker als Prototyp einer von einem despotischen Kommandanten provozierten Rebellion ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Doch inzwischen ist bekannt, dass die Geschehnisse um Kapitän William Bligh und seinen Gegenspieler, Steuermannsmaat Fletcher Christian, differenzierter betrachtet werden müssen. Ersterer war zwar ein Pedant, neigte zu Jähzorn und Arroganz, war jedoch nicht der gewalttätige Tyrann, als der er gerne hingestellt wird, und letzterer war nicht die standhaft-aufrechte und vielfach gedemütigte Identifikationsfigur mit ausgeprägtem Sinn für Edelmut und Gerechtigkeit, sondern ein wahrscheinlich gestörter und äußerst labiler Charakter. Im Übrigen verlief die Meuterei auf der Bounty, ohne dass unmittelbar jemand zu Schaden gekommen wäre und ist damit die am wenigsten dramatische und harmloseste Story in diesem Buch. In ihrer Kolumne über die nachstehend kurz zusammengefassten Ereignisse auf der Hermione schrieb Annabel Venning in der Daily Mail vom 21. Februar 2009: „The mutiny which occurred onboard HMS Hermione in 1797 made the events on the Bounty appear civilised.“[1] Die Rebellion auf der Hermione gilt bis heute als die blutigste Meuterei in der Geschichte der britischen Kriegsmarine. Ein kurzer Abriss der Geschehnisse mag als Einstimmung dienen:

Die Fregatte HMS Hermione ist knapp 40 Meter lang, fast 10 Meter breit und mit 32 Geschützen bestückt. Sie läuft nach über zweijähriger Bauzeit im September 1782 vom Stapel und patrouilliert erfolgreich in der karibischen Mona Passage. Im Verband mit der HMS Renommee und der HMS Diligence nimmt sie mehrere Prisen zwischen Puerto Rico und der Dominikanischen Republik. Mit dem Oberbefehl über die 170 Mann starke Besatzung war seit Februar 1797 der inzwischen 28-jährige Hugh Pigot betraut worden. Spross einer Familie hochrangiger Marineoffiziere, der bereits zwölf Jahre zur See gefahren war, als er mit 24 zum Kommandeur der HMS Swan aufstieg und ein halbes Jahr später die HMS Success übernahm. Seit dieser Zeit eilte ihm der Ruf eines überheblichen, brutalen und skrupellosen Leuteschinders voraus. Kapitän Pigot hatte nicht nur im Schnitt alle drei Tage eine Auspeitschung angeordnet, sondern in der Regel auch ein Mehrfaches der üblichen Zahl von zwölf Schlägen verhängt – zwei seiner Untergebenen waren den Verletzungen infolge ihrer Bestrafung mit der „neunschwänzigen Katze“ erlegen.

Im September 1797 ereignen sich innerhalb weniger Tage drei Vorfälle, die das Fass zum Überlaufen bringen: Ein Matrose aus der Crew von Midshipman David Casey vergisst beim Einholen der Segel einen Reffknoten anzubringen. Casey wird daraufhin gezüchtigt und degradiert. Während eines Sturms sind die Männer in der Takelage fieberhaft damit beschäftigt, die Segel einzuholen. Da gibt der Kapitän Order, so schnell wie möglich abzuentern. Wer als Letzter an Deck erschiene, würde ausgepeitscht werden. Somit war vorhersehbar, dass es am ehesten die weit oben beschäftigten Toppgasten treffen würde, die zu den angesehensten Matrosen zählten. In ihrer Panik stürzen daraufhin drei junge Seeleute zu Tode. Pigot, davon völlig ungerührt, verhöhnt die Verunglückten abfällig als „Landratten“, eine Bezeichnung, die unter Seeleuten als schwere Beleidigung gilt und lässt sie ohne das übliche Zeremoniell über Bord werfen. Diejenigen, die es wagen, sich darüber zu beschweren, bekommen anderntags die Peitsche zu spüren.

Am späten Abend des 21. September eskaliert die Situation. Kanonenkugeln scheppern über das Deck und behindern die herbei eilenden Offiziere. Etwa zwei Dutzend Matrosen, einige alkoholisiert, fallen mit Entermessern und Beilen bewaffnet über den Kapitän her, schleudern ihn schwer verletzt ins Meer. Kurze Zeit später fallen der aufgestauten Wut der Männer noch weitere neun Männer zum Opfer, darunter der Schiffsarzt und ein erst 14-jähriger Fähnrich. Auch sie landen, zum Teil noch lebend, im Wasser. Master Southcott, Geschützmeister Searle, Zimmermann Price, Casey und der Koch Moncrief, die unter anderem zur Steuerung des Schiffes noch von Nutzen sind, werden verschont. Um sich der britischen Gerichtsbarkeit zu entziehen, segeln die Meuterer anschließend nach Venezuela, übergeben die Hermione dem spanischen Gouverneur und bitten um politisches Asyl. Den dortigen Behörden versichern sie, man habe Kapitän Pigot und die anderen Offiziere ausgesetzt – ganz so, wie etwa acht Jahre zuvor auf der Bounty verfahren worden war.

Das Schiff wird in Santa Cecilia umbenannt, zwei Jahre später im Auftrag von Admiral Sir Hyde Parker aber von den Engländern wieder zurückerobert und zuletzt unter dem Namen HMS Retribution 1805 in den Docks von Deptford abgewrackt. Die britische Marine fahndet noch längere Zeit nach den Meuterern und kann letztlich 33 von ihnen vors Kriegsgericht bringen. Casey, Southcott und einige andere werden begnadigt, 24 Männer zum Tod verurteilt und erhängt.

Jede Geschichte ist anders

In diesem Buch werden neun ausgewählte Begebenheiten aus der Zeit vom frühen 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geschildert und vor dem Hintergrund neuester Forschungsergebnisse dargestellt. Allesamt Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben und sich aus überlieferten Schriftquellen detailliert rekonstruieren lassen. Alte Logbücher, Augenzeugenberichte, Tagebücher von Beteiligten oder Berichte von Zeitgenossen liefern die Grundlage für spannende Einblicke in ein Genre, das rückblickend häufig romantisierend betrachtet wird, in Wirklichkeit jedoch von harten Lebensbedingungen geprägt war.

Jede Geschichte ist anders – einige bekannt, andere nahezu unbekannt, verschiedene haben „Geschichte geschrieben“, darstellende Künstler, Romanschriftsteller oder Filmschaffende inspiriert, manche sind im Dunkel der Historie versickert und erst später im Zuge archäologischer Entdeckungen wieder ins Blickfeld geraten. Es handelt sich weder um Piraten- oder Freibeutergeschichten noch um Begegnungen von Seekriegsverbänden. Zu beiden Themen existieren zahlreiche Publikationen. Auch sind Legende und Wirklichkeit nicht immer zu trennen.

Die vorgestellten Geschehnisse sind authentisch und beschränken sich bewusst auf die zivile Seefahrt. Die jeweiligen Akteure und Opfer sind fast durchweg namentlich bekannt. Dem Leser begegnen Personen, die real existiert und gelitten haben. Ihre Schicksale rühren an, ihre Charaktere sind so vielfältig, wie man sich Zeitgenossen überhaupt nur vorstellen kann, die Geschehnisse mitunter erschreckend oder faszinierend. Wir begegnen erbarmungslosen Psychopathen ebenso wie Menschen, die angesichts ausweglos erscheinender Situationen über sich hinaus wachsen oder seemännische Meisterleitungen vollbringen, Menschen, die versagen und resignieren, solchen, die heldenhaft und mutig agieren, aber auch solchen, deren Selbstüberschätzung oder Fahrlässigkeit Tragödien heraufbeschwören. Wir finden Kameradschaft, Souveränität und Empathie ebenso wie Verachtung, primitive Gewalt und Rücksichtslosigkeit. In Extremsituationen, wie zum Beispiel bei den Überlebenden der Essex, war Kannibalismus der letzte Ausweg, um nicht zu verhungern.

Zu jedem Kapitel gehören eine kurze Einführung zum Zeitgeschehen und der eigentlichen Motivation der Reise sowie die Beschreibung des Schiffes und der Zusammensetzung seiner Besatzung, soweit es die Archivlage erlaubt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Ablauf der Ereignisse, dem Hergang der Katastrophe beziehungsweise den Aktivitäten der Protagonisten wie auch der Schilderung dessen, was danach geschah – bis hin zur Aussendung von Suchexpeditionen, dem Aufspüren von Meuterern und deren Bestrafung, dem weiteren (beruflichen) Werdegang einzelner Beteiligter oder dem Schicksal des Schiffes. Literaturhinweise ermöglichen dem Leser eine weitergehende, intensivere Beschäftigung mit den jeweiligen Vorfällen.

Themenblöcke zu einzelnen, allgemeinen Aspekten der Schifffahrt oder den Möglichkeiten des Überlebens auf hoher See dienen einerseits als inhaltliche Trenner zwischen den Kapiteln und sollen andererseits zu einem tieferen Verständnis der vor Jahrhunderten an Bord herrschenden Bedingungen beitragen. Dem Interessenten sei insbesondere das außerordentlich facettenreiche, von Eberhard Schmitt herausgegebene, Werk „Indienfahrer 2 – Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter“ aus dem Jahr 2008 empfohlen.

Hinter den Geschichten

Wer sich mit den Hintergründen der überlieferten Geschichten näher beschäftigt, dem erschließen sich im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten. Die Reiseberichte europäischer Zeitgenossen vermitteln nicht nur die zu erwartende, ethnozentrische Sicht- und Denkweise des 16. bis 18. Jahrhunderts, sie erlauben zudem faszinierende Einblicke in mannigfache Lebensbereiche der besuchten Völker. Der Leser weiterführender Literatur entdeckt exotische Speise- und Getränkevorlieben, traditionelle Methoden von Pflanzenbau und Viehwirtschaft, ungewöhnliche Alltagspraktiken, Opfer- und Bestattungsrituale oder detaillierte Beschreibungen zur Kleidung und zum Erscheinungsbild. So erfährt er zum Beispiel von Menschenopfern, Männern, die wie Frauen lebten, weißen Mohren, archäologischen Untersuchungen an Gräbern der „Titicacarasse“, Handel mit Menschenkot, Frauen, die bessere Händler waren als Männer, dass Tabakpflanzen mit abgestandenem Urin gespritzt wurden oder die Bezeichnung „Rhinozeros“ ganz allgemein für Lasttiere verwendet wurde.

Nicht weniger bemerkenswert sind die logistischen Leistungen der Vereinigen Ostindischen Compagnie, abgekürzt VOC, die im Laufe ihrer fast zweihundertjährigen Geschichte immense Waren- und Geldströme zwischen den Niederlanden und ihren überseeischen Gebieten bewegte. Jahresberichte ihrer Handelsniederlassungen, akribisch geführte Bestell- und Lieferlisten, Schiffsjournale und Logbücher liefern detaillierte Angaben zu stattgefundenen Transaktionen. Auch die wirtschaftliche Bedeutung des Walfangs, die unmenschlichen Begleitumstände des Sklavenhandels, die Probleme der Territorialverwaltungen im Umgang mit Eingeborenen und anderes können im vorliegenden Band nur gestreift werden.

Zuständigkeiten und Hierarchie

Für den reibungslosen Ablauf einer langen Seereise mit mannigfachen logistischen, technischen und nautischen Herausforderungen, insbesondere in kritischen Situationen, war eine klare Kommandostruktur unabdingbar. Jedes Besatzungsmitglied wusste genau, wer wem was zu sagen und was er zu tun oder zu lassen hatte.

Auf den Kapitän – bei der VOC Schiffsführer oder Schipper genannt – und seinen Stellvertreter, den Obersteuermann, die vor allem für die Navigation verantwortlich waren, folgten einer bis drei Untersteuerleute. Sie veranlassten Segelmanöver und instruierten den Rudergänger. Zur mittleren Führungsebene gehörten der Hochbootsmann, quasi ein Obermatrose, der zweite Bootsmann, auch als Schiemann bezeichnet, die sich mit ihren Maats und Gehilfen um die Takelage, Tau- und Blockwerk, Anker, Pumpen, Laden und Löschen oder das Teeren des Schiffes zu kümmern hatten.

Mit speziellen Aufgaben betraut waren der Krankentröster, der sonntags eine Predigt las und sich um das Seelenheil der Männer bemühte, während der Oberchirurg mit seinen Assistenten die leibliche und medizinische Versorgung der Kranken und Verwundeten sicherstellte, oder der Konstabler, zuständig für die Schiffsartillerie, das Trockenhalten des Pulvers und Vorgesetzter der Kanoniere. Weitere Sonderfunktionen erfüllten der Bottelier, der die Essensrationen austeilte und dafür sorgen musste, dass die Vorräte nicht verdarben; häufig mehrere Böttcher zum Anfertigen und Instandhalten von Fässern, Zubern und Eimern sowie der Quartiermeister mit Aufsicht über die Wachablösung, den Ausguck, das Aussetzen der Beiboote und beim Landgang. Und nicht zuletzt der Koch mit seinen Küchenjungen, die festgesetzte Zeiten zu beachten hatten; der Profos, der den Wachwechsel ausrief und Disziplinarstrafen vollzog; der Schiffskorporal zur Pflege der Handwaffen; ein Trompeter und weitere Handwerker wie Segelmacher, Schmied sowie ein halbes Dutzend Zimmerleute, die als „Müßiggänger“ keine Wache gehen mussten. Am unteren Ende der Hierarchie standen die Matrosen, die weniger erfahrenen Jungmatrosen und ganz unten mehrere Dutzend Schiffsjungen, kaum älter als zwölf bis vierzehn Jahre und ständig mit Reinigungsarbeiten beschäftigt.

