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Palazzo

©1975 333 Seiten

Zusammenfassung

Die leidenschaftliche Liebeserklärung eines großen Romanciers an Venedig!

Der Palazzo Santarato, seit Generationen in Familienbesitz, ist wie die gesamte Stadt Venedig vom Verfall bedroht. Seine Besitzerin, Seniora Santarato, kämpft mit allen Mitteln für dessen Erhalt, nur unterstützt von ihrem treuen Diener und ihrem jüngsten Enkelsohn Romolo. Als die Lage immer prekärer wird und sich letztlich sogar ihre eigenen Kinder gegen sie wenden, fasst die Seniora einen kühnen Plan, um den Palazzo zu retten...
"Palazzo" ist ein einzigartiges menschliches Drama, in dem Gondolieri, leichte Mädchen, Fischer und die Kinder dieser Stadt dem Mythos Venedig neues Leben einhauchen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Hans Habe

Palazzo

Roman

Alle sachlichen Angaben, die dieser Roman enthält, sind überprüft und entsprechen den Tatsachen. Nur gewisse Daten - wie der Beginn der Filmbiennale oder die Demonstration bei der Kunstbiennale - oder meteorologische Ereignisse sind dem dramatischen Rhythmus angepaßt. Handlung, Namen und Gestalten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig.

OB SIE AUF VERLORENEM POSTEN STEHEN -

DEN KÄMPFERN

FÜR DIE RETTUNG VENEDIGS

DEN HÜTERN DES SCHÖNEN UND

BLEIBENDEN GEWIDMET

"In Venice Tasso's echoes are no more,

And silent rows the songless Gondolier;

Her palaces are crumbling to the shore,

And Music meets not always now the ear:

Those days are gone - but Beauty still is here.

States fall -Arts fade - but Nature doth not die,

Nor yet forget how Venice once was dear,

The pleasant place of all festivity

The Revel of the earth - the Masque of Italy!"

Lord Byron: Child Harold's Pilgrimage Canto the Fourth

Die Bibel berichtet von der Sintflut und von Noah und von seiner Arche. Hundertfünfzig Tage hauste Noah in seiner Arche «mit seinen Söhnen und seinem Weibe und seinen Schwiegertöchtern ... Männchen und Weibchen» und mit «allen reinen Tieren je sieben ...von den unreinen Tieren je ein Paar». Aber die Bibel verschweigt, daß sich in der Arche ein Chronist befunden haben muß. Ich bin der Chronist der Arche. Und der Sintflut, in der meine Stadt untergeht. Venedig ist meine Stadt, die Stadt in der Sintflut. Ich bin Venezianer.

Ich besinge meine Stadt nicht: Das haben andere getan, in vielen Jahrhunderten. Sie nannten sie die schönste Stadt der Welt, Königin der Meere, Serenissima, gekröntes Eiland, Kleinod in die Silbersee getaucht, Nymphe der Lagunen, der Schönheit Losungswort, des Tasso Sang, La Dominante, der Städte weißen Schwan.

Jetzt liegt meine Stadt in demütigender Agonie, wie jene schöne Lady Hamilton, die in der Gosse der unbarmherzigen Hafenstadt Calais endete. Ihre Züge sind von Aussatz gezeichnet, Nattern nisten in ihrem Haar, ihr Leib ist aufgeschwemmt, ihr Atem geht schwer. Das Meer rächt sich an seiner Königin. Seine Wogen überfallen ihre Paläste, rollen über ihre Plätze, fressen ihre Straßen, zermahlen ihre Treppen, verwerfen ihre Statuen, bespeien ihre Heiligen, höhnen ihrer Brücken, erbrechen sich über brechende Dämme.

Vom Festland nähert sich eine andere Armee. Die Fabrikschlote sind Kanonenrohre, gegen den Himmel gerichtet, sie feuern Gift über Canalettos Visionen. Ein Regenbogen von Flammen spannt sich über den Hafen; Lombardos Engel kreuzen die Arme vor schwarzen Brüsten; die Staunende auf der Fassade des Palazzo Miani gleicht einer Sünderin; San Marcos Tetrarchi klammern sich aneinander wie Kinder, die zusehen müssen, daß man ihre Mutter schändet; die Engel der Salute sind gefallene Engel, angeli caduti; aus den Tiefen steigen Froschmänner von Schleim und Moos und Dreck. Aber die Sintflut kommt von Gott, also von den Menschen. Sie hassen die Entthronte, wie man die Schönheit haßt und die Fülle und den Glanz und das Auserwählte. Sie greifen nach ihr, nicht um sie zu erobern, sondern um sie zu vernichten; sie entkleiden sie, nicht um ihre Nacktheit zu bewundern, sondern um ihre Scham zu entblößen; sie saugen sich an ihre Brüste, nicht wie die Kinder, sondern wie die Vipern. Sie heucheln. Sie verbinden Wunden, die sie geschlagen, löschen Feuer, die sie gelegt, bekränzen Gräber, die sie geschaufelt.

Die Bewohner meiner Stadt sind der Sintflut hingegeben. Sie machen meine Stadt zur Hure ihrer Habgier, verspielen das Lösegeld für die Gefangene auf dem Spieltisch ihrer Eitelkeiten, verhökern ihre Vergangenheit für das Linsengericht der Zukunft. Und sie fliehen in Scharen wie zu den Zeiten der Pest.

Die Sintflut flutet langsam. Alles geschieht schnell, nur die Sintflut geschieht langsam. Sie kennt ihren Weg und ihr Werk. Aber es gibt keine Sintflut ohne Arche und keine Arche ohne Noah.

Das, indes, gehört auf ein anderes Blatt, das heißt auf die kommenden Blätter.

DER PALAZZO Santarato ist kein Schiff wie die Arche Noah, «dreihundert Ellen ... die Länge, fünfzig Ellen ... die Breite und dreißig Ellen die Höhe». Er ist auch keiner der berühmten Palazzi, nicht der Palazzo Foscari, nicht der Palazzo Grimani, nicht der Palazzo Pesaro; Richard Wagner hat hier nicht musiziert, Byron nicht gedichtet, Guardi nicht gemalt, die Duse nicht geliebt. Es ist ein kleiner Palazzo, zwischen die großen gedrängt, als zöge er furchtsam die Schultern ein, schmal, doch drei Stock hoch wie jene Arche; im ersten Stock ein großer Balkon, maurische Schatten, im zweiten kleine Balkone, Mastkörbchen, winzige quadratische Fenster im dritten Stock, ein bloßes Dachgeschoß. Das Haupttor auf dem Canal Grande ist längst verrammelt; auf den Stufen, halbkreisförmig, eine zerklüftete Muschel, wächst Moos wie in den Tiefen der Wälder; in den vergitterten Fenstern Holzbalken, vor Einbrechern schützen sie, vor Wogen nicht; das Kleid der Mauern hängt in Fetzen über einem roten Ziegelskelett; in den Laternen zersplittertes Glas; die Eichenpfähle, weiß und violett gestreift, sind Fahnen im Grau des feindlichen Wassers. Come si chiama questo palazzo? Die Gondolieri rudern vorbei. Nur am Abend sieht man, daß jemand hier wohnt.

Die Stadt, die alles verloren hat, hat auch ihre Scham verloren; sie zeigt ihre Wunden und verbirgt ihre Hoffnung. Rückwärts, dem Festland zugekehrt: der Garten hinter einer hohen Mauer, eine Katze sitzt neben dem Löwen, ein paar Bäume, ein grüner Flecken in der Stadt ohne Grün, ein Brunnen, der nach Wasser riecht, ohne Wasser zu spenden. Ein Fenster steht offen.

Das Erdgeschoß ist leer. Gewürze und Stoffballen und Säcke mit Mehl und Kisten mit Kristall waren hier gestapelt, später hatten Gondolieri dösend, spielend, fluchend der Befehle geharrt; jetzt eine Grotte, nasse Steine stellen Fallen, die Wände schwitzen vor Kälte, die Schatten sind erstarrt. Eine Holzstiege führt nach oben, hingestellt neben der unbenutzten Marmortreppe wie die vergessene Leiter eines Malermeisters, dann eine beleidigende Holztür mit einem beleidigenden Briefkasten.

Im ersten Stock ist noch alles, beinahe alles, wie ehedem: der Salon, der wie ein Freiballon über dem Canal Grande schwebt, Säulen, Bilder, Statuen, Vitrinen, Stukkaturen, Damast, steigende Engel, fallende Portieren, kühler Marmor, glühendes Glas. Aber im kleinen Speisezimmer, nebenan, brennt nur jede dritte Lampe, pockennarbige Kupferstiche, die Rahmen treten zurück, verwandeln Bilder in Reliefs. Die Gänge sind dunkel, und durch die Ritzen der verschlossenen Küchentür kriecht die Armut. Die Schlafzimmer im zweiten Stock sind Requisitenkammern eines vergessenen Theaters. Die beiden Gästezimmer öde wie das überflüssige; nur das Schlafzimmer mit dem Baldachinbett, einer Gondel nachgebildet, mit goldlackierten Tischen und Puppensesseln und Rüschen senkt einen Spitzenvorhang über die staubige Bühne.

Wer sich nicht täuschen will, betritt den Palazzo vom Seitenkanal. Hier ist die Sonne verschlossen, der Himmel ein verblichenes Seidenband, stehendes Wasser, geronnenes Öl, trunkener Unrat.

DARIO ORTELLI machte sein Motorboot, ein schäbiges Gefährt, das ihm seit zwölf Jahren diente, am Pfosten des Seitentores fest, sprang aber, den Boden schon unter den Füßen, wieder ins Boot. Er trug fast nie eine Krawatte. Nun, da er die Krawatte, flaschengrün, die er im Handschuhfach zu verwahren pflegte, um den Hals knüpfte, wurde er sich bewußt, daß er nie anders als aufs formellste gekleidet vor die Signora getreten war.

Dario war vor zweiundfünfzig Jahren als Sohn eines Glasbläsers geboren worden. Er hatte sich als Maler versucht, da er jedoch mehr Selbsterkenntnis als Talent besaß, hatte er sich bald auf den Antiquitätenhandel verlegt, war dabei aber nicht reich geworden; er verstand mehr von Kunstwerken als vom Handel. Seine Ehe mit Francesca Faravelli war kinderlos geblieben, doch hatte das ihrer fröhlichen Harmonie nichts anzuhaben vermocht: Kinderlose Ehepaare werden besonders glücklich oder besonders unglücklich, je nachdem, ob sie mit ihrem Spiegelbild zu leben vermögen. Dario war noch so schlank wie in seiner Jugend, und auch das knochige Gesicht mit den tiefliegenden Augen, asketisch und pfiffig, hatte sich kaum verändert. Indem Dario den Jahren entgegengekommen war, war er ihnen ausgewichen; mit fünfundzwanzig stolz auf seine Runzeln, hatte er mit dreißig aufgehört, sie zu zählen. Ein Leben lang hatte er nichts begehrt, was er nicht besaß, nichts getan, was ihm nicht behagte, er hatte Freude an der Arbeit und beim Faulenzen kein schlechtes Gewissen, er betrog niemand und ließ sich von niemand betrügen, ein zufriedener Mensch, also eine exotische Kreatur.

Absonderlich war auch seine Beziehung zu Anna-Maria Santarato, die man in Venedig die Signora nannte. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte ihn der Architekt Vincente Santarato in seinen Palazzo beschieden, weil der, schon hart bedrängt, auch von Todesahnungen geplagt, ein Silberservice verkaufen wollte. Damals hatte eine zierliche Person das Zimmer betreten. Vincente Santarato war sofort verstummt. Als sie gegangen war, hatte der Hausherr gesagt: «Sie müssen wissen, lieber Ortelli, meine Frau kann ein Bankkonto nicht von einem Vogelkäfig unterscheiden. Wenn ich sterbe, wird niemand da sein, der sich um sie kümmert. Dabei gleicht sie den Burgfräulein des Mittelalters: Es ist ihr selbstverständlich, daß es immer einen Ritter gibt, der ihre Burg verteidigt.» Er hatte nicht unrecht. Nach seinem Tod, kaum ein Jahr später, hatte sich der mittellose Antiquitätenhändler der Witwe angenommen. So oft die Signora bei Dario anrief, pflegte Francesca zu sagen: «Deine Tochter will dich sprechen.» Wäre die Signora nicht um zweiundzwanzig Jahre älter gewesen als Dario -er hätte sich selbst mißtraut. Und ganz unbegründet wäre dieser Verdacht nicht gewesen, denn er war nie gewiß, ob er, eine teuflische Frage, aus einer Feuersbrunst zuerst seine Frau oder zuerst seine «Tochter» gerettet hätte, und wenn sich ein Mann derlei fragt, ist seine Liebe nie so rein, wie er selbst denken möchte.

Wie jemand, der Peinliches tut, um nicht noch Peinlicheres tun zu müssen, verweilte Dario länger als notwendig in den nassen Ruinen der Vorhalle.

Seine Mission war peinlich. Der französische Kunsthändler René Naville, ein erprobter Scharlatan, der leichten Herzens alt mit antik verwechselte, hatte ihm angedeutet, daß die Signora den Verkauf ihres Tizian, Mädchen mit Blumenkorb, erwäge, ja mit ihm darüber ernstlich verhandelt habe. «Ihres» Tizian, hatte Naville gesagt, doch wußte Dario, daß ihr bestenfalls ein Viertel des Tizian gehöre; einen Tizian vierfach zu teilen ist aber nicht gerade üblich.

Vincente Santarato war ein Abkomme jenes berühmten florentinischen Baumeisters gewesen, der im sechzehnten Jahrhundert nach Venedig gekommen war und, neben wichtigeren Bauten, den Palazzo am Canal Grande errichtet hatte. Vincente hatte niemand geliebt und nichts, nicht einmal das Geld. Er hatte wenig hinterlassen, denn Geld ist so liebesbedürftig, wie es die Menschen sind: liebt man es nicht, reagiert es spröde und widerwillig. So war ihm nichts geblieben als Gegenstände und Mißtrauen.

Anna-Maria hatte die unbekannte Stimme ihres Mannes zum erstenmal vernommen, als vor zwanzig Jahren, beinahe auf den Tag, sein Testament geöffnet wurde. Sie stammte aus einem alten venezianischen Geschlecht; die Äste ihres Stammbaumes reichten über Venedig nicht hinaus. Sie war achtzehn gewesen, als sie den um viele Jahre älteren Vincente Santarato geheiratet hatte, weil es ihr Vater so wollte und weil Vincente ihm ähnelte. Man pflegte in jener Zeit nicht zu suchen, was man nicht finden konnte; so wurde sie erst enttäuscht, als sie von Vincentes Bestimmungen erfuhr. Testamente sind von einer Aufrichtigkeit, welche die Menschen vermissen lassen, gerade als äußerte sich der Wille im letzten Willen zum erstenmal. Den Palazzo, dessen Schicksal Dario an diesem Junitag des Jahres 1972 zur Signora führte, hatte Vincente Santarato seiner Witwe hinterlassen, zu alleiniger Benutzung samt allem, was er enthielt an Beweglichem und Unbeweglichem, zur Benutzung, nicht zu Besitz. Dreiviertel hatte er seinen Kindern vermacht, Paolo, Laura und Claudia, doch war er mit diesen nicht einsichtiger verfahren als mit seiner Witwe - so wenig sie auch nur einen einzigen Gegenstand ohne die Einwilligung aller veräußern konnte, so wenig konnte einer ohne den anderen, konnten alle ohne die Signora auch nur einen Kupferstich losschlagen. Es gibt keinen sichereren Weg, Menschen auseinanderzureißen, als sie aneinanderzufesseln.

Während sich Dario den Treppen näherte, wurde ihm klar, daß es das vereiste Verhältnis der Signora zu ihren Kindern war, das seine Mission erschwerte. Paolo, ein Mann von vielen Berufen und ohne Beruf, reich verheiratet, lebte in Mailand; Laura, nach einer Berg- und Talfahrtehe mit einem amerikanischen Obersten verwitwet, vegetierte in New York; Claudia, ledig, eine Malerin von verschwendetem Talent, hauste in einem verfallenden Palazzo auf der venezianischen Insel Giudecca. Trug die Signora Schuld an der Fremdheit, die sie zu dem geheimen Bündnis mit Naville getrieben hatte? Dario fiel eine Geschichte aus dem Talmud ein - kein Zufall, da er, obwohl katholischer Christ, im alten Getto aufgewachsen war, und ihn die Lehren des Talmud, der anekdotischen Bibel, schon in seiner Kindheit angezogen hatten. Der Talmud erzählt, daß Danna, der Sohn des Netriah, auf einen Profit von sechzig oder gar achtzig Myriaden verzichtet hatte, weil das Geld, das er für das Geschäft brauchte, unter dem Kissen seines schlafenden Vaters lag. Er wollte den Vater schonen, der ihn immer geschont hatte. Warum sollte Gegenseitigkeit in der Liebe nur zwischen Mann und Frau gelten? Neben schlechten Eltern gibt es auch schlechte Kinder. Dario hielt die Signora für keine gute Mutter: Die Beziehungen Noahs zu seinen Söhnen, jedenfalls zu Harn, waren höchst zweifelhaft gewesen. Es wird wohl an der Arche gelegen haben; er war mit ihr allzu beschäftigt. Aber so friedlich, wie es die Bibel berichtet, war es in der Arche nicht zugegangen; man weiß viel von Noah, wenig von seinen Kindern.

Dario betrat die Treppe, die er die Hühnerleiter nannte. Er richtete seine Krawatte und läutete.

«ACH, SIE SIND es, Dario», sagte die Signora, als hätte sie ihn nicht erwartet oder als gäbe hier ein Besucher stets die Klinke dem anderen. Sie bemerkte sogleich, daß sein Blick auf den Tizian fiel.

«Ja, er ist noch da, mein lieber Dario», sagte sie, «obwohl mir ein französischer Makler, ein gewisser Naville, goldene Berge versprochen hat -kennen Sie ihn?»

Sie wußte, daß er Naville kannte. Ihr Gedächtnis hatte keineswegs versagt; sie tat wie Leute, die Trunkenheit vortäuschen, um im gespielten Rausch verraten zu können, was man ihnen sonst nicht glaubte.

