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Der Zoo des schwarzen Gottes

Ein neuer Fall für das deutsch-italienische Ermittlerduo Luca und Lasse

©2015 296 Seiten

Zusammenfassung

Commissario Luca Manaro hat es nicht leicht: Vor knapp einem Jahr hat er seine geliebte Frau bei einem tragischen Unfall verloren und auch das Verhältnis zu seiner Tochter Sara lässt seitdem zu wünschen übrig. So stürzt sich der grimmige, aber findige Italiener verbissen in die Arbeit. Immer an seiner Seite – der deutsche Ermittler Lasse Wolafka, der die Schwermut seines Partners mit Einfallsreichtum und guter Laune wettmacht. Als die beiden eines Nachts zu einem Mordfall hinzugezogen werden, stoßen sie auf ungewöhnliche Tatumstände. Im Zoo von Ravenna ist der Affenpfleger Luigi tot aufgefunden worden, neben ihm der verstümmelte Körper eines Affenbabys und eine ungewöhnliche Zeugin – die hochintelligente Schimpansendame Sissy. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn nicht nur der Sohn des Ermordeten, sondern auch der undurchsichtige Psychiater Bernardo und die Tierärztin Ines, für die Luca mehr als nur Freundschaft empfindet, haben ein Tatmotiv. Dann geschieht ein weiterer Mord und für die beiden Polizisten beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit. Gibt es einen zweiten Mörder oder hängen die Fälle zusammen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Der massige Körper bewegte sich überraschend geschmeidig, die silbernen Haare auf dem unteren Rücken des Gorillas glänzten im Licht der Weglampe. Das Jungtier versuchte, auf einen Ast zu fliehen, doch der Silberrücken erwischte es am Arm und zog es zu sich heran. Für einen Moment glitt der Blick des Alttiers zum Fenster des angrenzenden Gebäudes, suchte das Paar brauner Augen hinter der Scheibe, las die Besorgnis darin.

Das Jungtier nutzte den Augenblick, um sich aus dem Griff des Silberrückens zu winden und in die hinterste Ecke des Geheges zu entwischen.

Langsam trat der Silberrücken vor die Gruppe, starrte in die Dunkelheit der Welt außerhalb seines Reviers. Von fern drangen die Rufe der nächtlichen Jäger herüber, der Hyänen vor allem, deren Bellen und Kreischen weithin zu vernehmen war. Der Gorilla jedoch wusste, dass die Aasfresser nicht zu ihm und seiner Familie vordringen konnten.

Sein Blick konzentrierte sich auf die zwei dunkel gekleideten menschlichen Gestalten, die er im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung nur schemenhaft sehen konnte. Ihre Stimmen hingegen vernahm er deutlich und erkannte an der Tonlage Wut und unterdrückten Hass. Der Gorilla witterte Gefahr und blieb vor der Gruppe, denn es war seine Aufgabe, sie zu schützen.

Mittlerweile waren alle Tiere aufgewacht; still und reglos beobachteten sie die Menschen.

"Scheißkerl!", zischte der Größere und plötzlich blitzte ein Messer auf. Im nächsten Moment gingen die beiden Menschen aufeinander los. Der Silberrücken hörte den Schmerzensschrei des Kleineren, als die scharfe Klinge dessen Unterleib traf. Die Hände des Mannes tasteten nach der Wunde, seinem Mund entrang sich ein gurgelndes Stöhnen; er sackte zu Boden.

"Selber schuld!" Die Stimme des anderen, heiser vor Erregung. Und während sich die Menschenfinger fester um das Messer krampften, drückte sich im ersten Stock des Affenhauses eine Nase gegen die Fensterscheibe. Zwei braune Augen verfolgten starr das Geschehen, ehe sich schließlich eine Hand vor sie schob, als wolle sie ihnen ersparen, die grausame Szene weiter betrachten zu müssen.