Zur Besatzung der VOC-Schiffe gehörten außerdem Beamte der Kompagnie, die vor allem die Interessen ihrer Auftraggeber im Blick hatten. Der Oberkaufmann stand sogar noch über dem Kapitän und konnte diesem, auch ohne jegliche seemännische Erfahrung, Weisungen erteilen. Ihm zugeordnet waren ein Unterkaufmann sowie Buchhalter und Assistenten, die den Warenverkehr protokollierten, Journale führten und Berichte verfassten. Dazu kamen Soldaten, deren Kommandeur zwar in der Offiziersmesse speiste, dem Schiffspersonal aber nichts zu sagen hatte, die neben der Bewachung von Kapitänskajüte und Konstablerkammer oder gelegentlichem Exerzieren während der Fahrt nicht weiter beansprucht waren. Sie wurden, wie die Kaufleute, für mindestens fünf Jahre zum Dienst nach Übersee geschickt. Die meisten von ihnen überlebten diese Zeit nicht, viele starben an Tropenkrankheiten. Nur etwa 30 % sahen ihre Heimat jemals wieder.

Organisation und Anspruch

Eine Seereise, bei der Hunderte von Menschen unterschiedlichster Funktion, Herkunft und sozialer Stellung für längere Zeit auf engstem Raum zusammengepfercht leben müssen, bedarf fester Regeln. Auf den Handelsschiffen der VOC heuerten im 18. Jahrhundert im Schnitt über 50% Ausländer an. Doch nur wenige Besatzungsmitglieder hatten Anspruch auf etwas Intimsphäre. Lediglich den höheren Diensträngen, oberen Funktionsträgern oder vornehmeren Passagieren standen eigene Kajüten zu – die besten Quartiere dem Kapitän und dem Oberkaufmann. Steuerleute, Unterkaufmann, der oberste VOC-Assistent sowie betuchte Privatpersonen erhielten in der Regel ebenfalls separate Kabinen, die Schreiber Gemeinschaftsunterkünfte. Allesamt im Heck gelegen. Ihnen und ihren Bediensteten war zudem der Decksbereich achtern des Großmastes vorbehalten, wo sich der Seegang weniger auswirkt. Die feine Gesellschaft speiste auf Zinngeschirr, mit Servietten und Tischtüchern, Stewards reichten den Wein aus eigenen Vorräten. Der Kommandeur der Soldaten und der Krankenbesucher aßen ebenfalls in der Offiziersmesse, der Konstabler in seiner Kammer, die Bootsleute und der Schiffskorporal in der Back, wo ihnen immerhin noch eine doppelte Getränkeration zustand.

Die Soldaten, die zum Dienst in der Niederlassung abkommandiert waren, wurden auf dem Orlop-Deck einquartiert, das auf der Rückfahrt als Warenlager diente, und durften nur zu bestimmten Zeiten an Deck. Sie, wie auch die Matrosen, wurden in sogenannte Packe, Tische oder Messen zu sieben bis acht Mann eingeteilt, von denen jeweils einer für eine Woche für Essenholen und Abwasch zuständig war. Sie aßen mit Holzgeschirr zwischen ihren Seekisten und Schlafmatten kauernd. Den weniger privilegierten Passagieren wurde das Zwischendeck zugewiesen. Um Ärger zu vermeiden, achtete man darauf, sie von den Besatzungsmitgliedern mit niederen Diensträngen fernzuhalten. In den Augen der Seeleute waren sie lediglich Platzhalter für die spätere Fracht, zudem ansonsten lästig, da zu Beginn der Schiffsreisen jämmerlich das Deck verunreinigend und ständig im Weg stehend, später neugierig und ständig meckernd.

Wichtige Entscheidungen an Bord traf der Schiffsrat, dem neben dem Schipper, Obersteuermann und Hochbootsmann auch der Ober- und Unterkaufmann sowie, bei entsprechendem Dienstrang, der Kommandeur der Soldaten angehörten. Hier wurde nicht nur beschlossen, ob unterwegs weitere Häfen angesteuert werden sollten, sondern auch Disziplinarstrafen ausgesprochen. Fuhren mehrere Schiffe im Konvoi, gab es einen übergeordneten Breiten Rat.

Obwohl der Oberkaufmann mit 80-100 Gulden monatlich mehr verdiente als der Kapitän und gut das Doppelte seines Stellvertreters, wurden hochrangige Kompagnie-Angestellte immer wieder wegen Schmuggels und Selbstbereicherung überführt. Buchhalter kamen mit circa 20 Gulden auf dasselbe Lohnniveau wie Konstabler, Koch, Hochboots- und Unterzimmermann, ein einfacher Matrose auf elf und ein Schiffsjunge auf fünf Gulden.

Themenkasten 1

Skorbut – Mit Zahnfleischbluten fängt es an

Die Anzeichen von Skorbut, auch „Scharbock“, „Faulfieber“ oder „Seepest“ genannt, einer Krankheit, die auf länger andauernden Vitamin C- beziehungsweise Ascorbinsäuremangel zurückzuführen ist, waren schon bei Seeleuten der Antike gefürchtet. Erste Symptome sind Blutungen und Schwellungen des Zahnfleischs, Durchfall, Fieber, Zahn- und Haarausfall. Dann kommen Gelenkentzündungen sowie Geschwüre an Unterschenkeln und Füßen hinzu. Skorbutgeschädigte Knochen sind anfälliger für Frakturen, Wunden heilen schlecht, das Immunsystem wird zunehmend schwächer. Gewebeeinblutungen führen zu anämischen Zuständen und in fortgeschrittenem Stadium folgen Muskelatrophie, Blindheit, Halluzinationen und Tod durch Herzversagen.

Die Holländer wussten solch dramatischen Verläufen bereits Ende des 16. Jahrhunderts durch die gezielte Verabreichung von Zitrusfrüchten zu begegnen. Gerrit de Veer, unter Kapitän Jacob van Heemskerck und Obersteuermann Willem Barentsz mitfahrender Handelsvolontär und Überlebender der 1596/97 gescheiterten Suche nach einem nördlichen Seeweg nach Indien, erwähnt in seinem Bericht aus dem Jahr 1598 mehrfach die segensreiche Wirkung des Löffelkrauts. Als weitere – mehr oder weniger wirksame – Gegenmittel galten Essig, Wein, aus Fichten- und Kieferntrieben gebrautes „Sprossenbier“, Zwiebeln, Knoblauch, Rüben, Kresse, Petersilie, Sellerie, Sauerampfer oder Obst in jeglicher Form. Der berühmte Entdecker James Cook schwor bei seiner zweiten Weltumsegelung 1776 insbesondere auf die Wirkung von Malzextrakt und Sauerkraut im Verbund mit ausreichend Frischwasser sowie regelmäßigen Reinigungsmaßnahmen an Bord.

Die bei ausgewogener Ernährung verfügbare, körpereigene Vitamin C-Reserve eines Erwachsenen reicht circa zwei bis drei Monate aus. Spätestens dann gilt es, wieder Frischobst oder -gemüse zuzuführen – was bei Passagen, die oftmals ein halbes Jahr oder länger dauerten, nicht immer einfach zu bewerkstelligen war. Bei entsprechender Versorgung besserte sich der Zustand der Betroffenen nach fünf bis zehn Tagen zusehends.

Auch wenn die Kapitäne stets danach trachteten, ihre Vorräte unterwegs aufzufrischen, finden sich in den Logbüchern immer wieder Eintragungen, wonach große Teile der Schiffsbesatzung oder Passagiere infolge des Scharbocks arbeitsunfähig wurden oder starben. Von der Etoile, die Anfang September 1768 auf ihrer Fahrt nach Borneo auf den Molukken ankerte, wird berichtet, dass die gesamte Mannschaft von Skorbut befallen, die Hälfte davon schwer erkrankt und der Schiffsmeister bereits gestorben waren. Fast zwanzig Jahre später waren auf der Nootka im Prinz William Sound nur der Kapitän und zwei Matrosen noch einsatzbereit, 22 Besatzungsmitglieder dem Scharbock erlegen. Nach einem erfolgreichen Reihenversuch des schottischen Schiffsarztes James Lind ordnete die britische Admiralität Ende des 18. Jahrhunderts für ihre Seeleute die regelmäßige Gabe von Zitronensaft an.

Kapitel 1
Die Nieuw Hoorn 1619 – Explosion an Bord

Der geschichtliche Hintergrund und die „VOC“

Die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war in Europa eine Zeit politischer, geistiger und wirtschaftlicher Umwälzungen. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 war zwar die Gleichberechtigung zwischen Anhängern der Reformation und Katholiken anerkannt worden, aber die interkonfessionellen Konflikte schwelten weiter und mündeten schließlich 1618 in den Dreißigjährigen Krieg, eines der verheerendsten Ereignisse auf europäischem Boden. Die Konflikte mit den Türken, die Siebenbürgen und Ungarn besetzt hatten, führten 1593 in einen Krieg, der bis 1606 andauerte. Gleichzeitig war der Freiheitskampf der Niederlande gegen die Herrschaft Spaniens in ein neues Stadium getreten, nachdem sich die nördlichen Provinzen Holland, Seeland, Utrecht, Friesland und andere 1579 zu einer Union zusammengeschlossen und zwei Jahre später für unabhängig erklärt hatten. Die Grenzkonflikte zu den weiterhin spanisch dominierten Südprovinzen konnten vorläufig 1609, aber endgültig erst 1648 befriedet werden. Die Republik der Vereinigten Niederlande entwickelte sich nun zu einer ernst zu nehmenden Wirtschaftsmacht, ging auf Konfrontationskurs zu den Spaniern, Portugiesen und Engländern, die den lukrativen Überseehandel bislang kontrolliert hatten und steuerte die Gewürzinseln direkt an. Die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten wurden sowohl in den Kolonialgebieten selbst als auch unterwegs auf See immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen ausgefochten.

Den Seeweg nach Indonesien um die Südspitze Afrikas herum hatten zuerst die Portugiesen gefunden. Ende des 16. Jahrhunderts organisierten dann niederländische Kaufleute mit hohem Gewinn eigene Handelsreisen, unter anderem nach Banten auf Java, zu den Molukken und Banda-Inseln – zwischen 1595 und 1599 mehr als ein Dutzend Fahrten, für die jeweils eigene Handelsgesellschaften gegründet worden waren. Der erste Konvoi stand unter Leitung von Cornelis de Houtman, nach dessen Bruder Frederic de Houtman 1619 die Houtman-Abrolhos vor der Westküste Australiens benannt worden waren[2]. Die niederländischen Unternehmer stellten alsbald fest, dass die Konkurrenz untereinander unnötige Ressourcen band. Nach längeren Verhandlungen – Einfluss, Proporz und Zuständigkeiten betreffend – wurde daraufhin am 20. März 1602 die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) ins Leben gerufen. Eine Aktionärsgesellschaft mit einem Gründungskapital von umgerechnet drei Millionen Euro und föderaler Struktur, die, gegen entsprechende Abgaben, von staatlicher Seite nicht nur mit einem Handelsmonopol für das Gebiet zwischen dem Kap der guten Hoffnung und der Magellanstraße versehen, sondern auch mit uneingeschränkten Hoheitsrechten für diese Regionen ausgestattet wurde. Damit verband sich das Privileg zur Ernennung von Gouverneuren, zum Bau von Handelsniederlassungen, Siedlungen und Festungsanlagen sowie zur Unterhaltung von Armeeeinheiten. Ebenso das Mandat zum Abschluss von Verträgen mit örtlichen Landesfürsten oder der Durchführung militärischer Operationen zur Durchsetzung eigener Ansprüche. Die VOC, seinerzeit auch gelegentlich personifiziert als „Jan Kompanie“[3] bezeichnet, konnte demnach in den überseeischen Gebieten wie ein eigener Staat agieren. Geleitet wurde sie von einem Gremium mit Hauptsitz in Amsterdam, dem die Direktoren der Kammern, die ihre jeweiligen Gesellschaften vertraten, angehörten – aufgrund ihrer Anzahl die „Heeren XVII“ genannt[4] –, die gleichzeitig auch als Teilhaber involviert waren. Aktien gezeichnet hatten Vertreter aller Einkommensschichten vom Dienstpersonal bis zum Topverdiener.

Die VOC kontrollierte zu ihrer Blütezeit ab der Mitte des 17. Jahrhunderts nahezu den gesamten Warenverkehr zwischen Asien und Europa, mischte im innerasiatischen Handel mit und hatte zu dieser Zeit bereits 17.000 Soldaten sowie 12.000 Seeleute unter Vertrag. Sie betrieb etwa dreißig Handelsstationen in Übersee, unter anderem auf Ceylon, Taiwan, Sumatra, Celebes und den Molukken in Indien, Bengalen, Thailand und Japan und vertrieb Pfeffer, Muskatnüsse, Nelken und Zimt, später verstärkt Textilien, Silber, Kaffee, Tee, Salpeter, Farbstoffe wie Indigo und Zinnober, Luxusgüter wie japanische Lackarbeiten und chinesisches Porzellan. Ihre Hauptniederlassung in Ostindien gründete sie 1619 auf der indonesischen Insel Java durch einen Festungsbau an dem Ort, der bis dato Jacarta hieß und nannte die Stadt fortan Batavia. Diese wurde Sitz von Generalgouverneur Jan Pieterzoon Coen van Hoorn mit absoluter Herrschaftsgewalt und des Hohen Rats, dem die obersten Vertreter der VOC sowie die ranghöchsten Militärs der Garnison vor Ort angehörten. Dieser Rat koordinierte sämtliche Aktivitäten der VOC in Asien, war lediglich den Herren XVII Rechenschaft schuldig und zudem für anhängige Gerichtsverfahren zuständig. Wie an anderen Standorten auch entstanden Hafenanlagen, Marktplätze, Kirchen, Hospitäler und wehrhafte Forts. Um die Jahrhundertwende lebten in Batavia bereits 70.000 Menschen.