Die gewaltigen Dimensionen des Salons lasteten nicht auf der grazilen Gestalt der Vierundsiebzigjährigen, die schien viel mehr zu steigen und zu wachsen: venezianisches Glas, das erst im zwanzigsten Jahrhundert die Derbheit der Epoche angenommen hat. In Schwarz gekleidet, glich sie, den weiten Rock über den Lehnstuhl breitend wie der sterbende Schwan über das Parkett, einer dunklen Ballerina, doch war sie nicht immer sterbender Schwan; bewegte sie sich, dann war sie eher marschierender Dragoner, das stille Haus laut von ihren Schritten. Die unruhige Schönheit ihrer Jugend war verblaßt, aber nicht erloschen; sie hatte, als Dario sie kennenlernte, ein Gesicht gehabt, nun hatte sie viele Gesichter. Manchmal schien es Dario, als hätte sie ihre Schönheit abgetan, wie jemand, der nicht mehr zu gefallen braucht, um zu gewinnen, was ihm gefällt. Sie war nicht sicher, daß ihr Lächeln jedermann entwaffnen würde, deshalb lächelte sie manchmal wie ein alter Clown, mutig und wehmütig, traurig und belustigend, gütig und verschmitzt; in Wahrheit hatte sie auf die Waffen ihrer Weiblichkeit nicht verzichtet, sie gebrauchte nur andere Waffen als in ihrer Jugend.

Dario fragte sich, ob er ihr auf den Kopf zusagen sollte, daß er ihr Spiel durchschaute. Aber wem sollte er das sagen? Da gab es eine Anna-Maria Santarato, die ihn bei Käufen und Verkäufen kundig beriet, und eine andere hinwiederum, die eine simple Elektrizitätsrechnung nicht zu bezahlen vermochte. Zu Lebzeiten Vincente Santaratos hatte man von ihren Liebschaften gemunkelt, und nach seinem Tode trug sie einen unsichtbaren Schleier. Sie war von einer mädchenhaften Behendigkeit - wie oft hatte Dario sie auf der höchsten Stufe einer Leiter entdeckt!-;dann sagte sie, daß sie zu müde sei und eine verlockende Einladung nicht akzeptieren könne. Einmal, als er sie abgeholt hatte und zum Boot geleitete, hatte sie gesagt: «Geben Sie acht auf mich, Dario!», und erst als er sie in das Boot hob, wurde er sich bewußt, daß sie seiner Hilfe gar nicht bedurft hätte.

Wie immer, überwog seine Zärtlichkeit. «Sie wissen genau, daß ich Naville kenne», sagte er. «Naville ist nicht vom Himmel gefallen, seit Monaten spricht man davon, daß sich das Mädchen mit Blumenkorb auf dem Markt befindet. Sie müssen endlich begreifen, daß Sie die Einwilligung der Kinder nie erhalten werden. Man kann nicht verkaufen, was einem nicht gehört; es ist kriminell. Der Tizian im Ausland, und Sie kommen ins Gefängnis!»

Sogleich gab die Signora den Plan auf, Dario zu ihrem Komplicen zu machen. Dario besaß zwei Eigenschaften, die sich ergänzten, unnütz die eine wie die andere- er war arm und redlich -, doch wer unnütz ist als Komplice, kann doch zum Verbündeten sich eignen. Deshalb schob sie Naville, den Tizian, den krummen Plan beiseite, als hätte sie davon zu sprechen nie im Sinn gehabt. Wie sollte sie den Palazzo retten, ohne den einen oder anderen Wertgegenstand zu veräußern? «Mit meiner lächerlichen Rente kann ich bestenfalls mich, nicht den Palazzo über Wasser halten - Sie verstehen, ich meine es wörtlich.» Kein Wort vom Tizian, aber wie sollten die Pfosten repariert, die Pfeiler gestützt, die Risse gekleistert, die Ziegel ersetzt, der Putz gesäubert werden? Sie ging zu einer Vitrine, die so leer war wie das sonntägliche Fenster eines Juweliers. «Nun glauben Sie, daß ich das Porzellan verkauft habe. Es liegt, in Seide und Watte, auf dem Speicher -Sie können sich überzeugen. Auch die Stücke, die bei der Überschwemmung zerbrochen sind. Ich hätte sie verkaufen und einen Pfosten erneuern sollen.» Es blieb Dario nichts anderes übrig, als von seinem schweren Gang zu dem Herrn Bürgermeister, dem onorevole, zu berichten. Ein schwerer Gang und ein schwieriger Bericht. Dario nahm Zuflucht zu seiner Papageienkunst; er vermochte seine Mitmenschen trefflich zu imitieren, vielleicht würde er der Signora ein Lächeln entlocken. Allerdings war der sindaco, wie die meisten Leute, bei denen Manieriertheit Persönlichkeit ersetzt, zur Nachahmung ungemein geeignet. Der habe ihm, sagte Dario, ein Tintenfaß an den Kopf werfen wollen, habe sich aber auf Beamtenart begnügt, ihn mit Zahlen zu bombardieren.

«‹Stellen Sie sich vor, caro amico› - natürlich caro amico, ich bin ja sein Wähler -, ‹was die Opposition sagen würde, wenn man einer alten Dame eine Bauhilfe nachwürfe, da die Hälfte der vierzigtausend Wohnungen dringender Reparaturen bedarf, dreitausend Wohnungen zu baufällig sind, um vermietet zu werden, viertausendachthundert Wohnungen stets dem Hochwasser ausgesetzt sind, viertausend neue Wohnungen dringend gefunden werden müssen.› Dringend, dringender, am dringendsten, seine beliebteste Redensart, und am wenigsten dringend, was man gerade vorträgt. Und woher ich denn überhaupt wisse, daß Signora Santarato - ‹bestellen Sie ihr meine ergebenen Grüße!›» - diese Imitation entlockte der Signora ein Lächeln - «ihren Palazzo nicht als Spekulationsobjekt verwenden wolle, derlei geschehe jeden Tag, zuerst Restaurationen mit städtischer Hilfe, dann Wuchermiete. ‹Ach ja, wenn ich könnte, wie ich wollte - Augenaufschlag, ganz der Herr Bürgermeister -, aber guten Argumenten könne man sich nicht verschließen, selbst wenn sie von den Sozialisten kommen.»

Der Bürgermeister, erstaunlich informiert, hatte auch Paolo erwähnt - «der Sohn der Signora ist doch mit der Erbin der Andreoli-Brauereien verheiratet, ein reicher Mann, nichts gegen die Privatinitiative, Sie wissen, wo ich stehe, ergebene Grüße» -, aber diesen schmerzlichen Punkt wollte Dario nicht erwähnen.

Die Hände der Signora lagen in ihrem Schoß. Es waren schöne Hände, etwas größer, als es ihrer Gestalt entsprach - Dario hatte sie oft bewundert. Sie hielt sie lose verschlungen, als fürchtete ein Finger, dem anderen weh zu tun, und Dario wandte sich ab, weil er nicht sehen wollte, daß diese Hände, von Leberflecken bleichbraun gemustert, älter waren als die Frau.

War sie eine Närrin, die ihr Herz an toten Stein hängte? Über achthundert Gebäude verlassen, von den vierhundert Palazzi jeder zweite dem Ruin geweiht, ein Palazzo mehr oder weniger, wer sollte es bemerken? Niemand plante, den Palazzo abzureißen, wie würde das aussehen, auf dem Canal Grande, was verschlug es, wenn andere ihn bewohnten: Arbeiter, Beamte, Bankiers, Reisende? Man mußte ihn nur, der Bürgermeister hatte es vorsichtig angedeutet, «zur Verfügung stellen», Hotels und Büros und Arbeiterhäuser verzinsen sich, Fahrstühle verzinsen sich und Badezimmer und Küchen. Hieß Reparatur Rettung, wer sagte, daß man den Stoff flicken müsse, statt ein neues Kleid anzufertigen? Stand der Rettung nicht nur der monströse Egoismus dieser alten Frau im Wege, die glaubte, ohne Anna-Maria Santarato sei der Palazzo kein Palazzo, sie müsse mit ihm gerettet werden, damit alles bleibe, wie es war? Aber hatte sie nicht recht? Mußte nicht jemand. prüfend zurückblicken, um zu bestimmen, was dem Untergang geweiht war, was ihm entrissen werden konnte? Mußte nicht jemand der zornigen Neuerung Einhalt gebieten, da sie sich mit dem Erreichten nicht begnügte, sich an der Zerstörung vergnügte, da sie der vagen Hoffnung opferte, was Jahrhunderte erprobt hatten, mußte nicht jemand wachen, damit das Bleibende bleibe, weil sonst nichts blieb, Verwüstung in der Verwandlung, zuerst lauter Fahrstühle und dann keine Palazzi?

Ein Gefühl von Neid beschlich Dario. Das Gefühl war ihm fremd; er liebte die Signora - wie konnte er sie beneiden? Es gab viele Gründe, andere zu beneiden; am meisten beneidete man jene, die zu tun wagten, was man selber zu tun als richtig erkannt hatte und doch nicht tat. Zwei Narren und die gleiche fixe Idee! Tausende Irrenhäuser in der Welt, allein in den Irrenanstalten auf den Inseln San Clemente und San Servolo - die Narren Venedigs brauchen mehr als eine Insel - werden Hunderte betreut, aber einer glaubt, er sei Herr der Welt, der andere kriecht wie ein Wurm, den dritten jagen die Erinnyen des Aischylos: keine zwei, die von der gleichen Idee besessen sind, wenigstens die Narren sind Individualisten.

«Wir wollen sehen», sagte er.

Der Abend fiel, durch die offene Balkontür kam das Rattern der Bootsmotoren, der Wellenschlag der Vaporetti, der Sià premi! -Ruf der Gondolieri.

Beim Mädchen mit Blumenkorb hielt Dario inne. Francesca hatte ihm gesagt: «Immerhin möglich, daß die Kinder einverstanden sind. Du kannst doch der Signora keine Hochstapelei zutrauen.» Zu welcher Signora hatte er gesprochen - zu der hilflosen, die er ins Boot heben mußte, oder zu der Behenden, die auf die Leiter stieg?

EIN AMERIKANER namens Wilcox, Mr. Richard R. Wilcox, hatte sich bei der Signora angemeldet. Wohl oder übel mußte sie ihn empfangen, denn er hatte gesagt, sein Freund Paolo schicke ihn, my dear friend Paolo.

Warum hatte Paolo nicht selber angerufen? - sie hatte lange nichts von ihm gehört. Konnte Gutes von Paolo kommen? Früher hatte sie sich oft Vorwürfe gemacht, daß sie ihn unter ihren Kindern am meisten liebe. Sie liebte ihn nicht wie einen mißratenen Sohn, denn er war nicht mißraten, nur ein Junge, der ratlos vor seinem verdorbenen Spielzeug steht. Sie war stolz auf sein gutes Aussehen gewesen, seine gewinnenden Manieren, auch auf seinen Erfolg bei Frauen, aber sie hatte sich für ihn ein anderes Glück gewünscht als die Sicherheit in Betten und Salons. Hilfe für den Palazzo oder die Zustimmung, das eine oder andere Erbstück zu verkaufen, hatte er immer abgelehnt. Er hing an keinem dieser Gegenstände; sie vermutete, daß er, nach ihrem Tod, alle auf einmal versteigern wolle, eine großartige Auktion, der Palazzo Santarato zum ersten, zum zweiten, zum dritten, das würde ihn mit einem Schlag zum reichen Mann machen und von den Fesseln seiner Ehe befreien.

Sie hatte gerade eines der rückwärtigen Fenster geschlossen und sah ein Paar, das sich durch den Garten näherte. Mr. Wilcox hatte nichts von seiner Frau erwähnt: Schlechte Umgangsformen verstimmten die Signora.

Mr. Wilcox, ein schlanker Konfektionssechziger, entschuldigte sich nicht. Er überließ das Gespräch seiner sehr hübschen Frau, deren schlohweiße Haare sie noch jünger scheinen ließen, als sie war. Sie badete in einem Schaum von Gemeinplätzen: Venedig sei wonderful, das Essen im Fenice sei wonderful, aber die Gondolieri verlangten unverschämte Preise, und man könne vor lauter Touristen die Markuskirche nicht sehen, dagegen liebe sie die Venezianer, die seien wonderful.

Mr. Wilcox zollte dem Kunstsinn seiner Frau Bewunderung - «Regina treibt sich den ganzen Tag in den Kirchen herum» -, er selbst habe für derlei leider keine Zeit. Auch der Signora möchte er nicht die Zeit rauben; von seinem Freund Paolo ermutigt, my dear friend Paolo, möchte er wissen, ob sie gewillt sei, den Palazzo zu verkaufen, «möbliert» selbstverständlich, die Mauern seien ja «nicht viel wert». Als er die Verblüffung der Signora wahrnahm, die plötzliche Ausdruckslosigkeit ihrer Augen, sagte er, daß er sich der Schwierigkeiten bewußt sei, doch habe ihm Paolo versichert, diese seien nicht unüberwindlich, denn auch die anderen Erben wollten den Palazzo durch den Verkauf vor sicherem Ruin bewahren. Paolo denke nicht zuletzt an sie, das Alter, die Einsamkeit, die leidige Dienstbotenfrage - hier leistete Mrs. Wilcox ihren Beitrag, in Amerika sei die Dienstbotenfrage impossible.

Die Signora hätte gleich ablehnen können, aber sie hatte gelernt, den Verrat an seinem Preis zu messen.

«Welche Summe stellen Sie sich vor?» fragte sie.

«Wir haben von keiner Summe gesprochen.»

«Wollen Sie hier wohnen?»

«Nein, nein», sagte Mrs. Wilcox. «Wir wohnen auf der Jacht. Sie ankert gegenüber dem Bauer-Grünwald. Wenn Sie uns einmal das Vergnügen machten ...»

«Danke. Ich war noch nie auf einer Jacht.»

«Ich habe Interessen in Venedig», sagte Mr. Wilcox.

«Paolo möchte einsteigen.»

In milderem Licht erschien der Signora das Testament des Vincente Santarato. Sie erinnerte sich kaum noch an ihn und machte sich auch keine Vorwürfe, daß sie sich nicht an ihn erinnerte. Vielleicht hatte er sie doch geliebt: Ohne das Testament könnte Paolo sie jetzt ausbooten und «einsteigen». «Einsteigen» gehörte zu den Wörtern, die schlechte Manieren waren. Sollte Vincente sie aber nicht geliebt haben, Venedig hatte er geliebt. Vielleicht hatte er alles vorausgesehen: den verdunkelten Himmel und das Sterben der Fische und die frechen Inseln aus Sumpf und Sand und Geröll, welche die Venezianer Barenen nennen. Hatte er sie schützen wollen vor der Verbannung oder die Stadt vor der Vernichtung?, ein prophetischer Komplice.

«Was ist Ihr Geschäft, Mr. Wilcox?» fragte sie.

«Öl»

Bis zur Stunde hatte sie von dem Feind nur eine vage Vorstellung gehabt. In der Dämmerung werden Geschütze in Stellung gebracht, der Wind trägt das Rasselgeräusch der Panzer, herbstliches Laub knistert wie Feuer, eine Patrouille schleicht sich heran. Der Morgen, endlich, bringt das Ferne nahe. Der Feind hatte Gestalt angenommen. Marghera, Mestre, Malamocco, Murano, Malcontenta: die feindlichen M, wie der Buchstabe M hatten sie Beine, und Venedig war dem Himmel geöffnet wie der Buchstabe V, und Venedig war müde. Den ganzen Tag ziehen Öltanker an der Kirche des Erlösers vorbei, Redentore, zehntausend Tonnen, dreißigtausend, morgen sechzigtausend, die Lagune von Ölzisternen gesäumt, verglaster Eiter schwimmt auf dem Wasser, Eisengerüste wie flammende Riesenkerzen, die Hochhäuser starren aus blöden Augen, malocchio, der böse Blick.

«Öl?» sagte sie.

«Raffinerien. Progress-Oil. »

«Ich wußte nicht, daß sich Paolo für Öl interessiert.»

«Eine große Chance. Wir denken daran, die Verwaltung hier unterzubringen.»

«Es sind ja nur sieben Kilometern, sagte die Signora.

Sie hatte sich einen Ölmagnaten anders vorgestellt, fett und ölig. Mr. Wilcox war ein freundlicher Herr, der keine Zeit hatte und die Kirchen seiner Frau überließ. Was sollte er von Venedig wissen? Die Venezianer waren mißtrauisch; sie hatten sogar ihren Dogen mißtraut. Jedes Jahr mußten sich die Dogen von neuem mit dem Meer vermählen, sie warfen einen Ring in die See, und wenn sie die Treue zu Venedig brachen, wurden sie über brennenden Kesseln geblendet, neunzehn von ihnen verjagt, verbannt, verbrannt. Wer ohne Erlaubnis einen Eichenpfahl. in die Lagune trieb, wurde ins Gefängnis geworfen; wer einen faulen Apfel in die Lagune warf, wurde ausgewiesen; ein volles Jahrhundert lang durfte das Wort Lagune nicht ausgesprochen werden, wie «Gott» bei den Juden. «Sie gedenken nicht, den Palazzo abzureißen?» sagte sie.

«Es ist verboten. Das macht die Sache so kostspielig.»

Mrs. Wilcox hatte sich erhoben, bewunderte den Tizian und näherte sich der leeren Vitrine.

«Das Porzellan ist auf dem Dachboden», sagte die Signora.

«Ihre persönlichen Gegenstände. .. selbstverständlich ...», sagte Mr. Wilcox.

Ein Anflug von Müdigkeit überkam die Signora; ihr Herz hatte ihr in den letzten Wochen zu schaffen gemacht. Warum war Paolo so ungeduldig? Zweiundsiebzig sei die «Lebenserwartung», hatte sie neulich gelesen, zwei Jahre schon enttäuschte sie die Erwartungen.

«Kommen Sie», sagte sie, und trat, von ihren Gästen gefolgt, auf den Balkon hinaus.

Es war ein später Juninachmittag, die Luft lau, ein leichter Wind bewegte die Wellen. Weit draußen, im Nordosten, war der Himmel rot. Auch die untergehende Sonne war rot, hinter den Schornsteinen, eine rote Zielscheibe. Über dem Canal Grande ein schüchternes Blau, aber irgendwo, über den Fondamenta Santa Lucia - sie kannte die Stadt so genau, daß sie auch den Himmel über er Stadt kannte - ging das Blau in Schwarz über: die belagernde Armee, die, ihres Sieges sicher, vor den Toren der Stadt noch einmal rastet.