Die Lippen des am Boden liegenden Mannes bewegten sich, als wolle er um Gnade flehen. Der kleine Gorilla steckte seinen Kopf unter einen Jutesack wie ein Kind, das glaubt, nicht gesehen zu werden, wenn es selbst nicht sieht.

Das Gesicht des stehenden Menschen war nicht zu erkennen, hinter einer Maske verborgen. Tief sog der Silberrücken die Luft ein, roch Schweiß und Furcht.

"Nicht … Per favore … Bitte nicht!", gurgelte der am Boden liegende Mann, beide Hände auf den Unterleib gepresst. Er war es, der die Angst ausdünstete. Angst und Tod, wie der Silberrücken begriff. Der Maskierte zögerte; eine Weile war nichts anderes zu hören als der mühsame Atem des Verletzten.

Vorsichtig näherte sich der Silberrücken, dem die Menschen den Namen Gonzo gegeben hatten, dem Gitter. Er tastete mit der Hand nach der Tür, die einen Spalt breit offen stand. Doch er ging nicht hinaus, ließ den Blick umherwandern, von links nach rechts, von rechts nach links. Die Gruppenälteste trat neben ihn und er schob sie nicht zurück. Das Jungtier lag unter dem Sack; lediglich seine kurzen schwarzen Beine waren zu sehen.

Der stehende Mensch betrachtete das blutige Messer. In einer schnellen Bewegung bückte er sich und –! Wieder bewegte sich im Gebäude nebenan die braune Hand zu den Augen.

Lautlos schlüpfte das Jungtier unter dem Sack hervor, rannte zu Gonzo. Der Silberrücken wollte es packen, aber das Kleine hopste zur Seite. Gonzo setzte ihm nach, das Jungtier fand Gefallen an dem Spiel, vergaß die Menschen draußen, vergaß die Angst, flitzte einmal um das Gehege und sauste, ehe Gonzo es erwischen konnte, durch die nach wie vor einen Spalt breit offen stehende Tür ins Freie. Gonzo stoppte. Die Tür klemmte, als er sie weiter aufzuschieben versuchte. Das Jungtier lief an dem Maskierten vorbei, erkannte die Gefahr zu spät, wollte einen Haken schlagen, aber da schoss eine kräftige Hand vor, erwischte es am Arm.

Zornig trampelte der Silberrücken auf den Boden, trommelte auf seiner Brust, Drohgesten, die den Menschen nicht beeindruckten. Der Maskierte hob das Messer.

Mit einem Schrei raste Gonzo endlich doch aus dem Gehege, auf den Menschen los, und spürte im nächsten Moment einen brennenden Schmerz im Gesicht.

Luca Manaro frühstückte in seiner Lieblingsbar, wo der Barista automatisch wusste, was er dem Gast hinzustellen hatte. Und dass der, wenn überhaupt, erst nach dem zweiten caffè ansprechbar wurde.

Von außen wirkte die Bar mit ihrem von der Wand bröckelnden Putz wie eine Dauerbaustelle. Aber der schmale Innenraum präsentierte sich gemütlich, mit Gemälden, die das Khartum des neunzehnten Jahrhunderts zeigten, einer reich mit Schnitzereien verzierten Theke und einer Reihe bunter Shishas an der Seitenwand.

Der Commissario hatte den Geheimtipp Caffè Omar keinem seiner Kollegen verraten, zog es vor, diesen Ort als persönliches Notfallrefugium für sich zu behalten. Und er hütete sich, dem Barista zu erzählen, dass er für die Polizei arbeitete.

"Schöner Tag heute." Omar wies mit dem Kopf zur Tür. "Gut, dass der Winter vorbei ist."

Luca hatte sich bisher nicht mit dem Tag anfreunden können. Vor allem, weil er nicht die geringste Ahnung hatte, was er seiner Tochter zum Geburtstag schenken könnte. Glücklicherweise ersparte ihm das Klingeln seines cellulares, sich einen Kommentar ausdenken zu müssen.

