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Mami hat 'nen Freund – was machen wir mit Papi?

©2015 173 Seiten

Zusammenfassung

Thomas Hausmann kann sein Pech nicht fassen: Nach siebzehn Jahren Ehe lässt ihn seine Frau Verena aus heiterem Himmel mit drei Kindern, Haus und Hund für einen anderen Mann sitzen, und das auch noch kurz vor dem geplanten Familienurlaub. Eigentlich würde Thomas sich jetzt gern in seinem Bett verkriechen, Trübsal blasen und in Selbstmitleid baden. Aber die Kinder freuen sich auf die langersehnten Ferien und versprochen ist versprochen. So machen sich die Hausmanns ohne Mami auf den Weg nach Frankreich, wo Thomas Celia begegnet. Celia ist schön, witzig und charmant und zu Thomas’ großem Leidwesen verheiratet...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Susanne von Loessl

Mami hat ’nen Freund – was machen wir mit Papi?

Roman

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-024-2

www.heypublishing.com

Für Theo

And Now You’re Mine‹

(Aus dem LOVE SONNET LXXXI von Pablo Neruda)

Der Bobtail August lag in der prallen Julisonne und dampfte Hund vor sich hin. Knapp zwei Zentimeter über dem Hund baumelten Füße in falsch zugebundenen Turnschuhen, Größe zweiunddreißig; sie gehörten zu Paule.

Paule saß, eingehüllt in die ganze Tristesse, die einen Sechsjährigen erfassen konnte, auf einem Mauersockel der Vorgarteneinfassung des Hauses, in dem er wohnte, und verstand die Welt nicht mehr.

Seine kleine Seele zwickte und tat ihm weh.

Über ihm zogen am hellblauen, wolkenlosen Himmel Flugzeuge voller Urlauber dahin; ab ging es in Richtung Norden, Süden, Osten, Westen. Sommerferien.

Paule hatte auch Ferien, ach ja …

Dabei wäre er, wenn alles normal verlaufen wäre, schon seit zwei Tagen in Maubuisson; Sandburgen bauen, Pony reiten, schwimmen, surfen (oder mindestens so tun, als ob) mit Chris, Tino, Fabien und den anderen.

Aber was verläuft schon normal? Oder was ist normal? Erwachsene machen sich ihre eigenen Gesetze, aber das konnte Paule mit seinen sechs Jahren noch nicht wissen.

Seufzend zog er seinen Kaugummi mit dem rechten Daumen einen halben Meter zwischen seinen Zähnen hervor und räufelte ihn gedankenverloren zurück. Ein trockener Schluchzer bibberte sich aus dem traurigen kleinen Kerl an die Luft.

Alwine Kleberg bog eiligen Schrittes, so gut es ihre fünfzehn Kilo Übergewicht zuließen, um die Ecke. Die Sonne hatte kleine Schweißperlen auf ihre Nase gesprenkelt.

»Plopp« machte ihr Einkaufswagen, als er die Granitstufe im Vorgarten nahm.

Alwine schnaufte: »Grüß dich, Paule.«

Stumm hob Paule die linke Hand zum Gruß. Höflich war er, aber reden mochte er nicht. Schon gar nicht mit dem »Winterhuder Wochenblatt«, wie man die Kleberg allgemein betitelte, denn sie wußte alles über alle, manchmal besser als die Beteiligten selbst.

Alwine Kleberg startete einen zweiten Anlauf, um mit Paule ins Gespräch zu kommen.

»Ist das nicht viel zu heiß für den armen August? Mitten in der Mittagshitze? … Und er in seinem dicken Fellpulli … nicht, mein August?« gackerte sie im Vorübergehen.

August rührte sich nicht. Was wollte die Kleberg? Besonders heute. August teilte alles mit Paule: Freude, Kummer, Ärger (meistens hervorgerufen durch matschige Schuhe und Pfoten).

Heute wollten er und Paule ihre Ruhe.

Schleich dich, Kleberg, dachte August.

In der Haustür drehte sich Alwine Kleberg noch einmal um. Erstens weil sie ihren »Hackenporsche« die drei Stufen, die ins Haus führten, hochbugsieren mußte; zu diesem Zweck zog sie kräftig mit beiden Händen an dem – Gott sei Dank! – stabilen Griff und stemmte ihren gut durch Schwarzwälder Kirschtorte gepolsterten Popo gegen die schwere Eichentür, um sie so zu öffnen.

Aber, da war ja auch noch zweitens! Unter Alwines Dauerwelle brodelte es … Wollten Hausmanns, das ist Paules Familie, nicht in den Urlaub? … Oder wie? … Oder doch? … Oder was? …

»Paule!« rief sie. »Wollt ihr in diesem Jahr gar nicht in die Ferien? Wolltet ihr nicht schon lääängst weg sein?«

Alwine pfiff die letzte Kraftreserve aus ihrer Lunge: »Oder ist etwas dazwischengekommen?«

In diesem Moment knallte die schwere Haustür mit leichtem Nachbeben ins Schloß.

In letzter Minute konnte Alwine sich noch durch einen kühnen Schlußsprung vor dem Crash mit massiver deutscher Eiche in Sicherheit ins Hausinnere bringen. Die Tür hatte Endgültigkeit in ihre Fragerei geschlagen.

Frau Kleberg plierte durch die dicke, geschliffene Scheibe in der Tür und sah, daß Paule seinen Kopf schüttelte.

Aha, dachte sie, aber wieso und warum nicht? Interessant! Aber sie würde es schon herausbekommen. Schließlich war sie die Witwe eines Oberstaatsanwaltes. Das verpflichtet!

Für heute waren die neunzig Kilo Kleberg an Paule vorübergezogen, ohne Schaden anrichten zu können.

August erhob sich und schubberte zärtlich seinen Kopf an Paules Knie. Reden konnte er nicht, aber gehört hatte er viel in letzter Zeit.

Paule stieg vom Mauersockel, legte seinen Arm um August und zog ihn in den Schatten. Er lehnte sich an den sonnendurchwärmten Granit, August an seiner Seite, der mit seiner dicken Pfote Paule ans Knie stupste. Paule ergriff die liebevoll gereichte fusselige Hundepfote und kraulte August das warme Fell.

So saßen sie eine ganze Weile, hundepfotenkinderhändchenhaltend … »August, wo ist unsere Mami?«

»Mensch, Paul Hausmann, du Napfsülze, biste bescheuert? Hockst mit August in der prallen Sonne? Willste dir ’n Sonnenstich holen?« Paules Schwester Carina war nach scharfer Linkskurve und abrupter Vollbremsung ihrer Rollerblades vor Paul zum Halten gekommen. »Mensch Paule, mach bloß nicht in Staatstrauer, ich sag dir, Erwachsene sind so. Der totale Egotrip.«

Carina hockte sich zu ihrem kleinen Bruder. Während sie die wenig schmückenden Knieschützer abnahm, redete sie weiter. »Papi hat gesagt, das mit den Ferien geht schon okay, nur ein paar Tage später. Omi und Opa springen ein.«

Mit einem Ratsch öffnete sie nebenbei die Ellbogenschoner.

»Welche?« fragte Paule.

»Papis Eltern.«

»Da werden wir alle nie satt. Sie hat immer Diät. Und an August hat sie auch nur zu meckern.«

»Was willste, Paule, Ferien oder keine? Moser hier nicht rum. Außerdem will Papi heute abend mit uns reden.«

»Sagt er dann auch, wann Mami wiederkommt?«

»O Mann, deine Probleme möcht ich haben. Komm jetzt rauf und wasch dich.«

»Jetzt fängt die auch noch an. Komm, August. Schwestern sollte man verbieten«, flüsterte er August zu.

»Alle reden immer vom Waschen, wenn sie nicht mehr weiter wissen.« Paule musterte seine Schwester.

»Melanie Nielsen in unserer Klasse ist erst sechs, und die ist viel hübscher als wie du. Und sie sieht aus wie ein Mädchen. Du bist eine doofe Schwester in häßlichen Klamotten … vielleicht bist du ja gar kein Mädchen, sondern nur eine Schwester, und die müssen doofer sein!«

Paule fühlte sich besser, er hatte laut geschimpft, das war wie jemandem auf die Nase haun, jawohl. Und ihm war sehr danach.

»Komm jetzt, aber ein bißchen plötzlich.« Carina war leicht irritiert.

»Die Hose macht einen dicken Hintern«, trompetete Paule seiner Schwester hinterher.

Carina drehte sich um, griff Paule in den Kragen seines T-Shirts und schubste ihn in den Lift. August wurde ebenfalls gnadenlos an den Ohren gepackt und hineingezogen.

Sie drückte die fünfte Etage und versuchte, gelangweilt auf Hund und kleinen Bruder zu gucken.

»Melanie trägt nie eine Baseballmütze, und schon gar nicht falsch herum!«

»Mein Bruder Paul ist knapp sechs Jahre alt, was fällt ihm eigentlich ein? Ich bin fast sechzehn, jedenfalls in drei Wochen.« Carina sah sich im Spiegel des Aufzuges an. »Na, toll ist es nicht, Hausmann, was du da siehst«, stellte sie fest und nahm so beiläufig wie möglich die Mütze ab.

»Magst ’n Mars, Paule?« fragte sie versöhnlich ihren kleinen Bruder.

»Mars macht Hüftspeck.«

»Wer sagt solchen Quatsch?«

»Melanie Nielsen!«

Es war äußerst wichtig, daß Paps heute mit ihnen redete, dachte Carina. Und dann ab nach Frankreich. Andere Tapeten. Anderes Essen. Andere Menschen. Und vielleicht noch vieles andere mehr.

DR. THOMAS HAUSMANN KLEINTIERPRAXIS war auf dem Schild zu lesen. Die Praxis lag in einer der ruhigen und schönen kleinen Straßen, die ein weitverzweigtes Netz um die Alster und deren Nebenarme legten.

»Gediegen« pflegen die Hamburger das zu nennen. Diese Beurteilung entspricht etwa drei Sternen oder vier Kochmützen. Also: gediegen. Die Villa blitzte ihr strahlendes Weiß in den Nachmittag, die Weiden bewegten lässig ihre fast bis auf den Boden reichenden Äste. Strotzig, protzig ließen die Geranien den Garten erröten.

Der Eingang zur Praxis war ebenerdig. Wenn auch nur »Kleintierpraxis«, aber Dogge, Wolfshund oder Bernhardiner lassen sich allemal besser ebenerdig zum Tierarzt hineinbringen, -ziehen oder mit vereinten Kräften anschieben.

Im Wartezimmer saßen an diesem Nachmittag noch eine Schildkröte, ein Wellensittich, zwei Katzen und ein Meerschwein. Später gesellte sich noch ein Mops dazu.

Dr. Thomas Hausmann war nicht sehr bei der Sache, seine Gedanken schweiften immer wieder ab … Was hatte er falsch gemacht? … Wieso hatte er nichts bemerkt? … Verena … Es war doch alles so … oder doch nicht …

»Herr Doktor, kann ich Jens mit Adelheid reinschicken?« fragte seine Assistentin.

»Adelheid?«

»Die Schildkröte.« Fräulein Blumenberg lächelte und winkte Jens, er solle eintreten.

Jens marschierte mit Adelheid in das Behandlungszimmer. Er trug sie vor sich her wie ein Doppel-Whopper-Big-Mäc.

Adelheid wurde verarztet. Augentropfen und so weiter. Sie guckte Thomas mit ihren alten, weisen Augen an, zwinkerte kurz, als ob sie ihm signalisieren wollte: »Da mußt du durch, Doc.« – Zwinkerte nochmals: »Danke für die Tropfen.«

»So, Jens, nimm deinen E. T., und dreimal täglich Augentropfen. Montag kommst du wieder.«

»Alles klar, Herr Doktor.« Er ging zur Tür, drehte sich kurz um: »Sagen Sie Lukas bitte noch einmal danke für das tolle Spaghettiessen. Tschüssie.« Vorsichtig, wegen Adelheid, schloß Jens die Tür.

Tolles Spaghettiessen? … Lukas kann doch überhaupt nicht kochen, und ihre Haushilfe war schon im Urlaub. So wie sie alle im Urlaub sein wollten. Hausmann riß die Tür seines Behandlungszimmers auf.