Die Signora hüstelte, obwohl sie keinen Hustenreiz empfand.

«Das ist die Pest», sagte sie.

Und dann sagte sie, was die meisten Venezianer denken, aber sie sagen es nicht, die Wahrheit ermüdet schnell. Daß man die Ölraffinerien hundert Kilometer weiter inland hätte errichten können, aber daß man dann weniger verdient hätte und deshalb lieber ein paar angenagte Bilder übermalt. Und daß in den letzten zehn Jahren das Wasser dreihundertmal aus seinen Grenzen getreten war. Und daß dennoch weiter nach Süßwasser gebohrt wird und das hohe Wasser noch höher steigt. Und daß die murazzi zusammenbrechen, weil Mauem alt sind und Wellen immer neu. Und daß die Spekulanten die Palazzi gleich im Dutzend kaufen, Renaissance in Quadratmetern. Und daß Geld Venedig nicht retten kann, Geld zerstört Venedig. Und daß der Mensch durstig ist, aber auch das Meer ist durstig. Und daß der eine verdienen will, der andere atmen, und daß sich, wer atmen will, zur Wehr setzt.

«Paolo hat Ihnen sicher gesagt, daß der Palazzo billig zu haben ist», sagte sie. Jetzt mußte sie wirklich husten. «Warum nicht? Seien Sie vorsichtig, der Balkon könnte zusammenbrechen.» Sie labte sich an der erschrockenen Bewegung der jungen Frau. Sie wies nach links, über den Kanal. «Warum kaufen Sie nicht den Palazzo Dario? Der ist berühmter und schon ganz schief, er wankt, er hat zu viel getrunken. Vielleicht ist es nicht verboten, ihn abzubrechen. Warum warten Sie nicht noch ein wenig? Bald können Sie auch den Tizian billig haben, das Mädchen ist schon ganz aussätzig, um die Nase.»

«Paolo ...», sagte Mr. Wilcox.

«Paolo kennt mich nicht», sagte die Signora.

Als sie wieder das Zimmer betraten, entschuldigte sie sich für ihre Heftigkeit. Auch Mr. Wilcox schien nicht alle Brücken abbrechen zu wollen. Man müsse, sagte er, die Dinge im großen Zusammenhang sehen. Fünfzigtausend Menschen, die sonst brotlos wären, hätten allein in Marghera Arbeit gefunden. Die Entfernung von Hamburg bis zum Suezkanal betrage beinahe vierzehntausend Seemeilen, nach Venedig seien es nur tausendvierhundert, warum solle Venedig hinter Genua und Augusta und Triest zurückstehen - «man kann es auch so sehen».

Die Signora begleitete ihre Gäste zur Tür, Mrs. Wilcox sagte, daß es wonderful wäre, die Signora auf der Jacht zu sehen.

«Passen Sie auf, die Treppen sind morsch», sagte die Signora.

Sie blieb in der Tür stehen und beobachtete Mr. Wilcox, der Mrs. Wilcox die Hand gereicht hatte. Sie hörte, daß Mr. Wilcox am Fuße der Stiege leise zu seiner Frau sagte: «A crazy old woman

JEDESMAL im Juni, seit zehn Jahren, hatte sie Romolo vom Bahnhof abgeholt; obwohl sie sich nicht ganz wohl fühlte. wollte sie es sich auch diesmal nicht nehmen lassen.

Vor zehn Jahren war der damals noch nicht Fünfjährige zum erstenmal allein gereist; seine Eltern hatten ihn in Mailand in den Zug gesetzt. Er hatte später oft gesagt, seine Ferien begännen erst, wenn er sie auf dem Bahnsteig erblicke.

Seit Tagen bereitete sich die Signora auf seinen Empfang vor. Sie liebte ihn, wie sie keines ihrer Kinder geliebt hatte. Alle Menschen haushalten mit ihrer Liebe, die einen bewußt, die anderen knausrig von Natur, reicher der eine, ärmer der andere; es ist nicht sicher, daß jene am meisten verschwenden, die am meisten besitzen. Bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa jammert die Mutter Jesu, weil nicht genug Wein da ist - da aber sagt Jesus zu ihr: «Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?» Jesus war kein Familienmensch. Seine Liebe war unerschöpflich, nur für seine Mutter hatte er keine Zeit. Die Signora fragte sich oft, warum sie den Enkel mehr liebte als ihre Kinder. Mit seinen schwarzen Locken, den breit gesetzten Augen und der hohen Stirn, dazu noch so groß, wie die Italiener nur auf den Gemälden ihrer Landsleute erscheinen, hatte Romolo in seiner Kindheit wie ein Botticelli-Jüngling ausgesehen, aber nach der Pubertät, in der die Menschen aus ihren langweiligen Larven schlüpfen, war seine Nase größer, sein Kinn schroffer geworden. Er gefiel ihr, aber es waren nicht Äußerlichkeiten, die ihr gefielen. Seine Klugheit war nicht aufdringlich, seine Fröhlichkeit nicht laut, seine Sauberkeit nicht einfältig. Warum sollte man alle gleich lieben? Heißt es nicht, daß man sich die Liebe verdienen muß? - man soll es der Liebe nicht schwermachen.

Sobald sie die Nachricht von seiner Ankunft erfahren hatte, setzte sie sich mit dem Gondoliere Carlo Paglia in Verbindung; die Heimfahrt von Santa Lucia gehörte zum feierlichen Prolog der Ferien. Sie kannte Carlo seit über dreißig Jahren, aber jetzt weigerte sich der Alte, eine Bezahlung anzunehmen. Fünftausend Lire verlangten die Gondolieri für die Stunde, billiger gaben sie es nicht. Manchmal, wenn die Signora die Gondeln vor dem Dogenpalast betrachtete, wo sie zwischen den Pflöcken auf Gäste wartend hin- und herschaukelten, beinahe wie im Winter - vierhundertfünfzig Gondeln waren.zu viel an der Zahl -, erschienen ihr die Gondolieri als seltsame Bettler: Wie Bettler streckten sie die Hände aus, gondola, gondola, und akzeptierten dann doch keine Lire weniger, als es ihr Stolz gebot. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage galt für sie nicht, sie ruderten über die Zeit hinweg - und dann mußte die Signora lächeln, denn auch sie glitt über die Zeit hinweg und gab es nicht billiger.

Als Carlo hartnäckig darauf bestand, ihr seine Dienste aufzudrängen - «wir haben Signor Romolo immer zusammen abgeholt» -, entschloß sie sich zu einem Kompromiß: Sie täuschte vor, daß sie in der Nähe von Santa Lucia zu tun habe er möge sie am Bahnhof erwarten. Sie nahm den Vaporetto bei Santa Mario del Giglio und fuhr zur Station.

Etwas mehr als zwanzig Jahre alt war der Bahnhof, für sie beinahe neu, aber er glich einem Nachtasyl im Bunker: flatternde Plakate, verwesendes Obst, zerbrochene Fenster, Schlafsäcke auf den Fliesen, schmutzstarrende Gestalten im langen Haar und mit geflickten Brillen, in Leintücher gehüllt wie indische Bettler, Rauschgiftsüchtige in trauriger Seligkeit vor sich hindösend, junge Männer in ausgemusterten Uniformen, Deserteure ohne Heer, wehleidige Landsknechte, Demonstranten auf der Suche nach einem Unrecht, lieblos knutschende Jungen und Mädchen, unbezahlte Huren, Fremdarbeiter auf ihrer gebündelten Habe hockend, unterwegs nach Sizilien, so fremd hier wie in der Fremde, Emigranten alle, Ausgetriebene und Herumgetriebene, die nicht reisen, sondern fliehen.

Romolo erblickte die Signora von weitem. Er umarmte sie, küßte sie auf die Wangen - «du siehst ja fabelhaft aus, du wirst immer jünger». Nachdem er Carlo beinahe ebenso überschwenglich begrüßt hatte, half er ihr in die Gondel.

Obwohl sie ihn manches fragte, sich nach seinem Vater und seiner Mutter und seinem Bruder Remus erkundigte, obwohl er sich fröhlich gab wie immer, sprach er wenig. Während die Gondel durch einen Seitenkanal, einmal an einer grotesken Verkehrsampel haltend, dem Canal Grande zuglitt, streifte sein Blick über alte Mauern und neue Häuser, über Abfalleimer, Cafés, Holzkisten, Löwen, zu den Balkonen empor und den Wäschefahnen, begierig entdeckend, was er längst kannte. Nur bei der offenen Tür der Feuerwehrstation, wo die roten Motorboote aneinandergereiht waren, sagte er: «Die habe ich gern! Erinnerst du dich, ich wollte Feuerwehrmann werden in Venedig.» Früher hatte es sie bekümmert, daß er selten von seinem Heim in Mailand erzählte. Indessen hatte sie sich damit abgefunden: Auch junge Menschen wollten zuweilen alles hinter sich lassen, und wer sollte sagen, wieviel oder wie wenig dieses «alles» sein mochte? Erst als sie beim Abendessen saßen - die Signora hatte die Küche Emilia überlassen, der Putzfrau, die sonst zweimal in der Woche einige Stunden lang für Sauberkeit und Verwirrung sorgte -, beantwortete er ihre Fragen.

Sein Vater, sagte er, verkaufe jetzt Automobile, vertrete jetzt vielmehr eine deutsche Firma. Er sagte «jetzt» - heute deutsche Automobile, gestern eine englische Versicherung, morgen eine amerikanische Produktion, hoffnungsvolle Spielereien, hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. «Mama war von meinen guten Noten überrascht», sagte er, «vier Einser, fünf Zweier, nur ein Dreier, und das in der blöden Mathematik» - er sagte «überrascht», aber was sonst sollte sie sein, da sie wohl das ganze Semester nicht gefragt hatte, die Tage waren ausgefüllt mit Anproben und Partys und shopping, mit Friedensvermittlungen zwischen Paolo und ihrem Vater und mit der Jagd nach Paolos Geliebten.

Erst als das Gespräch auf Remus kam, wurde er gesprächiger. Er ließ den Ossobuco, sein Leibgericht, kalt werden, lehnte sich zurück, spielte mit der Serviette. Die Signora sah ihm an, daß er, indem er von dem um zehn Jahre älteren Bruder sprach, zwischen Bewunderung und Kummer schwankte. Das Studium habe Remus endgültig an den Nagel gehängt, seit zwei Jahren beschäftige er sich mit einem Film, bei dem er Regie führen wolle, «na, du weißt ja». Er komme - Bewunderung - mit Leuten zusammen, von denen man nur in den Zeitungen lese, aber die meisten seien - Kummer - «ganz gräßliche Gestalten››, und es käme doch nichts dabei heraus, kein Meter Film bisher, Remus habe - Bewunderung - «tolle Ideen», aber im Winter sei er – Kummer - drei Wochen lang «glatt verschwunden» gewesen, man habe schon die Interpol verständigen wollen - «die internationale Polizei, weißt du» -, und nach seiner Heimkehr habe er die Möbel seines Zimmers angezündet,

«richtiges Kleinholz. Ich komme übrigens gut mit ihm aus», sagte er und wandte sich dem Ossobuco zu.

Als sie in den Salon zurückkehrten, wehte die kühle Abendluft ins Zimmer. Er wollte ihr einen Schal holen, aber sie ließ es nicht zu, denn die Schubladen ihrer Kommode waren alles andere als präsentabel: Tücher und Seidenpapier und Bindfaden und Photos und Strümpfe und Klebstoff und kleine Banknoten. Wieder in der Tür, sagte sie:

«Kennst du einen Mr. Wilcox?»

«Den Amerikaner mit der tollen Jacht?»

«Ja, sie ankert vor der Giudeca.»

«Glaubst du, daß ich sie mir einmal ansehen kann? Er war ein paarmal bei uns. Papa denkt jetzt ans Ölgeschäft.»

«Dein Vater hat ihn zu mir geschickt. Er will ihm den Palazzo verkaufen.»

Vielleicht war ihr Herz voll, vielleicht wollte sie Paolo denunzieren, vielleicht war sie neugierig, etwas Spionage: Hatte man in Mailand von dem Plan gesprochen? Oder sie wollte nur wissen, was Romolo von dem Attentat dachte. Sie hatte einen einzigen Verbündeten, Dario Ortelli, und der dachte nicht anders als sie. Romolo war vierzehn, der Palazzo vierhundert.

Sie bereute, was sie gesagt und daß sie es am ersten Abend gesagt hatte. Das Blut stieg Romolo zu Kopf, es zuckte um seinen Mund, wie bei Kindern, die nicht wissen, ob sie weinen sollen. Zorn und Scham und Angst sprudelten aus seiner Seele. Zuerst sagte er nur, der Amerikaner habe ihr sicher «ein Märchen erzählt», doch gleich darauf vergaß er jede Rücksicht auf seine Eltern, sprach er von «Gemeinheit», schien er ihnen die Gemeinheit durchaus zuzutrauen: die «gräßlichen Leute», das sähe seinem Vater ganz ähnlich, und Mama habe schon immer gesagt, der Palazzo koste zuviel - «als ob sie dir etwas schenken würde!» Er verstummte. «Oder ... mußt du den Palazzo verkaufen?»

«Ich muß gar nichts. Und ich werde gar nichts. Du hast mich nicht ausreden lassen.» Sie schmunzelte. «Ich habe Mr. Wilcox hinausgeworfen.»

Er sprang auf, lief auf sie zu, wie früher, als sie ein Geschenk hinter ihrem Rücken zu verbergen pflegte.

Jetzt bereute die Signora nicht mehr, daß sie Romolo eingeweiht hatte. Sie umarmte ihn, und er preßte sie an sich.

Später gingen sie auf den Balkon hinaus, und sie erzählte, wie sie Mrs. Wilcox erschreckt hatte; die hatte wirklich geglaubt, der Balkon werde gleich in den Kanal stürzen. Er lachte schallend.

Ein Vaporetto zog über das dunkle Wasser hinweg, als hätte sich ein beleuchtetes Haus auf den Weg gemacht. In seinem Kielwasser schaukelte eine Barke, von zwei Männern gerudert, mit Girlanden von matten grünen und roten und gelben Glühbirnen geschmückt. Drei Männer saßen an einem Tisch, auf dem eine Gitarre und eine Mandoline lagen, Heimfahrt von einer Serenade, eine schwimmende Kneipe, die ihre Gäste ausgespien hatte. Im Haus, schräg gegenüber, einem mit Efeu bewachsenen Quaderblock, waren alle Fenster erleuchtet, nun sprangen die Motoren der wartenden Boote an.

«Auch Dorothy Ginsburg möchte wahrscheinlich den Palazzo haben», sagte die Signora. «Sie hat nicht genug Platz für ihre scheußlichen Bilder.»

«Pech», sagte Romolo.

Und wieder eine Stunde später lag die Signora wach in ihrem Bett. Die Tür zu Romolos Zimmer war angelehnt; sie pflegte sie, nachdem er eingeschlafen war, insgeheim zu öffnen. Zwei Monate im Jahr atmete jemand nebenan.

Sie war in den letzten Jahren mit der Wahrheit nicht immer zimperlich umgegangen, aber die Unwahrheit konnte ein Vakzin sein, das einen bewahrte, sich selbst zu belügen. War ihr der Palazzo nur ein Heim, Besitz, Gewohnheit, Erinnerung? Für Romolo konnte er das alles nicht sein; noch wohnte er in ungebauten Häusern. Sie fand keinen Schlaf, denn von Jugend an schlief sie schwerer ein in Stunden des Glücks als in Stunden der Sorge.

Geschichtsschreibung ist der Versuch zu ergründen, warum der Mensch zerstört, was er aufgebaut hat. Die Geschichtsschreiber suchen den Beginn des Untergangs von Venedig im sechzehnten Jahrhundert, weil sie meinen, wer die Macht verliert, verlöre das Glück.

Ich denke eher an Napoleon. Der Imitator der Imperatoren, der revolutionäre Reaktionär, das Genie des Plebejertums hat Venedig mit einem Haß verfolgt, der unerklärlich wäre, wenn man nicht wüßte, daß Venedig immer den Haß der nouveaux messieurs herausgefordert hat. Der neue Mensch haßt den alten, weil er selbst der alte ist. Er zerrt an der Vergangenheit, die ihn bindet. Venedig ist unveränderlich. Deshalb hat es, in Schwäche noch und Demütigung, die Veränderung in Frage gestellt. Was gestern überlebte, das mag auch in Zukunft überleben. Man haßt nichts so wie das Überlebende.

«Non voglio più», hatte Napoleon gesagt, Venedigs Attila zu sein hatte er sich gerühmt. So viel Haß wegen etwas unschuldiger Schönheit? Wie alle Eroberer, verkündete er eine neue Ethik; in jedem Jahrhundert wird ein- oder zweimal eine neue Moral proklamiert. Sie ist verführerisch, diese neue Moral, denn mag sie auch nichts Gutes verheißen, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die müde Sittlichkeit der Erneuerung bedarf. Die neue Moral will auf die Schönheit nicht verzichten, und muß in ihr doch den Feind erblicken. Schönheit ist erprobt, Moral noch ungewiß. Schönheit ist zu alt, um im Kinderzimmer unmündiger Ethik Purzelbäume zu schlagen; weil ihre Ewigkeit dem Umsturz widersteht, muß sie vernichtet werden. Grimmig trotzt die unwandelbare Ästhetik dem lärmenden Ethos. Ethos ist revolutionär, Ästhetik ist traditionell; sie können sich nicht verstehen.

Napoleons plündernde Horden entführten die herrlichsten Gemälde Venedigs in den Louvre, der achtäugige Löwe wurde in den Dome des Invalides gestohlen, die sanft trabenden Bronzepferde des Markusplatzes sollten auf dem Arc de Triomphe paradieren, das Laub der entlaubten Stadt ein Lorbeerkranz für den Eroberer. Napoleon wollte Venedigs Schätze nicht vernichten, gefährlich waren sie nur in Venedig. Er scheiterte. Gemälde und Löwen und Pferde kehrten zurück: Waterloo und Ararat.