"Pronto? Massimo? Was gibt's?"

"Eine Leiche", meldete die vertraute Stimme des Ispettore knapp.

Das schmiedeeiserne Zootor schwang auf, kaum dass Luca seinen Dienstausweis zum Wagenfenster hinaushielt.

"Fahren Sie durch, Signor Commissario, fahren Sie durch!" Der junge Mann vor dem Kassenhaus der Savana Adriatica winkte so hektisch, dass er sich seine grüne Kappe vom Kopf stieß.

Das Affengehege. Luca kannte den Weg, hatte den Zoo gelegentlich mit den Kindern seiner Schwester besucht. Mit ausgiebigem Hupen trieb er zwei Tierparkarbeiter zur Seite, die ihn wütend anstarrten; der eine zeigte ihm den Stinkefinger.

Vor dem Absperrband ließ Luca den Alfa stehen. Ispettore Massimo Borghini half einem uniformierten Kollegen, die Schaulustigen – um diese frühe Stunde zum Glück nur Zooangestellte – zurückzuhalten. Bei der Gehegetür diskutierte Lasse Wolafka, Lucas deutscher Partner, der im Rahmen eines EU-Programms in Ravenna arbeitete, mit dem Arzt. Von den Gorillas, die üblicherweise das Gelände bevölkerten, keine Spur.

"Wo sind die Affen?", fragte der Commissario. Während die Zooarbeiter sich gegenseitig fast über das Absperrband schubsten, um einen Blick auf den Körper zu erhaschen, der reglos auf dem weißen Kies des Weges lag, verspürte Luca nur Widerwillen bei dem Gedanken, selbst hier dem Tod zu begegnen, den er in seinem Leben zu oft und in so mannigfaltiger Form gesehen hatte.

"Im Haus eingesperrt." Lasse kam näher, das dunkelblonde Haar feucht von dem zähen Nebel, der das Zoogelände und möglicherweise die gesamte Poebene in düsteres Einheitsgrau tauchte. "Scheint, als ob heute wir ihre Rolle übernehmen sollen."

Luca zog es vor, die Bemerkung zu überhören. Stattdessen versuchte er die Szenerie in sich aufzunehmen, möglichst viele Einzelheiten zu erfassen, um sie sich später nach Bedarf wieder ins Gedächtnis rufen zu können.

Der Tote lag drei bis vier Meter von der Tür des Affengeheges entfernt, neben einer grauen Plastikplane, die sich in der Mitte aufwölbte. Ein dürrer, kleiner Mann so zwischen fünfzig und sechzig, in dessen Gesicht das Leben und die UV-Strahlen der Sonne tiefe Stirnfalten gezeichnet hatten. Er trug eine Noname-Jeans, einen ausgewaschenen grauen Sweater und eine offen stehende Kunstlederjacke, die den Blick auf das eingetrocknete Blut auf Unterleib und Brust freigab.

"Wer ist der Mann?"

"Luigi Pico. Tierpfleger, zuständig für die Affen", wusste Lasse. "Revierleiter, also der Capo in seinem Bereich."

Luca ging in die Hocke, um die Wunden des Mannes genauer zu betrachten. Drei Stichwunden.

"Wann ist er gestorben?"

Genau würde er das erst bei der Obduktion feststellen können, schickte der Arzt, wie nicht anders erwartet, voraus. Allerdings ließ sich die Tatzeit seiner Meinung nach grob auf die Stunden zwischen Mitternacht und drei Uhr eingrenzen.

"Was ist unter der Plane?"

Wortlos schlug der Arzt das Plastik zurück. Luca starrte auf den kleinen schwarzen Affen, die grau-weißen Eingeweide, die aus einem langen Schlitz über den Bauch des Tieres quollen; Übelkeit wallte in ihm auf.