Das Handelsimperium der VOC erlitt im Verlauf des 18. Jahrhunderts deutliche Risse. Infolge steigender Verwaltungskosten, veränderter Kundenwünsche, dem Erstarken konkurrierender Nationen und politischer Veränderungen, wie zum Beispiel dem vierten Niederländisch-Englischen Krieg 1780-1784 und den napoleonischen Kriegen zwischen 1795 und 1806, wurde sie, fast zweihundert Jahre nach ihrer Gründung, zum Jahresende 1799 offiziell liquidiert. Während dieser Zeit sind Schätzungen zufolge Waren im Gegenwert von über einhundert Milliarden Euro umgesetzt und auf den VOC-Werften mehr als 1500 Schiffe unter Segel gesetzt worden. Die astronomischen Gewinne der Großaktionäre wurden sogar durch die stets allgegenwärtige und bei einer derart weit verzweigten Organisationsform kaum kontrollierbare Korruption ihrer Bediensteten nur unwesentlich geschmälert. Mitnahmeeffekte und mannigfache Gelegenheiten zur Selbstbereicherung hatten es nicht wenigen VOC-Angestellten erlaubt, sich mit einem erklecklichen Vermögen zur Ruhe zu setzen.

„Denkwürdige Beschreibung der Ost-Indischen Reise …

… von Willem Ysbrantsz[5] Bontekoe van Hoorn“ lautet der Titel des 1646 erschienenen Journals eines der bekanntesten niederländischen Kapitäne, die für die VOC in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tätig waren. Aber erst der Untertitel seines Berichts lässt erahnen, dass der „Schipper nebst Gott“, wie sich die Schiffsführer seinerzeit ebenfalls zu nennen pflegten, tatsächlich Außergewöhnliches erlebte: „Ergreifende, höchst wunderliche und gefährliche Dinge, die ihm widerfuhren“[6]. Das Bildnis des damals 59-jährigen zeigt einen älteren Herrn mit hoher Stirn, tiefen Stirnfalten, vorstehenden Wangenknochen, markanter, schmaler Nase, Schnauzer und Kinnbart. Seine Reise hielt ihn fast sieben Jahre von zu Hause fort. Obwohl auf Tagebüchern des Protagonisten basierend, steht zu vermuten, dass sein Verleger Jan Jansz. Deutel aus Leiden den Bericht noch stilistisch überarbeitet, dem Zeitgeist entsprechend dramatisiert und Schipper Bontekoe ein besonders hohes Maß an Gottvertrauen in den Mund gelegt hat.

Ein Eintrag im Taufregister der reformierten Gemeinde der holländischen Stadt Hoorn weist für den 27. Juni 1587 seinen Vater als Ysbrant Willemsz. van Westsanen aus. Den Namen Bontekoe legte sich die Familie erst später zu – in Anlehnung an die Darstellung einer schwarzbunten Kuh, die den Giebel ihres Hauses in der Veermanskade 15 schmückte. Willem soll mindestens neun Geschwister gehabt haben, darunter zwei Brüder, die, wie sein Vater, ebenfalls als Schipper tätig waren. Ansonsten ist über seine Familie wenig bekannt. Bevor er mit 31 Jahren bei der VOC verpflichtet wurde, war er als Handelsschiffer in Diensten seiner Vaterstadt unterwegs. Im August 1617 war sein Schiff De Bontekoe, mit einer Holzladung in die Levante beordert, von algerischen Piraten[7] aufgebracht und den befeindeten Spaniern ausgeliefert worden. Da gerade ein Waffenstillstand mit den Niederlanden ausgehandelt worden war, kamen der Schipper und seine Mannschaft gegen Zahlung von Lösegeld frei. Die Herren XVII übertrugen ihm das Kommando über die Nieuw Hoorn mit dem Auftrag, von Generalgouverneur Jan Pietersz Coen in Ostindien angefordertes Kriegsmaterial nach Batavia zu transportieren. Die VOC war von dort aus ständig bestrebt, ihre Handelsbeziehungen, nötigenfalls mit Gewalt, auszubauen.

Bontekoe ist furchtlos, zupackend, den ihm anvertrauten Männern gegenüber fürsorglich und verantwortungsbewusst, belesen[8], manchmal aber auch ein bisschen dickköpfig und lässt – im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen – gegenüber den Eingeborenen, denen er begegnet, bisweilen sogar ein gewisses Verständnis durchblicken. Der im Auftrag der Kammer von Hoorn ebendort auf Kiel gelegte, nagelneue Dreimaster Nieuw Hoorn hat eine Ladekapazität von 350 Lasten[9] und ist ein mittelgroßes Retourschiff mit typischem Spiegelheck, zwei Beibooten und üblicher Bestückung zur Abwehr von Seeräubern. Der oberste VOC-Vertreter an Bord ist Oberkaufmann Heyn Rol. Außer ihm und dem Schipper nehmen 204 Mann an der Reise teil.

Die ersten Monate auf See

Am 28. Dezember 1618 legt die Nieuw Hoorn von Texel, 18 Meilen vor Amsterdam gelegen, ab. Ihr Ziel ist Bantam, ihre Fracht besteht aus 56.000 Silbermünzen, die für die Unternehmungen der Compagnie in Übersee, wie zum Beispiel den Ausbau der Infrastruktur oder den Ankauf neuer Ware, die Entlohnung der Angestellten, insbesondere aber auch als Bestechungsgelder für diverse Lokalfürsten gedacht sind, und 360 Fässer mit Schießpulver als Nachschub für die Garnison vor Ort beziehungsweise die in der Region operierenden Schiffe und Soldaten. Bereits Anfang Januar gerät das Schiff in einen heftigen Sturm, der zwei Wochen lang anhält. Stehendes Wasser auf dem Oberdeck zwingt die Matrosen, ihre aufschwimmenden Seekisten zu zertrümmern, da diese beim Ausschöpfen im Weg sind. Am Großmast zeigt sich ein gefährlicher Riss, aber es gelingt, ihn mit Hilfe einer Stenge durch das Hauptdeck hindurch behelfsmäßig zu wangen – ansonsten hätte die Reise bereits hier ihr vorläufiges Ende gefunden. Kurz darauf kommen die Enchuysen und die Neu-Zeelandt in Sicht, die Richtung Koromandelküste beziehungsweise Java unterwegs sind. Man tut sich zusammen und der kleine Konvoi nimmt Kurs auf die Kanaren. In einer Kalme treibt die Nieuw Hoorn von den anderen ab zur Ilha del Fogo, einer der Kapverdischen Inseln, die zu dieser Zeit von Spanien besetzt ist. Doch der Landgang zur Auffrischung von Proviant und Wasservorräten scheitert im Kugelhagel ihrer Feinde. Unterdessen muss der Großmast durch Anlegen einer aufgesägten Spiere erneut verstärkt werden. Bontekoe notiert, dieser sei nun „fast so dick, wie eine Kirchensäule“. Die drei Schiffe finden erneut zueinander und so erfährt der Schipper, dass die anderen auf der Ilha de Mayo ebenfalls unter Beschuss geraten und dabei zwei Seeleute ums Leben gekommen sind.

In Äquatornähe wechseln sich unstete Winde und Flauten ab, es dauert Wochen, bis die kleine Flotte bei den Abrolhos vor der brasilianischen Küste beidrehen und Kurs auf das Kap der guten Hoffnung nehmen kann. Mit steifem Westwind im Rücken entschließen sich die Schipper dann jedoch, entgegen den Vorgaben der VOC, das „Kap de Bonesperance“ nicht anzulaufen. Noch sind keine Versorgungsprobleme an Bord aufgetreten. Doch das soll sich bald ändern. Die Enchuysen hält sich nun Richtung Nordost und der Kapitän der Neu-Zeelandt kann sich mit Bontekoe nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen, die Nieuw Hoorn ist wieder solo unterwegs. Die Überquerung des Indischen Ozeans steht bevor, Skorbut bricht aus. Mehrere Dutzend Männer erkranken. Kurze Zeit später liegen bereits 40 von ihnen arbeitsunfähig in ihren Kojen. Bontekoe bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, Madagaskar anzusteuern. Aber starke Brandung verhindert die Landung. Inzwischen sind einige der Kranken gestorben. Das Schiff erreicht die unbewohnte Insel Maskarinas nahe Mauritius.

Trotz Rols Bedenken lässt der Schipper die stark geschwächten Männer an Land bringen. Zu deren Versorgung findet die Mannschaft alles, was das Herz begehrt: Tauben, Papageien und Gänse im Überfluss, Landschildkröten, die mit Trockenpflaumen gekocht werden und deren ausgelassenes Fett sich bestens zum Braten des Federviehs eignet. Bei der Vogeljagd büßt Obersteuermann Jan Piet ein Auge ein, als der Lauf und der Schaft seiner Flinte beim Schuss auseinander fliegen. Fische, Aale sowie Kokos- und „Zuckerpalmen“ ergänzen den üppigen Speiseplan. Nach drei Wochen, die nebenbei genutzt wurden, um das Schiff zu kalfatern und durchzulüften, sind die meisten wieder genesen. Man nimmt Proviant auf, unter anderem etwa 100 Schildkröten und in Essig eingelegten Fisch. Nächste Station ist die Insel Sancta Maria nahe Madagaskar.

Hier wird die Besatzung freundlich empfangen und mit jeder Menge Obst versorgt. Die Eingeborenen tauschen Schafe, Kälber und Reis gegen Glasperlen, Löffel und kleine Glocken. Bontekoe hält fest, dass sie scheinbar Ochsenköpfe anbeten – „ohne Sinn für den wahren Gott“. Die Besatzung krängt das Schiff und reinigt dessen Rumpf vom anhaftenden Muschelbelag. Dann geht es in südöstlicher Richtung weiter und auf 33° südlicher Breite mit kontinuierlichem Westwind über den Indischen Ozean, um die übliche Route wieder aufzunehmen.

Ein Missgeschick und eine fatale Kettenreaktion

Um in die Sundastraße einfahren zu können, galt es, rechtzeitig nach Nordost abzudrehen. Doch die Nieuw Hoorn scheint etwas vom Kurs abgekommen zu sein. Am Nachmittag des 19. November 1619 befindet sie sich rund 80 Meilen von Sumatra entfernt auf etwa 5,5° südlicher Breite. Botteliersmaat Keelemeyn ist gerade damit beschäftigt, Branntwein abzuzapfen, um davon anderntags jedem Seemann seine übliche Ration austeilen zu können[10]. Um in dem dunklen Laderaum besser sehen zu können, hat er den mitgebrachten Kerzenhalter fest in den Boden des darüber liegenden Fasses gesteckt. Beim ruckartigen Herausziehen des Halters passiert das Unglück: ein Stück brennender Docht[11] fällt versehentlich genau in das Spundloch des Fasses. Der Alkohol fängt augenblicklich Feuer, das Fass zerspringt. Sofort wird mit reichlich Wasser gelöscht und die Angelegenheit scheint noch mal glimpflich ausgegangen zu sein. Aber eine halbe Stunde später wird erneut Feueralarm gegeben – der brennende Branntwein war nach unten geflossen und hatte die dort lagernde Schmiedekohle entzündet. Jetzt schlagen die Flammen empor. Sofort werden Eimerketten gebildet, um so viel Wasser wie möglich heranzuschaffen. Die gesamte Besatzung ist in Aufregung, der Schipper packt an vorderster Front mit an. Doch die glühenden Kohlen verursachen eine extrem starke Rauchentwicklung. Die Männer können im Zwischendeck kaum etwas sehen, stinkend schwefliger Qualm nimmt ihnen den Atem.

Bontekoe schickt sie zwischendurch nach oben, befürchtet, einige könnten bereits erstickt sein. Um noch mehr Wasser ins Innere zu bringen, werden Löcher ins Hauptdeck geschlagen.

Inzwischen arbeiten sich die Flammen bedrohlich an die Pulvervorräte heran. Der Schipper will die Fässer schleunigst über Bord gehen lassen, doch Rol verweigert seine Zustimmung. Auf diese Weise könne man zwar das Schiff retten, hätte dann allerdings einem feindlichen Angriff nichts mehr entgegenzusetzen. Unter den Seeleuten macht sich zunehmend Panik breit. Einige sind schon in die Barkasse geflüchtet, die die Nieuw Hoorn im Schlepptau hat. Jetzt wird auch die Schaluppe vom Oberdeck noch zu Wasser gelassen. Immer mehr Besatzungsmitglieder setzen sich ab. Auf Zuruf klettert nun auch der Oberkaufmann am Fallreep herunter, will die Männer in der Barkasse dazu bewegen, auf Bontekoe zu warten, doch die hören nicht auf ihn – kappen die Taue und rudern vom brennenden Schiff weg. Der Schipper hatte in der Hektik unter Deck nichts bemerkt, hastet nach oben und ist stinksauer, lässt das aufgegeite Großsegel anbrassen und will den Flüchtigen in seiner Wut über den Leib wegsegeln[12]. Die Nieuw Hoorn kommt den beiden Booten näher – da spitzt sich die Lage auf dem Schiff erneut zu.

Bontekoe und die Zimmerleute klettern über die Reling und versuchen, Löcher in den Rumpf zu bohren, wollen den Kielraum zwei bis drei Meter voll laufen lassen, um endlich dem Feuer Einhalt zu gebieten. Doch die Bordwände sind mit Metallplatten beschlagen. Gleichzeitig werden nun fieberhaft Pulverfässer ins Meer geworfen, doch das geht nicht schnell genug. Unmengen von Wasser sind schon in den Laderaum geschüttet worden, aber es hilft nichts. Mit dem nunmehr ebenfalls in Brand geratenen Öl breiten sich die Flammen noch schneller überallhin aus. Es passiert das Unausweichliche: Die restlichen 300 Pulverfässer detonieren in einer gewaltigen Explosion und zerreißen das Schiff in zigtausend Stücke. In diesem Moment sind noch rund 120 Menschen an Bord, etwa die Hälfte davon zusammen mit dem Schipper auf der Back[13]. Sie werden „hinweg gerissen und zu Brei geschlagen“. Bontekoe schickt ein Stoßgebet gen Himmel, fliegt durch die Luft und findet sich wenige Augenblicke später inmitten der Trümmer auf dem Wasser treibend wieder. Neben ihm der Großmast, an dem er sich festklammert. Mit „zerschundenem“ Rücken und zwei Kopfwunden hat er das Inferno überlebt.