Was Napoleon nicht vermochte, das gelang zwei venezianischen Grafen und einem venezianischen Senator. Mitten im Ersten Weltkrieg begann man, einen Gürtel von Fabriken um Venedig zu legen. Bald jedoch genügte das Festland der Habgier nicht mehr, die Lagune mußte aufgefüllt werden, mußte in Festland sich verwandeln. Das seichte Wasser war dem Vorhaben günstig. Zwanzig Zentimeter, und schon rief es von den Masten der Eroberer: «Land!» Vor den Toren der Stadt, in Mestre und Marghera, lebten damals zwanzigtausend Seelen. Heute sind es siebenmal mehr, an die hundertfünfzigtausend.

Aber das Wasser versickerte nicht, es stieg. Die Gezeiten, bestimmt von Mond und Sonne, lassen sich nicht betrügen, der Wechsel von Ebbe und Flut, das Steigende und das Sinkende sind das Natürliche, im Menschenleben und im Leben der Elemente.

Die Flut war, solange sich der Mensch mit ihr verband, milde gestimmt gewesen, bereit, sich zurückzuziehen zu ihrer Zeit. Flut und Ebbe teilten sich in den Besitz der Stunden. Als die Flut merkte, daß der Mensch sie übertölpeln wollte, wurde sie gewalttätig. Schon in meiner Jugend brandete sie hier und da grollend gegen die Schutzwälle, die murazzi, stieg sie alle fünfzehn bis zwanzig Jahre zu Hochwasser, aber das waren nur Warnungen gewesen, si vis pacem, para bellum. Nun, im Angesicht einer übermächtigen Armee, entschloß sie sich zum Guerillakrieg. Wie der kluge Stratege, der, ausweichend vor dem Stärkeren, Schleichwege wählt, so wogt jetzt das Meer über die Plätze und Straßen Venedigs, die Campi heißen und Calli und Campielli und Salizzade und Fondamente, weil in Venedig nichts so heißt wie woanders.

Schneller als früher schmilzt das Eis der Arktis und Antarktis, die Weltmeere steigen jedes Jahr um anderthalb Millimeter; dem Laien scheint das wenig, es ist viel. Der Boden sinkt, doch an den Küsten der Adria sinkt er tiefer als in anderen Regionen. Die Fälscher, die ich kenne, ein Heer von Spekulanten und Statistikern und Städteplanern, neue Menschen auch sie, sagen, die Sussidenza, das Sinken des Bodens, betrage hier zwei Millimeter, aber in Wahrheit sind es fünf und sieben und acht.

Der Verbündete der Flut ist die Ebbe. Solange ihr nicht zu viel zugemutet wurde, sog sie den Schmutz der Stadt auf und trug ihn hinaus ins offene Meer. Aber als man von ihr verlangte, sie möge in täglicher Fronarbeit alles hinausschleppen, was Venedigs Nachbarn in die Lagunen spien, das Öl und die Exkremente und das Glas und das Holz und den Auswurf der Schiffe, da wählte sie die moderne Form des Krieges, den Streik. Der Guerillakrieg der Flut, der Streikkrieg der Ebbe - meine arme Stadt ist nie arm gewesen an Symbolen. Statistiker berechnen, was sie nicht ändern können. Die Geologie spricht von Hochwasser, wenn das Wasser siebzig Zentimeter höher steigt als sein natürlicher Spiegel. Nun steigt und steigt es, ohne Unterlaß. Drei- oder viermal im Jahr melden die Geologen Hochwasser, die Venezianer, die kein Zentimetermaß bei sich tragen, erfahren es zehn- und zwanzigmal. Im letzten Jahrzehnt trat die' Flut vierhundertzweiundachtzigmal über die Schwelle der Piazza, dreizehn Mal stieg sie auf über hundertzwanzig Zentimeter. Zu Beginn des Jahrhunderts stand Venedig an manchen Stellen um beinahe dreißig Zentimeter höher als heute, der Campanile ist um vierzehn Zentimeter «kleiner» geworden. Der Schrecken wird erst schrecklich, wenn er sich bescheidet. Das Unglück scheint erträglich, wenn es nicht zur Katastrophe steigt, die Katastrophe in Raten ist keine, die Barbarei, die einen Hauch von Leben zurückläßt, gilt als human, und zu dem Wort Vernichtung haben wir das Wort «total» gefügt, um zu sagen, daß wir die Vernichtung dulden, wenn sie nicht gänzlich ist.

Zahlen sind das für andere,für uns ist es die Trauer. Im Winter versinkt meine Stadt in Melancholie. Da hebt sich die bunte Dekke, aus Menschen gewoben, und ihr Kummer wird sichtbar. Die Plätze und die Straßen sind von Brettern und Planken und Latten gesäumt, Hunderte von kleinen Gerüsten in A-Form, auf sie wird man Bretter legen. Man könnte glauben, daß hier ein Bau sich vorbereitet, aber es ist das Holz, aus dem der Sarg Venedigs gezimmert wird. Die Bretter sind in die Straßen geplant für die Überschwemmung, beinahe als stellte man entlang der Bahngeleise Särge auf, noch ehe der Zug entgleist ist. Gerüste der Resignation, die Sintflut kommt sicher, rette sich, wer kann! In keiner Stadt kleben so viele Verordnungen an den Wänden - «Il sindaco ordina ...» -,es ist wie im Krieg, als man den Menschen sagte, wie sie sich verhalten sollten bei Bombenangriff und Sirenengeheul und Verdunkelung. Sintflut kommt von Sündflut, doch hieß sin ursprünglich auch mächtig,gewalttätig, immerwährend, wie es die Sünde eben ist.

Nun ja, man hätte Venedig in ein Rotterdam des Südens verwandeln können. Im Hafengebiet Venedigs laufen sieben Eisenbahnlinien, sechs Autobahnen, sieben Staatsstraßen und sämtliche Binnenschiffahrtskanäle Italiens zusammen, hosianna! Rotterdam? Noch wagte man es nicht. Und so wurden Kanäle gebaut, achtzehn Kilometer lang, fünfzehn Meter tief, hundertachtzig Meter breit, damit die Schiffe in Venedig anlegen, damit sie parken können vor den Ölzylindern wie die Automobile vor den Villen der Vorstädte, damit, was die Betonungeheuer brauchen, zu ihren Füßen entladen, und was sie erzeugen, verladen werden kann zu ihren Füßen. Zweiundvierzig Kilometer Hafendämme schon heute, sechzig Kilometer Hafenstraßen, zweihundertzehn Kilometer Hafenschienen. Vor einem halben Jahrhundert hat die Flut, die den Strand des Lido spülte, zweieinhalb Stunden gebraucht, um Marghera zu erreichen, nun rollt sie in vierzig Minuten an Venedig vorbei.

Die belagernden Heere müssen versorgt werden. Menschen und Maschinen wollen trinken: Das ist die Logik der Logistik. Die Fabriken und die Raffinerien und die Arbeiterhäuser und die Bürogebäude brauchen Süßwasser. Deshalb erschloß man an die hundert Arterienquellen, tiefer und tiefer, dreihundert Meter tief in das Meer drangen die durstigen Bohrmaschinen; entleerten Säcken gleich fallen die Schächte zusammen, immer tiefer sinkt der Grundwasserpegel, das Kissen fortgezogen unter dem Kopf der Schlafenden.

So hatten es, sagt man, die venezianischen Grafen nicht gemeint. Das ist das Los der Erfinder und Pioniere: Sie wollen den Besen erproben und proben die Sintflut. Sie planten nur, heißt es, eine Metallindustrie zu errichten, ähnlich den Glasbläsereien von Murano, und den Venezianern wollten sie Brot geben. Wenn sich die Reichen bereichern wollen, dann sagen sie, sie wollen den Armen helfen, und ehe die Armen die Reichen auffressen, helfen sie ihnen, Fett anzulegen. Am Ende kann der eine seiner Habgier, der andere seinem Neid nicht Einhalt gebieten. Weil es keinen kümmerte, was aus Venedig werden sollte, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die kleinen Fabriken niedergerissen, Individualisten wurden verjagt, das Meer wurde ausgedörrt, die Metallindustrie mußte weichen, die Chemie trat in ihr Unrecht.

Für das, was sich jetzt begab, das tödliche Attentat, fand man später das Wort Umweltverschmutzung. Wer möchte noch das schöne Wort Umwelt, den Wörtern Brüderlichkeit und Barmherzigkeit, Nähe und Natur ähnlich, anders als im abfälligen Sinn gebrauchen? Schöne Welt, häßliche Umwelt, als wäre es zweierlei! Umweltopfer, als wäre die Umwelt ein Urwald! In Venedig fordert die «Umwelt» mehr Opfer als in irgendeiner anderen Stadt Italiens. Die höchste Luftverschmutzung, die noch zu ertragen sei, setzten die Regierenden mit Null Komma drei auf eine Million Luftteile fest. In Venedig Null Komma neun Schwefeloxyd auf den Kubikmeter - ein volles Milligramm wäre das Ende. Auf Grund der Kapillarwirkung steigt das Wasser an den Wänden hoch, das Salz zieht Feuchtigkeit aus der Luft an, Sulfonamide und Azide; und rollt das Wasser zurück, hat es seine verheerende Wirkung schon getan, Venedig wie ein polnisches Dorf nach dem Angriff der Kosaken. Die Algen verschwinden, das Wasser trägt die Leichen der Fische, tot fallen die Vögel von den Bäumen, und froh entdecken die Touristen, daß die Mückenplage aufgehört hat: Nicht einmal die Mücken können überleben.

Plünderungen, wie zu Zeiten der napoleonischen Kohorten, wären beinahe Rettung. Dem Steintod können die Steine von Vicenza, das Rot Veronas, das bianco d'Istria nicht widerstehen, Ziegel um Ziegel bricht, cuci-scuci, Karies der Mauern. Das Gift, das Umwelt heißt, vernichtet imJahr sechs von hundert Marmorfassaden und Marmorwänden und Marmorböden, fünf von hundert Fresken und Möbeln, drei von hundert Gemälden auf Leinwand, zwei von hundert Gemälden auf Holz. Ein Drittel aller Kunstwerke ist tödlich verwundet.

Was weiter? Die Zerstörung gibt sich menschlich. In einem Museum ist Platz genug für Schönheit, aber nur Ratten können in einem Museum hausen. Wenn ihr nicht in einem Museum leben wollt, müßt ihr weichen, wollt ihr in einem Museum leben, müßt ihr verhungern! Räumt Venedig, und es wird erhalten bleiben, oder bleibt in Venedig, und ihr werdet vergiftet! Wollt ihr euch dem Fortschritt widersetzen? Wozu braucht Venedig ein Spital, da es so teuer ist, von Marghera im Motorboot nach Venedig gebracht zu werden, und im Taxi nur ein Katzensprung nach Mestre. Schließt die Hotels! - ihr könnt in Mestre wohnen und in einem halben Tag Venedig besichtigen. Es ist unmenschlich, Tintoretto zu schützen und Arbeiter brotlos zu machen. Was habt ihr gegen die Dekadenz der Mauern, da sie doch so pittoresk ist, und überdies auch noch eine Lehre für jene, die sich dem Fortschritt widersetzen? Stellte man wieder her, was schon vernichtet wurde,gäbe es Arbeit für Hunderttausende, aber das hieße, daß man zusammensetzen kann, was zerschlagen wurde, und Wunden nicht tödlich sein müssen und Neues entstehen kann auf dem Boden des Alten und ein neuer Glauben etwas anderes heißen darf als Unglauben, und am Ende gar, daß San Francesco della Vigna Esso überleben wird. Non voglio più! Im Jahre zweitausend gibt es Venedig nicht mehr.

LAURA HILL-SANTARATO fand am Morgen des achten Juni unter dem Türspalt den Brief ihrer Mutter. Der Hauswart, einem Trinkgeld nicht abhold, hatte ihr entgegen New Yorker Gepflogenheit die Post gebracht.

Es war halb elf; der Brief mußte wohl schon eine Stunde dagelegen haben, aber sie pflegte sich den Tag zu verkürzen, indem sie den Morgen verlängerte.

Als sich Colonel Edward E. Hill nach vierzehnjähriger Ehe aus dem Leben davongemacht hatte, wie er sich früher am Abend und zuweilen auch des Nachts davonzuschleichen pflegte, hatte sie seinen Tod mit verhaltener Erleichterung aufgenommen.

Sie hatte ihn, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, in Venedig kennengelernt. Viele Italiener hofften damals auf die Amerikaner, und daß Major Hill in geheimer Mission in Venedig weilte, ließ ihn nicht nur der jungen Santarato als eine romantische Figur erscheinen. Schon am Tag der Hochzeit folgte Laura ihrem schmucken, wenn auch beträchtlich älteren Major in die Staaten. Mehrere Jahre führten sie ein Wanderleben: Armeelager in Oregon und Kentucky und Nebraska, auch in Washington waren sie gewesen, in Tennessee in einem God damned hell hole, das Paris heißt. Ebenso stetig wie Ed auf der militärischen Leiter emporkletterte, kletterte der Alkohol in seinem Blutspiegel nach oben. Er starb zweimal.

Eines Morgens, sie lebten schon eine Weile auf Long Island bei New York, wurde Laura ins Leichenschauhaus gerufen, wo sie Ed pflichtgemäß identifiziert hätte, hätte er es nicht selber getan. Da lag er hingestreckt auf einem riesigen Eisblock, neben anderen Toten, die man in der Nacht eingeliefert hatte. Waren das jedoch verläßliche Tote, erwies sich Ed als so unverläßlich, wie er es eh und je gewesen. Kaum hatte sich ihm Laura fröstelnd genähert, als er die Augen aufschlug und sich aufrichtete. Sein Herz, in Alkohol wohl konserviert, hatte, nach einem Gelage von gut zwölf Stunden, den Dienst nur scheinbar quittiert.

Es verging ein weiteres Jahr, bevor Ed den Tod endlich so ernst nahm, wie es andere gleich das erste Mal tun. Diesmal fiel er bei einer Party um, das Martini-Glas in der Hand: Hier kannte ihn jeder, Laura brauchte ihn nicht zu identifizieren.

Das letzte Jahr, zwischen Tod und Tod, hatte sie nicht mit ihm geschlafen, weil sie bei seiner Berührung regelmäßig von Schüttelfrost befallen wurde, vermutlich in der Erinnerung an die Eisblöcke mit den verläßlichen und einem unverläßlichen Toten.

Nach seinem Tod hatte die hübsche, dunkelblonde Frau, hochgewachsen wie es ihr Vater gewesen war, schlank, aber mit ansehnlichen Brüsten, so viele flüchtige Liebesaffären unterhalten, daß sie in ihren Träumen die früheren Liebhaber nicht mehr an deren Gesichtern, nur noch an ihren Geschlechtsteilen erkannte. Sie träumte oft. Ihre Erwartungen, in der Jugend relativ bescheiden, hatten sich immer anspruchsvoller gestaltet - wenn sich die Bescheidenheit nicht lohnt, wird man unbescheiden. Laura war immer einsamer geworden. Den Gedanken, in ihre Heimatstadt Venedig zurückzukehren, hatte sie bald nach Eds Tod verworfen, obwohl ihr dort ihre Witwenpension, in Dollars ausbezahlt, ein luxuriöses Leben gestattet hätte. Der Gedanke an Venedig war mit ihrer Niederlage verbunden; sie dachte mit Stolz, aber ohne Wehmut an ihre Stadt, wie an eine verfallene Burg, in der die Vorfahren gehaust hatten.

Nachdem sie Ed im Heldenfriedhof von Arlington begraben hatte, einer vorzüglichen Ruhestätte, weil die toten Helden nichts zu zahlen brauchen und von ihren Angehörigen weit entfernt sind, übersiedelte Laura in eine mit Geschmack ausgestattete Zwei-Zimmer-Wohnung, East Seventieth Street. Sie richtete sich darauf ein, im Land, wo die Witwen eine beinahe so gefürchtete Minderheit sind wie die Neger, als Witwe unter Witwen zu leben. Je länger indes ihr Witwendasein währte, desto herrlicher erschien ihr der Verblichene; er hatte ihr für Langweile nie Zeit gelassen, während sich jetzt die Langweile bei ihr einmietete.

Deshalb begann sie auch ihren Tag zu so fortgeschrittener Stunde - den Schlafrock umgeworfen, hellblaue curler im Haar, hielt sie Ausschau nach der Post, die meistens aus aufdringlichen Werbeprospekten bestand und sie auch heute enttäuschte.

Sie öffnete den Brief nicht sogleich, sondern gab sich vorerst ihrer täglichen Routine hin: Der Kaffee wurde auf den Herd gestellt, der Orangensaft dem Kühlschrank entnommen, der raffinierte Kochapparat für ein Dreieinhalb-Minuten-Ei reguliert, die am Abend zuvor auf dem gedeckten Küchentisch umgestülpte Tasse zurechtgerückt, das Wasser in die Badewanne gelassen. Beim Frühstück blätterte sie noch zerstreut in der Daily News, die sie in der Nacht nach Hause gebracht hatte; dann erst, den Brief in der Hand, begab sie sich in das rosagekachelte, mit Flaschen, Fläschchen, Kämmen, Bürsten, Tiegeln, Salben, Spiegeln und Spiegelehen reich staffierte Badezimmer.

Nackt vor dem Spiegel stehend, gab sie sich abermals der täglichen, schier masochistischen Übung hin. Sie prüfte die Zahl der Falten im Gesicht und am Hals, hob die Arme hoch, um festzustellen, ob die Haut zwischen Arm und Körper über Nacht nicht schlaffer geworden war, und dies etwa auch am oberen Teil ihrer Schenkel, maß, sich umwendend, die Senkung ihres Gesäßes; nur mit den Brüsten, von den Jahresringen verschont, war sie auch heute zufrieden. Im Badewasser wich, wie gewöhnlich, ihre üble Stimmung; wie gewöhnlich kam sie zu dem Schluß, daß ihr Körper in liegender Position am besten aussah, und wie gewöhnlich dachte sie, daß sie im Bett noch sehr wohl gefallen könnte, nur der gemeinsame Weg dorthin war beschwerlicher geworden. Nun, endlich, wandte sie sich der Lektüre zu.