"Non so niente. Ich weiß nichts." Der hünenhafte Tierpfleger Hossam Boctor, der trotz der Kälte lediglich ein grünes Muskelshirt ohne Jacke trug, rollte mit den Augen, dass man das Weiße sah. Sein Italienisch wies einen arabischen Akzent auf. "Ich komm hierher und Luigi liegt am Boden. Ich krieg Schreck, weil er ist tot. Dann ich ruf um Hilfe und Signor Nettuno kommt." Hossam wedelte in Richtung des Zoodirektors, dessen Personalien Lasse gerade notierte.

"Arbeiteten Sie üblicherweise mit Signor Pico zusammen?", fragte Luca.

"Natürlich."

"Können Sie sich vorstellen, warum er mitten in der Nacht, außerhalb seiner Arbeitszeit, in den Zoo gegangen sein sollte?"

Hossam kratzte seinen schwarzen Vollbart; er schwitzte trotz des Aprilnebels, dessen feuchtkalte Schwaden seine Kollegen jenseits der Absperrung frösteln ließen.

"Vielleicht er denkt, einer der Affen ist krank? Kommt in Nacht um nachzusehen?" Der Tierpfleger wischte sich über die Stirn. "Kann ich gehen jetzt? Tür von Gehege steht offen, als ich komme. Ein Tier ist … verschwunden. Abgehauen. Heißt Gonzo. Ich muss suchen."

"Verschwunden? Ausgerechnet Gonzo? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?" Felipe Nettuno, der Zoodirektor, schon vorher blass, wurde kreidebleich. "Oh, cielo! Wir müssen alle alarmieren!" Ohne sich weiter um die Polizisten zu kümmern, hastete er davon, das cellulare am Ohr.

"Was für ein Affe geht euch ab?", fragte Lasse rasch den Tierpfleger, der Miene machte, sich ebenfalls zu verdrücken.

"Großer Gorilla. Hat oft schlechte Laune." Boctor fuchtelte mit den Armen, um Brusttrommeln anzudeuten. "Big Macho, will immer Boss sein. Wie Menschenmann."

"Ist das Vieh gefährlich?", brüllte Lasse dem schon davoneilenden Affenpfleger nach.

"Sì, sì. Viel stark, viel gefährlich! Wenn wütend, will töten!"

Luca überrann es eiskalt. Hätte er doch besser seine Beretta eingesteckt?

Fünf Minuten später wimmelte der Tierpark von Gruppen aus Männern und Frauen in der grünen Arbeitskluft der Zooangestellten, die die Savana Adriatica auf der Suche nach dem entsprungenen Gorilla durchkämmten. Um die beiden Commissari und das Spurensicherungsteam kümmerte sich niemand.

An eine Befragung des Personals war unter diesen Umständen vorerst nicht zu denken, so dass Luca und Lasse sich ins Tierparkrestaurant zurückzogen, wo sie über einer Tasse Cappuccio den Plan des Geländes studierten.

Der Park, etwa zwölf Kilometer südlich von Ravenna gelegen und zirka fünf Kilometer von der Adriaküste entfernt, wurde im Osten von der Pineta di Classe begrenzt, einem uralten Pinienwald. Die zwei offiziellen Eingänge befanden sich im Norden und Süden; zusätzlich führte an der Westseite ein nicht öffentliches Tor in den Wirtschaftsteil des Zoos, in dem Maschinen, Geräte und Futtervorräte lagerten. Auf Tiere aus Afrika und Asien spezialisiert kooperierte der Tierpark mit Wildreservaten vor allem im Sudan und in Indien. Erweiterungen waren geplant, angrenzende Grundstücke bereits zugekauft, was die Commissari als Hinweis werteten, dass die Savana Adriatica florierte.