Eben verschafft sich der Schipper noch ein Bild von der Lage, da taucht in seiner Nähe Harmen von Kniphuysen auf. Dem Jungmatrosen gelingt es, auf einen Teil des Vorderstevens zu klettern und Bontekoe mit Hilfe einer Spiere zu sich zu bugsieren. Während die Sonne untergeht, nähern sich die beiden Boote der Unglücksstelle. Harmen kann sich schwimmend retten, doch der verletzte Schipper muss mit Hilfe eines Seils zur Schaluppe gezogen werden.

Nach zwei Wochen Land in Sicht

Von den ursprünglich 206 Männern an Bord sind noch 72 am Leben. Neben Bontekoe, Rol und Harmen konnten sich unter anderen Obersteuermann Piet, Untersteuermann Meyndert Krijnsz, Schiffszimmermann Teunis Ysbrantsz sowie der Barbier und Schiffsarzt und der Prediger retten. Gegen den Rat Bontekoes, vorerst in der Nähe der Trümmer zu bleiben, um bei Tagesanbruch eventuell noch umher treibende Lebensmittel auffischen oder vielleicht sogar einen Kompass bergen zu können, gibt der Oberkaufmann die Anweisung loszurudern. Bei Helligkeit erweist sich diese Aktion als schwerer Fehler. Außer zwei kleinen Wasserfässchen und acht Pfund Zwieback stehen den Überlebenden keine weiteren Vorräte zur Verfügung. Es ist abzusehen, dass sie damit nur wenige Tage bestehen können. Die Männer müssen nun voll und ganz den Fähigkeiten ihres Schippers vertrauen, der infolge seiner Verletzungen ziemlich in Mitleidenschaft gezogen ist.

Bontekoe ordnet umgehend an, die Hemden auszuziehen und daraus Segel zu nähen. Als Garn dient ein aufgespleißtes Tau. Er bastelt sich einen Kreuzstab sowie einen Gradbogen, ritzt eine Windrose und eine grobe Seekarte in den Boden des Bootes und orientiert sich nach dem letzten Besteck auf der Nieuw Hoorn. In der Nacht dienen die Sterne als zusätzliche Navigationshilfe. Schon wenig später gibt es nichts mehr zu essen und etwas zu trinken nur sporadisch in Form von Regenwasser. Die Männer leiden erbärmlich und werden zunehmend schwächer. Kein Land weit und breit. Um nicht voneinander getrennt zu werden und gemeinsam dem Tod ins Auge zu blicken, werden als nächstes die Seeleute aus dem kleinen Boot mit ins größere genommen. So können jetzt insgesamt 30 Riemen und mehrere Segel eingesetzt werden. Doch die Verzweiflung wächst. Dass sich einmal ein paar Möwen und fliegende Fische in die Reichweite der Männer verirren, bringt nur vorübergehende Linderung. Sie werden im Rohzustand herunter geschlungen. Gegen das Durstgefühl kämpfen die zunehmend kraftlosen Männer, indem sie Flintenkugeln lutschen, Meerwasser oder ihren eigenen Urin trinken. Sie sind kurz davor, das letzte Tabu zu brechen. Die Männer diskutieren darüber, erst den Schiffsjungen zu verspeisen, danach den Würfel entscheiden zu lassen. Bontekoe ist entsetzt und kann ihnen noch eine Dreitagesfrist abringen, um bis dahin endlich auf Land zu stoßen.

Das Schicksal will es, dass sie am letzten Tag tatsächlich eine Insel – möglicherweise Sumatra –sichten und trotz bedrohlicher Brandung in einer kleinen Bucht an Land gehen können. Die Männer machen sich über die am Strand wachsenden Kokosnüsse her, verzehren sie in solchen Mengen, dass sie allesamt heftige Bauchschmerzen und starken Durchfall bekommen. Gegen Abend finden sie einen Lagerplatz an einer Flussmündung weiter östlich, nachdem die Schaluppe in der Brandung fast voll gelaufen wäre. Mit den dort wachsenden Bohnen ergeht es ihnen ähnlich wie zuvor mit den Steinfrüchten. Gegen Abend werden sie von gewaltigem Bauchgrimmen geplagt. Zudem nähert sich ein gefährlich großer Trupp Eingeborener, dem sie außer einem rostigen Degen und zwei Äxten nichts entgegenzusetzen haben. Doch das wissen die Insulaner nicht. Bontekoe und seine Männer rennen mit Fackeln bewaffnet auf die Einheimischen zu und können sie auf diese Weise vorerst in die Flucht schlagen.

Dramatische Situationen

Nach einer schlaflosen Nacht nimmt eine kleine Abordnung, darunter auch der unglückselige Keelemeyn, Kontakt mit den Eingeborenen auf. Diese nutzen die Gelegenheit, die Bewaffnung der Gestrandeten auszukundschaften, doch der Schipper hat vorausschauend die Schaluppe mit den Segeln abdecken lassen und kann so ein vermeintliches Depot an Schusswaffen vortäuschen.

Die Insulaner zeigen sich daraufhin etwas moderater und versorgen die Männer gegen Bezahlung mit Hühnern und Reis. Bontekoe entschließt sich, zusammen mit vier Begleitern und einigen Insulanern in deren Piroge flussaufwärts ins nächste Dorf zu fahren, um weitere Nahrungsmittel für seine Leute zu beschaffen. Er genießt die Gastfreundschaft der Menschen und lässt die erworbenen Vorräte gleich zu seinen Leuten an den Strand bringen. Zuletzt ersteht er noch einen Büffel für fünfeinhalb Realen. Da sich das Tier aber nicht gleich bändigen lässt, bieten sich seine Begleiter an, über Nacht bei den Einheimischen zu bleiben und es am nächsten Tag ins Lager zu bringen. Der Schipper selbst begibt sich zur Piroge, verspürt jedoch, dass ihm starkes Misstrauen entgegenschlägt. Unbewaffnet und mit größtem Unbehagen setzt er sich zu zwei Eingeborenen in das Boot flussabwärts. Beide tragen einen Kris mit 30 bis 40 Zentimeter langer, geflammter Klinge an der Hüfte. Unterwegs nötigen sie ihm eine Extrabezahlung ab. Sie gestikulieren wild und Bontekoe schwant nichts Gutes.

In seiner Not beginnt der Schipper aus vollem Halse zu singen, was die Insulaner offensichtlich aus dem Konzept bringt. Das Überraschungsmoment funktioniert. Sie setzen Bontekoe, der weiter seine Choräle schmettert, am Lager der Seeleute ab. Die folgende Nacht vergeht ohne besondere Zwischenfälle, aber am Morgen spitzt sich die Lage wieder zu. Die vier im Dorf gebliebenen Männer sind noch nicht zurück, zwei Einheimische bringen einen anderen Büffel – zusammen mit der Nachricht, der richtige käme mit den Seeleuten nach. Der Schipper will das Tier gleich schlachten lassen aber in diesem Moment stürmen vom Wald her mehr als 200 mit Schilden und Blankwaffen ausgerüstete Eingeborene auf die Männer zu. Bontekoe ruft sofort zum Rückzug auf die Schaluppe, die in Windeseile ins Wasser geschoben wird.

Die Insulaner versuchen, einer Gruppe den Weg abzuschneiden, attackieren und verfolgen die Fliehenden bis zum Strand, stoßen ihnen ihre „Assagaien in den Leib, so dass ihnen die Gedärme herausfallen“. Trotz der spärlichen Bewaffnung der Männer gelingt es ihnen, in dem Getümmel abzulegen. Diejenigen Seeleute, die es nicht mehr schaffen, versuchen, schwimmend hinterherzukommen. In größter Not hilft den Männern ablandiger Wind, schon beim ersten Versuch die Brandung zu überwinden. Der Überfall kostet die Restbesatzung der Nieuw Hoorn zwölf Männer. Unter anderem den Schiffsbäcker, der offenbar von einer vergifteten Waffe getroffen wurde. Seine Haut hatte sich zusehends verfärbt und er stirbt unter den Augen seiner Kameraden. Dazu kommen die vier Seeleute, die im Dorf geblieben waren und vermutlich längst erschlagen worden sind.

Als Folge des überstürzten Aufbruchs sind wieder kaum Vorräte auf dem Boot, aber die Männer finden auf verschiedenen Inseln Wasser, Muscheln, Schnecken und Palmwipfel, um sich zu ernähren. Beim nächsten Landgang besteigt der Schipper einen hoch aufragenden Felsen und entdeckt zu seiner großen Freude zwei Berggipfel des javanischen Vorgebirges, die er aus Beschreibungen von Kollegen kennt. Die Schiffbrüchigen versorgen sich mit reichlich Wasser und erreichen am nächsten Tag die Küste Javas. Bei Windstille treiben sie am 14. Dezember 1619 in Bantam auf eine Flotte aus 23 Segelschiffen zu, die – wie sich später herausstellt – von Admiral Frederik Houtman aus Alkmaar befehligt wird. Der schickt den abgerissenen Gestalten ein Boot entgegen. Sie sind gerettet. 56 Männer haben überlebt.

Im Nachgang

Kurz nach ihrer Ankunft werden Bontekoe und Rol von Gouverneur Coen empfangen, die restlichen Männer auf verschiedene Schiffe verteilt. Der Schipper erhält ein neues Kommando und wird zunächst für Transportfahrten, dann ab Dezember 1620 mit der Groningen im innerasiatischen Handel unter anderem mit den Molukken eingesetzt. Später ist sein Schiff Teil der Flotte, die den vergeblichen Versuch unternimmt, die portugiesisch besetzte Kolonie Macao einzunehmen. Anschließend plündern und brandschatzen Bontekoes Männer über Monate hinweg an der chinesischen Küste und sind mehrfach in Scharmützel mit gegnerischen Dschunken verwickelt. Auch wiederholte Versuche, dauerhafte Handelsverträge mit China zustande zu bringen, verlaufen erfolglos. Daneben bemüht sich Bontekoe stets, neue Erkenntnisse für die noch junge VOC zu gewinnen, strategische Gegebenheiten auszukundschaften und navigatorische Erfahrungen zum Nutzen der Compagnie festzuhalten. Obwohl man ihm ein höheres Salär in Aussicht stellt, lehnt er schließlich eine zweite Verlängerung seines Arbeitsvertrags mit den Herren XVII ab und erhält die Möglichkeit, nach Holland zurückzukehren. Als Schipper der Hollandia legt er am 6. Februar 1625 zusammen mit zwei weiteren Schiffen von Batavia ab.

Zirka sechs Wochen später gerät der kleine Konvoi in einen Orkan: Die Gouda geht verloren, die Middelburgh büßt ihren Groß- und Fockmast ein und auch die Hollandia kommt nicht ungeschoren davon. Sie läuft Madagaskar an, um die Schäden zu beheben und sich mit Vorräten einzudecken. Dort desertieren zwei Besatzungsmitglieder, die – wie Bontekoe später schreibt – von einheimischen Frauen verführt worden seien. Sie umsegeln die Südspitze Afrikas und versenken vor St. Helena beim Kampf um eine Wasserstelle eine Karacke der Spanier. In einer anhaltenden Flaute kommt das Schiff danach fast drei Monate lang kaum vom Fleck. Am 16. November 1625 legen sie in Zeeland an, der Schipper kommt knapp sieben Jahre nach seiner Abreise in die Heimat zurück.

Bontekoe wird sesshaft, heiratet und lässt sich in Hoorn als Kaufmann nieder. Sein Erlebnisbericht stößt zunächst auf geringe Resonanz, wird dann aber in gedruckter Form publiziert. Der Erstausgabe von 1646 folgen diverse Raubdrucke und ein Vierteljahrhundert später soll es schon 25 verschiedene Ausgaben gegeben haben. Die erste Übersetzung ins Deutsche erschien bereits 1648 in Frankfurt am Main, die französische Fassung folgte 1663 – sechs Jahre nach dem Tod des Autors. Nach anhaltendem Hype hielt die Geschichte im 19. Jahrhundert dann Einzug in niederländische Schulbücher.

Mediale Verwertung

Das „Journaal van Bontekoe“ diente dem niederländischen Schriftsteller Johan Fabricius als Vorlage für seinen 1924 veröffentlichten und im Jahr 1619 angesiedelten Jugendroman „De Scheepsjongens van Bontekoe“. Die Protagonisten der Geschichte sind der schüchterne und wissbegierige Hajo, Rolf – listig und des Lesens und Schreibens mächtig, der pummelige und tollpatschige Padde sowie Harmen, der stets zu Späßen aufgelegt ist. Sie repräsentieren die typisch klischeehaft zusammengesetzte Jungengruppe, die gegen alle Widrigkeiten ihres Umfelds zueinanderhält. Alle etwa 14 bis 15 Jahre alt – aber eine Spur zu altklug, um in ihren Charaktereigenschaften nicht auch die pädagogischen Ambitionen des Autors zu erkennen.

Hajo und Rolf, im Buch ein Neffe von Bontekoe, haben als Schiffsjungen auf der Nieuw Hoorn angeheuert. Padde, der ungeschickte Keelemeyn im Original, fährt nur versehentlich mit, da er seine Freunde begleitet und die Abfahrt des Schiffes an Bord verschlafen hat. Der Jungmatrose Harmen ist im Buch Kochsmaat. Die Handlung des Romans lehnt sich bis zur Landung der Überlebenden des Explosionsunglücks auf Sumatra relativ eng an die Vorlage an. Die anschließenden Ereignisse werden abweichend dargestellt: Bei Auseinandersetzungen mit den Insulanern werden die vier Jugendlichen von den anderen Besatzungsmitgliedern getrennt und gefangen genommen. Das Eingeborenenmädchen Dolimah befreit sie, schließt sich ihnen für eine gewisse Zeit an, kehrt dann aber wieder in sein Dorf zurück. Oberkaufmann Rol kommt ums Leben, bevor die Schiffbrüchigen in Sicherheit sind. Die vier Jungen schlagen sich durch und erreichen schließlich mit einem Floß den niederländischen Stützpunkt in Java. Rolf bleibt bei seinem Onkel und begleitet ihn bei weiteren Unternehmungen, während die anderen drei im Dezember 1620 glücklich wieder nach Hause kommen. Vom Ablauf der Geschehnisse her müsste es sich bei den von den übrigen Überlebenden getrennten Jugendlichen um die vier Seeleute handeln, die Bontekoe im Dorf der Einheimischen zurückließ – die in der Realität aber nicht wieder auftauchten und höchstwahrscheinlich getötet wurden.