Es war keiner der langweiligen Briefe ihrer Mutter, in denen diese, selten genug, von ihrem Gesundheitszustand, einem bevorstehenden Besuch Romolos, der Abwesenheit Paolos und Claudias, gelegentlich von einem künstlerischen Ereignis und, unausbleiblich, vom entsetzlichen Zustand des Palazzo berichtete. Dem Palazzo war freilich auch dieser Brief gewidmet. Die Baufälligkeit des Hauses habe nun einen «lebensgefährlichen Zustand» erreicht, und da Paolo «bekanntlich» nicht helfen wolle oder könne, müsse man sich zu einer «entscheidenden Operation» entschließen. Diese Operation aber heiße Mädchen mit Blumenkorb. «Ich will keinen Centesimo mehr, als mir zusteht», schrieb die Signora, ihr Viertel aus dem Erlös des Tizian wolle sie «bis zur letzten Lire» auf die Rettung des Palazzo verwenden - «bevor Du Deine Entscheidung triffst, bitte ich Dich, Deine eigenen Interessen zu bedenken. Dein Viertel aus dem Verkauf würde Dich zu einer wohlhabenden Frau machen, sicher wäre es mehr als genug für die Weltreise, die Du Dir, ich weiß, seit Jahren wünschst. Zugleich würde aber, woran Du vielleicht nicht denkst, der Wert des Palazzo erheblich steigen, was Euch allen nach meinem Tod - Doktor Einaudi ist mit meinem Herzen durchaus nicht zufrieden - beträchtliche Vorteile bringen würde.» Die Signora schloß mit der Versicherung, daß Laura, trotz dem dringenden und günstigen Angebot, das erste unter den Kindern sei, an das sie sich wende:

«Wenn wir uns einig sind, würde es Paolo und Claudia ziemlich schwerfallen, wieder einmal nein zu sagen.»

Der Brief beschäftigte Laura den ganzen Tag. Sie hatte nichts zu tun, nicht einmal der benachbarte supermarket lockte; ihre Tiefkühltruhe war voll - das eisige Magazin, in dem nichts verdirbt, verdirbt den Zeitvertreib.

Je länger sie auf sich gestellt war, desto schwerer war ihr jeder selbständige Entschluß geworden, sei es, daß sie für die Einsamkeit nicht geschaffen war, sei es, daß sie mit Entschlüssen spielte, wie man Patiencen legt. Mit der gutgewachsenen Negerin, die just heute ihren Putztag absolvierte, konnte sie nicht vom Tizian sprechen; Kleopatra hatte alle Hände voll zu tun mit ihrem dreizehnjährigen Sohn, dessen Bedarf an Marihuana unerschwinglich war und den sie auch heute mitgebracht hatte. Lauras Freundinnen, die sie ohnedies mit einer gewissen Herablassung behandelte, waren tagsüber mit ihrem Haushalt oder ihrem Beruf beschäftigt und vor dem Abend kaum geneigt, Ratschläge zu erteilen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die nächtliche Stunde abzuwarten, in welcher der Telephonapparat stets lebendig wurde; da waren Geraldine und Louella und Patricia, mit denen sie zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens ihre Fernseherfahrungen zu besprechen pflegte - ob der Film aus den fünfziger Jahren noch genießbar gewesen sei, die round-table-conference etwas Neues gebracht oder die Jonny-Carson-show den Erwartungen entsprochen habe.

Geraldine war entzückt von der Idee, insbesondere von der Aussicht auf eine Weltreise, bei der Laura leichterdings einen Mann finden würde - «ich fahre mit, als Anstandsdame» -; Louella warnte sie davor, auf die Schalmeien der tricky old woman zu hören, sich mit der ganzen Familie zu überwerfen und den Tizian in einer Panik, vermutlich unter seinem Wert zu verkaufen; Patricia, die nie in Venedig gewesen war und der sie erklären mußte, daß Tizian ein ziemlich bekannter Maler gewesen sei, hatte keine Meinung. Wie das nach Meinungsumfragen meistens der Fall ist, war Laura am Ende so klug wie zuvor; sie beschloß, die Sache zu überschlafen.

Ihre Entscheidung war zusammengebraut aus Emotionen und Überlegungen, wobei die Überlegungen die Emotionen einzuholen versuchten.

Ihr Psychoanalytiker, den sie fünfJahre lang jeden Dienstag und Freitag besuchte, hatte ihr das traumatische Erlebnis des Palazzo aufgedeckt. Ihre Eltern hatten ihr weniger Liebe zugedacht als dem Palazzo. Einmal, als sie zu Weihnachten die große Puppe nicht bekommen hatte, war ihr Vater sogleich mit den Ausgaben für nebulose Reparaturen zur Stelle gewesen - die schweren Folgen der Enttäuschung waren Laura seit ihrer Analyse klargeworden. Auch hatte sie ihr Zimmer jahrelang mit der jüngeren Schwester teilen müssen, weil in dem geräumigen Haus für Repräsentation mehr Platz gewesen war als für Betten. Laura erinnerte sich an die verkalkte Wasserburg mit den Schatten, die nach einem griffen, und mit den Gegenständen, die man nicht angreifen durfte; die Gefängnisse, die in ihren Träumen regelmäßig wiederkehrten, hatten gotische Türen und maurische Balkone, waren heimgesucht von der Sintflut, die sie als Kind hinter tränenden Fenstern beobachtet hatte. Sollte gerade sie den Palazzo retten, statt ihn aus ihren Träumen zu verscheuchen? Je länger sie wachlag, desto höher stieg ihr Zorn gegen die alte Frau, welche die Kette an ihrem schwächsten Glied zerreißen wollte: Natürlich hatte sich ihre Mutter, sie glaubte es ihr aufs Wort, zuerst an sie gewandt, der Tizian als Eris-Apfel. Ihre Mutter vermochte Paolo nicht zu bewegen, den Besitz Stück um Stück zu verschleudern, und nun berief sie sich auf ihr schwaches Herz - sie würde die ganze Familie zu Grabe tragen! Paolo war der einzige erwachsene Mann in der Familie, und obwohl ihn Laura weder liebte noch achtete, gab es doch keinen anderen, an dem sie sich festhalten konnte. Mochten die dummen Weiber von der Women's Lib-Bewegung sagen, was sie wollten, der schwächste Mann war immer noch mehr wert als die stärkste Frau. Sie dachte an Ed. Schließlich war er, wenigstens in den ersten Jahren, nicht immer betrunken gewesen; sicher hätte er ihr geraten, nein zu sagen.

Am Morgen schrieb sie an ihre Mutter. Sie sagte nein.

DIE PALAZZI Venedigs sind auf drei Millionen Eichenpfählen gebaut. Es waren drei Eichenpfähle, welche die Signora beschäftigten.

«Du weißt, es ist dringend», sagte sie zu Luigi Primavesi, dem jungen Architekten, den sie zu sich beschieden hatte.

Sie kannte ihn seit seiner Kindheit, sein Vater war ein Kollege Vincentes gewesen. Begabt und erfolgreich, hatte er sie mehrere Male selbstlos beraten. Obwohl Primavesi Mitte dreißig war, ein kleiner adretter Mann mit einer dicken ungefaßten Brille und glatt anliegenden, über der Stirn strichförmig gerade geschnittenen Haaren, die ihm das Aussehen eines Chorknaben verliehen, erinnerte er sie immer noch an den stillen Jungen; sie hatte ihm sein erstes Schaukelpferd geschenkt. Deshalb duzte sie ihn, während er sie, halb zärtlich, halb respektvoll, Tante nannte, Zia Anna-Maria.

«Die Gefahr droht von der Nordseite», sagte sie. «Die Pfähle sind wie von Lepra zerfressen. Ich hatte einen schrecklichen Traum. Ich sah einen Clown, wie in meiner Kindheit - einen von jenen Clowns, weißt du, die man immer wieder aufrichtet und die immer wieder in sich zusammensacken. Nur hatte mein Clown den Aussatz, ein Gesicht voll Eiter.»

«Die Auswechslung der Pfähle wäre kolossal kostspielig», sagte Primavesi. «Ich kann Ihnen dazu nicht raten.»

«Kostspielig? Ich habe überhaupt kein Geld.»

«Auch wenn Sie es hätten ...! Denken Sie an den Clown!» Er breitete seine Zeichnungen aus. «Ich habe mir die ganze Struktur angesehen. Wir können den Fuß verbinden, aber die Lähmung nicht beseitigen. Auf keinen Fall, ohne Millionen zu investieren.»

Sie wollte nicht von der Lepra sprechen, nur von ihrem Kranken.

«Läßt sich niemand finden ...?» sagte sie.

«Niemand hat ein Interesse daran.»

«Will niemand Venedig retten?»

Primavesi beschloß, der alten Frau reinen Wein einzuschenken. Er hielt sich für einen guten Venezianer, aber seine Welt endete nicht am Ponte della Liberta, die Venedig mit dem Festland verbindet. Er hatte an fortschrittlichen Universitäten studiert; neben den Examen hatte er dort seine Sentimentalität abgelegt. Während die Steine der venezianischen Häuser zerbrachen, versteinerten die Venezianer, sie hatten nicht gelernt, daß die Städte, wie die Menschen, alle gleich geboren werden; es kommt nur darauf an, was man aus ihnen macht und was sie aus sich machen. Venedig, sagte er in dem ihm eigenen milden Tonfall, lebe immer noch von den Fremden - über dreihundert Hotels, Pensionen, Gaststätten, die sich nicht zu beklagen haben. «Die Fremden wollen sich auf dem Markusplatz beim Taubenfüttern photographieren lassen, bei Quadri Eis essen, vor der Seufzerbrücke seufzen und in Gondeln schaukeln.»

Was hatten die Touristen mit dem Palazzo zu tun? Luigi wollte sie ablenken. Er fiel vom Schaukelpferd.

«Die Gondeln gleiten durch eine Gespensterbahn», sagte die Signora.

«Ein Holländer hat mich neulich gefragt: ‹Ist ein venezianischer Apotheker wie ein anderer Apotheker?›, und ich antwortete ihm: ‹Nein, neben seinen Medikamenten denkt er unentwegt an Venedig.› Bei uns ist jeder Apotheker auch ein Museumswächter. Aber die beinahe zweihunderttausend Museumswächter, die hier lebten, als ich geboren wurde, waren zuviel, und wenn es heute noch die Hälfte ist, ist es auch zuviel, selbst für das schönste und größte Museum der Welt. Verzeihen Sie, wissen Sie, wie viele Venezianer über fünfundsechzig Jahre alt sind? Achtundsiebzig von hundert. Vor zwanzig Jahren gab es bei uns zwölftausend Schulkinder, heute sind es weniger als fünftausend. Zwölf Kinder werden geboren, und achtzehn Erwachsene sterben», sagte er schnell. «Museumswächter ist kein Beruf für junge Menschen.»

Die Signora wollte sagen: Kaum seid ihr vom Schaukelpferd gestiegen, da könnt ihr es nicht erwarten, daß wir sterben. Aber sie sagte:

«Also, soll das ‹Museum› verfallen?»

«Das will niemand, wir Sozialisten am allerwenigsten. Museen werden von lebendigen Städten am Leben erhalten ...» Er hatte keine Lust, Zia Anna-Maria einen politischen Vortrag zu halten. Er hätte ihr sagen müssen, daß man von niemand verlangen kann, in pittoresken Ruinen zu leben. Aber das würde sie nicht begreifen; auch war es nicht seine Art, den Partner zu schockieren, man kam weiter, wenn man ihn mit einer freundlichen Geste bei der Hand nahm. «Es sollen dreihundert Milliarden zur Rettung Venedigs vorhanden sein», sagte er.

«Sie verfaulen in den Banken, weil niemand gestehen will: Ja, es handelt sich um die Erhaltung eines Museums.Was uns fehlt, ist die Aufrichtigkeit der sozialistischen Staaten. Es gibt kein Land, das seine Vergangenheit hegt und pflegt wie die Sowjetunion. Alle Zarenpaläste sind tadellos erhalten - ich habe sie im vorigen Jahr selbst gesehen -, nur die Zaren hat man eben verjagt.»

«Zarin Anna-Maria die Letzte», sagte die Signora.

«Sie wissen, daß ich es nicht so meine, Tante. Es gibt einige sehr hübsche neue Häuser auf dem Lido, auch in Venedig - wir selber haben mehrere gebaut -: Warum ziehen Sie nicht in eine sonnige Drei-Zimmer-Wohnung? Ich kann sie Ihnen verschaffen.»

«Nur ich stehe also der Rettung des Palazzo im Wege?»

«Sie müssen die Dinge im großen Zusammenhang sehen.»

Das kannte sie. Wenn man um eine Antwort verlegen war, einem Problem ausweichen, eine Lösung auf die lange Bank schieben wollte, auf der es sich dann bequem schlafen ließ, sprach man von großen Zusammenhängen. Aber daß auch sie, gerade sie, die Dinge im großen Zusammenhang sah, das war kein großer Zusammenhang.

«Individuell ist Venedig nicht zu retten», sagte Primavesi. «Dreihundert Milliarden, oder auch eine Billion: ein Tropfen auf den heißen Stein. Jedes dritte Haus ist in Privatbesitz. Einer verlangt einen Kredit, den er nie zurückzahlen kann; ein zweiter meint, sein Estense sei wichtiger als die Botticelli der Accademia; ein dritter verlangt Steuerfreiheit beim Verkauf seiner Möbel, um seinen .Palazzo instandzusetzen, für den er dann sündhafte Mieten verlangt, und alle laufen Sturm gegen Marghera.»

«Marghera ist die Pest.»

«Und Venedig eine heilige Kuh. Neapel hat mehr Industrien als Marghera. Was hat es Pompeji geschadet?»

«Pompeji wurde von Erdbeben und vom Vesuv zerstört, nicht von Menschen. Je mehr Pompeji verfällt, desto wertvoller wird es.»

«Man wird Venedig nicht verfallen lassen. Gehen einmal sämtliche Palazzi und alle Kunstschätze in staatlichen Besitz über ...»

«Ihr wollt die Palazzi enteignen?»

«Das täten die Kommunisten. Wir wollen bezahlen.»

Sie fixierte Primavesi so scharf, daß er zusammenzuckte, aber sie tat es nur, weil sie für einen Augenblick meinte, Mr. Wilcox säße ihr gegenüber. Ach nein, sie wollten die Palazzi nicht niederreißen, sie wollten sie nur billig bekommen, die einen als Museen, die anderen als Hotels. Und die Botticelli und die Veronese und die Carpaccio und die Lackkommoden und die Pagodenlüster und die Kästchen des Marco Polo als Draufgabe. Die einen ziehen nach Mestre, den anderen bietet man eine Drei-Zimmer-Wohnung an, bis auf weiteres. Die Rechnung geht auf, für Mr. Wilcox und für Luigi. Sie sagte:

«Weißt du, warum die Fremden nach Venedig kommen? In Pompeji halten sie an und fahren weiter und kehren nicht zurück. Einen Friedhof besucht man nur einmal.»

Ein Venedig, in dem man nicht hinaufblicken kann zu den Lüstern der Salons, sich nicht fragen kann: Wer lebt da?, war nicht Venedig. Das Licht hatte sich in die Häuser geflüchtet. Wenn das Licht erlosch, war das Museum dunkel. Luigi war also Sozialist. Er wollte das Licht in der Vergangenheit auslöschen, seine Demagogie kroch an den Wänden der Palazzi hoch wie das Salz des Wassers, ein Architekt, der niederriß, was ihm im Wege stand.

Er sah, daß sie erschöpft war, und sie tat ihm leid. Er wollte ihr helfen. Wie konnte man dem einzelnen helfen, ohne das Prinzip aufs Spiel zu setzen? Es ist nicht leicht, die Menschen zu lieben, aber es ist auch schwer, kein Mitleid mit ihnen zu haben. Kaum hat man sich ein Bild von dieser oder jener Gesellschaft gemacht, da lösen sich die Menschen aus der Vorstellung und widerstehen dem Bild. Der Reiche, der dem Bettler gibt, schadet seiner Gesellschaft, die auf Leistung gebaut ist und über den Bettler keine Träne vergießen darf, und der Revolutionär, der dem Bettler gibt, schadet der Revolution, die Bettler braucht, damit sie sich gegen die Gesellschaft erheben. Und wer an dem Bettler vorbeigeht, Reicher oder Revolutionär, schadet sich selbst. Primavesi war überzeugt, daß der Kapitalismus das Böse sei, aber nicht alle Kapitalisten waren böse, nicht einmal alle waren reich. Er wollte den Bettlern weder helfen noch an ihnen vorbeigehen.

Die Signora ließ die Hände sinken. Sie sprach zu einem Jungen auf dem Schaukelpferd, aber den Jungen gab es nicht mehr. Indes hatte sie Luigi der drei Pfeiler halber gerufen, und wenn sie sich demütigen mußte, dann mußte eben die Demütigung der Hinterlist in den Sattel helfen.

«Es kann schon sein, daß du recht hast», sagte sie, «ich bin zu alt, um es zu verstehen. Man kann ein neues Leben nur beginnen, wenn man glaubt, ein bißchen Leben vor sich zu haben. Ich werde in diesem Haus sterben, und es wäre schade, wenn es geschähe, weil die Wände über mir zusammenstürzen. Irgendwann wird es Paolo einsehen und dazu beitragen, wenigstens ein paar Pfeiler zu renovieren. Bis dahin könnte ich von meiner Rente jeden Monat einen kleinen Beitrag sparen ...» Er schob die dicke Brille auf seine Stirn und führte die Papiere nahe an sein Gesicht. Paolo würde nie zahlen, und was sie sich unter Ratenzahlungen vorstellte; genügte nicht einmal für einen Fernsehapparat. Die Anspielung auf die spärliche Rente hatte ihn gerührt. Jeder hatte eine schwache Stelle, das war ein Luxus, den sich schließlich jeder leisten durfte.

«Nein, nein», sagte er, «das kommt nicht in Frage. Man kann die Pfeiler eventuell stützen, ohne neue zu errichten, provisorisch werden wir es mit Zement versuchen. Ich habe nächste Woche einige Arbeiter, die ich entbehren kann, lassen Sie es meine Sorge sein.»

Sie dankte ihm so überschwenglich, daß er sich beeilte, den Salon zu verlassen. In der Tür sagte er:

«Sie sind doch da, nächste Woche ...?»