Jens wollte gerade durch die Tür des Wartezimmers nach draußen verschwinden.

»Jens! Lukas hat für euch beide gekocht?« fragte Hausmann leicht nervös. Ihm schwante Schreckliches.

»Nee, wir waren ungefähr zehn, ungefähr. Es war ganz toll. Echt super.« Jens verschwand.

Thomas Hausmann schloß die Tür seines Behandlungszimmers und fiel in seinen Schreibtischstuhl.

Fräulein Blumenberg betrat durch den hinteren Röntgenraum das Zimmer und wurde von ihrem Chef mit den Worten empfangen: »Bei uns zu Hause hat es in der High-Tech-Edelstahlküche ein rattenscharfes, obergeiles Spaghettiessen für circa ein Dutzend Zwölfjährige gegeben, an den Töpfen mein Sohn Lukas!«

»O Herr Doktor!«

»Sie sprechen mir aus der Seele, Fräulein Blumenberg.«

Das Telefon läutete ihn aus der Verzweiflung. Es war der Studienkollege, der ab Montag nun endgültig die Urlaubsvertretung für Thomas übernahm.

»Bleibt es bei dem Termin?«

»Es bleibt dabei, ich erkläre dir später einmal, warum und wieso sich alles verschoben hat, Richard. Die Blumenberg kennt sich aus, sie ist fabelhaft, außerdem kommt ein Student, Marke Arzt aus Leidenschaft, er wird dir die Hamsterbehandlungen unter den Händen wegreißen, mach dich stark, Ritchie. Nicht zu vergessen die süße Billie am Empfang.«

»Thomas, was heißt: die süße Billie? Du bist glücklich verheiratet!«

»Laß dich überraschen. Die ›süße Billie‹, genauer Sybille Frenzen, ernährt sich überwiegend von, hör gut zu: Mann-sind-die-dick-Mann, Lakritzteufeln, Yes- oder No-Torties sowie kandierten Geleebananen, Twix und Lila Pause.«

»Thomas, entschuldige, ich brauch ’n Schnaps. Wiedersehen, schöne Ferien. Grüß deine tolle Frau und deine Gören. Waidmanns Heil.«

»Waidmanns Dank«, sagte Hausmann und legte den Hörer auf. Meine tolle Frau …

Trautes Heim, Schock muß sein.

Bei dem Anblick, der sich bot, blieb selbst August wie vom Donner gerührt im Korridor sitzen.

»Paule, was ist hier los?« Carina schüttelte ihren kleinen Bruder kräftig mit beiden Händen. August war sofort an Paules Seite.

»Schon gut, August, schon gut. Mensch Paule, wie sieht es denn hier aus?«

»Schlimm, nicht? O guck mal, hier is alles voller Blut, iiih.« Paule hielt sich an Augusts Halsband fest.

»Also, ich weiß nix. Lukas war da mit seiner Klasse. Und er hat nur gesagt, wir feiern Abschied auf italienisch, hat er gesagt. Ich war mit August an der Alster, und dann hab ich unten auf der Mauer gesessen und gedacht und so …«

»Es sieht aus, als hätten sie hier Raketen getestet. Wenn das Papi sieht. Komm, hilf mir.«

»Und Lukas? Der kann auch helfen! Aber vielleicht ist er ermördert und kann gar nicht mehr helfen.«

»PAUL!«

»Ja. Erschossen von der Malaria, peng-peng. Machen die, echt.«

»Du gehst mir auf die Nerven, außerdem heißt es Mafia. Und nun komm rein.«

»Lukas … Lukas … bist du da? … Lukas …?«

Ein Telefon schrillte wichtig durch die Stille und fuhr Carina in die sowieso schon erschreckten Knochen.

Paule und August verharrten noch im Eingang, sicherheitshalber. Carina ging zum Telefon und meldete sich. Sie hörte sich an, was am anderen Ende gesprochen wurde, dabei wurden ihre Augen schmaler und ihr Atem lauter.

»Ich sage dir nur eins, mein lieber Lukas, wenn du nicht mit Mach 5 nach Hause kommst, werde ich dich in Gemeinschaftsarbeit mit deinem Bruder in Meister Proper ersäufen. Wer italienisch essen kann, kann deutsch putzen! Mach hin!« Sie knallte den Hörer auf.

»Was war denn?« fragte Paule, der inzwischen mit August in die Wohnung getrottet war.

Er erfuhr, daß ihr Bruder Lukas tatsächlich ein Ferienspaghettiessen für sich und seine Freunde gemacht hatte. Und Thorolf hatte sich beim Kräuterschneiden für die Sauce in den Finger gehackt.

»Is doch logisch«, sagte Paule abfällig, »Thorolf mit seinem schwedischen Namen, was verstehen Schweden schon von Spaghettisauce …«

»Sei ruhig und hol endlich einen Lappen!«

»Aus Schweden?«

Thomas Hausmann kam geradewegs aus der Tiefgarage; er war so sehr in Gedanken, daß er um Haaresbreite in das Mountainbike seines Sohnes Lukas gelaufen wäre.

Das laute Rufen von Thorolf Anders verhinderte Schlimmeres.

»Grüß dich, Paps … Thorolf kennst du ja.« Leicht dämlich grinsend war Lukas nach gut gemachter Vollbremsung vom Rad gestiegen. Auf dem Gepäckträger saß besagter Thorolf und hielt seinen linken bandagierten Arm in die Höhe.

»Guten Tag, Herr Doktor Hausmann«, sagte er höflich.

Soviel Höflichkeit betätigt bei Erwachsenen sofort das Blinksignal: Moment! Moment! Hier stimmt was nicht!

Es blinkte heftig im Kopf von Thomas Hausmann.

Er sah seinen Sohn an, der mit beiden Händen den Lenker festhielt. »Red Bull« stand in Riesenlettern quer auf dem Sweatshirt seines Sohnes. Hausmann irritierte das Red Bull, wie ihn überhaupt aus unerfindlichen Gründen alles irritierte, denn mit leichtem Seitenblick hatte er erkannt, daß besagter Thorolf einen ziemlich dicken Verband mit Schiene am Arm hatte.

»Lukas, was hat das zu bedeuten? Bring dein Fahrrad in die Garage, ich erwarte euch oben.«

»Gern, Herr Doktor Hausmann«, antwortete Thorolf, der noch immer wie angeschweißt auf dem Gepäckträger hockte.

Da war es wieder, nur blinkte es diesmal noch heftiger im Kopf von Thomas Hausmann.

Hausmann schloß die Wohnungstür auf.

»Hey, du Oberarsch, es wurde aber auch höchste Zeit!« Carina guckte vom Fußboden hoch, von dem sie eine festgepappte Spur Tomatenketchup loskratzte, direkt in die ratlosen Augen ihres Vaters.

»Entschuldige, Papi, ich dachte, du bist Lukas.«

Paule lief seinem Vater entgegen, verlor dabei die dicke Papierküchenrolle, die sich quer durch den Raum abrollte, und sprang seinem Vater in die Arme. »Papi.«

»Wir sollten Ruhe bewahren und die anstehenden Probleme nicht an uns auslassen«, versuchte dieser seine Tochter zu beschwichtigen.

Jetzt betrat Lukas mit Thorolf die Wohnung.

»Is ’n Finger ab?« wollte Paule wissen.

»Nein, mit sechs Stichen genäht«, antwortet sachlich Lukas für Thorolf.

»Plus einem Stich, nämlich den, den du im Kopf hast, mein Sohn!«

»Wir wollten doch nur … wir hätten ja auch alles wieder weggeräumt, wenn Thorolf sich nicht geschnitten hätte …«

Hausmann sah sich um. »Was soll das hier alles bedeuten?« Langsam verlor er seine Nerven, dabei hatte Carina das Schlimmste schon beseitigt. Trotzdem sah es immer noch so aus, als ob zehn Mixer ohne Deckel Ketchup mit Rinderhack mittels Zentrifugalkraft auf, unter und über alles verteilt hätten.

Lukas setzte zu einer Erklärung an, sein Vater schnitt ihm das Wort ab.

»Bevor du weiterredest, mein Sohn, zieh dieses dämliche Sweatshirt aus.« Es machte Thomas Hausmann sehr nervös und gereizt, während des gesamten Dialogs mit seinem Sohn auf eine Headline zu gucken, die Red Bull signalisierte. Es animierte auch unnötig.

»Bleib ruhig, Hausmann«, pfiff er sich zur Ordnung. Er wandte sich an Thorolf. »So, mein lieber Thorolf, nun erzähle mir bitte mit WENIGEN Worten die Geschichte.«

Thorolf stand in strammer Haltung, die noch durch den nach oben geschienten Arm merklich unterstrichen wurde, wie ein Wachsoldat in der Türfüllung. Carina unterdrückte nur mühsam ihr Lachen.

»Komm her, Thorolf. Und nun rede.« Hausmann schloß die Wohnungstür.

»Ja … also, das war so. Weil ich mich doch verletzt hatte, mußten wir schneller essen und gleich danach in die Uniklinik. Da hatten wir keine Zeit, hinterher aufzuräumen … Wenn Sie verstehen, Herr Doktor. Und deswegen sieht es hier noch so aus wie es aussieht.« Thorolf grinste unbeholfen, der hochgereckte Arm signalisierte Indianerfrieden: »Hugh!«

Paule hing mit beiden Armen am Hals seines Vaters. Es tat ihm sehr wohl. Vielleicht wurde Thomas Hausmann durch die Nähe und Zärtlichkeit, die der kleine Kerl auf ihn übertrug, milder gestimmt; denn er reagierte wesentlich sanfter, als er es sich vorgenommen hatte. »Na, mein Lieber, dann sag deinem Freund Lukas, spätestens zum Abendessen erwarte ich eine Küche, die aussieht wie ein supergestyltes ›Schöner-Wohnen‹-Hochglanzfoto. Titel, versteht sich!«

»Geht klar, Doc.« Thorolf lächelte. »Ach, Herr Doktor, liebe Grüße von meiner Mutter, den Gürtel von Ihrem Trenchcoat kriegen wir wieder hin.«

Hausmann verstand nicht und sah Thorolf ratlos an.

»Na, wir mußten doch stauen und verbinden.«

»Schweden können nur Eishockey, nich, Papi?« Paule umarmte seinen Vater und gab ihm einen dicken Kuß.

Carina hatte in der Zwischenzeit für ihren Vater einen Kaffee auf den hinteren Balkon gestellt.

»Schalte mal ab, Paps, du hast es verdient.« Sie gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuß.

Thomas Hausmann lehnte sich entspannt in seinen Gartenstuhl, atmete aus und durch.

»Ich hoffe, du bist nicht mehr ganz so sauer. Ich mache Ordnung, okay?« Lukas war von hinten an den Gartenstuhl, in dem sein Vater es sich bequem gemacht hatte, herangetreten. Er legte seine Schläfe an die seines Vaters. »Paps, ich hab dich lieb.« Und weg war er.

Thomas Hausmann hangelte sich mit einem Fuß einen Hocker heran, stellte seine Tasse darauf, schaute in den blauen Sommerhimmel. Er wollte ein bißchen denken, und das Blau des Himmels lud förmlich dazu ein.

Wie war das alles gewesen, gekommen, passiert? Anfang der Woche, genauer, erst vor vier Tagen, hatte Verena, seine Frau, ihre Koffer gepackt. Alles, was ihr notwendig erschien, hatte sie mitgenommen – Kleider, CDs, Tagesschuhe, Abendschuhe, Turnschuhe, ein Bild wurde abgehängt und verpackt, ein Silberleuchter, drei Seidenkissen, ein Dutzend Bücher … Es war, als ob ein Virus sie befallen hätte. Praktisch über Nacht mußte sie den Entschluß gefaßt haben, Mann und Kinder zu verlassen.

»Verena, was machst du, was tust du …?«

»Ich will leben.«

Thomas war so verdattert, so traurig, er fühlte sich, als ob ihn langsam jemand von innen aushöhlte.