Der Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur bedient diverse Vorurteile gegenüber fremden Völkern, die in den 1920er Jahren noch weit verbreitet waren. So etwa das hinterhältige und gewaltorientierte Handeln der Eingeborenen, die zudem noch als Gift mischende Kannibalen dargestellt werden. Dabei war es in manchen Reiseberichten des 16. und 17. Jahrhunderts fast schon gang und gäbe, die Natur-Völker, denen man unterwegs begegnete, pauschal als Menschenfresser zu bezeichnen – schreibt zum Beispiel der schwäbische Wundarzt Andreas Josua Ultzheimer über verschiedene Stämme in Afrika und Südamerika. Der Sohn eines protestantischen Pfarrers hat in 14 Jahren vier Kontinente besucht und seine Erlebnisse 1616 in Tübingen zu Papier gebracht.

In den 1950er Jahren veröffentlichte die Tageszeitung Het Vrij Volk einen auf Bontekoes Geschichte basierenden Comic mit Texten von Hans Jacobs und 1969 trug der Schauspieler Coenraad Flink Fabricius’ Story im Fernseh-Abendprogramm vor. Im Jahr 2007 schließlich wurde der Roman unter der Regie von Steven de Jong verfilmt (Originaltitel: „De Sheepsjongens van Bontekoe“; deutsch: „Fluch der Gezeiten – Die Abenteuer von Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“). Hier schleichen sich weitere Abweichungen zum Buch wie auch zum Originalbericht von Bontekoe und einige historische Ungenauigkeiten ein. So werden unter anderem ein Sextant und ein Nebelhorn verwendet, die erst einhundert Jahre später beziehungsweise Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt und eingesetzt wurden.

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„Weiberröcke an Bord bringen Streit und Mord“

Bei diesem unter Seefahrern weit verbreiteten Grundsatz dürften sich Aberglauben und gelegentliche, konkrete Erfahrungen gemischt haben: Frauen an Bord bringen Unglück. Vergleichbares galt bisweilen auch für mitfahrende Priester, Rechtsgelehrte, Missionare und verurteilte Verbrecher. Trotzdem war es keine Seltenheit, dass Offiziersgattinnen ihre Männer auf See begleiteten oder weibliche Passagiere im Familienverband die Decks bevölkerten. Daneben ist in vielen Primärquellen auch von Frauen die Rede, die als Matrosen Dienst taten, als Pulverträgerinnen bei der Geschützbedienung eingesetzt wurden, und solchen, die als Piratinnen zu einiger Bekanntheit gelangten. Mitunter wurden Frauen, die sich als Männer verkleidet und so in die Mannschaft eingeschlichen hatten, erst nach längerer Zeit auf See enttarnt. Louis-Antoine de Bougainville, der Ende der 1760er Jahre die Pazifischen Inseln bereiste, erzählt von Jean Baré, der als Bursche des Biologen Philibert Commerson angestellt war und von dem man erst nach zwei Jahren auf See zufällig herausfand, dass es sich eigentlich um ein Mädchen namens Jeanne handelte. Sie hatte dem Wissenschaftler unermüdlich treue Dienste geleistet. Maria Dielin, Kaufmannstochter aus Delft, hatte sich 1674 als Soldat auf der Eiland Mauritius anwerben lassen und blieb drei Monate unerkannt.

Den Männern der unteren Ränge oder gar den gepressten Matrosen blieben bestenfalls die seltenen Landgänge oder die Liegezeit im Hafen, um nach Monaten auf See ihren Triebstau zu befriedigen. So rückten die Frauen der Einheimischen ebenso in den Fokus wie Prostituierte, die bei solchen Gelegenheiten an Bord kamen. Der Umgang mit ihnen war wenig zimperlich. Den sexuell ausgehungerten Seeleuten lieferten sie nicht selten Anlass für tätliche Auseinandersetzungen.

Ernst von Bibra berichtete von seiner Südamerikareise, dass im Jahr 1850 auf der Dockenhuden mitfahrende chilenische Minenarbeiter versuchten, zwei Frauen in leeren Mehlfässern zu schmuggeln – was jedoch noch vor dem Ablegen vereitelt werden konnte.

Als James Cook im April 1769 mit der Endeavour auf Tahiti Station machte, boten die Insulanerinnen ihre Liebesdienste gegen eiserne Nägel an. John Nicol begleitete als Steward auf der Lady Julian einen Transport von 245 weiblichen Gefangenen, die von England nach Australien deportiert wurden. Der Autor verliebte sich in die junge Sarah Whitlam, die wegen eines vermeintlich gestohlenen Mantels zu sieben Jahren in der Kolonie verurteilt worden war. Noch während der Reise brachte sie einen Knaben zur Welt. Anfang Juni 1790 am Bestimmungsort in Port Jackson angekommen, versprach Nicol, sie nach Verbüßung ihrer Strafzeit aus der Verbannung zurückzuholen – doch das Schicksal wollte es anders. Kaum in London angekommen, setzte Nicol alles daran, so bald wie möglich, eine Passage Richtung Australien zu finden. Um wenigstens bis nach Rio de Janeiro oder zum Kap der guten Hoffnung zu kommen, heuerte er zunächst auf einem Walfänger an. Aber es verschlug ihn nach Portugal, erneut nach England, später unter anderem zu den Shetland-Inseln, vor die Küste Norwegens, nach Java, China und ins Mittelmeer, wo er vor Ägypten unter Admiral Nelson an mehreren Seegefechten gegen Truppen Napoleon Bonapartes teilnahm. Inzwischen hatte er in Erfahrung gebracht, dass Sarah die Kolonie Richtung Indien verlassen hatte. Tief enttäuscht lässt er sich 1803 in Schottland nieder und heiratet seine Cousine Margaret. Ihre Ehe bleibt kinderlos und währt 17 Jahre. John selbst schließt 1825 70-jährig in Edinburgh endgültig die Augen.

Sarah hatte sich offenbar keinen Illusionen hingegeben und schon am 26. Juli 1790 – etwa einen Monat, nachdem sie sich von dem Vater ihres Kindes verabschiedet hatte – Coen Walsh geheiratet, der mit der ersten Sträflingsflotte deportiert worden war. Sechs Jahre danach war das Paar via Indien nach England gesegelt. Während Walsh 1801 wieder in Australien auftaucht, verliert sich Sarahs Spur im Dunkel der Geschichte. Nicol hat sie und ihren gemeinsamen Sohn John junior niemals wiedergesehen.

Kapitel 2
Die Batavia 1629 – Die blutigste Meuterei der Seefahrtsgeschichte

Die Gräber

Das erste Skelett wurde 1960 gefunden, kaum einen halben Meter tief auf Beacon Island vergraben – einer von 32 über ein Korallenriff verteilten, kleinen Inseln der zu den Houtman Abrolhos gehörenden Wallabi-Gruppe, circa 65 km vor der Westküste Australiens gelegen. Es stammt von einer jungen Frau, etwa 18 Jahre alt und knapp über 1,60 m groß. Sie hatte zwischen ihrem zehnten und dreizehnten Lebensjahr, möglicherweise krankheitsbedingt, mehrfach unter Mangelernährung zu leiden und ist offensichtlich gewaltsam ums Leben gekommen. An ihrem Schädel ist im Stirnbereich eine unverheilte Hiebspur zu erkennen. Drei Jahre später stießen die Ausgräber auf ein weiteres Knochengerüst in gestreckter Rückenlage, mit leicht nach links abgewinkeltem Oberkörper und an den Seiten angelegten Armen. Es konnte einem über 1,80 m großen Mann von Mitte 30 zugewiesen werden. Auch dessen Knochen tragen Anzeichen von Entwicklungsstörungen in der Kindheit sowie einen Hiebdefekt in der vorderen Scheitelregion. Seine Gebeine sind heute im Western Australian Maritime Museum in Fremantle ausgestellt. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft lagen die Überreste eines weiteren, etwa gleichaltrigen Mannes. Dessen Schädel weist oberhalb der linken Ohröffnung und am Hinterhaupt mindestens zwei Verletzungen auf, die ihm vermutlich mit Hilfe eines scharfen Gegenstands zugefügt worden sind; das Kranium[14] kann im Geraldton Regional Museum besichtigt werden, der restliche Körper ruht noch an Ort und Stelle. Unweit davon war ein etwa 20-jähriger Mann begraben worden. Er hat in jüngeren Jahren unter Rachitis gelitten und ist möglicherweise an einer Schusswunde gestorben. Im Bereich seines Brustkorbs wurde eine Musketenkugel entdeckt. Sein Skelett wurde ins Australian National Maritime Museum in Sydney überführt.

Im Rahmen späterer Grabungen in den Jahren 1994, 1999 und 2001 konnten dann aus einem nahegelegenen Massengrab noch die eng ineinander verschachtelten Knochenreste von sechs weiteren Personen geborgen werden: ein 20- bis 34-jähriger, circa 1,74 m großer Mann mit einem kariösen Zahn, Wirbelsäulenveränderungen sowie Anzeichen von Skorbut am linken Schienbein; ein vermutlich männlicher Jugendlicher, 15 bis 16 Jahre alt und etwa 1,51 m groß; ein fünf- bis sechsjähriges Kind, wahrscheinlich ein Mädchen; zwei Männer zwischen 35 und 49 Jahren, der eine circa 1,79 m groß – ein oberer Schneidezahn war infolge eines Schlags von unten her in die Nasenhöhle getrieben worden, der andere etwa fünf Zentimeter kleiner – mit einer verheilten Rippenfraktur und einer älteren Verletzung an der linken Elle; und am Boden der unregelmäßig rundlichen, etwa 1,25 Meter x 1,75 Meter großen Grube ein acht bis neun Monate alter Säugling. Zudem fanden sich Teile der Kleidung und persönliche Gegenstände wie Knöpfe, ein Zinnlöffel und ein Fingerhut.

Neben weiteren Streuknochen, unter anderem von einem Kind sowie einem Teenager stammend, sind auf dem Eiland bis jetzt Teile von insgesamt neunzehn Menschen geborgen worden, vier davon mit Spuren von Gewalteinwirkung. Aber auch die anderen könnten eines gewaltsamen Todes gestorben sein, denn Erdrosseln, eine durchgeschnittene Kehle oder andere Weichteilverletzungen hätten keine Spuren am Knochen hinterlassen.

Weitere archäologische Untersuchungen zu Wasser und zu Land förderten auf Beacon Island und in der Umgebung zahlreiche Funde zutage, die eindeutig mit der Havarie des Ostindienfrachters Batavia im Jahr 1629 in Zusammenhang zu bringen sind – Teile des Schiffes selbst, seiner Ausrüstung und Ladung, darunter Kanonen, über 7000 Silbermünzen, Keramik und Alltagsgegenstände. Besonders aufschlussreich: der Messingbeschlag eines Horns mit der Inschrift „MDCXXVIII MACHT ISCH CONRAT DROSCHEL“, der unmittelbar einem bekannten Trompetenbauer aus Nürnberg zugeschrieben werden kann, und das in der Frachtliste aufgeführte, aus 137 Blöcken vorgefertigte, fast 40 Tonnen schwere Sandsteinportal, das für die VOC-Zentrale in Batavia vorgesehen war und dem Schiff seinerzeit als Ballast gedient hatte.

Im Abgleich mit den schriftlichen Überlieferungen, die über jene Schiffskatastrophe und die nachfolgenden Ereignisse existieren, können die meisten Skelettreste anhand der forensischen Gutachten wahrscheinlich folgenden Personen zugeordnet werden: Bei der zuerst entdeckten, jungen Frau handelt es sich entweder um Maijken Cardoes, die während der Monate auf See ein Kind zur Welt gebracht hatte, Willemyntgie die zweitälteste Tochter des Predikanten Gijsbert Bastiaensz oder dessen Dienstmädchen Wybrecht Claasz. Der große Mann ist noch nicht identifiziert. Die anderen Toten könnten sein (in der beschriebenen Reihenfolge): der VOC-Assistent Hendrick Denys, Jan Dircxsz, der als einziger einer Schussverletzung erlag, und in dem Massengrab der Zimmermann Jacob Hendricxsz Drayer, ein unbenannter Kabinenpage, Hilletgien die Tochter von Hans Hardens, der Kanonier Passchier van den Enden und/oder der aus England stammende Soldat Jan Pinten sowie der Säugling von Maijken Cordoes. Aufzeichnungen von Überlebenden, Verhörprotokolle und der Bericht des beteiligten Oberkaufmanns liefern uns eine detaillierte Beschreibung des Geschehens und die Namen der Täter …

Das Schiff und seine Besatzung

Der imposante Dreimaster, der auf seiner Jungfernfahrt nach sieben Monaten und 13000 Meilen auf See am frühen Morgen des 4. Juni 1629 infolge eines Navigationsfehlers auf 28° 30’ südlicher Breite und 113° 47’ östlicher Länge am Südrand des Morning Reef auflief, war nach Beschluss der Herren XVII vom 17. März 1626 in der Amsterdamer Peperwerft auf Kiel gelegt worden. Der Stolz der Jan-Kompagnie hatte ein Vermögen gekostet: etwa das vierhundertfache Jahreseinkommen eines Zimmermanns oder das sechzigfache von Rembrandts Lohn für „Die Nachtwache“ im Jahr 1642. Mit mehr als 56 Metern Länge über alles, 10,5 Metern Breite und einer Ladekapazität von über 550 Tonnen gehörte die Batavia in die oberste Kategorie der von der VOC in Dienst gestellten Schiffe. Flach gebaut und mit einem maximalen Tiefgang von wenig mehr als fünf Metern waren die sogenannten Retourschiffe dazu konzipiert, so viel Ladung wie möglich aufzunehmen. Der unmittelbar auf dem Kiel aufsitzende Großmast ragte 55 Meter in die Höhe und war, wie der Fockmast, mit drei Rahsegeln versehen. Der Frachter verfügte über zehn Segel und zwei sogenannte Bonnette mit einer Segelfläche von insgesamt 1180 m². Die Masten und Decksplanken hatte man aus Kiefernholz, den extra verstärkten Rumpf aus robusterem Eichenholz angefertigt.