«Ich bin immer da», sagte sie.

DARIO ORTELLI wollte Maler werden, er war Kunst- und Antiquitätenhändler geworden, aber eigentlich war er ein Dichter. Deshalb sammelte er Netsukes.

Netsukes sind kleine japanische Figuren, aus Holz oder Metall oder Porzellan oder Perlmutter oder Elfenbein, doch Darios Netsukes waren allesamt aus Elfenbein. Früher, als die Japaner Kimonos trugen und keine Hosentaschen hatten, waren das nützliche Gegenstände gewesen, man zog eine dünne Schnur durch die beiden Löcher, die irgendwo in den Figuren versteckt sind; sie dienten den Inros, Tabak- oder Teebeuteln, die man am Gürtel befestigte, als Gegengewicht. Netsukes zu sammeln ist aber eine Leidenschaft für Dichter, weil mit jedem Netsukes eine Legende verknüpft ist, wie die Netsukes mit dem Gürtel. Jede Figur erzählt ein japanisches Märchen. Da ist Tennin, die Fee, die vor dem Fischer Hakurjo tanzte, damit er ihr das Kleid zurückgebe, das sie beim Baden abgelegt hatte; da ist das Uma, das Pferd des Malers Kanaoka, dessen Bilder seine Nachbarn vernichteten, weil die Bilder so lebensecht waren, daß die Bauern meinten, die Pferde Kanaokas stiegen nachts aus den Rahmen und zerstampften ihre Felder; da ist Shojo, der trunkene Halbgott, der dem gütigen Kneipenwirt Kofu ein Faß voll Sake geschenkt hat, das sich von selbst füllt; und da ist die Meerjungfer, von deren Fleisch zu essen ewige Jugend verleiht. Das mit den Meerjungfern glaubte Dario nicht; dagegen hatte er eine besondere Beziehung zur Oshidori, der Mandarin-Ente vom Fluß Akanuma, wobei man ebenso gut von einem Enterich sprechen könnte, denn die Sage berichtet, daß sich die Oshidori-Enten, wenn sie sich einmal gepaart haben, nie verlassen.

Dario und Francesca ähnelten den Mandarin-Enten vom Fluß Akanuma. Ihre Ehe hatte keine Geschichte. Er war als Sohn eines Glasbläsers geboren worden, sie als die Tochter eines Glasbläsers, beide im gleichen Viertel noch dazu, in der Nähe des Campo Ghetto Nuovo. Er war um zwei Jahre älter als sie, also waren sie gleich alt. Im katholischen Glauben hatte man sie streng erzogen, und sie hatten sich dagegen nicht aufgelehnt, noch besuchten sie jemals eine Kirche, es sei denn, daß dort gerade keine Andacht stattfand. Lernten sie Leute kennen, gingen sie heim und hatten von ihnen die gleiche Meinung. Weil sie der gleichen Meinung waren, konnten sie sich bis in die Morgenstunden unterhalten. Was sie erworben hatten, hatten sie zusammen erworben; so viel und so wenig, daß es sie nie beschäftigte. Francesca, beinahe so groß wie Dario, war in ihrer Jugend ein begehrt Mädchen gewesen; nun waren ihre Formen üppiger geworden, aber für Dario waren das Formen verläßlicher Gesundheit. Da er ihr immer noch begehrenswert erschien, befreite sie ihn von dem späten Zwang, über seine Männlichkeit nachzudenken; sie befriedigte seine kleinen Eitelkeiten, er suchte nicht, sie bei anderen Frauen zu bestätigen. Seine Freunde, klein an der Zahl, machten sich lustig über seine Treue, und er machte sich lustig über ihre Untreue. Sie dünkte sich nicht besonders moralisch, weil er der einzige Mann in ihrem Leben geblieben war, und beklagte zuweilen, daß ihr kein anderer gefiel; sie verglich ihn mit anderen Männern, ohne ihn für besser zu halten als die anderen, und wenn er scherzend sagte, er sei doch unvergleichbar, meinte sie: «Du bist nur einfacher, ich habe mich an deine Fehler gewöhnt.»

Der kleine Laden Darios, mit einigen auserlesenen Antiquitäten und manchem Plunder, auf welchem jedoch mit großen Lettern Nuovo stand, eine venezianische Kuriosität, lag im Erdgeschoß des Hauses in der Piscina di Frezzeria, wo sie auch wohnten, neben dem Cinema Centrale und gegenüber dem berühmten Restaurant alla Colomba. Dario und Francesca konnten sich aussuchen, wer ihnen den Schlaf rauben würde: die Fremden, die auf der Terrasse von Colomba speisten, oder die Jugend, die zu den Wildwest-Filmen drängte. Aber sie schliefen ausgezeichnet, trotz diesem oder jenem wilden Westen. Dario hielt nichts von Geschäftsstunden; er öffnete oder schloß seinen Laden, wann es ihm paßte. Da die geräumige Wohnung unmittelbar über dem Laden lag, konnte er mit einem sanften Läuten stets herbeigerufen werden; von einem unsanften Läuten ließ er seine Siesta nie stören.

Dario pflegte eine lange Mittagspause zu machen. Zu Francescas Überraschung traf er jedoch an diesem Juninachmittag keine Anstalten, sich zur Ruhe zu legen. René Naville, sagte er, habe sich angemeldet. Francesca runzelte die Stirn, einmal der gestörten Siesta wegen, zum anderen, weil sie den französischen Kunsthändler nicht leiden konnte, und schließlich, weil sie meinte, er käme wieder wegen der Netsukes. Naville, der, auf Art der meisten Kunsthändler, von allem, das er teuer verkaufen wollte, vorerst behauptete, es sei sein privater Besitz und unverkäuflich, konnte sich nicht damit abfinden, daß sich Dario von seinen Netsukes, mittlerweile etwa dreihundert an der Zahl, um keinen Preis trennen mochte.

Nein, versicherte Dario, diesmal habe der Besuch Navilles nichts mit den Netsukes zu tun: «Ich sollte mich täuschen, wenn es ihm nicht um den Tizian geht.»

In der Tat kam Naville schon nach einer kurzen Einleitung auf den Tizian zu sprechen. Er hatte sich, raumfüllend, an den Speisezimmertisch gesetzt, den Francesca abzudecken im Begriffe war, und richtete nun einen Appell an Darios alte Freundschaft, eine, wie er betonte, durchaus gegenseitige, denn er sei bereit, von seinen zehn Prozent ein Zehntel an Dario abzutreten - «ein Prozent vom Gesamtpreis, bei dieser Summe nicht schlecht, n 'est-ce pas?» -, und das praktisch ohne Arbeit für Dario. Der möge seiner Freundin nur zum Verkauf raten, ein guter Rat für die Signora und kostspielig für Naville.

Dario wies das Angebot nicht empört zurück. Er hatte ein Leben lang gefunden, daß nur diejenigen Apage Satana! rufen, die den Satan recht verführerisch finden. Man mußte wissen, woran man war, mußte sich informieren, weniger über die Absichten des Maklers, darüber würde man ohnedies nur lauter Lügen erfahren, als über die Absichten der Signora.

Indes stellte sich bald heraus, daß Naville nicht log, anscheinend erwies er Dario die Ehre, ihn für einen verläßlichen Komplicen zu halten. Er agiere, sagte er, im Auftrag eines Tizian-Sammlers, den Namen könne er zwar nicht nennen, doch sei es ein höchst respektabler Mann: «Oh und wie das Bild ins Ausland wandert, ist schließlich nicht unsere Sache.»

Als sich Francesca, die gerade die Obstschüssel wegräumte, in der Tür umwandte und meinte, Dario würde sich zu derlei nie hergeben, erklärte Naville, daß er das sehr wohl wisse, mit der Zukunft des Bildes habe Dario nichts zu tun, er kenne seinen Freund lange genug, «un honnete homme, un homme pauvre», im übrigen sei Illegalität eine Frage der Dimensionen, je größer die Dimensionen, desto geringer die Illegalität.

«Wenn ich etwas tun soll», sagte Dario, «muß ich wissen, wie weit Ihre Verhandlungen mit Signora Santarato gediehen sind.»

«Elle est drôle, tres drôle», sagte Naville. Ich bezahle ihr den vollen Betrag, in bar, auf die Hand. Ein Glück, wegen der Steuern, müssen Sie zugeben. Stellen Sie sich vor, ausgerechnet daran soll das Geschäft scheitern. Sie verlangt, daß ich ein Viertel auf ihr Konto hinterlege, drei Viertel in drei gleichen Raten auf drei Konten, die sie eigens zu diesem Zweck für ihre Kinder eröffnen will. Haben Sie je etwas so Verrücktes gehört?»

Dario wechselte einen Blick mit Francesca, die es sich überlegt hatte und im Zimmer geblieben war. Sollte er Naville sagen, daß der Signora das Bild nur zu einem Viertel gehöre, daß sie höchstens den halben Kopf verkaufen könne, oder den Busen oder die Hüften oder die Blumen? Das wäre wohl das Ende des Geschäfts gewesen, selbst bei einem Mann wie Naville. Aber Dario brachte es nicht übers Herz, die Signora bloßzustellen. Wenn er den Verkauf verhinderte, würde das genügen; wo es keinen Verkäufer gab, da saß der Käufer auf dem trockenen.

«Das sind Modalitäten» sagte er. «Sie haben mir die Frage nicht beantwortet, ob Signora Santarato verkaufen will.»

«Wir sind uns einig», sagte Naville.

«Und wozu brauchen Sie mich?»

«Halten Sie mich für einen Narren, Ortelli? Ich werfe doch nicht ein Zehntel meiner Provision zum Fenster hinaus. Sie müssen Signora Santarato beibringen, daß sie das Geld nimmt, bar, einen Koffer voll und in einer Summe. Sonst ist das Geschäft zum Teufel. Sie ist verrückt, nicht ich bin es. Ich schalte keine Banken ein, und irgendwelche unbekannten Kinder schon gar nicht.»

Dario wich dem Blick Francescas aus. Wenn ein Maler versuchte, Dario ein falsches Bild zu verkaufen, pflegte Francesca temperamentvoll zu verlangen, er möge dem Verkäufer auf den Kopf zusagen, daß der ein Schwindler sei-Frauen, die keine krummen Wege gehen, sagen, daß sie keine krummen Wege gehen, Männern genügt es, sie nicht zu gehen.

«Ich werde mit der Signora sprechen», sagte Dario. «Natürlich unverbindlich. Ich muß erfahren, warum sie solche Bedingungen stellt.»

Naville erhob sich mühsam.

«Bon», sagte er. «Aber denken Sie daran, daß mein Klient nicht wartet. Ich treffe ihn nächste Woche in Paris. Dann muß ich ihm eine Antwort geben.» Er ging an einem der Glasschränke mit den Netsukes vorbei. «Wie steht es mit dem Zeug da?»

«Das Zeug ist unverkäuflich», sagte Dario.

ERST BEIM dritten Rogers fiel es Claudia ein, daß sie vergessen hatte, ihre Mutter zu besuchen; sie hatte nicht einmal abgesagt. Sie wollte zum Telephon gehen, aber auch das vergaß sie gleich wieder.

Sie vergaß leicht, in letzter Zeit: Das Alter konnte es nicht sein, dafür war man mit fünfundvierzig zu jung, und auch nicht der Alkohol, sie trank seit zwanzig Jahren, einmal weniger, meistens mehr. Vielleicht wollte sie vergessen, aber sie wußte nicht was, jedenfalls nichts Bestimmtes. Was sie dachte, ging auf dem Weg verloren.

Sie saß an der Theke von Harry's Bar, an der langen Theke bei der Tür, die den schwingenden Türen der amerikanischen saloons nachgeschnitzt war. Draußen klatschte der Regen auf die Calle Vallaresso. Wenn sie sich umsah, erblickte sie durch den unteren Türspalt die nassen Stiefel der Fußgänger; bewegte sich die Tür - sie bewegte sich unentwegt und öffnete das Lokal dem feuchten Atem der Straße-, wurde man des Gedränges gewahr: späte Einkäufer, Touristen, Gondolieri, Hoteldiener, die ihre Gäste von der Vaporettostation abgeholt hatten und ihre Karren vor sich herschoben. Über der Türöffnung schwebten die Regenschirme.

Harry's Bar war Claudias zweites Heim, ihr eigentliches. Als sie vor zwanzig Jahren , nach dem Tod ihres Vaters, den Palazzo verlassen hatte, hatte sie sich vorübergehend auf der Giudecca in einem gräflichen Palazzo niedergelassen, der seinem Besitzer unbewohnbar erschienen war und den er deshalb in acht Wohnungen aufgeteilt hatte und hauptsächlich an Künstler vermietete. Daß just das riesige Speisezimmer Claudia zufiel, störte sie keineswegs, hier konnte sie sich ausbreiten - Speisezimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Gästezimmer in einem einzigen Raum, und war das Licht nicht gerade günstig, so konnte sie ihre Staffelei auf dem Dachboden aufstellen, den niemand benützte und für den nicht einmal der tüchtige Conte eine Mietzahlung zu fordern gewagt hätte. Der provisorische Zustand währte nun zwanzig Jahre, und manchmal mußte Claudia darüber lachen, daß sie Herrin eines größeren Palazzo war als ihre Mutter, denn mit den bröckelnden Mauern waren die Bewohner abgebröckelt, einer nach dem anderen war geflohen vor Schmutz und Nässe und Dunkelheit; nur daß es hier Mäuse gäbe, war eine Verleumdung, das hätten die streunenden Katzen, welche die leeren Räume, Speicher und Stiegen bevölkerten, nie zugelassen.

Wer Claudia zwischen halb sieben und halb neun in Harry's Bar begegnete, der hätte nie geahnt, welch sonderbare Behausung sie eine Stunde vorher verlassen hatte. Die schöne Frau, schlank, mit blauschwarzen Haaren, blauen Augen und elfenbeinglatter Haut, wirkte äußerst gepflegt; sie verstand es, mit der Kunst der Malerin die Tränensäcke, die in den letzten Jahren immer schwerer geworden waren, wegzuzaubern, und nur die Männer, die sie entkleideten, staunten manchmal, daß die Wäsche unter den modischen Kleidern, Blusen, Hosen -Giftgrün die Lieblingsfarbe - mit einer Vielfalt von großen und kleinen Sicherheitsnadeln bespickt war, wie bei den drapierten Schaufensterpuppen der Seidenhändler. Sie gehörte zu Harry's Bar wie die niedrigen Tische, der Kassier, der wie ein Croupier wirkte, der immer verstopfte Korridor mit den Treppen zum Restaurant im ersten Stock, das Gemälde des Hotel Cipriani an der Längswand und die riesigen Krüge, in denen im Sommer die fertigen Rogers und Bellinis, im Winter die Mimosas herbeigeschleppt wurden - die Rezepte ein Geheimnis des Hauses. In Harry s Bar kannte sie jeden, jeder kannte sie, und die Touristen, vornehmlich Amerikaner, fragten sich, wer sie sei, oder sagten, nach Venedig zurückkehrend: «Die Schwarze in Grün sitzt sicher wieder an der Theke, gleich neben der Kasse.»

Nun, da der Sommer angebrochen war und die Künstler zur Esposizione internazionale d'arte strömten, war sie auf ihrem gewohnten Platz erst recht zuhause. Sie saß zwischen dem deutschen Maler Breitbart, einem blonden Hünen mit einem brutalen Kindergesicht, einer Entdeckung Dorothy Ginsburgs, dessen Collagen als der letzte Schrei galten, und dem italienischen Bildhauer Bistese, «Alexander der Große» genannt, was jedoch keine Anspielung auf seine minimale Figur sein konnte, sich vielmehr auf seine gigantischen Bronzeräder bezog, die mit einem Frachter zur Biennale gebracht wurden, weil sie kein leichteres Fahrzeug befördert hätte.

Während ihr der vierte Rogers eingeschenkt wurde, überlegte Claudia, mit wem sie heute nacht zu Bett gehen würde. Sie hatte einmal - es war vor ihrer abstrakten Periode gewesen - eine Frau gemalt, deren Kopfhaare sich aus den dreieckigen Formen von Schamhaaren zusammensetzten, und sie hatte das Gemälde, obwohl ihr die Porträtierte durchaus nicht ähnelte, Selbstbildnis genannt, weil sie meinte, die Seele säße im Kopf, und auf dem Kopf säße das Geschlecht. Dabei hat Claudia, wie fast alle Menschen, eine Seele, vielleicht sogar ein Herz, das für Bettler, Unterdrückte und Unterworfene, Verkannte und Verlorene schlug, für Kinder, Hunde und Katzen, aber den hungrigen Unterleib kümmerte das nicht, der knurrte wie der Magen, nur noch etwas ungeduldiger.

Mit Breitbart hatte sie schon geschlafen. Aber dieser liebenswerte, aufschneiderische Riese hatte einen Geschlechtsteil von kindlichen Dimensionen, so daß eine Wiederholung nicht in Frage kam, und Bistesi war verheiratet, was sie nicht gestört hätte, hätte er nicht seine junge Frau, der Flitterwochen wegen, nach Venedig mitgebracht.

Sie maß die Runde und nickte Dario Ortelli zu, der gerade das Lokal betreten hatte und sich, den Hals reckend, offenbar nach einem seiner Kunden umsah. Jetzt erinnerte sie sich wieder an ihre Mutter, die sie endlich - es ging auf acht, die alte Frau wartete seit zwei Stunden - anrufen mußte. Auf dem Weg zum Abendessen, beschloß sie.

Die Gäste, die keinen Platz an der Bar gefunden hatten, standen schon in zwei dichten Reihen hinter ihr; über die Köpfe der Hockenden hinweg wurden die Getränke und die in Papierservietten handlich vorbereiteten Haschees gereicht. Auch die rosagedeckten Tische waren besetzt. Sie hatte selten an einem dieser Tische gesessen. Die Touristen, von den Kellnern mit ungeduldiger Herablassung behandelt, vornehmlich Amerikaner mit Frauen, an denen nichts frisch war als ihre Frisuren, waren Zuschauer; sie waren mit der Betrachtung der Thekenmenagerie beschäftigt, mit der heimischen Tschau-Gesellschaft von jungen Aristokraten in engen Sakkos, Venezianerinnen, für eine Party oder ein Konzert angetan, Künstlern mit behaarten Brüsten in offenen Hemden, langhaarigen Schlachtenbummlern der Biennale, einsamen älteren Trinkern, die den Kellnern hinter der Theke etwas zu beichten versuchten, was diese nicht zu hören begehrten.