»Verena. Bitte … haben wir denn nicht gelebt? Wir und die Kinder? War nicht alles so, wie wir es uns immer gewünscht haben?«

»Ach, Thomas. Bitte!«

Mehr hatte Verena eigentlich nicht gesagt, nur dieses blöde »Ach, Thomas«. War sie zu feige, oder war ihr gar nicht bewußt, was sie aufs Spiel setzte?

»Wer ist ER!?! Was bietet er dir, was wir nicht bieten können???«

»Ach, Thomas. Bitte.«

Verena ging von Zimmer zu Zimmer, sah sich um nach diesem und jenem, wie ein Biber, der geeignete Äste für seinen Bau sucht. Thomas ging in die Küche und kam mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern zurück. Barfuß, in Jeans und T-Shirt.

»Verena, hör bitte auf mit der Packerei. Hör mir einen Augenblick zu. Bitte.«

Verena, im »kleinen Weißen« von Chanel, hielt tatsächlich inne. Links hielt sie eine Handvoll Kettengeklunker und rechts eine Tüte einer Nobelboutique. »Ja, bitte. Was willst du sagen?«

»Verena, vor dir steht ein Mann, der dich wahnsinnig liebt, mit dem du drei hinreißende Kinder hast … jedenfalls bis jetzt.« Er lächelte. »Ein Mann, der noch alle Haare auf dem Kopf hat, nicht einen einzigen falschen Zahn, nicht den leisesten Ansatz von Bauch, so einen Mann kann man doch nicht verlassen … Verena, komm, sei wieder MEINE Verena, laß uns die Vorhänge schließen, Klingel und Telefon abstellen, Champagner trinken … Verena …«

»War es das?« fragte sie kühl und ließ die Ketten in die Tüte gleiten. »Du machst ein Gesicht wie einer, der morgen gehängt wird.« Sie ging an ihm vorbei, um Unnützes, Unwichtiges in bereitgestellten Louis-Vuitton-Taschen, Säcken, Beuteln und Koffern zu verstauen.

»Verena, wir wollen übermorgen in die Ferien. Die Kinder freuen sich seit Wochen. Und wir doch auch, oder? … Verena, du kannst doch nicht über Nacht eine andere Frau, ein anderer Mensch geworden sein?«

»Thomas. Bitte.«

Mit hörbarem Knall setzte er die Flasche auf den Tisch, die Gläser daneben, es schepperte laut, aber es blieb alles heil.

»Darf ich dich fragen, wohin du gehst, immerhin sind wir vor dem Gesetz noch Mann und Frau! So aufgerüscht, wie du bist, gehst du sicherlich nicht ins Frauenhaus.« Thomas wurde langsam wütend. »Außerdem lassen sie dort Frauen in Chanel gar nicht rein!«

Thomas dachte an die Kinder. Verena mußte verrückt geworden sein, oder spielten sie mit in dieser lausigen Serie »Voll erwischt«, wo sich am Ende alle über die Spieldeppen totlachen wollen oder müssen?

Vor Thomas’ geistigem Auge erschien das Bild, er würde im Treppenhaus, vor dem Aufzug, an Verenas Gepäck zergeln und bitten und betteln: Verena, verlaß mich nicht … Dann käme jemand aus einer Ecke und würde sagen: Guten Abend, mein Name ist Fritz Egner … Nein, nein, so war es nicht. Es klingelte auch kein Wecker, der ihn aus diesem verflixten Traum holte. Seine Armbanduhr zeigte 13 Uhr 30.

Carina war reiten in Duvenstedt, Lukas mit Thorolf minigolfen. Paule und August waren mittagessen bei Melanie Nielsen.

»Verena, du bist feige. Ja, feige, dich klammheimlich davonzuschleichen. Denkst du nicht an die Kinder? Ist dir alles egal?«

»Ach, Thomas … Ich bin doch nicht aus der Welt. Herrjeh, ich mach das schon.«

Jetzt zischte das Überdruckventil von Thomas Hausmann unüberhörbar. Er sagte Verena, was sie wäre und was sie NICHT wäre. Er beendete seine Rede mit den Worten: »Und sage nicht noch einmal ›Ach, Thomas‹, oder beginne einen Satz damit. Ich könnte mich vergessen!«

Es läutete. Verena betätigte die Gegensprechanlage. Nach kurzer Zeit öffnete sie. Vor der Tür stand in noblem Zweireiher ein Chauffeur. Er nahm die Mütze ab und sagte grüßend, mit leichtem Kopfnicken: »Gnädige Frau, darf ich das Gepäck …« Er nickte Thomas höflich »guten Tag« zu. Thomas kam sich vor wie ein Statist. Stumm, nur anwesend. Verena zeigte auf den gesammelten Louis. Mittels Aufzug schwebte alles abwärts.

»Tschüß, Thomas, paß auf dich auf. Sag den Kindern, ich liebe sie.«

»Das werde ich nicht tun, ich möchte nicht als Lügner dastehen!« Verena ging. Klapp und klack. Die Tür war zu.

Thomas riß die Tür noch einmal auf und rief seiner Frau hinterher: »Wenn ich nicht wüßte, Verena, daß du chauffiert wirst, wäre ich sicher; daß du einen Besen nimmst!«

Mit seiner restlichen Wut knallte er die Tür zu.

Er stand wie angewurzelt allein in der Wohnung. In der Luft hing noch ein Hauch »Roma«, ein Hauch Verena.

Thomas ging ins Bad. Da stand sie! Vergessen! Die Flasche »Roma«, Eau de Parfum per Laura Biagiotti.

Hocherfreut ergriff Thomas die Flasche, um sie vom hinteren Balkon in die Gegend zu pfeffern, irgendwohin, in irgendeinen Garten.

Im Grunde war das gesamte Szenario wie in einem miesen Film, so einem, bei dem ein normaldenkender Zuschauer bereits nach fünf Minuten sagt: So ein Quatsch. Und sich die Sendezeit 23 Uhr 55 spätestens nach zehn Minuten erklärt.

Verena, seine Frau, nutzt die Abwesenheit der Kinder, um in Windeseile mit Sack und Pack nach siebzehn Jahren Ehe die Flucht zu ergreifen.

Gut, es gab Fälle, nicht wenige, da wollten Männer oder Frauen, zum Teil gewandet in ihre älteste Hausklamotte, Plüschpuschen an den Füßen, nur mal schnell Zigaretten holen. Die hat man auch nie wieder gesehen. Wahrscheinlich sind die heute stolze Bratwurstbudenbesitzer auf den Seychellen oder in Castrop-Rauxel. Aber Verena?

Von nichts auf eben, ohne Vorwarnung? Was oder besser – WER steckte dahinter?

Thomas dachte nach, ging die Einladungen und Empfänge durch. Nichts und niemand, kein Gesicht, das Verenas Ausstieg aus dem Familienleben rechtfertigte.

Was hatte sie gesagt …? »Ich will leben?« … So ein Unsinn. Mit ihren achtunddreißig Jahren war sie für Wechseljahrspinnereien zu jung. Depression konnte sie schreiben, hatte ansonsten damit nichts am Hut. Und keinen Grund, welche zu haben!

Was war passiert? Ein Mann mit Chauffeur … Geld viel Geld? Der unaufhaltsame Aufstieg der Verena Hausmann in die schwindelerregenden Höhen der Top Society? Das war es, nur das konnte es sein … Vielleicht war seine von ihm heißgeliebte Verena eine andere Form von Anna Nicole Smith … Na, furchtbar. Thomas brauchte auf den von ihm selbst verursachten Schreck einen Drink …

Mit einem Glas Wein in der Hand stand er an der vorderen Balkonbrüstung und sah auf die fast verwaiste Straße, Mittagszeit, und die meisten Anwohner sowieso schon im Urlaub.

Wie sollte es mit ihm und seiner Familie weitergehen? Drei Kinder und ein Hund und Sommerferien.

Das Ferienhaus war gemietet. Thomas telefonierte am späten Nachmittag mit seinen Eltern. Es wurde vereinbart, sie am Sonntag in Bordeaux vom Flughafen abzuholen …

… Heute war Freitag, 15 Uhr. Krisensitzung.

Thomas stellte die Lehne seines Gartenstuhls senkrecht. Er wollte zuerst mit seiner Tochter reden.

»Carina!« rief er vom Balkon in die Wohnung. »Carina!«

Es erschienen Paule, August, Lukas und natürlich Carina.

»Ja, was is, wir sind gleich fertig«, sagten alle fast gleichzeitig. Thomas mußte lächeln. Seine Gören Carina und Lukas trugen pinkfarbene Gummihandschuhe. Paule hatte auch einen angezogen, falsch herum, die Handfläche nach außen, die Stulpe des Handschuhs endete bei ihm in Achselhöhe.

Paule lächelte seinen Vater an: »Der kaputte Schwede is wech, nach Hause, wir sind wieder nur wir.«

»… und gleich fertig, Papi, nur noch der Herd«, sagte Lukas.

»Vorgeweicht ist schon«, ergänzte Carina.

»Carina, ich wollte mit dir einiges besprechen«, sagte Thomas.

Lukas setzte sich in einen Gartensessel und zog die Gummihandschuhe aus.

»Eigentlich wollte ich mit Carina, na gut, Lukas, bleib sitzen. Paule, muß August nicht runter?«

»Er hat den ganzen Tag gepinkelt«, er setzte noch schnell hinzu, »und gewaschen bin ich auch. Ihr könnt mich ruhig hierlassen, ich weiß schon, was ihr reden wollt.« Trotzig warf er sich in einen Gartenstuhl. Der rosa Gummihandschuh rutschte von seinem Arm auf den Boden. August apportierte ihn ins Wohnzimmer auf einen Sessel.

»Nun sagt schon, wo is Mami?«

Carina, Lukas und sein Vater fingen gleichzeitig an, Erklärungen abzugeben.

»Wenn alle reden, begreif ich gar nix, laßt Papi reden«, bat Paul.

Es war still auf dem kleinen Balkon. Thomas winkte Paule zu sich und zog ihn auf seine Knie, Carina und Lukas saßen rechts und links auf der Armlehne, jeweils eine Hälfte an ihren Vater gekuschelt.

Leise hatte sich August auf die Fliesen gelegt.

Behutsam erklärte Thomas seinen Kindern die Situation oder versuchte es wenigstens. Im Grunde genommen gab es keine Erklärung.

»Ich denke, Lieben soll schön sein, aber so tut es uns allen nur weh«, stellte Lukas fest.

»Nur Mami nicht«, sagte Carina.

»Aber Mami kommt doch wieder, wenn sie den anderen Herrn ausgeliebt hat?« wollte Paule wissen.

»Magst du, wenn einer von deiner Semmel abbeißt, den du nich kennst?«

»Lukas!«

»Ist doch wahr, Mann. Kriegen doch auch die Enten, oder?«

»Lukas!«

»Ja, ich weiß. Aber wir machen das schon. Und zuerst fahren wir in die Ferien. Basta.« Lukas sah seinen Vater an.

Thomas mußte lächeln und zog Lukas an sich und gab ihm einen Kuß. Er hatte ja recht …

»Der andere Lieberer von Mami heißt Kilian«, sagte Paule.

»Woher weißt du das?« wollten alle wissen.

»Vom Telefon. Kilian weiß ich noch, weil das so ein doofer Name is.«

»Kilian heißen Päpste und so«, stellte Lukas fest.

»Aber die haben keine Frauen«, korrigierte Carina ihren Bruder.

»Warum nich?« wollte Paule wissen. »Schön dumm. Wer kocht denn für Päpste und alles?«

»Paul, wir haben andere Sorgen«, fuhr Carina ihm in die Parade.

»Gib man nich so an«, erwiderte Paul, »ich weiß nämlich auch noch, woher die vielen Blumen waren. Jaa. Nich vom Isemarkt. Nee. Die hat immer einer gebracht, ein Mann in grauem Kostüm, mit ’ner flachen Mütze auf ’m Kopf. Ja, weiß ich. Ihr braucht gar nicht so zu gucken, war so.«

Hausmann und seine Kinder saßen noch eine Weile zusammen und schwiegen in die Wolken, jeder hing seinen Gedanken nach. Nur August schnarchte sich laut durch seine Träume.