Um bei ihren asiatischen Handelspartnern gebührend Eindruck zu machen, hatte die Kompagnie speziell am hoch aufragenden Achterschiff und Heckspiegel der Batavia nicht mit dekorativen Applikationen gespart, zahlreiche, farbig gefasste Schnitzereien in Form von Ornamenten, Masken und Tritonen angebracht und das Schiff oberhalb der Geschützpforten mit roter und grüner Farbe streichen lassen. An der Spitze des Galions prangte der goldfarbene, holländische Löwe. Zur Verteidigung gegen konkurrierende Schiffe oder Piraten war das obere Zwischendeck mit 24 gusseisernen Kanonen bestückt. Zusätzlich befanden sich acht bronzene Geschütze an Bord. Das imposante Heck ragte auf drei Etagen über das Hauptdeck. Hier befanden sich unter anderem die Steuerplicht, die Kajüten des Kapitäns, der Offiziere und vornehmeren Passagiere, die 4,5 m x 6 m messende, große Kabine, in der die feineren Herrschaften speisten – und als Besonderheit eine Hütte auf der Poop, um Gemüse und anderes Grünzeug zu ziehen – im Bereich des Vorderschiffs die Back mit dem Backdeck.

Der Großmast galt gleichermaßen als Grenze zwischen den privilegierten Besatzungsmitgliedern und Mitreisenden einerseits sowie den weniger betuchten Passagieren, Seeleuten und Soldaten andererseits, denen der Aufenthalt achtern davon strikt verboten war. Um den üblichen Animositäten zwischen Seeleuten und Soldaten zu begegnen, waren beide Gruppen auf verschiedenen Decks getrennt untergebracht. Erstere zwängten sich zwischen den Geschützen auf dem Kanonendeck, bugwärts der Kombüse und der Kabine des Schiffsarztes, zusammen. Hängematten gab es zu dieser Zeit noch kaum. Letztere waren auf dem Orlopdeck eingepfercht, eigentlich ein Laderaum, in dem man noch nicht einmal aufrecht stehen konnte, ohne Luken dunkel und stickig. Sie standen unter dem Befehl der Obergefreiten Gabriel Jacobszoon, der seine Frau mit an Bord gebracht hatte, und Jacop Pietersz, der sich später auf die Seite der Meuterer schlug. Beiden – zumindest nominal – vorgesetzt waren Kadetten der VOC, die häufig aus alteingesessenen Familien stammten und von denen einige Anspruch auf einen Adelstitel hatten. Sie zählten zu den besser gestellten Heckbewohnern des Schiffs und machten sich mit ihren Untergebenen nicht gemein. Einer der Soldaten, von denen viele aus Deutschland und Frankreich stammten, Wiebbe Hayes aus der Provinz Groningen, avancierte im Laufe der Ereignisse zum Helden des Widerstands gegen die Meuterer.

Zum Schipper der Batavia hatten die Herren XVII Ariaen Jacobsz berufen, einen erfahrenen Seemann, der bereits 20 Jahre in Diensten der VOC stand, zum Zeitpunkt der Abreise schon Mitte 40 war und damit zu den ältesten Personen an Bord gehörte. Er galt als selbstbewusst aber auch reizbar und leicht zu kränken, wird als Lüstling beschrieben und als jemand, der gerne mal einen über den Durst trank. Ihm unterstellt waren unter anderem Obersteuermann Claes Gerritsz, die Untersteuerleute Jacob Jansz Hollert und Gillis Fransz, Oberbootsmann Jan Evertsz sowie der Schiffsarzt Frans Jansz, der im Verlauf der Ereignisse den Verschwörern zum Opfer fiel, der Oberküfer Jan Willem Selyns oder der Kanonier Allert Janssen.

Die entscheidende Instanz auf der Batavia war hingegen Oberkaufmann Francisco Pelsaert als höchster Vertreter der VOC, gut zehn Jahre jünger als der Schipper und – obwohl er keinerlei Kenntnisse zum Führen eines Schiffes besaß – diesem gegenüber weisungsbefugt. Er war verantwortlich für die mitgeführten Handelsgüter und deren gewinnbringenden Einsatz in Ostindien und aufgrund seiner Erfahrungen von den Herren XVII erst zwei Monate vor der Abreise mit diesem Auftrag betraut worden. Seine vorige Mission war zwar ein diplomatischer Fehlschlag, dafür aber wirtschaftlich ein großer Erfolg gewesen. Pelsaert stammte aus Antwerpen aus gut situierten Verhältnissen, war katholisch und mit 20 Jahren erstmalig bei der VOC angestellt worden. Während vieler Dienstjahre in Indien hatte er sich nicht nur die Landessprache angeeignet, sondern höchstwahrscheinlich auch mit Malaria infiziert. Diverse Affären mit einheimischen Damen der Oberschicht hätten ihn fast um Kopf und Kragen gebracht. Jacobsz und der Oberkaufmann kannten sich von früher. Sie waren einige Jahre zuvor im Hafen von Surat aneinander geraten. Der Schipper war betrunken gewesen und hatte Pelsaert beleidigt, erhielt daraufhin eine offizielle Rüge – eine Demütigung, die er seinem Widersacher, den er für den Verweis verantwortlich machte, nie vergaß. Eine unglückliche Gemengelage. Jetzt musste er unter jemandem Dienst tun, den er nicht ausstehen konnte.

Pelsaert direkt unterstellt war der Unterkaufmann Jeronimus Cornelisz, redegewandt und charismatisch. Er sollte zur Hauptperson der späteren Meuterei werden. Als Sohn wohlhabender, der Täuferbewegung nahestehender Eltern 1598 in Friesland geboren, wurde er im calvinistischen Sinne erzogen, besuchte ab dem sechsten Lebensjahr die Schule, später die Lateinschule, legte mit 25 seine Apotheker-Prüfung ab und eröffnete anschließend ein eigenes Geschäft im niederländischen Haarlem. Etwa zur gleichen Zeit heiratete er die hübsche Belijtgen Jacobsdottir, die einer Mennonitenfamilie entstammte und, dem damaligen Schönheitsideal entsprechend, eher eine dralle Erscheinung gewesen sein dürfte. Im November 1627 stellte sich Nachwuchs ein, ein gesunder Junge. Doch im selben Moment brach das Unglück über die junge Familie herein. Die Hebamme, Cathalijntgen van Wijmen, litt nicht nur unter Wahnvorstellungen, sondern übersah einen Teil der Nachgeburt im Leib der Mutter, die in der Folge an schwerem Kindbettfieber erkrankte. Cornelisz’ Frau konnte daraufhin ihr Kind nicht stillen. Mit der Amme Heyltgen Jansdr[15], die an einer „rätselhaften, chronischen Krankheit litt“, unzuverlässig und für einen lockeren Lebenswandel bekannt war, kam erneut eine dubiose Person ins Spiel. Der Knabe erkrankte an Syphilis und starb nach wochenlangen Qualen im Alter von nur drei Monaten. Man verdächtigte die Mutter, ihr Kind selbst angesteckt zu haben. Das hätte bedeutet, dass sie oder ihr Mann fremdgegangen wären – ein schwerer Verdacht gegen ein Paar, dessen Apotheke auf guten Leumund angewiesen war.

Das bereits vorher verschuldete Geschäft geriet in Verruf. Jeronimus ließ nichts unversucht, seine Reputation wieder herzustellen. Alles umsonst: Die Apotheke ging bankrott, er verließ seine Frau, tauchte Anfang Oktober 1628 in Amsterdam auf und heuerte umgehend bei der VOC an. Dort war man nicht wählerisch, was die Suche nach Personal betraf, und der gebildete Apotheker wurde sogleich als Unterkaufmann mit einem Gehalt von 40 Gulden pro Monat eingestellt. Neben den beiden obersten Positionen werden auf einem Retourship wie der Batavia etwa acht bis zehn Assistenten für die Buchhaltung benötigt. Auf solchen Stellen fanden sich zum Beispiel Salomon Deschamps als Pelsaerts Sekretär, Isbrandt Isbrandtsz und David Zevanck, die nach dem Schiffbruch zweimal einen Treueeid auf Cornelisz leisteten.

Unter den Passagieren, denen eine bevorzugte Behandlung zustand, ist vor allem Lucretia Jans, häufig auch mit ihrem Kosenamen Creesje angesprochen, zu nennen. Ob ihrer außergewöhnlichen Attraktivität kam ihr in dem gesamten Drama eine Schlüsselrolle zu. Sie war ein Waisenkind, hatte sehr jung in die einflussreiche Familie van der Mijlen eingeheiratet und befand sich nun mit 27 Jahren auf dem Weg zu ihrem Ehemann Boudewijn, der bereits über ein Jahr zuvor in die Kolonien abgereist war. Drei Kinder waren im Säuglingsalter gestorben und nun hielt sie nichts mehr in der Heimat. In ihren Diensten reiste Zwaantje Hendrix als Zofe mit, die wohl erst kurzfristig in Amsterdam zu dieser Stellung gekommen war und nicht gerade den besten Ruf genoss.

Gewisse Privilegien kamen zudem Gijsbert Bastiaensz zu. Geboren 1576, hatte er zunächst eine von Pferden angetriebene Mühle unterhalten. Jetzt reiste er in Begleitung seiner Frau Maria Schepens, mit der er seit 24 Jahren verheiratet war, sieben Kindern im Alter zwischen sieben und 22 Jahren sowie der Magd Wybrecht Claasz, um als Predikant in Ostindien zu wirken. Er wird als genügsam und fromm, aber bezüglich seiner Predigten nicht gerade mitreißend beschrieben. Die Konkurrenz der Windmühlen hatte ihm den wirtschaftlichen Ruin beschert. Erst im September hatte er vor der Synode seine Prüfung abgelegt und nun versuchte er sich ohne nennenswerte Schulbildung und – nach calvinistischer Lehrmeinung mit wenig aussichtsreichem missionarischen Eifer – als Hilfsprediger.

Über die Anzahl von Personen, die sich auf der Batavia befanden, als sie am 29. Oktober 1628 in See stach, liegen unterschiedliche Angaben vor. Am plausibelsten erscheint die von Mike Dash mitgeteilte Zahl 329. Dazu gehörten rund 150 Seeleute, ein größeres Kontingent an Soldaten, mindestens 22 Frauen, fast ebenso viele Kinder und eine Reihe von Jugendlichen, die als Stewards oder Kabinenpagen beschäftigt waren. Menschen aus verschiedenen Sozialschichten, die sich aus unterschiedlichsten Motiven auf die Gefahren einer solchen Reise, tropische Krankheiten und unsichere Zukunftsaussichten in einem für Europäer schwer erträglichen Klima eingelassen hatten. Zur Fracht gehörten neben Handelsgütern wie niederländischem Leinen und Eisenwaren, Schiffsequipment als Nachschub für die von der VOC betriebene Reede in Batavia, Gebrauchsgüter für die dortigen Angestellten und zwölf Truhen mit Silber im Wert von 250.000 Gulden[16]. Des Weiteren Juwelen und andere Pretiosen, zum Teil extra nach Pelsaerts Entwürfen angefertigt, die noch mal zigtausend Gulden gekostet hatten und örtliche Lokalfürsten zu gewinnbringenden Geschäften bewegen sollten.

Auf hoher See

Die für den Herbst 1628 geplante „Winterflotte“ sollte ursprünglich aus 18 Schiffen bestehen und von Jaques Specx befehligt werden. Doch der Flottenpräsident wurde kurzfristig in die VOC-Zentrale einbestellt. Man beschloss, einen kleineren Verband von sieben Schiffen vorauszuschicken. Beim Start in dieser Jahreszeit musste man zwar ungünstige Wetterbedingungen in den nördlichen Breiten in Kauf nehmen, konnte jedoch mit besseren Winden in den häufig von längeren Flauten betroffenen Rossbreiten rechnen und erreichte sein Ziel im indischen Ozean nach 15.000 Seemeilen in durchschnittlich acht Monaten. Zu dem ausgesuchten Konvoi gehörten die drei Retourschiffe Batavia, Dordrecht, früher auch schon mal von Jacobsz befehligt, und ’s Gravenhage, drei Frachter mit geringerer Kapazität – die Assendelft, die Sardam und die Kleine David – sowie das kleine Kriegsschiff Buren. Zum Kommandeur der Mini-Flotte wurde Pelsaert bestimmt. Am 28. Oktober wurden auf der Insel Texel die Anker gelichtet, die Batavia folgte einen Tag später. Die Schiffe gerieten in einen heftigen Sturm, der die ’s Gravenhage so schwer in Mitleidenschaft zog, dass sie für mehrere Monate zur Reparatur in den Hafen von Middelburg einlaufen musste; die Batavia lief auf den berüchtigten Walcheren-Sandbänken auf Grund und wurde erst mit der Flut am nächsten Tag wieder flott.