Das Gespräch drehte sich um die geplanten Demonstrationen bei der Eröffnung der Ausstellung. Teils würden sie von den Künstlern selbst bestritten werden, auch kunstverständige Studenten seien im Anmarsch auf Venedig, aber man meinte, daß sich die venezianischen Studenten, obwohl kunstverständig, nicht gebührend engagierten; es würde bei den Verhaftungen keinen guten Eindruck machen, wenn sich unter den Opfern der Polizeiwillkür zu viele Ausländer und ortsfremde Italiener befänden.

Ein junger holländischer Maler erklärte, mit dem Radau sei wenig getan, man müsse, statt Gemälden, leere Leinwände ausstellen, um so die Leere der Gesellschaft aufzuweisen; «am besten gerahmt», stimmte ihm ein belgischer Kollege zu, als Symbol des Establishment, das auch ein ausgebrannter Rahmen sei; «einige mit Worten von Che Guevara», schlug ein polnischer Maler vor, aber Breitbart fand, solche Demonstrationen würden die Bürger nicht anlocken. Ein österreichischer Maler, Wolfgang Pollack, ein hübscher Junge mit mädchenhaften Zügen, der sich im vergangenen Winter einen Namen gemacht hatte - er hatte sich vor dem Kunsthistorischen Museum in Wien mit seiner Staffelei nackt aufgestellt, bei minus neun Celsius -, hatte schon den ganzen Abend von einem Geheimplan gesprochen; jetzt rückte er mit der Sprache heraus. Ronaldo De Giudice, der Veronese, der vor einigen Jahren einen Preis erhalten, aber die Auszeichnung tapfer abgelehnt hatte, habe einen taubstummen mongoloiden Idioten als Ausstellungsobjekt verpflichtet, beziehungsweise von dessen Vater für fünftausend Lire erworben: eine Verwirklichung des Problems Werk oder Verhalten, opera o comportamento.

Claudia schwieg. Sie hatte nichts gegen die Künstler des Comportamento, und warum sollte man nicht einen Idioten ausstellen - aber mußte es in Venedig geschehen? So sehr sie sich bemühte, nicht venezianisch zu malen, etwas vom Licht des Giorgione, des Veronese, ja des Tintoretto, dieses schrecklichen Stachanowiten der Scuola di San Rocco, war auf ihre Gemälde gefallen, es war ihr nicht einmal bei ihren abstrakten Bildern gelungen, den «unerhörten Realismus» ganz zu verbergen, von dem Henry James gesprochen hatte. Sogar ein Cocktail hieß hier Bellini. Sie war in ihrem Kreis die einzige Venezianerin, und es schien ihr, daß die langhaarigen Künstler an der Theke und die grauhaarigen Amerikaner an den Tischen, die sich gegenseitig verachteten, wie sich die Besucher des Zoologischen Gartens und die Tiere hinter Gittern gegenseitig verachten, etwas gemeinsam hatten: Sie wußten nichts von Venedig. Zum ersten Mal empfand sie eine gewisse Sympathie für die Steakfresser, weil diese wenigstens bewunderten, was sie nicht verstanden. Wieder fiel ihr ihre Mutter ein.

Man beschloß, wie meistens zu dieser fortgeschrittenen Stunde, zu übersiedeln.

Pollack hatte schon mehrere Male Claudias nackten Arm berührt; jetzt bot er ihr den Schutz seines Regenschirmes an. Er hatte sich ihn in seinem Hotel ausgeliehen; es war ein gewaltiger bunter Regenschirm, wie ihn die Türsteher benützen, aber für Pollack war er der Schirm eines Drahtseilartisten; auf dem Weg zum Ristorante al Teatro setzte er einen Fuß vorsichtig vor den anderen, wobei er in gespielter Angst den Schirm über seinen und Claudias Kopf hin- und herbalancierte, so daß der Regen von Zeit zu Zeit über ihren rechten Arm rieselte.

Angeführt von dem Balancekünstler zog der lärmende Troß an der Frezzeria vorbei, wo sich die betagten Huren vor dem Regen an die Mauern drückten, Reliefs mit hervorstehenden Busen. Pollack verneigte sich vor ihnen, und einer bot er scherzend seinen Regenschirm an. Er sprach unentwegt, in wienerischem Englisch; vor der Kirche San Moisè aber blieb er stehen, weil hier die Plastik eines Biennale-Künstlers ausgestellt war, ein riesiger Quaderstein, auf dem ein kleinerer Steinwürfel schwebte wie eine Ballerina auf der Fußspitze. Sein rosiges Kindergesicht, von den nassen seidenweichen Haaren fast verdeckt, wurde ernst, er vergaß seinen Trapezakt, preßte Claudia an sich.

«Wir haben schon gesiegt», sagte er, «wir haben schon gesiegt, wir sind aus der Biennale ausgebrochen, sehen Sie, San Moisè sieht nur noch aus wie die Kulisse einer Provinzbühne, haben Sie Gräsels Porta a doppio angolo vor dem Dogenpalast gesehen und Jarnuszkiewicz' Grano, die Markuskuppel ist endlich verschwunden, in Chrom» - er wies auf die Kirche: «Mein Landsmann Meyring hat da drinnen einen scheußlichen Berg Sinai aufgetürmt – vorbei! -, die Bürger können uns ..., ich habe einen Amerikaner gesehen, der vor dem Palazzo Ducale über Robert Müllers Refugio gestolpert ist, er hat sich fast den Hals gebrochen, wo jetzt der Guardi-Kitsch hängt, werden in zwanzig Jahren unsere Bilder hängen.»

«Ich bin ganz naß», sagte Claudia.

Bis sie die Piazza vor dem Teatro La Fenice erreichten, sagte Pollack nichts; in der einen Hand hielt er den Regenschirm, mit der anderen umfaßte er ihre Hüften. Sie erinnerte sich an sein Aktbild in den Zeitungen, vor dem Kunsthistorischen Museum, im Schnee, man sah ihn nur von hinten. Sie fand mehr und mehr Gefallen an blutjungen Männern, ein Zeichen des Alters, und je mädchenhafter sie aussahen, desto mehr gefielen sie ihr, aber das war nicht, was man die lesbische Komponente nennt, es war der Kontrast, der sie anzog, der Reiz eines Mädchens, das im Bett alle seine männlichen Komponenten enthüllt.

Es war gerade Pause im Teatro La Fenice, und weil Claudias Gedanken heute seltsam deutliche Konturen annahmen, wurde sie sich bewußt, daß ihre Freunde nicht zufällig diese Kneipe zu ihrem Stammlokal gewählt hatten. Man saß auf der Terrasse und wartete auf die Pause. Damen im Abendkleid und Herren im Smoking, die Carabinieri mit ihren langen Säbeln spazierten auf und ab, lächerliche Spieluhrfiguren, lächerliche Zinnsoldaten. Heute war der Platz leer, das Bild um so symbolischer, die Theaterbesucher an den Säulen des falschen Rokokogebäudes klebend, unter einem Dach mit den Carabinieri: Kultur und Polizei - man brauchte nur dazusitzen, um ihnen Schrecken einzujagen.

«Wo wohnen Sie?» fragte Pollack.

«In einem verwunschenen Schloß.»

«Allein?»

«Ja.»

«Könnten wir nicht hingehen?»

«Höchstens hinfahren. Das verwunschene Schloß liegt auf der Giudecca.»

«Ich sage in einer Stunde, daß ich Sie nach Hause bringe.»

«Ich muß mich trocknen», sagte sie, schon im Lokal.

Ihr Weg zur Toilette führte sie an der Telephonzelle vorbei, und die Glaszelle erschien ihr wie ein Hindernis, dem sie nicht ausweichen konnte. Wie immer, wenn sie sich über Gebühr verspätet hatte, wagte sie nicht, nach der Uhr zu sehen; sie betrat die Telephonzelle und wählte die Nummer des Palazzo. Offenbar hatte die Signora ihre Hand wieder einmal auf dem Telephonhörer gehalten, wie jemand, der Tag und Nacht auf einen Anruf wartet.

«Ich konnte leider nicht früher anrufen ...», entschuldigte sich Claudia.

«Es tut nichts. Aber ich muß dich dringend sprechen.»

«Fehlt dir etwas?»

«Nein, nein. Es handelt sich um einen Brief, den ich an Paolo geschrieben habe. Wegen des Tizian. Ich dachte, du solltest ihn lesen und, vielleicht, mit mir unterschreiben. Du warst seit Weihnachten nicht hier. Die Lage ist verzweifelt.»

«Ich weiß. Aber ich bin sehr beschäftigt. Die Biennale, weißt du ...»

Pollack war ihr gefolgt, er stand vor der Zelle und schnitt komische Grimassen.

«Mach, was du willst», sagte sie. «Schreib ihm, daß ich einverstanden bin.»

«Aber du weißt doch gar nicht ...»

«Es ist egal», sagte sie. «Ich bin einverstanden. Es ist nicht so wichtig.»

VENEDIG, MONTAG, 12. JUNI, NACHT

Um dreiundzwanzig Uhr beschließt Angelina Mossi, zweiunddreißig, Frau des Giustino Mossi, vierzig, Vorarbeiter in einer Ölraffinerie, den Arzt zu rufen.

Sie hat kein Telephon. Sie weckt ihren älteren Sohn, den zehnjährigen Angelo, und befiehlt ihm, über seinen Bruder, den achtjährigen Italo, zu wachen. Pia, zehn Monate alt, schläft ruhig.

Doktor Pontiggia wohnt nur wenige Straßen weiter entfernt. Unterwegs wirft sie einen Blick in das Café Garibaldi. Man sagt ihr, daß man ihren Mann nicht gesehen habe. Gewerkschaftsversammlung, Streik.

In den Fenstern der rötlichen Kasernen brennen nur wenige Lichter. Ein Licht fällt auf den Balkon. Das Geländer ist wie ein Kerkergitter.

Angelina muß am Autofriedhof vorbei. Auf der Spitze des Schrottberges stürmt ein weißer Wagen ins Nichts.

II dottore ist ein Mann von vierzig, durch Besonnenheit früh gealtert. Er war Angelinas Trauzeuge gewesen. Sie hat in der Kirche San Giovanni Elemosinario geheiratet, hinter dem Rialto, wo sie damals wohnte. Die Zeremonie ist im Familienalbum festgehalten. Auch der Arzt lebte in Venedig. Sie sprechen von «Venedig», obwohl Marghera zu Venedig gehört.

Die Frau des Arztes ruft ihren Mann. Der Schlafanzug schlottert um den hageren Leib.

«Sie müssen kommen», sagt Angelina. «ltalo bricht Blut. Er kann nicht sprechen. Er hat Schüttelfrost.»

«Gehen Sie nach Hause», sagt Doktor Pontiggia. «Ich bin gleich da.»

Er verständigt die Ambulanz. Während er sich anzieht, sagt er zu seiner, Frau:

«Man hätte den Jungen aus dem Spital nicht entlassen dürfen. Mossi hat darauf bestanden.»

«Wird er sterben?»

«Wahrscheinlich. Kruppöse Lungenentzündung. Vielleicht eine Embolie.»

«In der vergangenen Woche waren es sechs.»

«Die Giftgase», sagt der Doktor. Er knotet die Schnürsenkel. Es lohnt sich für ihn nicht, seinen kleinen Fiat zu nehmen. Er hastet am Autofriedhof vorbei. Der weiße Wagen leuchtet wie eine Laterne. Er denkt an seinen Fiat, den er bald begraben wird. Die Ärztetasche in seiner Hand wird schwer; sie ist so überflüssig wie ein Automobil. An der Diagnose, die er vorgestern gestellt hat, ist nicht zu rütteln. Warum hat er die Ambulanz bestellt?

Mossi ist unterdessen nach Hause gekommen. Der Doktor wünscht, er wäre noch in der Versammlung. Mossi schreit unentwegt: «Muß Italo sterben?», er klagt seine Frau an: Sie war es, die das Kind aus dem Spital nehmen wollte. «Wären wir nur in Venedig geblieben!»

Die Luft kennt keine Grenzen, denkt der Arzt.

Das Gesicht des Kindes ist blau. Doktor Pontiggia erinnert sich an die Plakate mit den Skelettkindern in den Entwicklungsländern. Mossi verdient gut, er hat Italo verwöhnt. Es gibt auch in Venedig Entwicklungskinder. Der Doktor zählt einen Puls von zweihundertundzwanzig. Einundvierzig Grad Fieber. Der Versuch, Italo kalte Kompressen auf die Brust zu legen, mißlingt, weil der Schüttelfrost das Kind hin- und herwirft. Der rostbraune Auswurf ist typisch. Laken, Kissen, Decken färben sich rostbraun.

Mossi wirft sich auf die Erde und ruft die Madonna an.

«Halt's Maul!» sagt die Frau.

Sie häuft Plumeaus über das Kind, nur der schwarze Schopf ist noch sichtbar. Der Arzt läßt es geschehen, obwohl Wärme schädlich ist.

Er weist Mossi aus dem Zimmer, setzt sich an das Bett, hält den Puls des Kindes. Er macht Bekanntschaft mit dem Zorn. Man sollte Politiker werden. Aber: welche Partei? Die einen schützen den Profit, die anderen die Arbeitsplätze. Die Kinder schützt keiner. Und dann rufen sie die Madonna an.

Der Doktor nimmt das Kind in seine Arme. Sein Anzug wird blutig.

Jetzt fragt auch die Frau: «Muß er sterben?»

Von fern hört Doktor Pontiggia die Sirene des Ambulanzwagens. Soll er ihn fortschicken? Ehe die Sonne aufgeht, wird ltalo tot sein.

Der Regen ist dem Vorhaben günstig. Der Campo Santi Giovanni e Paolo ist menschenleer. Man weiß nicht, ob der Wind das Regenwasser in den fauligen Kanal treibt oder das Wasser des Kanals über den Platz peitscht.

Tonino Villorini, sechzig, Einbrecher, steht jedenfalls im Trockenen, unter dem Torbogen. Darüber steht: Sotoportego e Corte Bressana. Das Tor führt in einen winzigen Hof, der den klingenden Namen nicht verdient. Die Häuser, zerbröckelnd wie schimmelnder Kuchen, sind dunkel. Zwei triefende Katzen haben sich neben Villorini niedergelassen.

Die Häuser können ruhig schlafen. Villorini hat keine bösen Absichten. Er will gestohlenes Gut zurückbringen. Das gestohlene Gut ist ein Gemälde, Das Brot des heiligen Antonius. Es zierte bis vor einem Jahr die Kirche Santi Giovanni e Paolo, welche die Venezianer San Zanipolo nennen.

Vor kurzem feierte der kleine spindeldürre Mann mit dem zerknitterten Gesicht sein vierzigjähriges Berufsjubiläum. Die Diebe und Einbrecher Venedigs brachten ihm ihre Gaben dar. Gewalttäter waren ausgeschlossen. Gestohlenes Gut gleichfalls. In seinem Trinkspruch kündigte Villorini an, er werde den heiligen Antonius wieder auf seinen Platz stellen. Aber es hatte weder mit seinem Jubiläum noch mit seinem Entschluß zu tun, in den Ruhestand zu treten.

Villorini hat das Gemälde bei Tag, als es im Gedränge nicht auffiel, hierher gebracht. Mit der bemalten Seite der Wand zugekehrt, hat er es an die Mauer unter dem Torbogen gestellt.

Technisch besteht zwischen Diebstahl und Rückerstattung kein Unterschied. Psychologisch liegen die Dinge anders und schwieriger.

Seine Söhne, Tonino junior, dreißig, und Aldo zwanzig, haben gegen die Rückgabe protestiert, obwohl sich bisher kein Hehler gefunden hat. Sie sind seine Nachfolger. Besonders energisch protestierte Aldo, Coca-Cola genannt - wegen der «Pause» zwischen der Geburt der beiden Kinder.

Tonino gesteht sich nicht, daß er fürchtet, die beiden würden dem Stelldichein fernbleiben. Das würde sein Selbstbildnis .der Autorität zerstören.

Indes ist seine Welt noch in Ordnung. Als er hinaustritt vor den Torbogen, lösen sich zwei Gestalten aus dem Schatten des Reiterdenkmals von Colleoni.

Tonino blickt zum Standbild Colleonis hinauf.

Colleoni war ein Kollege, ein Dieb wie er, wenn man auch in der Renaissance Einbrecher condottieri nannte. Er stahl halb Mailand. Dafür vermachte er seiner Heimatstadt Venedig eine halbe Million Dukaten, unter der Bedingung, daß ihm die Stadt auf der Piazza San Marco ein Denkmal errichte. Venedig hinterging ihn. Man fand einen zweiten, weniger berühmten Platz, der nach dem gleichen Heiligen benannt ist. Dessen Leichnam hinwiederum hatten zwei venezianische Kaufleute in Alexandrien gestohlen. Wie die Pfahlbauer ihr Material aus den Steinbrüchen Istriens. Wie die Schiffbauer das Holz aus den Wäldern des Cadore. Die Diebe werden nicht alle. Tonino grüßt Colleoni und seine Söhne. Die sind groß und stark. Mühelos bringen sie den heiligen Antonius ans grüne Seitenportal.

Weil die Söhne noch immer brummen und weil Erber doch nur Dilettanten sind, macht sich der Senior an das Schloß heran. Die Söhne betrachten ihn mit verhohlener Bewunderung, besonders Tonino junior, der sich auf Kassen spezialisiert hat. Das Schloß ist nach dem Einbruch ersetzt worden, mehr schlecht als recht. Schlosser sind die stillen Gesellschafter der Einbrecher.

Tonino befeuchtet zwei Finger mit Weihwasser und bekreuzigt sich. Daß es auch die Söhne tun, entlockt ihm ein Lächeln. So weit wie sie es vorgeben, kann es mit ihrer Ungläubigkeit nicht her sein.