»Paps, wir machen die Küche fertig, dann rufen wir den Pizza-Service an und überlegen uns, wann wir morgen starten. Sonst hocken wir Weihnachten noch hier und Großmama und Großpapa für den Rest ihres Lebens im Flughafenfundbüro in Bordeaux. Avanti Dilettanti.« Carina scheuchte ihre Brüder hoch.

»Wie gut, eine Frau im Haus zu haben«, stellte Lukas sachkundig fest.

»Ja, und zum Glück schon so eine alte«, meinte Paule.

Zwei Stunden später saßen alle bei einer Kingsize-Pizza, das ist Wohngemeinschaftsgröße, auf dem Tisch stapelweise Papierservietten und Pappteller, die vom letzten Kindergeburtstag übriggeblieben waren. Nur nicht mehr abwaschen, davon hatten alle genug.

Sie saßen auf dem Balkon und ließen sich die Pizza schmecken. Dazu eine warme Sommerbrise, die schräg am Himmel stehende Abendsonne – es ging weiter, das Leben der Hausmanns …

»Allways look on the bright side of life«, intonierte Lukas, indem er einige Dosen Fanta auf den Tisch stellte. Lachend ließen sie die Dosen aneinanderknallen und wünschten sich gegenseitig schöne Ferien.

Es geht fast alles, wenn ein MUSS dahintersteht. Das »Muß« im Hause Hausmann hieß Koffer packen.

Carina hatte für alle unter Mithilfe ihres Vaters die Urlaubsgarderobe zusammengestellt, später mit Lukas gepackt. Sie mußte Lukas allerdings die von ihm vorsorglich bereitgelegten Skisocken ausreden.

»Du tickst nicht richtig, Anfang Juli.«

»Immerhin sind wir am Atlantik«, gab Lukas zu bedenken.

Carina tippte sich an die Stirn. »Du hast jetzt bereits einen Sonnenstich. Skisocken, frag doch Papi, ob er noch deinen Schlitten verstauen kann.«

Lukas brummelte, während er Gepäckstücke zu seinem Vater in die Garage brachte, »man könne ja nie wissen …«

Aber im großen und ganzen lief alles ohne Komplikationen. Das Auto stand gepackt in der Garage. Morgen früh um 6 Uhr 30 würde sie dann ein unbarmherziger Wecker aus den Federn werfen.

Sie sammelten die Reste ihres Pizzagelages zusammen, und die Familie verkrümelte sich langsam in die Betten.

»Halb sieben …« Lukas schielte seufzend gen Himmel und fegte den Tisch mit dem Ärmel sauber. Freiwillig ging er noch zum Müll, er wollte »seine« auf Hochglanz polierte Küche optisch nicht durch Pizzapappen und Fanta-Büchsen verunstaltet sehen.

»Erst macht er Dreck, und dann stellt er sich an.« Paule ging kopfschüttelnd in sein Zimmer. Verstehe einer größere Brüder …

Thomas hatte sich mit der Tageszeitung in die bequeme Hanglage seines Bettes plumpsen lassen.

Er las dies, las das. Moment, was stand da?

Amerika: Immer mehr Väter spielen Mama – Ergebnis einer Untersuchung der Gesellschaft »CENSUS BUREAU«. Neue Männer-Parole: Betreuung und Erziehung machen wir selbst! Nach der Studie wird heute schon ein Fünftel aller Kinder im Vorschulalter inzwischen von Vätern betreut.

Weiter hieß es: Vor vier Jahren waren es erst fünfzehn Prozent!

So so, er lag voll im Trend, bildete er nun eine Mehrheit oder eine Minderheit, indem er seine etwas älteren Kinder betreute …?

Aber das würde sicherlich auch bald prozentual erfaßt werden, wie neuerdings alles erfaßt wird, statistisch gesehen …

»Papi, kann ich bei dir …?« Da stand Paule und holte seinen Vater aus der Tageszeitung.

Wie verloren der kleine Kerl im Türrahmen stand, unter dem Arm seine Knuddelsau. Ja, Paule hatte eine Knuddelsau, ein richtiges Wildschwein mit Knopf im Ohr, ohne sie ging gar nichts. Da, wo andere Kinder Bärchen, Lämmchen oder ähnlich Schmuseweiches hatten, hatte Paule eine Wildsau.

»Komm, mein Kleiner, hopp.« Thomas schlug das Laken zur Seite. Hopp! war auch für August das Kommando. Er sprang ebenfalls ins Bett und rollte sich in Windeseile an das Fußende. Er machte sich so klein wie möglich und stellte sich sofort tiefschlafend.

Paule kuschelte sich an seinen Papi.

»Gute Nacht, Paulchen, träum schön … immer mehr Väter spielen Mama«, sagte er halblaut, während er das Licht löschte.

Thomas konnte nicht einschlafen. Seit Tagen kamen seine Gedanken nicht zur Ruhe, drehten sich im Kreis, drehten sich um Verena.

Die Fenster seines Schlafzimmers waren weit geöffnet, keine noch so kleine Brise ging über die Dächer oder durch die Bäume, um die Stadt ein wenig zu erfrischen. Die Häuserwände gaben des Nachts die gespeicherte Wärme des Tages zurück, Backofentemperaturen vierundzwanzig Stunden. Hamburg schwitzte.

In seinem Arm lag sein Paulchen, sein Atem ging ruhig, er schlief tief und fest. Er fühlte sich geborgen bei seinem Vater.

So sanft wie möglich versuchte Thomas, August, die Heiz- und Rheumadecke, vom Bett zu schubsen. Kein Gedanke. August lag wie eine Planierraupe quer über dem Bett und rührte sich nicht.

Je länger Thomas Hausmann im Bett lag, je wacher wurde er, dazu noch diese unerträgliche Hitze. Behutsam rollte er seinen Sohn aus seinem Arm in die Mitte des Bettes und stand auf.

Er holte sich ein Glas Weißwein und setzte sich auf den vorderen Balkon. – Er dachte an Verena. Je mehr Zeit dazwischenlag, um so unbegreiflicher wurde ihm ihr Verhalten. Wo war sie jetzt? … Und wer zum Teufel ist Kilian?!?

Die Lichter der umliegenden Häuser verloschen langsam, nur hier und da brannten noch vereinzelte Windlichter auf Terrassen oder Balkons. Glühwürmchen gleich leuchteten sie ihr Licht durch die Sommernacht. Eine Nacht zum Träumen … Verena …

Thomas stand auf, ging durch das Schlafzimmer, hörte seinen Paule ruhig und gleichmäßig atmen und weniger leise Paules August. Eine warme, glückliche Welle schlug mit voller Wucht an seine Herzkammern.

Er ging weiter in das Zimmer von Lukas. Da lagen die rosa Gummihandschuhe neben seinem Baseball und einem angebissenen Apfel. Lukas lag bäuchlings und ratzte wie ein Grizzly.

Im Zimmer von Carina brannte noch Licht; vorsichtig öffnete Thomas die Tür. Carina war eingeschlafen, eine Zeitschrift wellte sich in das Bettlaken. Behutsam nahm Thomas die Illustrierte weg.

Während er das Licht löschte, fiel sein Blick auf den Artikel, den seine Tochter gelesen hatte: Schlank ohne Qual.

Carinchen, wenn man so hübsch ist wie du, dachte er, sind die drei oder vier Pfund Übergewicht eine reine Schutzmaßnahme des lieben Gottes für dich. Und deine Eltern!

»Schlaf gut, meine kleine Große.«

Was jammerst du, Thomas Hausmann? Du hast drei Menschen, die du liebst und die dich lieben, nicht zu vergessen einen großen, gemütlichen Hund. Man meint es sehr gut mit dir, Hausmann. Schlaf jetzt, morgen ist ein anderer Tag …

Leise ging er zurück zu Paule.

Mit einem Crash hatte die Geschichte von Verena und Thomas begonnen.

Verena war mit ihrem unübersehbaren knallroten Porsche in die übersehbare graue Ente von Thomas geknallt, und Thomas hatte zu ihr gesagt: »Na, Mäuschen, wer hat dir denn das schöne Spielzeug geschenkt, mit dem du nicht umgehen kannst? – Vielleicht sollten wir die todschicke Sonnenbrille gegen eine anständige Sehhilfe austauschen, oder noch besser gegen einen Hund, den neben dich setzen, damit er bei Gefahr bellt.«

»Du blöde Machograuente, wenn dein Bafög nicht reicht, geh jobben, dann kannst du dir auch ein paar PS mehr unter deinem flachen Hintern leisten.«

Was war das? Eine Frau, die ihm Paroli bot? Thomas’ Sinne reagierten. Er sah sich die junge Dame genauer an. Alle Sinne reagierten! Geschickt zog er sich erst einmal aus der Affäre, indem er grinste und sich seine Mähne aus der Stirn strich; damals trug er noch »offen«.

Sie sah sich den Entenfuzzi auch etwas genauer an … Den im Anzug, toll…!

Hinten in der Einfahrt, aus der Verena geprescht war, wurde gehupt. Sie rief dem Fahrer des Lkws zu: »Bitte noch einen Moment, ich bin in eine Ente gefahren!«

»Wie wäre ett mit ’n Tiaazt, waa, statt hia die janze Einfaaht zu blockiern, unsaeina muß wech, junge Dame.«

»Wir können da drüben weiterpöbeln, wenn es Ihnen recht ist.« Thomas zeigte auf einen fast leeren Großraumparkplatz.

»Okay«, sagte Verena, »in fünf Minuten. Abendkleid und Smoking.«

Humor scheint sie auch noch zu haben, na woll’n mal sehen, Hausmann, sagte sich Thomas.

Es ging selbstverständlich ohne Komplikationen. Thomas erklärte ihr, daß er den Entenflügel schon wieder hinbekäme.

»In Ihrer Selbsthilfegruppe?«

»Wenn Sie patzig werden, meine Dame, werden Sie nicht nur meine Ente polieren, sondern als weitere Strafmaßnahme meine Wohnung.«

Und so ist es dann gekommen, und dann kam schon sehr bald Carina.

Lukas meldete sich bei Verena, nachdem der letzte Instrumentenschrank ordentlich blitzblank gewienert war.

Kurzfristig hatte Thomas das Angebot bekommen, die Praxis eines alteingesessenen Kollegen, der sich zur Ruhe setzen wollte, zu übernehmen. Er hatte zugegriffen.

Mit Hilfe seiner Frau Verena sowie diverser Handwerker wurden die Räume licht und schön.

In einer Woche sollte es losgehen.

Verena hatte soeben den letzten Griff poliert und schwenkte Thomas mit dem Lappen das Signal »Alles fertig« zu. Da drehte sich der Behandlungsraum um Verena, in fataler Gegenbewegung dazu die OP-Lampe.

Verena klammerte sich an den steinernen Untersuchungstisch, glitschte ab und fiel einem Handwerker in die Arme.

»Junge Frau, ob das nun so passend ist, der erste Patient beim Tierarzt eine Dame? Herr Doktor!« rief er. »Kommen Sie doch bitte mal. Ihre Frau ist ganz blaß um ihre schöne Nase.«

Damit drückte er Thomas, der aus dem Nebenzimmer gelaufen kam, Verena in die Arme.

»Thomas, holst du mir bitte ein Glas Wasser?«

»Wasser, Verena? Wir wollten doch gleich Champagner trinken, im Kühlschrank steht auch etwas Lachs … Verena, wo rennst du hin …?«

So meldete sich Lukas an.

Ja, und Paule … Paule hat eine besondere Geschichte. Paule heißt eigentlich Jean Paul. Und das kam so:

Thomas und Verena saßen im »Don Camillo e Peppone«, um ein wenig ihr Glück zu feiern. Das Glück, einander begegnet zu sein.

Das Restaurant liegt in einer Straße, die sinnigerweise »Im Soll« heißt. In den Anfangszeiten ihrer Ehe wurden sie, wenn sie in die Straße einbogen, kurzfristig von ihrem Gewissen gerüttelt, aber es rüttelte immer nur bis zum Eingang des Restaurants, verebbte, nachdem die Tür sich hinter beiden geschlossen hatte und die Signora beide herzlich begrüßte.

Mit der Zeit ging es ihrem Konto besser, und das Gewissen hatte seine Ruhe, und den Namen der Straße konnten sie rechts und links liegenlassen.