Die Route des nunmehr noch sechs Schiffe umfassenden Konvois war genau festgelegt[17]: Durch den Ärmelkanal Richtung Westen[18]. Dann südlich bis zur westafrikanischen Küste und der sogenannten „Wagenspoor“[19] folgend bis etwa 30° südlicher Breite. Ab hier ostwärts zum Kap der guten Hoffnung. Dort war der einzige Zwischenhalt vorgesehen, zum Auffrischen der Vorräte und von den Besatzungen nach langen Monaten auf See als „Ozeankneipe“ höchst willkommen geheißen. Vom Kap aus ging es mit den stetig wehenden „Roaring Fourties“[20] bis auf 110° östlicher Länge[21] und anschließend nordöstlich bis Java. Die Rückfahrt war etwas kürzer und führte, den Südostpassat nutzend, zum Kap, von dort Richtung St. Helena und entlang der Azoren nach Hause.

Als die Batavia die Westküste Afrikas erreicht, herrscht schon seit längerem eine brütende Hitze und die Trinkwasservorräte an Bord sind verdorben. Pelsaert entscheidet sich daraufhin, Sierra Leone anzulaufen und riskiert damit zweierlei: Eine Abmahnung seitens der Herren XVII, die lediglich den Halt an der Südspitze Afrikas gestatteten; zudem war die Region als Sammelbecken für Malaria, Gelbfieber und andere Krankheiten verschrien. Dort lesen sie den 15-jährigen Abraham Gerritsz auf, der sich von einem anderen Schiff abgesetzt hatte und nun seine Passage nach Java abarbeiten soll. Es ist bereits März, als der Konvoi den Nordostpassat erreicht. Zwischenzeitlich hatte Pelsaert versucht, sich an Lucretia heranzumachen. Doch sie gab nicht nur ihm zu verstehen, dass sie kein Interesse habe, sie widersteht auch den Annäherungsversuchen von Jacobsz, der sich daraufhin Zwaantje zuwendet, die diese Aufmerksamkeit offensichtlich sehr zu schätzen weiß. Sie hatte sich von ihrer Herrin schon des längeren schlecht behandelt gefühlt und genießt nun nicht nur die Privilegien an der Seite des Schippers. Beider „wollüstiges Wesen“ spricht sich bis zu den Passagieren vor dem Mast herum. Jeronimus, der sich mit Jacobsz angefreundet hat, gibt beim gemeinsamen Mahl in der großen Kabine – zur Unterhaltung und zum Staunen seiner Zuhörer – hin und wieder seine abstrusen, von Freigeist geprägten, religiösen Ansichten zum Besten. Zum Beispiel die Meinung, dass jegliche Taten, die Gott zulässt, damit auch gleichzeitig von höchster Stelle gebilligt seien.

Die Wochen vergehen. Auf dem Weg zum Kap der guten Hoffnung bricht Skorbut aus, zehn Seeleute sterben. Am 14. April dort angekommen, kümmert sich der Oberkaufmann an Land umgehend um frische Nahrung sowie die Aufstockung der Wasservorräte. Während seiner Abwesenheit entfernen sich der Schipper, Zwaantje und der Unterkaufmann unerlaubt zu einer Rundtour von einem Schiff zum anderen. Alkohol fließt, es kommt zu Gewalttätigkeiten und bei seiner Rückkehr gehen bei Pelsaert gleich mehrere Klagen wegen ungebührlichen Verhaltens ein. Am nächsten Morgen zitiert er Jacobsz zu sich, macht ihm schwere Vorhaltungen und spätestens jetzt kocht dessen alter Hass auf den Oberkaufmann wieder hoch.

Acht Tage nach der Ankunft am Kap stechen die Batavia und der Rest des Konvois wieder in See. Von nun an sieht man Jeronimus und den Schipper immer öfter beisammen und sie hecken nichts Geringeres aus, als die Übernahme des Schiffes. Eine Meuterei, im Zuge derer man sich Pelsaerts und dessen Getreuen entledigen und gleichzeitig des Schiffs und seiner wertvollen Fracht bemächtigen würde. Nach und nach nimmt die Verschwörung Gestalt an. Jacobsz und der Unterkaufmann rekrutieren bei konspirativen Treffen im kleinen Kreis rund ein Dutzend Verbündete aus verschiedenen Gruppierungen an Bord, darunter Soldaten und Seeleute, wie auch VOC-Angestellte und leitende Offiziere, die sich von der Aussicht auf schnellen Reichtum locken lassen. Zum harten Kern gehören alsbald Oberbootsmann Evertsz, die Kanoniere Janssen und Woutersz , der aus einer angesehenen niederländischen Familie stammende Kadett Coenraat van Huyssen, der Obergefreite Cornelis Pietersz und andere. Das Gelingen der Meuterei hing mit davon ab, dass zumindest einige Mittäter in der Lage waren, ein Schiff zu steuern, oder aufgrund ihres Ranges potenzielle Gegner in Schach zu halten. Ein nicht zu unterschätzendes Problem würde in jedem Fall aber die große Zahl loyaler Besatzungsmitglieder sein.

Die erste Maßnahme zur Umsetzung ihres Plans obliegt Jacobsz, der die Batavia von den übrigen Schiffen trennt. Es kam immer wieder vor, dass einzelne Schiffe sich vom Konvoi entfernten, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Dann scheint das Schicksal den Verschwörern in die Hände zu spielen: Wenige Tage nach dem Auslaufen vom Kap erkrankt Pelsaert schwer. Fieberschübe, wohl auf seine Malariainfektion zurückgehend, fesseln ihn an seine Koje. Wochenlang ist er dem Tode nahe. Die Meuterer wähnen sich ihrem Ziel einen entscheidenden Schritt näher – doch einen Monat später steht der Oberkaufmann wieder an Deck. Als nächstes denken sie sich eine Provokation aus, die ihn dazu zwingen soll, drastische Strafmaßnahmen zu verhängen, die wiederum – so ihr Kalkül – einen größeren Teil der Besatzung dazu bringen würden, gegen ihn aufzubegehren. Als Mittel zum Zweck sollte die unnahbare Lucretia dienen, der Zwaantje und der Schipper auf diese Weise auch noch einen extra Denkzettel verpassen konnten. Am 14. Mai überfallen nach Einbruch der Dunkelheit acht maskierte Männer die Ahnungslose in der Nähe des Steuerstands, zerren sie zu Boden und beschmieren ihr Gesicht, Beine und Geschlecht mit Teer und Exkrementen. Anführer der Aktion ist Jan Evertsz, mit von der Partie sind Allert und Cornelis Janssen, Wotuersz sowie der Quartiermeister Harman Nannings. Trotz seiner Vermummung kann Lucretia Oberbootsmann Evertsz identifizieren. Am Folgetag führt Pelsaeret erwartungsgemäß intensive Befragungen durch, entschließt sich jedoch zum Erstaunen aller, Bestrafungen erst am Zielort der Reise zu verhängen. Möglicherweise waren ihm inzwischen Gerüchte über eine bevorstehende Verschwörung zu Ohren gekommen und er wollte sich die letzten Wochen auf See bedeckt halten. Die Meuterer bekommen damit noch Zeit, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Nach seinem letzten Besteck wähnt sich der Schipper etwa 600 Meilen westlich von Terra australis incognita, wie der fünfte Kontinent seinerzeit genannt wurde. Doch im Gegensatz zu den Breitengraden, die sich mit Hilfe der Sonne und der Horizontlinie einfach bestimmen ließen, stellte die Ansprache der Längengrade eine besondere Herausforderung für die Navigatoren dar. Die Männer hatten außer ihren Seekarten lediglich Astrolabium, Gradstock und Kompass zur Verfügung und konnten ihre Geschwindigkeit nur grob abschätzen. Aber je weiter südlich vom Äquator man sich befindet, desto enger liegen die Längengrade beisammen, sodass die bereits zurückgelegte Strecke leicht unterschätzt werden konnte.

Zwei Stunden vor Sonnenaufgang am 4. Juni donnert die Batavia in voller Fahrt auf ein Korallenriff der Houtman Abrolhos – nur 65 Kilometer vom Festland entfernt. Dabei waren vom Ausguck schon eineinhalb Stunden früher Schaumkronen voraus gesichtet worden, doch Jacobsz hatte sie als Spiegelungen des Mondes auf der Wasseroberfläche gedeutet. Ein fataler Irrtum und Ironie des Schicksals: Der Name „Abrolhos“ wird aus dem Portugiesischen abgeleitet, geht aber wohl auf das spanische „obre ojos!“ („halte die Augen auf!“) zurück.

Der Aufprall lässt das über 1.000 Tonnen schwere Schiff erbeben, ohrenbetäubendes Krachen zerreißt die Stille, die Schlafenden werden aus ihren Kojen geschleudert, Kanonen aus den Verankerungen gerissen, Fässer poltern über die Decks. Die Batavia hat innerhalb weniger Sekunden eine Bresche in die Korallen gebrochen und sitzt mit leichter Schlagseite nach Backbord fest. Die stetig anrollende Brandung hebt sie an und lässt sie im gleichen Rhythmus wieder auf das Riff schlagen. Von Sturmböen und strömendem Regen begleitet, werden die Segel gerefft, dann Kisten, Taue und Kanonen über Bord geworfen, um das Schiff zu erleichtern. Gegen Morgen zeigen die auftauchenden Korallenbänke an: die Batavia ist bei Flut aufgelaufen. Keine Chance zu warpen, also mit Hilfe des Ankers aus eigener Kraft wieder freizukommen. Um zu verhindern, dass das Schiff zerbricht, kappen die Matrosen den Großmast – wohl wissend, dass damit ihr Schiff ein für alle Mal manövrierunfähig und ihr Schicksal besiegelt ist.

Kurz nachdem einige Männer mit einem der beiden Beiboote die Inselgruppe in der näheren Umgebung erkundet haben, lassen die heftigen Brecher den Rumpf des Schiffes bersten. Wasser dringt ein, etwa drei Dutzend Passagiere ertrinken bei dem Versuch, schwimmend die Brandung zu überwinden. Die Evakuierung beginnt. Bis zum Abend des Folgetages können mit Hilfe der beiden Beiboote über 200 Personen zunächst auf ein kleines Eiland, 800 Meter vom Wrack entfernt, und dann auf eine etwas größere Insel gut einen Kilometer nordwestlich der Batavia übergesetzt werden. Beide liegen am Westrand einer Tiefwasserrinne, die den Archipel in Nord-Süd-Richtung teilt. Die kleine, nur 175 m lange Korallenbank bleibt Pelsaerts Standort, dort befindet er sich zusammen mit dem Schipper, den meisten Offizieren, einigen Passagieren, insgesamt etwa 40 Menschen – und einer vorsorglich geretteten, kleinen Kiste mit Gold und Edelsteinen. Sie wird, nachdem sich der Oberkaufmann mit seiner Gruppe am 8. Juni absetzt, „Verräterinsel“ genannt, die größere, die heute Beacon Island heißt, von den Überlebenden alsbald als „Batavia’s Friedhof“ bezeichnet. Die Versorgungslage ist besorgniserregend. Gerettet werden konnten lediglich einige wenige Fässer mit verdorbenem Wasser und steinhartem Brot, die kaum länger als ein bis zwei Tage ausreichen würden.

An Bord des havarierten Schiffes herrschen mittlerweile chaotische Zustände. Die verbliebenen 70 Mann haben sich angesichts der trostlosen Situation der privaten Weinvorräte der Offiziere bemächtigt, die Kabinen im Heck geplündert, eine der zwölf Schatzkisten aufgebrochen, führen sich auf, wie in einem grotesken Theaterstück und werfen mit Geldstücken um sich. Obwohl Pelsaert vor allem diese Fracht noch gerne in Sicherheit gebracht hätte, erlauben die Witterungsbedingungen keine weitere Fahrt zum Wrack. Während die Batavia endgültig in den Fluten zu versinken droht, werden die Männer sich selbst überlassen.

Den ganzen nächsten Tag über lässt der Oberkaufmann zwei größere Inseln, circa drei bis vier Kilometer weiter nordwestlich, jenseits der Tiefwasserrinne gelegen, erkunden und dort nach Wasser suchen. Sie werden später als das Hohe Land und die Hayes-Insel in die Geschichte eingehen und tragen heute die Namen East und West Wallabi. Der Suchtrupp bleibt erfolglos, das Schicksal der Überlebenden erscheint besiegelt. Derweil hat Jacobsz anhand der geretteten Seekarten erkannt, wo sie gestrandet sind, und überzeugt Pelsaert, dass es einer kleineren Gruppe mit dem größeren der beiden Beiboote gelingen könnte, das in nordöstlicher Richtung gelegene Batavia zu erreichen. Während die Zimmerleute mit Treibholz die Bordwände des Gefährts aufbusen, landet das kleinere Boot mit zehn Seeleuten auf dem Eiland. Man beschließt, sie ebenfalls mitzunehmen, und vier Tage nach der Havarie der Batavia legen vier Dutzend Personen von der Verräterinsel Richtung Java ab. Neben Pelsaert und dem Schipper unter anderem Oberbootsmann Evertsz, die meisten Offiziere, Zwaantje sowie eine weitere Frau mit einem Säugling. Auf dem Batavia-Friedhof bleiben fast 200 verzweifelte Männer, Frauen und Kinder ohne nennenswerte Vorräte zurück. Ihre Aussicht, zu überleben, ist verschwindend gering.

Jacobsz schafft es tatsächlich, die Barkasse über eine Strecke von rund 2000 Meilen nach Batavia zu navigieren. Nach vier Wochen erreichen Pelsaert und seine Begleiter unter größten Schwierigkeiten den rettenden VOC-Stützpunkt. Kaum angekommen, werden auf Anzeige des Oberkaufmanns hin der Schipper arretiert, Evertsz für den Überfall auf Lucretia angeklagt und gehängt. Generalgouverneur Coen beauftragt Pelsaert, mit der kürzlich eingetroffenen Sardam unverzüglich zum Unglücksort zurückzukehren, um Menschen und Güter zu retten – insbesondere natürlich die Silbertruhen und Handelswaren. Er gibt ihm sechs Bergungstaucher mit und reduziert die Besatzung auf das Nötigste, um Platz für möglichst viele Überlebende zu schaffen. Um den Batavia-Friedhof wiederzufinden, benötigen die Männer fast zwei Monate …

Der Kampf ums Überleben beginnt

Einen Tag, nachdem sich die oberen Chargen abgesetzt hatten, zogen heftige Regenfälle über den Archipel und versorgten die entmutigten Menschen auf dem Batavia-Friedhof zumindest für geraume Zeit mit Trinkwasser. Trotzdem sollen laut Bericht des Oberkaufmanns in den ersten Tagen 20 Personen an Krankheiten oder durch Trinken von Meerwasser gestorben sein. Deren Leichen sind bis heute nicht gefunden worden.