Tonino ist ein gläubiger Mann. Er hat früher nie heilige Gegenstände gestohlen, obwohl das in Venedig beinahe unvermeidlich ist. Gleich nach dem Diebstahl ist Amalia, seine Frau und Mutter seiner Kinder, erkrankt. Vor ein paar Wochen hat der Arzt gesagt, nur ein Wunder könne sie retten. Seit Tonino beschlossen hat, den Heiligen der Kirche zurückzugeben, geht es ihr besser. Antonius von Padua ist der Schutzheilige der Pferde, der Ehe und für das Wiederfinden verlorener Gegenstände. Auf die Pferde kommt es nicht an. Aber Amalia ist die beste Ehefrau, die sich ein Mann wünschen kann. Seit siebenunddreißig Jahren hält sie Tonino die Treue. Elf Jahre, als er verhindert war, hat sie das Geschäft allein geführt. Und wenn man morgen in der Kirche den verlorenen Gegenstand findet, könnte noch alles gut werden.

Die Kirche ist spärlich erleuchtet. Die drei Männer müssen ihre Taschenlampen verwenden. Die Lichter streifen über die Sarkophage der fünfundzwanzig Dogen. Man hat ihnen die Markuskirche nicht gegönnt, so wenig man Colleoni den Markusplatz gönnte. Einer von ihnen ist Jacopo Tiepolo, der die Kirche den Bettlern stiftete. Einbrechern werden keine Kirchen gestiftet.

Es ärgert Tonino, daß der Strahl von Coca-Colas Taschenlampe über Lorenzo Lottos Almosenverteilung des heiligen Antonius gleitet, weil sich das Licht in die blauen Kirchenfenster verirrt. Coca-Cola wird noch viel lernen müssen.

Die Söhne wollen das Bild an eine Säule stellen. Tonino hat Nägel mitgebracht und will das Bild wenigstens notdürftig in den leeren Rahmen passen. Sie streiten. Der herbeigeholte Stuhl erweist sich als zu niedrig. Tonino klettert auf die Schulter des Junior. Coca-Cola steht daneben, um ihn eventuell aufzufangen, wie es dieJüngeren im Zirkus tun. Er flucht leise, aber Toninos Wort: «Mamma will es so haben», läßt ihn verstummen.

Tonino tritt ein paar Schritte zurück, betrachtet sein Werk und nickt. Dann rückt er den Rahmen zurecht. Schiefhängende Bilder haben ihn immer gestört.

Während die Söhne dem Ausgang zugehen, kniet er vor dem Altar nieder. Weil ihm nichts anderes einfällt, murmelt er eine verkürzte Fassung des Pater noster.

Draußen nehmen die beiden Söhne den kleinen Mann in die Mitte und schlendern langsam über den Platz.

Tonino senior blickt zu dem gepanzerten Dieb hinauf, der durch den Regen in die Lagune reitet.

Der Conte Fornara sucht Enrico. Er war schon in einem halben Dutzend Lokalen gewesen, es geht auf Mitternacht. Er hat sich im teuren Nachtlokal Martini und in billigen Kneipen jenseits der Rialto-Brücke umgesehen. Enrico ist nicht wählerisch.

Um Mitternacht trifft er Enrico, wo er ihn am wenigsten vermutet: unter den Kolonnaden, auf dem Markusplatz. Enrico steht vor dem vergitterten Fenster des Juweliers Nardi.

«Was machst du auf der Straße?» fragt Enrico.

«Ich gehe spazieren», sagt Fornara.

Er spannt seinen Regenschirm auf. Sie beginnen zu gehen. Der Calle Larga XXII Marzo ist fast ausgestorben, nur ein Narr von einem Photographen hantiert, den Kragen des Regenmantels hochgeschlagen, an seinem Blitzgerät. Vor dem Antiquitätengeschäft auf der linken Straßenseite bleibt Enrico stehen.

«Ich will diese Vase», sagt er.

«Wozu brauchst du eine Vase?»

«Nur so.»

Fornara weiß, daß Enrico nichts braucht, am wenigsten eine Vase. Sein Vater hat im Zweiten Weltkrieg viel Geld gemacht.

«Du bist ein Strichjunge», sagt Fornara.

«Nein, eine Hure», sagt Enrico.

Auf dem Campo Santa Maria Zobenigo laufen die Katzen vor dem Echo der Schritte davon. Sie erstarren in den Winkeln und sehen aus wie die kleinen steinernen Markuslöwen in den Souvenirläden.

«Hier hat der Student Naumow seinen Nebenbuhler ermordet», sagt Fornara.

«Ich bin nicht dein Nebenbuhler», sagt Enrico.

Die Schritte verhallen. Verhallende Schritte sind die Musik Venedigs.

Fornara denkt: Der Junge, dreiundzwanzig, zehn Jahre jünger als er, ist nicht sein Nebenbuhler. Der Haß, gespeichert in den Stunden der Suche, fällt von ihm ab. Der neapolitanische Fischerjunge, der persische Handlungsreisende, der spanische Maler: auch sie waren nicht seine Nebenbuhler.

Bei der Kirche San Vitale biegen sie in eine schmale Straße ein, in Richtung Canal Grande. Vergitterte Fenster, schiefe Holztüren, Mörtel auf der Straße, ein vergessener Schubkarren. Oben: zugedeckte Vogelkäfige. Der Calle ist so eng, daß sich die Häuser beinahe berühren. Es ist kein Platz für Fornaras aufgespannten Regenschirm. Das Wasser trieft ihm in den Hals. Es riecht nach Mörtel und Katzendreck.

Enrico geht voran. Vor einem Steinportal bleibt er stehen, wartet, bis sich Fornara nähert und öffnet. Von der Hinterfront des Palazzo fällt das Licht auf Steinzwerge und Rokokohecken.

Die Dienstboten schlafen längst. Maria öffnet. Sie ist größer als die beiden: halb Strip-tease-girl, halb Renaissance-Madonna. Unter dem Schlafrock ist sie nackt.

Im großen Salon brennen alle Lichter, aber der Raum ist grüngelb, wie von Gas beleuchtet. Der Gobelinteppich, der die ganze Seitenwand einnimmt, zeigt die Schlacht von Lepanto. Auf einem hohen Sockel steht der marmorne Ludovico Manin, der letzte Doge, der finis Venetiae verkündete. Ein Fornara hat seine Kapitulation dem Bonaparte überbracht. Unter dem Gemälde des Boten liegt aufgeschlagen die neueste Nummer von Vogue. Maria hat darin geblättert.

Fornara schenkt Cognac ein.

«Mehr!» sagt Enrico, und nochmals: «Mehr!»

«Brauchst du so viel, um mit mir zu schlafen?» sagt Maria.

Enrico wärmt das Glas zwischen den Händen, legt die Füße auf einen Gobelinfauteuil. Er sagt:

«Ich fahre morgen weg.»

«Wohin?» fragt Fornara.

«Nach Schweden. Es ist mir hier zu heiß.»

«Für wie lange?»

«Ich weiß nicht. Vielleicht für immer.»

«Das kannst du nicht tun!»

«Warum nicht? Ihr findet einen anderen.»

«Du kannst die Vase haben», sagt Fornara.

Maria blättert in Vogue. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen. Der Schlafrock unter dem Gürtel steht offen. Enrico hat sein Glas geleert, schenkt ein.

Fornara trinkt nicht. Er geht auf und ab, setzt sich hinter den Schreibtisch, öffnet eine Schublade. Er streichelt den Revolver. Er könnte jetzt Enrico niederknallen wie einen dummen Hasen. Auf den Photos der Mordkommission würde Enrico sehr komisch aussehen, mit der halb heruntergelassenen Hose. Dann könnte er sich selbst erschießen, aber das würde ein ziemlich konventionelles Bild geben.

Maria sitzt nackt im Lehnstuhl, unter dem Bild der Schlacht von Lepanto. Enrico kniet vor ihr.

Sie läßt sich auf den Boden fallen.

Wenn Enrico jetzt versagt, denkt Fornara, wäre er beinahe ein Mensch. Aber keiner hat versagt: weder der neapolitanische Fischer, noch der persische Handlungsreisende, noch der spanische Maler.

Er beugt sich über den Tisch. Seine Erregung verebbt so plötzlich wie sie ihn überkam. Er erhebt sich, neigt sich über die Paarenden. Maria starrt ihm in die Augen. Sie hat Glück, daß sie die Augen nicht geschlossen hat. Wenn sie zum ersten Mal die Augen schließt, wird er sie umbringen.

Er gibt Enrico einen Fußtritt. «Weiter!» Enrico gehorcht. Maria geht ins Nebenzimmer. Enrico zieht sich an.

«Die Vase ist zu gut für dich», sagt Fornara. «Du kannst Geld haben.»

Obwohl es ein Besuchstag ist, hängt an der Tür des Hauses die Tafel: Chiuso.

Dorothy Ginsburg hat seit Tagen einen Schnupfen. Besorgt hat der Butler sie angesehen, als sie ihm befahl, die kleine Tafel zu befestigen. «Sind Sie krank, Signora?» Sie ist nicht krank. Sooft sie krank war, hat sie sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, der Palazzo blieb stets geöffnet. Besuchszeiten Montag, Mittwoch, Freitag, von neun bis zwölf, von vierzehn bis siebzehn.

Fröstelnd, einen dicken roten Schal um die Schultern, geht sie durch die grell erleuchteten Räume.

Die Kälte steigt aus den nackten Fliesen des Fußbodens. Der Lhasa-Terrier, dessen graue Haare ihren eigenen immer ähnlicher werden, reibt sich an ihren Beinen.

Warum kein mildes, gedämpftes Licht, warum keine warmen Teppiche, warum diese eiweißen Ledersofas? Das alles gehört zu den Picassos und Duchamps und Tanguys und Mondrians, zu den Skulpturen von Moore und Lipchitz und Boccioni und Giacometti. Einige waren ihre Geliebten, die Maler und die Bildhauer. Sie hat sie gefördert, und sie haben ihr ihre Werke geschenkt. Mit einem Maler hat sie in seiner blauen Zeit geschlafen, mit einem anderen in seiner gelben. Ihre Erinnerungen sind blaue und gelbe Zeiten.

Sie hat Sehnsucht nach New York, wo sie vor mehr als sieben Jahrzehnten geboren wurde. New York konnte man nicht trotzen, die Stadt selbst war trotzig. Venedig konnte man trotzen. Ihr Palazzo glich keinem der Palazzi. Nun wird er ihnen immer ähnlicher. Noch kommen die jungen Künstler zu ihr, gestern waren es fünf oder sechs. Sie ließen sich von Tanguy erzählen, wie man ihr einst von Velázquez erzählt hat. Aber die ihr von Velázquez erzählten, hatten Velázquez nicht gekannt. Es ist der Unterschied zwischen Paestum und einer Stadt, deren Brand man erlebt hat. Es ist schwer, zwischen Ruinen zu leben, die nicht alt sind.

Sie bleibt vor Mondrians Baugerüst stehen. Baugerüst oder die Gitter eines Konzentrationslagers? Kann man zu verstehen verlernen, was man gestern verstanden hat? Vergessene Verse fallen ihr ein: «Vermissen, was schon unser war, / Den Kranz verlieren aus dem Haar, / Nachdem man sterben sich gesehn / Mit seiner eigenen Leiche gehn.» Sie will im Vorzimmer das weiße Licht löschen, das so günstig über dem Picasso angebracht ist. Es zieht durch die Tür. Das Mobile Alexander Calders bewegt sich, herbstliche Blätter, aber sie sind aus Blech, sie hängen nicht an Ästen, sondern an Drähten, sie werden nicht fallen, die Äste werden sich nicht verjüngen.

Lama, der Terrier, beginnt zu bellen.

«Du willst hinaus?» sagt sie, und wundert sich über die Zärtlichkeit ihrer Stimme. Sie sucht die lange Pelerine, die wie ein Kardinalsmantel aussieht.

Es regnet nicht mehr.

Sie geht die sieben Stufen hinunter und bleibt bei Marinis Engel der Zitadelle stehen. Lama hat es seit jeher vorgezogen, am Fuß der Bronzestatue seine Notdurft zu verrich­ten. Das Licht aus der Vorhalle fällt auf den riesigen steifen Penis des Engels.

Einige Schritte weiter hält sie am schmiedeeisernen Gitter abermals inne. Das steigende Wasser des Kanals hat beinahe das Gitter erreicht. Der Kanal zieht sie an, wie in ihrer Kindheit die Schienen der New Yorker Untergrundbahn sie angezogen haben.

Die Palazzi gegenüber liegen im nächtlichen Dunst. Nur in einem brennt noch Licht. Die alte Frau, die dort lebt, wollte sie nie empfangen.

Lama schüttelt sich bellend.

VENEDIG, DIENSTAG, 4. JULI, NACHMITTAG

Meistens ziehen nur Lastboote durch den Kanal, an dem das Haus der Witwe Fasulo steht, auf der Insel Burano. Eine einzige Gondel liegt an der schmalen Straße. Ein leiser Wind bewegt die Wäsche an den Seilen, die zwischen den einstöckigen, karminrot und hellblau gestrichenen Häusern hängen. Zur Rechten wohnt der pensionierte Vaporetto-Kapitän, zur Linken wohnen zwei alte Jungfern, die den ganzen Tag am Fenster sitzen und klöppeln.

Ermania Fasulo, neunundfünfzig, wagt es nicht, hinauszublicken. Morgen wird man die Gondel abholen. Vierzig Jahre lang hat sie die Gondel jeden Tag gesehen.

Sie war neunzehn, als sie den Gondoliere Pasquale Fasulo heiratete. Vor sechs Jahren ist er gestorben. Er hatte die Gondel von seinem Vater geerbt, der sie von seinem Vater geerbt hatte. Die Gondel und den Namen Pasquale erbte ihr Ältester von seinem Vater, aber er hat eine junge Witwe und einen Bäckerladen geheiratet und ist nach Verona gezogen. Die beiden Töchter sind verheiratet. Seit vier Jahren rudert ihr Jüngster die Gondel, Edoardo. Heute übersiedelt er nach Mestre.

Edoardo, dreiundzwanzig, stochert in den Spaghetti. Sie sind längst kalt geworden.

Mit einem Ball aus Tuchfetzen hat es begonnen. Vor der Scuola Merletti hatten sie Fußball gespielt; die kleinen Spitzenklöpplerinnen hatten sich aus den Fenstern gelehnt und zugeschaut. Später hatten die Jungen mit einem richtigen Fußball gespielt, im Klub von Burano. Wenn Edoardo ein Tor schoß, machte er einen Luftsprung, die Arme hochgestreckt über dem Kopf. Wie die Stars von Lazio und Juventus. Dann kamen die Werber vom FC Mestre. Edoardo schoß aus fünfundzwanzig Metern, unhaltbar. Sie nannten ihn den Bomber von Burano. Einmal in der Woche, dann zweimal, ließ Edoardo seine Gondel liegen. Aber die Woche hat sieben Tage, und wer nicht sechs Tage fleißig trainiert, der kann am siebenten keine Luftsprünge machen. Schließlich bot ihm der FC Mestre Summen, die man nicht errudern kann. Und eine Stellung bei der Post. Wo Edoardo nicht fleißig zu sein brauche - im Gegenteil.

«Ich besuche dich jede Woche», sagt Edoardo.

Die Waschmaschine hat er seiner Mutter längst versprochen. Mit dem Tellerspüler will er sie überraschen.

«Warum ißt du nichts?» fragt die Mutter.

«Du ißt auch nichts», sagt Edoardo.

Sie dreht die Gabel mit den Spaghetti am Rand des Tellers, aber sie legt sie gleich wieder beiseite. Der Sohn eines Tischlers kann Advokat werden und der Sohn eines Glasbläsers Millionär. Man kann eine Erbschaft verspielen, versaufen, verlieren. Aber der Sohn eines Grafen ist ein Graf, und der Sohn eines Gondoliere ist ein Gondoliere. Eine Gondel kann man nicht verspielen, versaufen, verlieren. Und wenn man sie verkauft, bringt es keinen Segen. Alle Waschmaschinen der Welt können keine Gondel ersetzen.

Edoardo sitzt mit dem Gesicht zum Fenster, aber er ist froh, daß er die Gondel nicht sehen kann. Die sechs Zakken der prova, des Bugeisens, Form des Dogenhutes, bedeuten die Stadtviertel San Marco, Castello, Cannaregio, San Polo, Santa Croce, Dorsoduro, die rückwärtigen bedeuten die Giudecca. Über fünfhundert Kilo schwer ist die Gondel, die rechte Seite um vierundzwanzig Zentimeter schmaler als die linke. Deshalb, heißt es, verstünden die Gondolieri, die ihr Ruder wie einen Geigenhals umfaßt halten, auf ihrem Instrument zu spielen. Edoardo weiß es besser. Man lernt die Kunst nicht, man erbt sie. Und man rudert nicht, das hat einen eigenen Namen, vogu alla veneziana. Dennoch: Eine Gondel gleicht der anderen. Die Tage der Gondolieri sind gleich wie ihre Gondeln. Und keiner bekommt Applaus. Am Ruder macht man keine Luftsprünge.

«Wenn wir sie bloß nicht verkauft hätten», sagt die Witwe.

Edoardo versucht zu essen, er will seine Mutter nicht kränken.

«Wir hätten auf einen Gondoliere warten sollen», sagt die Witwe.

«Wer braucht zwei Gondeln?» sagt Edoardo.

Früher gab es zwei Gondolieri für eine Gondel. Vor vierhundert Jahren zehntausend Gondeln und zwanzigtausend Gondolieri. Jetzt vierhundertfünfzig Gondeln, neben den fünfzig plebejisch-flachen sandoli, auch das zu viel. Anderthalb Millionen Lire kostet eine Gondel. Ein Amerikaner hat die Gondel gekauft. Einmal, alle fünf oder sechs Jahre, will er in seiner eigenen fahren. Sechshunderttausend Lire hat er dafür bezahlt: ein Fiat fünfhundert.

«Er hätte sie doch hier liegen lassen können», sagt die Witwe. «Ich hätte aufgepaßt.»

«Der weiß nicht, daß die Gondeln im Wasser überwintern», sagt Edoardo.

Die Witwe geht in die Küche. Von dort sieht sie die Gondel. Als man ihren Mann zu Grabe trug, fuhren zweihundert Gondeln hinter dem Sarg.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
1975
ISBN (eBook)
9783956070259
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Venedig Palazzo Roman Familie Geschichte Generationskonflikt
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Titel: Palazzo