Signore Camerini servierte mit Gesang und italienischem Charme diverse Köstlichkeiten seines Landes aus Pfannen, Töpfen, Backofen. Und Weine!!!

»Solo, solo con te, stavo bene con me …«, sang er gerade mit Eros Ramazzotti um die Wette, während er servierte.

Thomas reichte Verena einen länglichen Umschlag über den Tisch, er bedeutete ihr durch liebevolles Augenzwinkern: »Mach auf, Verena.«

Vorsichtig öffnete Verena das Kuvert. Sie hielt zwei Flugtickets und eine Hotelreservierung in Händen.

»Thomas, Thomas, eine Woche Paris. Nur wir beide, das ist Wahnsinn!« Die freudige Überraschung ließ ihre Augen noch ein bißchen mehr glitzern. Sie stand auf, um ihren Thomas zu umarmen.

»Bella Signora, das isse nixe Wahnsinn, das isse Liebe, amore«, sagte Signore Camerini, der Verenas Worte gehört hatte.

»Solo, solo con te …« Singend verschwand er in der Küche.

»Solo, solo con te«, sangen beide, als sie händchenhaltend durch die Eingangstür ihres Hauses traten. Am Aufzugknauf hing ein Schild: »Außer Betrieb.«

»Wenn Sie meinen«, Thomas verbeugte sich wohlerzogen vor dem Lift, »dann steigen wir die Anhöhen zur zweiten Etage eben per pedes hinan. Auf geht’s, juchhu.« Er zog Verena mit kühnem Schwung mit. Thomas hatte diesen Abend »steuerfrei«, Verena hatte beide sicher nach Hause chauffiert.

Seit gut eineinhalb Jahren wohnten sie in der Isestraße, in dem Haus, in dem sie noch heute wohnen; damals wohnten Hausmanns noch in der zweiten Etage, gegenüber von Alwine Kleberg, die ganze Tage an ihrem Guckloch verbrachte, damals bereits verwitwet und brennend interessiert an allem, was sie umgab.

»Solo … soloho con tehe … vieni dentroho non imporhortandaha cosa qua …«

Alwine riß die Tür auf. »Wissen Sie, wie spät es ist?!«

Ihre Frage unterbrach Thomas in seinem Gesang. Er guckte die Kleberg erstaunt an. Da stand sie, Alwine Kleberg, ein mintgrüner, bebender, wabernder Wackelpudding. Eingehüllt in Stoffmeilen.

»Genau 23 Uhr 30, allerwerteste Dame.« Thomas hielt sich am Treppengeländer fest, um die »Kunst am Bau« näher in Augenschein nehmen zu können.

»Da haben Sie verdammtes Glück gehabt, daß wir vorbeigekommen sind zu so später Stunde, gell.« Thomas nickte ihr freundlich zu. »Denn sonst hätten Sie ja die ganze Nacht nicht gewußt, wie spät es ist. Also, was hab ich gesagt?« Er sah erneut auf seine Armbanduhr. »23 Uhr 30.« Er machte eine leichte Verbeugung in Richtung Kleberg, dann ging er geradewegs auf seine Wohnung zu. Verena hatte inzwischen die Tür aufgeschlossen und ließ Thomas an sich vorbeigehen. In der geöffneten Tür drehte er sich noch einmal um.

»Nun aber husch ins Körbchen …« Er machte eine Handbewegung, die da hieß: Abflug, du giftgrüne alte Nebelkrähe.

Später saß Verena auf dem Rand der Badewanne und konnte nicht aufhören zu lachen.

»Psst, du bist zu laut, Frau Hausmann, wir haben Kinder.« Thomas legte den Finger an den Mund.

»Ja, mein Herz, ich weiß, aber die sind heute bei Oma und Opa.«

»O wie wunderschön, dann ist die Gelegenheit günstig für eine kleine Heimorgie. Leg dich hin, Verenaschätzchen, ich muß mich nur noch abschminken.«

»Ach Thomas, ich liebe dich.«

»Verenchen, kein Stern hängt so hoch, den ich nicht für dich pflücken würde.« Wohlig kuschelte Thomas sich in die Kissen und schlief ein.

Die Woche Paris war eine atmosphärische, kulinarische, kulturelle Wolkenreise.

Am Dienstag, den sechsten Oktober, saßen Thomas und Verena auf Platz C1/6 und C1/7 im Theater Marigny, um das Abschluß-Highlight ihrer Paris-Reise zu erleben. Kean, Hauptrolle: Jean Paul Belmondo!

Verena dachte noch Tage später, bereits wieder im herbstlichen Hamburg, nur »Belmondo«. Zumal er ihr nach Schluß der Vorstellung, er kam in das gleiche Restaurant, in dem Verena mit Thomas saß, zugelächelt hatte. Verena war vor lauter Belmondolächeln unfähig zu essen.

Eines Morgens beim Frühstück sagte Thomas feixend über sein Käsehörnchen hinweg: »Verena, sollten wir jemals noch ein Kind bekommen, nenne es in Gottes Namen Jean Paul, aber bitte komm wieder auf den Teppich.«

»Und wenn es ein Mädchen wird?«

»Jeanne Paula! Untersteh dich. Zudem, mein Herz, haben wir zwei Prachtexemplare, und das reicht.« Thomas wischte das Thema mit: »Hast du noch eine Tasse Kaffee, Liebes?« vom Tisch.

Dann tat eines Tages Jean Paul in Hamburg seinen ersten Schrei. Ungefähr vierzehn Tage nannten ihn alle verzückt Jean Paul, gingen dann zu Paul (französisch gesprochen) über.

Es war Lukas, der dem Schnickschnack anläßlich einer typischen Hamburger Teegesellschaft, auch Kränzchen genannt, ein abruptes Ende machte.

Lukas sprengte den hanseatischen Kreis mit den Worten »Paule badet gerade seinen Teddy im Klo!« aus den Fugen. Aus war es mit Paul oder Jean Paul. Paule war geboren!

Da Paule so allerhand anstellte, gab man ihm sicherheitshalber zu seinem vierten Geburtstag August an die Seite.

Nachdem er die Welpen-Teppichpinkelphase hinter sich hatte, machte er seinem Namen als Hütehund alle Ehre. Mit Paule hatte er alle Pfoten voll zu tun. Paule und August verschmolzen zu einer Einheit.

Das Haus in der Isestraße wurde umgebaut. Familie Hausmann bezog die fünfte Etage, die sich über zwei Wohnungseinheiten erstreckte, die sogenannte Penthouse-Etage.

Die Praxis lief sehr gut. Alle waren rundherum zufrieden. Zudem waren Verenas Eltern, Kurt und Sophie Vredefeldt, übereingekommen, ihrer einzigen Tochter schon zu Lebzeiten einen Teil ihres Erbes auszuzahlen. »Damit wir in Ruhe und Freude noch viele Jahre miteinander leben können«, hatte ihr Vater gesagt und ihr einen dicken Scheck in die Hand gedrückt.

Sophie Vredefeldt meinte noch: »… mit warmer Hand gegeben …«

Daraufhin antwortete ihr Vater Vredefeldt: »Sophie, meine gute Seele, das ist bei deinen ewig kalten Händen gar nicht möglich.«

Kurt Vredefeldt hatte nach Kriegsende die Holzhandlung seiner Eltern langsam, mit viel Mühe und wenig Schlaf, wiederaufgebaut.

Seine Eltern hatten den Krieg nicht überlebt, Geschwister hatte er keine, und das, was an Verwandtschaft noch übriggeblieben war, war in alle Winde verstreut.

Er suchte Vergessen in viel Arbeit.

Eines Tages stand ein mageres, blondes Mädchen vor ihm. »Ich habe gehört, Sie sammeln Alteisen und so …« Fragend und schüchtern sah sie Kurt Vredefeldt an.

»Sicher, steht ja auch auf dem Schild: ›Alteisen und Schrotthandlung Vredefeldt‹.«

Von der ehemals properen Holzhandlung Vredefeldt lehnte nur noch ein verwittertes Schild an einem zerbombten Schuppen.

»Was haben Sie denn da anzubieten, junge Dame?«

In einer braunen Tüte reichte das junge Mädchen ihm Blei. Blei, das von den Flaschenhälsen zerbrochener Weinflaschen stammte. Kurt schnupperte daran. »Das müssen aber gute Tropfen gewesen sein«, stellte er sachkundig fest.

»Die Flaschen sind alle hin, aber ich dachte, daß Sie vielleicht…« Sie machte eine Pause und sah den jungen Mann an. Verlegen räusperte sie sich. »Ich meine, man braucht doch jetzt all solche Dinge, oder?«

»Ja. Und Sie brauchen ein bißchen Kleingeld, stimmt’s?« Kurt schüttete den Inhalt der Tüte auf die Waage.

»Gibt gut gerechnet eine Mark.«

Das junge Mädchen strahlte.

»Ist bei Ihnen noch mehr zu Bruch gegangen?« fragte Kurt, während er ihr zehn Groschen in die Hand zählte.

»Alles«, sagte sie leise und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Kurt ergriff einen nicht mehr ganz sauberen Lappen, der auf einem ausgedienten Boiler hing, um sich ausgiebig die Hände abzuwischen. Das traurige Gesicht der Kleinen, das verzweifelte, stille »Alles« … Kurt war sehr durcheinander.

»Was halten Sie von einer Tasse Lindes-Kaffee, junge Dame? Frisch gebrüht, in fast heiler Emaille serviert?«

Sie lächelte.

»Dann kommen Sie mal mit in meinen Palazzo! Wir sitzen selbstverständlich auf der Terrasse, wenn es Ihnen recht ist.«

Kurt verschwand in seine windschiefe Bretterbude und hantierte geräuschvoll in ihrem Inneren.

Das junge Mädchen setzte sich draußen auf eine Holzkiste. Es war ruhig und friedlich hier. Ein Platz zum Ausatmen. Grüne Linden, malerisch um den Platz gruppiert, verschont von Bomben und Feuer, ein Rosenbusch, der sich gerettet hatte und üppig an einer verfallenen Mauer blühte.

Zwischen dem vielen Gerümpel, das sich auf dem Platz angesammelt und verteilt hatte, wucherten wild lila Trümmerblumen, Kamille und Margeriten. Schmetterlinge torkelten geschäftig von Blüte zu Blüte, kleine Käfer kraxelten durch die Grashalme.

Es war so, als hätte es nie Krieg gegeben.

Würde alles wieder schön werden können? Sie sah sich um und dachte, wenn es hier auf einem Schrottplatz so schön ist, bestimmt.

So begann die Liebesgeschichte von Sophie und Kurt Vredefeldt. Sophies Mutter Dorothea hatte noch eine »viertelachtel« heile Haushälfte in Eppendorf. Dort lebte sie mit ihrer Tochter und Dutzenden ausgebombter Nachbarn. Es ging. Und es ging gar nicht schlecht. Hilfe untereinander wurde damals großgeschrieben.

Dank des gut florierenden Schrottplatzes von Kurt konnte auch zur Wiederherstellung der diversen zu Bruch gegangenen Einzel- und Ersatzteile etliches wieder funktionsfähig gemacht werden. Aus alt macht neu, hieß die Devise. Damals konnten die Menschen noch über ein heiles Stück Dachrinne jubeln …

Sophies Mutter unterschied sich wohltuend von dem Klischee Schwiegermutter. Sie half, wo sie konnte, schleppte Ziegel, sägte Balken, kochte aus wenigem Festliches.

Die Tränen um Sophies Vater, der irgendwo im endlos großen Rußland gefallen war, weinte sie allein.

Jetzt ging Uromi Dorchen auf die Neunzig. Sie war die Lieblingsoma der Hausmann-Kinder, dicht gefolgt von Omama Sophie Vredefeldt. Großvater Vredefeldt und Großvater Hausmann wurden ebenfalls geliebt. Nur mit Großmama Hausmann hatten sie ihre Schwierigkeiten, wahrscheinlich selbst Großpapa Hausmann.