Die Insel ist hakenförmig, circa 400 m lang, im Westteil rund 300 m, ansonsten zwischen 50 und 100 m breit, hat eine Fläche von etwas mehr als fünf Hektar und ragt maximal zwei Meter aus dem Meer. Man kann sie in weniger als 15 Minuten zu Fuß umrunden. Sie ist lediglich mit spärlichem Gestrüpp bewachsen, besteht aus Korallengeröll und besitzt am Südrand einen schmalen, etwa 75 m langen Sandstrand. Um wenigstens etwas Schutz vor dem Wind zu haben, lassen sich die Überlebenden in einer kleinen Senke im nördlichen Teil nieder. Messungen aus den letzten 20 Jahren zeigen für den Archipel ein mediterranes Klima an und weisen den Juni als regenreichsten Monat aus. Zwischen Frühjahr und Herbst liegt die durchschnittliche Wassertemperatur zwischen 20°C und 25°C. Die Gegend ist reich an Muscheln, Fischen und Seevögeln.

Wie auf den Schiffen üblich, richten die Gestrandeten einen Rat ein, der über das weitere Vorgehen entscheiden soll. Zu diesem, nun von Schiffsarzt Jansz geleiteten, Gremium gehören der Aufseher Pieter Jansz, Pelsaerts Sekretär Deschamps und wahrscheinlich auch der Prädikant. Währenddessen kämpfen die auf dem Wrack Verbliebenen ums Überleben. Am 12. Juni versinkt das Schiff endgültig im Wasser. Von den 70 Männern gelingt es nur 20 sich mit behelfsmäßig zusammengeschusterten Flößen, an Fässer oder ähnliches geklammert oder schwimmend auf den Batavia-Friedhof zu retten. Damals konnten nur weniger als 20% aller Seeleute schwimmen. So auch Unterkaufmann Cornelisz, der als Letzter noch zwei Tage später mehr tot als lebendig angetrieben wird. Von der zerstörten Batavia werden Sparren, Planken, Teile der Ladung und Vorräte ans Ufer gespült. Darunter eine größere Zahl Wasser- und Weinfässer. Geeignete Hölzer dienen zum Bau notdürftiger Flöße und Boote.

Jeronimus Cornelisz ist nun der ranghöchste VOC-Mann vor Ort und übernimmt damit unhinterfragt den Oberbefehl. Seine Eloquenz und Entschlusskraft verbreiten eine gewisse Zuversicht unter den Überlebenden. Er beansprucht nicht nur ein eigenes Zelt und die Sachen von Pelsaert, sondern auch die Aufsicht und alleinige Verfügungsgewalt über die vorhandenen Ressourcen, insbesondere die Vorräte, Waffen und Wasserfahrzeuge. Obwohl mit einigen Annehmlichkeiten verbunden, wird es ihm bald lästig, für alles und jedes zuständig zu sein. Inzwischen kursieren Gerüchte über die an Bord geplante Meuterei – wahrscheinlich in die Welt gesetzt von Woutersz, der dem Schipper übel nahm, ihn zurückgelassen zu haben. Der Unterkaufmann überdenkt seine Optionen, muss auf jeden Fall damit rechnen, dass man ein Schiff entsenden wird, um die Silbertruhen zu bergen. Würde er gefangengenommen, wäre ihm das Todesurteil sicher. Jacobsz hätte wohl kaum eine Möglichkeit, Pelsaert und seine Getreuen auf dem Weg nach Java zu überwältigen. Also plant er, sein ursprüngliches Vorhaben in die Tat umzusetzen und das zur Rettung erwartete Schiff im Handstreich zu übernehmen. Zuvor müssen jedoch klare Machtverhältnisse geschaffen und potenzielle Widersacher beseitigt werden.

Als nächstes setzt Cornelisz den ersten Rat ab und besetzt den neuen mit seinen engsten Vertrauten, darunter dem VOC-Assistenten Zevanck als seinem Stellvertreter. Mit der Zeit gewinnt er weitere Gefolgsleute. Um die Vorräte für sich und die anderen Verschwörer zu strecken, plant er, die Überlebenden gruppenweise auf die umliegenden Inseln zu verteilen, wo sie dann verdursten würden und nicht mehr imstande wären, seine Pläne zu vereiteln. Nachdem auch seine Suchtrupps auf keiner der Nachbarinseln Wasser gefunden hatten, lässt er bis Ende Juni etwa 45 Personen zu einem langgestreckten und kaum 600 m jenseits der Tiefwasserrinne entfernt gelegenen, sandigen Eiland, der sogenannten „Robbeninsel“ übersetzen. Circa 20 Soldaten, die bei der Meuterei wahrscheinlich am ehesten Widerstand leisten würden, werden auf das Hohe Land gebracht, um nach Wasser zu suchen und im Falle des Erfolgs Rauchzeichen zu geben – ansonsten wolle man sie wieder zurückholen. Pieter Jansz, drei Frauen, zwei Kinder und weitere acht Männer werden auf die Verräterinsel verfrachtet.

Die Soldaten, unter ihnen Wiebbe Hayes, finden zunächst nichts Verwertbares, waten bei Ebbe auf die über drei Kilometer lange und etwa halb so breite Nachbarinsel im Südwesten und entdecken dort – zur großen Überraschung von Cornelisz, der die vereinbarten Signale mit äußerst gemischten Gefühlen wahrnimmt – drei Wochen später tatsächlich mehrere Wasserreservoirs. Außerdem eine Seelöwenkolonie sowie känguruhartige Wallabi-Tammare, die gut fünf Kilogramm und mehr schwer werden können und den entsandten Männern schmackhaftes Fleisch liefern. Pelsaerts späterer Bericht gilt als Erstbeschreibung dieser Spezies, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie Meerwasser vertragen kann. Muscheln, die man ebenfalls hätte als Nahrungsquelle nutzen können, galten seinerzeit als minderwertige Nahrungsmittel.

Zu den ersten Amtshandlungen des zweiten Rats gehören vier Todesurteile: Soldat Abraham Hendricx und Kanonier Ariaen Arieansz sowie zwei Zimmerleute werden angeklagt, Wein gestohlen beziehungsweise angeblich gegen Cornelisz’ Anweisungen verstoßen zu haben. Arieansz gelingt es, zu Hayes zu entkommen, die drei anderen werden exekutiert. Eine Maßnahme, die allgemein als gerechtfertigt angesehen wird, zumal die Betroffenen offenbar das Überleben aller gefährdet hatten. Der Unterkaufmann hatte auf subtile Art und Weise begonnen, unliebsame Personen aus dem Weg zu räumen. Die nächsten Opfer sind fünf Männer, die ebenfalls zum Hohen Land gebracht werden sollten, von Cornelisz’ Leuten jedoch auf dem Weg dorthin ins Meer geworfen und ertränkt werden.

Cornelisz’ Schreckensherrschaft

Spätestens ab dem 9. Juli zeigt der Unterkaufmann für alle erkennbar sein wahres Gesicht. Die Überlebenden auf dem Batavia-Friedhof sehen, starr vor Entsetzen, vom Ufer aus zu, wie Jansz und seine Leute, Hayes’ Rauchzeichen folgend, mit behelfsmäßigen Flößen versuchen, von der Verräterinsel aus die Insel der Soldaten zu erreichen, dabei aber von Cornelisz’ Kumpanen abgefangen und brutal getötet werden. Von nun an muss jeder jederzeit mit seinem Tod rechnen. Um nicht selbst in den Fokus des Unterkaufmanns zu geraten, schließen sich daraufhin weitere Männer den Verschwörern an. Darunter der deutsche Soldat Hans Hardens, dessen Tochter Hilletgien auf Anordnung von Cornelisz erdrosselt wird, während sich ihre Eltern in seinem Zelt aufhalten. Als nächstes lässt der Unterkaufmann von Andries de Vries, der bislang noch keinen Treuebeweis geliefert hatte, zusammen mit Jan Hendricxsz und Allert Janssen mehreren Kranken die Kehlen durchschneiden. Zu deren wehrlosen Opfern gehören unter anderem Jan Pinten, ein Kabinenpage und der Zimmermann Hendrick Claasz. Nur drei Tage später werden der Kanonier Passchier van den Ende und der Zimmermann Jacob Hendricxsz Drayer ermordet. Fünf der vorgenannten Opfer sind vermutlich mit den Skeletten identisch, die zwischen 1994 und 2001 in dem Massengrab auf Beacon Island entdeckt wurden.

Mitte Juli wendet der Unterkaufmann seine Aufmerksamkeit den 45 Männern, Frauen und Kindern auf der Robbeninsel zu und schickt nacheinander drei Killerkommandos dorthin. Die Meuterer erschlagen, erstechen oder ertränken alle bis auf acht Männer, denen die Flucht zur Hayes-Insel gelingt, und zwei Kabinenpagen, Abraham Gerritsz und Claes Harmansz, die zu Helfershelfern der Täter werden.

Die Mitverschwörer führen bedingungslos jeden Befehl von Cornelisz aus. Sie genießen ihre Privilegien im Umfeld des Mannes, der sich nun „Generalkapitän“ nennt und eine selbst kreierte Phantasieuniform trägt, größere Essensrationen, Zugang zu den Weinvorräten und den wenigen Frauen hat, die verschont wurden, um „allgemeinen Dienst“ zu tun, nämlich den Männern jederzeit zu Willen zu sein. Mit einem Teil der Juwelen vom Schiff hält der Unterkaufmann ihnen stets die Aussicht auf Reichtum vor Augen. Sie verbreiten Angst und Schrecken, fühlen sich unangreifbar, stolzieren mit ihren Waffen umher. Am 16. Juli schwört er zwei Dutzend Meuterer auf sich ein. Sie müssen einen schriftlich verfassten Gefolgschafts-Eid unterschreiben. Bei der Erneuerung des Schwurs etwa einen Monat später, signieren insgesamt 36 Männer – einige nur, um nicht selbst zum Opfer des Terrorregimes zu werden.

Doch der Hauptaufrührer hatte bisher noch nie selbst Hand angelegt. Unter dem Vorwand, eine Medizin zu verabreichen, gibt er dem Säugling von Maijken Cardoes, dessen Geschrei den Meuterern schon länger die Nachtruhe raubte, Gift. Aber das Kind stirbt nicht. Cornelisz schickt Deschamps, um ihm ein Ende zu machen. Eine merkwürdige Unentschlossenheit zeigt er auch gegenüber Lucretia, die vom „allgemeinen Dienst“ ausgenommen ist und exklusiv von ihm beansprucht wird. Er lässt sie in sein Zelt bringen und wirbt zwölf Tage erfolglos um sie. Erst nachdem Zevanck ihr unmissverständlich zu verstehen gibt, was ihr blühen würde, sollte sie dem Unterkaufmann nicht gehorchen, gibt sie sich ihm hin.

Wenig später gerät die Familie des Prädikanten ins Visier der Verschwörer. Bastiaensz und seine älteste Tochter Judith sind zu Jeronimus zum Abendessen zitiert. Währenddessen werden die Mutter, das Dienstmädchen sowie die restlichen sechs Kinder gnadenlos massakriert und in einer Grube verscharrt. In derselben Nacht sterben der VOC-Assistent Hendrick Denys unter der Axt von Jan Hendricxsz und Maijken Cardoes unter den Händen von Andries Jonas und Wouter Loos. Einzig Aris Jansz kann dem Blutrausch der Meuterer entkommen, sich zu den Flößen schleichen und auf die Hayes-Insel fliehen. Der Hilfsprediger ist am Boden zerstört, hatte er doch erst kurz vorher zähneknirschend der Verlobung der 21-jährigen Judith mit Cornelisz’ Stellvertreter van Huyssen zugestimmt, um sie damit wenigstens vor dem „allgemeinen Dienst“ und dem Zugriff weiterer Männer zu bewahren. Die nächsten Opfer werden teils spontan aus einer Laune heraus, teils gezielt ausgesucht. Reine Mordgelüste kommen ebenso zum Tragen wie persönliche Animositäten. Dabei trifft es unter anderem den Arzt Frans Jansz, der auf Anweisung des Unterkaufmanns gleich von vier Männern attackiert und regelrecht massakriert wird.

Auf der Hayes-Insel befinden sich inzwischen 48 Personen. Wiebbe Hayes’ Umsicht und Souveränität haben ihn zum Anführer der Gruppe werden lassen. Von den Geflohenen erfahren die Soldaten, was sich auf den anderen Eilanden abgespielt hat. Sie können sich ausmalen, dass Cornelisz und seine Leute alsbald angreifen werden – richten sich mit einem Wall aus Korallenbruchstücken, Depots von Wurfgeschossen und selbst gebastelten Waffen für den Nahkampf darauf ein. Die Chancen, einen Angriff abzuwehren stehen gut. Man würde die Meuterer, die in Unterzahl und – auf dem Batavia-Friedhof ohne Frischwasserzugang und nach wie vor auf die spärlichen Nahrungsvorräte angewiesen, die vom Schiff gerettet werden konnten – in schlechterer körperlicher Verfassung sind, schon von weitem kommen sehen.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956072970
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Seefahrt Geschichte Meuterei Schiffbruch Havarie Abenteuer Bounty Amistad Moby Dick Reisen
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Titel: Brutale See