Es war Lukas, der ein paar Jahre später kurz und bündig aus Jean Paul Paule gemacht hatte, der seine Großmama Hausmann genauso kurz und bündig in Oma-Nancy umtaufte, als er gelangweilt im Wohnzimmer vor dem Fernseher lümmelte. Das Programm wurde unterbrochen. Kurznachrichten.

Lukas traute seinen Augen nicht. Der Präsident der Vereinigten Staaten kam händchenhaltend mit SEINER Großmutter die Gangway hinunter. Sie winkte in die Menge.

»Hey, der Typ spinnt total. Was macht er mit Großmama?«

Aufgeregt war Lukas aus der bequemen Ecke gesprungen. Carina, die neben Lukas in einem Sessel gehockt hatte und in ein Buch vertieft war, sah hoch.

»Du kannst blöde sein, Lukas Hausmann, das ist nicht Großmama, das ist Nancy, die Frau des amerikanischen Präsidenten, du Ei.« Carina klatschte Lukas mit der flachen Hand auf den Kopf. Der brüllte wie am Spieß.

»Guck doch hin, glaubst du, ich kenne meine eigene Oma nicht, du dumme Nuß?«

Es entstand eine der üblichen Kabbeleien unter Geschwistern, verbunden mit reichlich Phon.

Thomas sprang aus seinem Gartenstuhl, um dem ein Ende zu setzen. Paule schlummerte friedlich im Laufstall und sollte nicht geweckt werden. Er ging mit eiligen Schritten ins Zimmer und verlor auf dem Weg dorthin etliche Seiten »Hamburger Abendblatt«.

»Was, zum Teufel, ist hier los?«

Inzwischen war auch Verena aus der Küche zu den Streithähnen gestoßen.

»Bitte«, bat etwas atemlos Carina, »könnte einer von euch Erwachsenen meinem kleinen, völlig verdooften Bruder erklären, daß Nancy Reagan nicht Großmama Hausmann ist?«

»Erklär mal schön, Thomas, es handelt sich um deine Mutter, und hinterher sammelst du deine Zeitungsseiten bitte wieder ein«, meinte Verena grinsend und verschwand. »Oma-Nancy!« prustete sie hörbar aus der Küche.

Bei Oma-Nancy ist es für alle geblieben. Oma-Nancy ist nur Opfer, völlig ahnungslos, sie ist glücklich und hört darauf. Vielleicht hat es für sie den Kick des Besonderen.

Großpapa Hausmann ist gestandener Hamburger Im- und Export, wie schon Generationen vor ihm. Oma-Nancy, eine Blankeneserin von der Sorte, die schon mit Perlenkette geboren werden. Sehr fein, sehr vornehm, immer eineinhalb Zentimeter über dem Erdboden. Sie parlierte schon im zarten Alter von zehn Jahren außerordentlich gut Französisch, spielte Klavier, Tennis und von Zeit zu Zeit auf den Nerven ihrer Familie.

Großpapa Hausmann hatte sie bei einem Faschingsball im Curio-Haus kennengelernt, Großpapa ging als Sindbad, mit einem verwegen aufgemalten Oberlippenbärtchen und einer breiten roten Schärpe, an der ein goldener Pappsäbel hing.

Großmama hatte sich als kleine Seejungfrau verkleidet, Muscheln vom Elbstrand hingen in ihrem grünen Netzwerk, später zappelte dann Großpapa darin. Und noch später trug die entzückende kleine Meerjungfrau Teile eines feschen Oberlippenbärtchens.

Die Familien befanden sich schon nach kürzester Zeit standesgemäß. Fasching, verlobt, verheiratet, so ging es mit Isabella und Albrecht Hausmann.

Anläßlich der Taufe der kleinen Marya, Thomas’ ältester Schwester, freute sich besonders Isabellas Großtante Luise, zu diesem Zeitpunkt vierundachtzig unberechenbare Jahre alt; sie beugte sich über die vornehm gedeckte Tafel und verkündete so laut, daß selbst der sehr schwerhörige Onkel Gustaf es hören konnte: »Wie schön, daß die Kleine nicht in den Brutkasten mußte, sieben Monate und schon so kräftig. Darauf sollten wir anstoßen.«

Sie ließen die Gläser aneinanderklingen, es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Marya heiratete unmittelbar nach der Schulzeit einen Mediziner. Es war eine Liebesheirat und keine Flucht vor Mutter Isabella, aber das eine ging sich gut aus mit dem anderen.

Marya lebt mit ihrem Mann in Bad Pyrmont, ihnen gehört eine Klinik. Eine Klinik für Suchtkranke, Freßsuchtkranke, ein Abspecktempel. Marya kümmert sich um den persönlichen und geschäftlichen Teil. Sie und Thomas verstehen sich blendend. Es war Marya, dies Thomas das Gefühl von Geborgenheit und Wärme im Hausmannschen Zuhause vermittelte. Mutter Isabella war und blieb bis heute immer drei Grad unter Gefühl.

Thomas hat während seines Studiums an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover bei Schwester und Schwager Burkhard gewohnt und erinnert sich gern an die Zeiten in dem verträumten Pyrmont.

In den Hausmannschen Familienkreisen hält sich allerdings hartnäckig das Gerücht, Marya und Thomas hätten noch einen kleinen Bruder, das Ergebnis einer »stürmischen« Kreuzfahrt vor einigen Jahren. Oma-Nancy soll gar nicht an Deck zu sehen gewesen sein. Der kleinste Wellenschlag machte sie bereits seekrank, und so verbrachte sie die Seereise unter Deck, mit Tabletten und kalten Umschlägen. Großpapa Hausmann kam sichtlich erholt und braungebrannt zurück.

Nun fährt er ab und zu ins Schleswig-Holsteinische, um zu angeln …

Isabella und Albrecht Hausmann weilten in Bad Pyrmont, als sie der Hilferuf ihres Sohnes aus Hamburg ereilte. Oma-Nancy jammerte: »Mitten in der Kur. Das ist nicht von Vorteil, lieber Albrecht.«

»Papperlapapp, meine Liebe, dein Sohn und deine Enkel brauchen uns«, sagte er, ging sofort an die Rezeption zu Fräulein Cohrs und buchte die Flüge nach Bordeaux.

Hannover-Brüssel, Brüssel-Bordeaux.

»Hoffentlich ist der Junge pünktlich, nicht, daß wir hier bei der Hitze noch endlos warten müssen.«

»Bleib in der Halle, Bella« – so nannte Hausmann seine Frau –, »die ist klimatisiert und konserviert.«

Er wollte sich durch nichts und niemanden die Freude nehmen lassen, und er freute sich sehr auf seine Enkel, seinen Sohn und besonders auf Frankreich! Das positive Extra an der Reise war, daß er dem Pyrmonter Kurbetrieb entkommen war.

Er durchquerte die Flughafenhalle, um nach seinem Sohn Ausschau zu halten. Lässig hatte er die Hände in die Taschen seiner beigen Leinenhose vergraben, das Sakko locker über den Schultern. Den Augenaufschlag seiner Bella, der da heißen sollte, »you are not perfectly dressed, dear«, nahm er nicht zur Kenntnis.

Albrecht Hausmann sah blendend aus.

Vor dem Flughafengebäude kam gerade ein Rover an, beladen wie ein armenischer Wanderzirkus, vergleichbar einem Tournee-Mobil der Kelly-Family.

»Großpapa, Großpapa!« riefen Kinder aus den geöffneten Fenstern. Großpapa? Aber ja, das waren seine Hamburger!

August sprang ihm hocherfreut an die helle Hose.

Umarmungen, Gebell, Gelächter. Alle waren froh und glücklich, sich zu sehen.

Nachdem die erste Begrüßungswelle etwas abgeebbt war, nahm Thomas seinen Vater zur Seite. »Vater, es ist wundervoll, daß ihr da seid, danke.«

»Hör mal, mein Sohn, für Selbstverständlichkeiten mußt du dich nicht bedanken, über alles andere, Thomas, reden wir in aller Ruhe bei einem guten Glas Wein.« Hausmann umarmte seinen Thomas und klopfte ihm Mut zwischen die Schulterblätter.

Es folgte Teil zwei der Begrüßung.

Oma-Nancy saß wie die Garbo auf der Flucht mit vielen, sehr vielen Gepäckstücken und indigniertem Gesicht in der Ankunftshalle. August, der keine Unterschiede bei der Begrüßung von Mitgliedern seiner Familie machte, hechtete zu ihr hin.

Schützend hielt Oma-Nancy ihren Strohhut zwischen sich und August. Thomas schnappte August gerade noch rechtzeitig, als er Oma-Nancy zu erklimmen drohte, am Halsband.

Der Rest der Familie war weniger stürmisch. Braves Küßchen-rechts-, Küßchen-links-Getue, danach fächelte sie sich Luft mit einem Seidentuch zu.

»Ja, dann wollen wir mal.« Erwartungsfroh rieb Großvater Hausmann sich die Hände.

Thomas machte eine Hochrechnung sowie einen Schiebeplan für die Menschen, die Gepäckstücke und einen Hund.

»Thomas, wir wollen los.« Sein Vater stupste ihn an.

»Das geht nicht«, dachte er laut.

»Was geht nicht?« wollte sein Vater wissen.

»Wir alle und August. Und das Gepäck.«

»Das fängt ja heiter an.« Oma-Nancy zog den Mund zusammen, so als ob sie Zitrone pur getrunken hatte.

»Urlaub ist immer heiter, was, Kinder? Bella, meine gute Seele, wir setzen dich auf das Dach, dann hast du die beste Aussicht und die beste Luft.«

Alle mußten furchtbar lachen bei der Vorstellung.

Oma-Nancy erbat sich etwas mehr Respekt.

Das Problem löste sich schnell. Hausmann senior nahm einen Mietwagen. Sein Hintergedanke dabei war unter anderem die eigene Unabhängigkeit.

Da Oma-Nancy sich weigerte, mit ihm durch unbekannte Gegenden zu fahren, wurde ein bißchen umplaziert.

Lukas und Paule fuhren mit ihrem Großvater.

Oma-Nancy saß vorne im Rover und Carina mit August hinten. Bevor Oma-Nancy einstieg, beduftete sie das Autoinnere noch kräftig mit »Jicky« von Guerlain.

Großvater Hausmann, der seiner Bella beim Einsteigen behilflich war, schnüffelte und sagte: »Thomas, jetzt riecht dein Gefährt wie eine Horde parfümierter Affen. Wie gut, daß ich nicht einsteigen muß.«

»Oma-Nancy, es stinkt wirklich.« Carina zog die Nase kraus.

»Ja, und August auch. Er riecht fürchterlich nach Hund.« Schnippisch wedelte sie sich wieder Luft mit dem Seidentuch zu.

»Wäre es dir lieber, er würde nach Katze riechen?« Carina war sauer. »Du wedelst dir ja auch schon unter der Nase herum, weil es so gemein stinkt.«

»Carina, bitte.«

»Schöne Ferien, Mutter«, wünschte Thomas ihr und gab ihr einen leichten Kuß auf die Hand, die gerade wieder an ihm vorbeifächelte.

Los ging die Fahrt.

Großpapa Hausmann erzählte seinen Enkeln, daß es wundervolle Châteaus in der Umgebung von Bordeaux gebe, zum Beispiel das Château Margaux oder das Château Mouton Lafitte Rothschild und noch einige mehr. Die wolle er nach Möglichkeit alle kennenlernen.

Er erzählte von dem Weinanbau in dem Gebiet und den Köstlichkeiten, die man hier trinken könnte.

»Ich möchte jetzt lieber eine Cola.« Lukas gähnte.

»Cola macht süchtig«, warf Paule ein.

»Wer sagt denn solchen Käse?« fragte sein Bruder. »Melanie Nielsen.«

»Die ist durch und durch bekloppt«, antwortete ihm Lukas. Hausmann schmunzelte. Jetzt kam endlich wieder Leben in sein Leben.

Oma-Nancy wedelte und fächelte, selbst August wurde schon nervös davon und hatte schon zweimal kräftig in ihre Richtung gebellt.

»Mußte die Töle denn unbedingt mit? Es gibt doch Hundehotels.«

»Mutter, August gehört zur Familie. Hinzu kommt noch, wir würden Paule die Ferien verderben, und nicht nur Paule.«

»Weißt du, Oma-Nancy, Ferien ohne August wären für uns so, so als ob du …« sie überlegte, »… als ob du ohne deinen Kosmetikkoffer in die Ferien gehst.«

»Carina!« Thomas hatte das sehr barsch gerufen.

»Das versteh ich nun gar nicht. Du kannst doch August nicht mit einem Gepäckstück vergleichen«, sagte Bella Hausmann.

»Eben drum, Großmama.«

»Wir sind bald da«, neutralisierte Thomas.

Die Fahrt ging, nachdem sie die Autobahn verlassen hatten, durch die Wälder, vorbei an kleineren und größeren Ferienorten. Die Luft roch nach Lavendel und Thymian, Salbei und Meer.

Sie fuhren vorbei am Étang de Lacanau – hier tobte das Ferienleben. Autos, Motorräder, Menschen in allen Größen und jedem Alter.

Thomas fuhr durch Maubuisson; sie erzählten zwar immer, daß sie Ferien in Maubuisson machten, aber der Platz, an dem sie ihren Urlaub verbrachten, war ein stiller, kleiner Ort zwischen Maubuisson und Le Verdon-sur-Mer.

Wenn sie Maubuisson auf die Frage nach ihrem Ferienort nannten – »Ihr wißt doch, Bordeaux geradeaus, Atlantik, Maubuisson«, erreichten sie eine Kopfnicktrefferquote von achtundneunzig Prozent, obgleich die meisten keine Ahnung hatten.

So blieb auf diese Weise der hübsche kleine Ort ein Geheimtip, und außerdem mußten sie keine Nachhilfe in französischer Geographie geben.

Madame Sidonie hatte die himmelblauen Fensterläden alle geöffnet; im Garten wucherten farbenprächtig Oleander und wilde Kletterrosen um die Wette. Die Gartenmöbel waren in diesem Jahr frisch geweißelt worden und hatten neue Bezüge bekommen. Die Bezüge harmonierten Ton in Ton mit den Fensterläden.

Selbst Oma-Nancy ließ sich zu einem »Entzückend!« hinreißen.

Der Wagen rollte auf dem Sandweg aus, Kies und kleine Steine knirschten unter den Reifen. Im selben Moment kam Madame Sidonie auch schon aus dem Garten und wischte sich die Hände an ihrer knallroten Leinenschürze ab, nachdem sie ihre gelben Gartenhandschuhe abgestreift hatte. »Monsieur Thomas, enchanté de vous voir, ’atten Sie ein angenehme Reise? Bienvenue en France!« Sie umarmte Thomas herzlich.

Madame verkörperte das barocke, pralle Leben. Trotz ihrer leicht zur Fülle neigenden Figur bewegte sie sich mit unnachahmlicher Grazie und Leichtigkeit. Sie mochte Mitte Fünfzig sein oder älter, aber sie war ein quirliges, wunderschönes Weib. Selbst junge Männer lächelten anerkennend, wenn Madame Sidonie daherkam.

»Impossible.« Sie klatschte in die Hände. »Ist diese große Mädschen la petite Carina?« Sie umarmte Carina, dann hielt sie Carina einen halben Meter von sich weg, nickte mit dem Kopf und sagte: »Attention, Papa, Ihr Tochter wird ein sehr ’übscher Mädschen. Olala!«

Sie stieß laut die Luft aus und fächerte mit den Händen. »Olala.«

August hatte Madame Sidonie bereits dreimal mit seiner dicken Pfote in die Kniekehle gestupst, um zu signalisieren: Hallo, ich bin auch da!

Madame drehte sich um: »Augüst, Augüst, mon vieux, tu n’as pas changé, munter wie eine Fisch in die Wasser.«

August hatte Madame stürmisch begrüßt. Voller Wärme und Übermut. – Nun folgte die andere Version.

Thomas stellte Madame seine Mutter vor.

Es klirrte eisig seitens Oma-Nancy. Madame überspielte, sie war viel zu lebenserfahren und klug. Oma-Nancy bestand darauf, mit Madame grundsätzlich und ausschließlich nur französisch zu parlieren. »Où sont les salles de bains, Madame?«

»Oma-Nancy, ich bring dich ins Haus, ein Bad ist unten, eins auf der Zwischenetage und eine Dusche im Gartenhaus.« Carina zog sie mit.

»Die werde ich wohl kaum benutzen, mein Kind.«

»Aber sicher, die benutzen wir alle, wenn wir vom Strand kommen«, antwortete ihr Carina arglos.

Sie verschwanden im Haus.

Madame erkundigte sich nach den anderen Familienmitgliedern. Thomas erklärte, daß noch eine weitere Fuhre unterwegs wäre. Eigentlich müßten sie schon um die Ecke biegen, aber er kannte seinen Vater. Wahrscheinlich hatte er einen kleinen Zwischenstopp eingelegt und saß mit Lukas und Paule draußen vor dem Bistro im Ort, unter Platanen, trank einen Bienvenue-en-France-Pastis und sah mit den Jungs den Boule-Spielern zu. Recht hatte er.

Der Urlaub fängt an, wenn man die Zeit vergißt.

»Et Madame Verena, elle va bien? Sie kommt mit die andere Auto?«

»Nein, Madame Sidonie, sie kommt überhaupt nicht. Sie hat uns verlassen, sie ist auf und davon. Elle est partie en claquant la porte (sie ging und hat die Tür zugeschlagen).« Traurig und hilflos zuckte Thomas mit den Schultern.

»Je regrette, o Monsieur Thomas, es tut mir leid.« Sie nahm ihn in die Arme. »Vielleicht sie wird kommen?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Mais, Monsieur Thomas, Frankreisch wird ’eilen Ihre Liebeskummer. Da bin isch ganz sischer. Jeder Mensch ’at diese Kummer mindestens einmal in seine Leben, mansche schon in die ganz frühe Alter. Sie werden sehen, noch ist es eine groß Schmerz, aber jeden Tag die Wellen werden ein bißchen Kummer mitnehmen, und der Mistral« – hier ließ sie beide Hände kreisen und warf imaginären Ballast über die Schultern – »weht die Rest davon.«

Es hupte wie wild.

Großpapa flog ein, und jeder sollte es hören!

Mit einem Sprung war er aus seinem Renault. (»In Frankreich fährt man ein französisches Auto, Mademoiselle!« Darauf hatte er bei der Anmietung des Wagens bestanden.)

Großpapa streckte die Arme in die Luft, atmete tief ein und sehr geräuschvoll aus, als er Madame Sidonie sah. »Olala, vive la France, Hausmann!!!«

»Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen, Madame Sidonie?«

»Mit die größte Vergnügen. Bienvenue, Monsieur ’ausmann.«

Lukas und Paul stürmten dazu und begrüßten Madame.

»Monsieur ’ausmann.« Madame Sidonie wandte sich an Thomas. »Isch ’abe auf die Terass’ ein kleinen, wie sagt man, Imbiß bereitet, salade, tomate, fromage, Schinken, Wein und Mineralwassör. Wenn Sie möschten –« Madame machte eine einladende Handbewegung.

»Danke, Madame. – In fünf Minuten Treffpunkt Terrasse. Ab, Hände waschen, und jeder nimmt schon ein Gepäckstück mit ins Haus.«

Paule nahm den Fußball und trottete singend ins Haus, August an seiner Seite. »Papa, wohne ich da, wo ich schon war?«

»Wie immer, Paule.«

»Fromage am Arsch, wir sind in Frankreich«, intonierte er fröhlich und stieg die Treppen hinauf.

Großpapa Hausmann hatte sich am Kopf der Tafel niedergelassen und wartete auf seine Familie.

Madame Sidonie kam heraus.

»Voilà, Monsieur, isch sehe, Sie fühlen Ihnen wohl.«

»Und ob, min Deern«, antwortete der Senior und grinste. »Pardon, Monsieur, isch verstehe nischt.«

»Ich sagte«, Großpapa fixierte Madame, »ich genieße den wundervollen Anblick.«

»Ah voilà.« Madame lächelte. »Oui, die Meer ist wundervoll.«

»O jaa, das Meer … so blau und so viel Wasser …«

»So, Monsieur, isch muß gehen.«

Großpapa Hausmann war sichtlich enttäuscht und fragte nach dem Wieso und Warum. Er erfuhr, daß Madame im Ort ein kleines Restaurant betrieb und über dem Restaurant ihre Wohnung hatte. Das Ferienhaus gehörte allein den Gästen.

»Aber Sie schauen doch ab und zu einmal vorbei, ob wir uns auch gut benehmen, nicht wahr?«

»Albrecht!« Zwischen den mit wuchernden, blühenden Pflanzen bewachsenen Tontöpfen des Terrasseneingangs tauchte Oma-Nancy auf.

»Au revoir, Monsieur-Dames, bonnes vacances.«

Madame Sidonie ging winkend davon und entschwebte auf ihrem Fahrrad.

»Albrecht, wir haben nur ein Schlafzimmer!«

»Bella, was ist daran so schlimm? Wir haben Ferien.«

»Albrecht, bitte.«

Die Diskussion wurde durch die einfallende Familie unterbrochen. Paule balancierte eine überschwappende Schüssel mit Wasser für August durch den Garten, übersah die kleine Stufe zur Terrasse und lag Oma-Nancy zu Füßen. Die kreischte.

»Das fängt ja gut an, meine schönen Schuhe!«

Sie enteilte, um zu wechseln.

»Halb so schlimm«, sagte Großpapa. »Sie hat einen Koffer voll dabei.«

Paule machte der Familie klar, daß August einen festen Freß-und Trinkplatz gewohnt wäre. »Oma-Nancy ja wohl auch«, setzte er noch hinzu.

Die Familie versteckte sich hinter ihren Servietten. Lukas zog Paule zu Tisch. Oma-Nancy erschien frischbeschuht. Wieder eine Nummer zu elegant, aber das würde sie sich sicherlich hoffentlich im Laufe der Zeit abgewöhnen.

»Kinder, laßt uns anstoßen. Thomas, es ist ein himmlisches Stück Erde. Ich wünsche uns allen wunderschöne Ferien. Prost, meine Lieben.«

Nach dem Essen sollten die Koffer ausgepackt werden.

»Paule und ich machen es heute abend«, sagte Lukas.

Carina sagte, es habe wirklich keine Eile.

Sie wollte wie die anderen an den Strand, gucken, wer da war und wer nicht.

Thomas war einverstanden. Bedenklich gab sich nur Oma-Nancy.

»Mama, wir sind vier Wochen hier, bitte versteh die Kinder.« Beiläufig nahm er die Hand seiner Mutter und gab ihr einen zärtlichen Handkuß.

»Siehst du, Bella, bei ihm hat deine Erziehung trotz aller Bedenken deinerseits angeschlagen.« Großpapa ergriff Oma-Nancys andere Hand, um ihr ebenfalls einen Handkuß zu geben.

August legte sich in den Schatten und schnaufte aus. Er wollte ein bißchen Schlafdefizit aufholen.

Oma-Nancy wollte sich auch ein wenig hinlegen.

Thomas und sein Vater entschieden sich für das pralle Leben im Supermarkt.

Der Einkauf für die Großfamilie war keine Kleinigkeit, aber es lenkte Thomas ab und machte Großpapa Hausmann sehr viel Spaß, noch dazu ein Supermarkt in Frankreich, all die netten Französinnen …

»Oui Monsieur, le vin est la bas.« – Der Wein ist da hinten.

»Merci, Mademoiselle.« Großpapa flirtete sich durch den Supermarkt. »Mensch Thomas, daß Einkaufen so unterhaltsam sein kann, hätte ich nie gedacht. – Du, und euer Ferienhaus ist ja ein kleiner Traum, dazu noch der Atlantik direkt vor der Haustür!«

Hausmann Senior hatte noch einige Fragen, Madame Sidonie betreffend, aber das hatte Zeit…

Oma-Nancy lag unter einer kühlenden Gesichtsmaske.

Lukas und Paule waren schon auf die ersten Freunde des Vorjahres gestoßen. Sie hockten palavernd im Sand, lutschten Eis und erzählten sich, was sich zwischenzeitlich alles ereignet hatte.

Lukas’ Freund Tino war »klebengeblieben.«

»Dann bist du jetzt Mitglied in einem sehr exclusiven Club«, tröstete Lukas, »immerhin sind da so Leute drin wie Einstein, Balzac, Churchill.«

»Das tröstet mich auch nicht, meine Leute interessieren sich nicht für Fußball«, resignierte Tino.

Lukas klopfte ihm auf die Schulter: »Mach das Jahr noch mal, in aller Ruhe – und nun hol deinen Kescher. Woll’n mal sehen, was der Atlantik so zu bieten hat.«

Für den Rest des Nachmittags waren sie beschäftigt, zu Wasser und zu Land.

Paule und Fabien legten ein Wehr an, wofür oder wogegen, war nicht wichtig, aber hoch sollte es werden.

Carina saß beinebaumelnd auf einem Mauervorsprung und ließ ihren Blick schweifen …

Sie sah sich um nach dem, was da am Strand kreuchte und fleuchte, nach dem, was die diversen Eltern für sie, Carina Hausmann, mitgebracht hatten.

»Hallo, Carina«, kiekste es hinter ihr.

Hilfe, Edwin Knöber aus Wattenscheid! Diesmal hatte er zusätzlich zu seinen flammend roten Haaren auch noch Pickel und eine Kieksstimme.

Knöber als ersten zu treffen, war für Carina identisch mit der berühmten »schwarzen Katze«. Das konnte ja heiter werden.

»Hey, Eddi, seit wann bist du hier?«

»Seit gestern«, quiekte er, »’n paar andere auch schon. Komm mit, die sind alle dahinten, surfen und so.«

»Ich komm gleich nach, ich muß noch einmal rauf ins Haus zu meinem Vater«, schwindelte sie, um nicht mit Eddi Knöber bei den anderen zu erscheinen. Sonst würden sie von Anfang an als das Paar des Monats gehandelt. Knöber: rote Haare, Pickel, eine Stimme, die Fahrstuhl fuhr, gewandet in Schlotterbermudas und Beavis-und-Butthead-T-Shirt!

»Eddie, hast du nicht im vorigen Jahr eine Brille getragen?«

»Stimmt. Aber eine Brille entstellt so, ich habe jetzt Haftschalen. Also bis gleich, tschauie.«

»Du mich auch«, sagte Carina und sprang von der Mauer.

Auf der Terrasse unter einem Sonnenschirm lag Oma-Nancy malerisch hingegossen auf einer Liege und blätterte in der »Vogue«.

Carina stellte fest, daß Oma-Nancy doch eine sehr hübsche Person war, schade nur, daß sie so zickig war.

»Kind, möchtest du uns nicht etwas Kühles zum Trinken holen?«

»Was magst du, Cola, Sprite, Saft, Milch oder Wasser?«

»Nur Wasser, bitte, alles andere sind pure Kalorienbomben.« Sie sah ihrer Enkelin hinterher. »Liebes, du solltest dich auch an Wasser halten.«

Klapperschlangengespenst, dachte Carina wütend, füllte zwei Gläser mit Mineralwasser, nahm aber, bevor sie wieder zu ihrer Großmutter ging, einen herzhaften Schluck Cola aus der Flasche.

Oma-Nancy sprach davon, daß alles straff und stramm durchorganisiert werden müsse. – Egal, ob Urlaub oder nicht.

Küchendienst, Abwaschdienst, Zimmerdienst, Waschmaschine bedienen, Kochen, Einkaufen und so weiter und so weiter.

»Und wann machen wir dann Ferien?«

Jeder hätte auch in den Ferien seine Aufgaben, versuchte sie Carina zu erklären, denn sonst wäre es über kurz oder lang ein Hippie-Lager. Und sie gedächte, geordnete Ferien zu verbringen.

»Entschuldige, Großmama, ich glaube, ich habe die Strandpforte nicht geschlossen.«

Carina ging und ward bis zum Abend nicht mehr gesehen. Sie kam mit Paule und Lukas zurück. Großpapa Hausmann saß auf der Terrasse und las, Großmama Hausmann hantierte in der Küche, assistiert von ihrem Sohn. Es sollte am Abend nur kaltes Huhn geben, Salat und Bauernbrot mit krosser Rinde, dazu einen erfrischenden, leichten Weißwein.

Großmama entbeinte Hühner. Sie trug giftgrüne Gummihandschuhe an den Händen. »Frankensteins Heimwerker- Stübchen«, flüsterte Lukas seiner Schwester Carina zu, als sie an der Küche vorbeikamen. Paule meinte unsicher: »Hoffentlich färben die Handschuhe nicht ab, und wir müssen grüne Hühner essen …«

Albrecht Hausmann hatte seinem Sohn im Supermarkt gesagt: »Junge, wenn wir auf die Mithilfe deiner Mutter hoffen wollen, pack jede Menge Gummihandschuhe in den Einkaufswagen, sonst faßt sie nichts, aber auch gar nichts an. Und Papiertücher, die dicken Rollen.«

Nun, es gab alles im Supermarkt, aber leider nur giftgrüne Gummihandschuhe. Keine andere Farbe. Nur fieses Grün.

Damit werkelte sich Isabella Hausmann nun durch Küche und Hühner. Das kleine sommerliche Kleidchen von Valentino war abgedeckt durch mindestens fünf Küchenhandtücher, die mit Wäscheklammern aneinandergehalten wurden.

Diese Kreation hatte Thomas erfunden. »Oma-Nancy im Designer-Look.«

Der große ovale Steintisch auf der Terrasse war schön gedeckt. Carina hatte Windlichter aufgestellt, Blüten als Tischdekoration spielerisch verteilt.

Lukas kam mit einem Stapel Teller.

»Wer heiratet denn hier?« fragte er.

»Du Affenarm«, sagte Carina, denn ihre Oma-Nancy kam mit der Salatschüssel, »das nennt man Eßkultur, Idiot!«

»Auch bei großem Hunger?«

»Lukas, du mußt noch viel lernen, und von deiner Eßkultur wollen wir lieber schweigen. Ich sage nur: Spaghetti Napoli!«

Paule war auch behilflich, er legte das Besteck hin, alles auf die falsche Seite, aber er half.

Die falsch aufgelegten Bestecke brachten ihm allerdings eine Rüge seitens Oma-Nancy ein.

Paule war für sich der Meinung, wieder etwas Luft ablassen zu müssen. Aufmüpfig warf er sich in seine Stuhllehne.

»Immer weiß sie alles besser, dann essen wir eben morgen wie die Schinesen mit Holzleisten, denen is es nämlichst schei…«

»PAUL!« riefen alle.

»… schön egal, wo die liegen. Ja, so ist es in Japan.«

»Paps, was bringen wir ihm nun zuerst bei, gutes Benehmen oder Geographie?« wollte Carina lächelnd wissen.

»Nichts von alledem, er ist ein Hausmann, der hat es im Blut, kommt ganz von selbst durch, guten Appetit, Kinder.« Albrecht Hausmann strahlte seine Familie an.

Das Geschnatter der Tischrunde, die laue warme Brise, die in der Entfernung ans Ufer klatschenden Wellen legten die wohlige, entspannte Stimmung eines ersten Ferientages auf Albrecht Hausmann. Er sah zu seinem Sohn Thomas hinüber.

Was war in Hamburg passiert, wieso war Verena so kurzfristig nicht dabei oder nicht mehr dabei?

Unauffällig beobachtete er seinen Sohn. Thomas ließ sich nach außen hin nichts anmerken.

Die Zärtlichkeiten, die er an seine Kinder verteilte, waren unsentimental und unaufdringlich.

»Thomas, was hältst du von einem schönen Abendspaziergang am Meer?«

»O toll, ich nehme meinen Kescher mit«, sagte Lukas.

»Und ich ’n Eimer, vielleicht finden wir was, näch, Lukas?« Paules Augen leuchteten.

»Großpapa und Paps möchten einen Spaziergang machen, ihr könnt noch ein bißchen Boule gucken auf dem Marktplatz«, entschied Carina, »oder Holzleisten schnitzen für das morgige Abendessen, du Trollo, die nennt man Eßstäbchen.«

»Und dein Liebster nennt man Edwin Knöber«, donnerte Paule zurück.

Carina war aufgesprungen, um Paule eine Herzhafte zu kleben. Thomas ging dazwischen.

»Paule, rede nicht immer solchen Stuß.«

»Ich sehe, was ich sehe. Knöber is die Brille los.« Paule kicherte. »Bestimmt für meine Schwester. Carina Hausmann und Eddie Knöber, große Liebe.« Er malte ein Herz in die Luft und verschwand sicherheitshalber mit August, und zwar ganz schnell.

»Du bist doch außerirdisch, was du dir alles einbildest. Paps, lies ihm Märchen vor, der wird sonst ein Frühentwickler.« Carina stellte etwas zu laut einige Teller zusammen und ging erhobenen Hauptes in die Küche.

»Vorsicht, Stufe!« riefen ihr alle nach.

»Ich weiß nicht, Thomas, ob mir euer Ton behagt.« Oma-Nancy wedelte sich restliche Brotkrümel vom Valentino.

»Mir schon.« Hausmann senior lachte. »Wie heißt es doch so schön neudeutsch: voll das Leben!«

»Albrecht!«

»Thomas, du hast noch nichts zu meinem Vorschlag gesagt. Gehen wir?«

»Sehr gern.«

Carina wollte noch zu der Clique, die war auch beim Boule am Marktplatz, und Oma-Nancy wollte, man staune, fernsehen.

Hier hatte das Fernsehen bei ihr einen ganz anderen Stellenwert: es war französisch!

Nachdem der Tisch abgeräumt war, verkrümelten sich alle in alle Himmelsrichtungen.

Der Strand war fast leer, nur weit am Horizont waren vereinzelte Spaziergänger zu sehen. Möwen watschelten durch die Gischtstreifen auf der Suche nach einem kleinen Gute-Nacht-Happen, während die Sonne sich anschickte, die andere Hälfte der Erde zu beleuchten. So, als ob es nicht stören wollte, klatschte das Meer fast behutsam ans Ufer.

Vater und Sohn gingen barfuß nebeneinander. Ihre Schuhe hatten sie im stummen Einverständnis an der Pforte, die zum Strand führte, ausgezogen. Barfuß spüren wollen, wie kalt, wie warm.

Man muß nicht reden, um zu sprechen.

Sie waren einen guten Kilometer gegangen, als ein verlassener Strandkorb, von irgendeinem Menschen mühevoll in die Einsamkeit getragen, zum Verweilen einlud.

Albrecht Hausmann zog aus seiner Hosentasche eine Flasche Rotwein, die er bereits im Haus geöffnet hatte. Nur Gläser hatte er nicht dabei, aber die waren auch nicht wichtig.

Er hielt Thomas die Flasche hin. In der Dämmerung las Thomas das Etikett: 1990 Château Lóoville-Las-Cases St. Julien.

»Trink, Thomas. Nimm einen Schluck, und laß ihn langsam die Kehle hinunterspazieren. Dem Wein und dem lieben Gott ist es vollkommen egal, wie wir ihn trinken, wenn wir ihn genießen. Prost, mein Sohn.«

Thomas nahm bedächtig einen kleinen Schluck, seine Geschmacksnerven jubelten. »Vater, so ein Wein«, sagte er staunend, »und dann hier in einem Strandkorb?«

»Es ist nie wichtig, wo man lebt und genießt, Sohn; wichtig ist, daß man es überhaupt kann, und es muß auch nicht immer etwas Teures sein, ein Wurstbrot im richtigen Augenblick macht dich zum glücklichsten Menschen der Welt.«

Albrecht Hausmann nahm nun ebenfalls einen Schluck und lehnte sich behaglich zurück.

Ohne daß Thomas es merkte, überließ er ihm mehr oder weniger den Inhalt der Flasche.

Stockend erzählte Thomas seinem Vater von der Flucht Verenas, denn um etwas anderes konnte es sich bei der von ihr an den Tag gelegten Eile nicht handeln.

Details

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Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956070242
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Liebe Romanze Provence Frankreich Familie Affäre Hausmann Tierarzt Urlaub
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Titel: Mami hat 'nen Freund – was machen wir mit Papi?