Zwei Stunden später war der Gorilla Gonzo noch immer nicht gefunden. Hatte der Affe das Zoogelände verlassen und sich in den Naturpark Delta del Po geflüchtet, zu dem die nahe Pineta di Classe gehörte? Luca graute bei der Vorstellung, das Tier könne einen Wanderer oder Touristen anfallen. Selbst Suchhunde hätten in den weitläufigen Wasser- und Waldlandschaften kaum Chancen, das Tier rasch aufzufinden; doch er hatte ohnedies keine Hunde zur Verfügung, konnte lediglich die Carabinieri alarmieren.

Wenigstens gelang es den Commissari jetzt, einen Teil der Zooangestellten im Verwaltungsgebäude zu versammeln. Luca teilte die Leute zwischen sich und Lasse für die Befragung auf.

"Nachts ist der Tierpark Besuchern nicht zugänglich, außer in den beliebten Wildnis-Nächten, die wir ab und an veranstalten." Felipe Nettuno konnte nicht aufhören, sich die Stirn zu wischen. "Können Sie diese schreckliche Geschichte klein halten, Signor Wolafka? Unser Zoo soll demnächst wegen besonders artgerechter Tierhaltung zertifiziert werden und jeder Skandal kann die Jury beeinflussen."

"Der Tod Ihres Tierpflegers hat vermutlich wenig mit der Art, wie Sie die Tiere behandeln, zu tun. Oder?", fragte Lasse.

Der andere knetete die Hände, ließ die Fingerknöchel knacken. "Ach, Sie wissen, wie das läuft. Kein Mensch und kein Gremium entscheiden völlig objektiv. Ein bisschen Negativpresse über die Savana Adriatica und jedes Mitglied der Jury hat im Hinterkopf, dass bei uns was nicht stimmt. Und es spielt überhaupt keine Rolle, in welchem Bereich!"

"Haben Sie eine Idee, weshalb Luigi Pico nachts hierher gekommen sein sollte?" Luca musste sich anstrengen, die Frustration aus seiner Stimme herauszuhalten; bisher hatte niemand etwas Sinnvolles zu der Ermittlung beigesteuert.

Die junge Frau mit dem Igelhaarschnitt sah desinteressiert zum Fenster. "Der Luigi war öfter nachts im Zoo."

Luca beugte sich vor. "Und weshalb?"

"Wegen seiner Frau, nehm ich an."

"Wissen Sie Genaueres?"

"Man sagt, sie hat einen Liebhaber. Wahrscheinlich hat sich der Luigi zu seinen Viechern geflüchtet, wenn die Ehefrau zu ihrem Lover gegangen ist." Die Igelhaarige roch nach Tierdung, ihre Augen waren dick mit Kohl oder Ähnlichem umrandet und von den schwarzlackierten Fingernägeln bröckelte die Farbe. In ihrem rechten Ohrläppchen glänzten sechs schmale silberne Ringe und an ihrem Hals baumelte ein Anhänger, den Luca als Pentagramm identifizierte. Im Zoo betreue sie unter anderem die Flusspferde, erklärte die Frau, und dann wollte sie gehen, um sich wieder an der Suche nach dem verschwundenen Affen zu beteiligen.

Der Mann kauerte im Buschwerk am Rande des Büffelgeländes und wusste, er war unsichtbar. Nicht mal die Leute, die den Gorilla suchten, hatten ihn entdeckt. Zwischen den frischen jungen Blättern hindurch spähte er zum Verwaltungsgebäude, das mit seinen Natursteinmauern wie eine trutzige kleine Burg wirkte. Die Polizei war dort; ihre Wagen parkten am Weg.

Würde jetzt alles von vorn beginnen? Das Böse erneut den Himmel verfinstern? Der Mann biss sich auf die Lippen. Hatte Mascardit ihn bis hierher verfolgt? Mascardit, der Dunkle, dessen Launen die Menschen so völlig ausgeliefert waren! Die Hände des Mannes zitterten. Auch wenn ihn die Polizisten nicht bemerkten, den Augen des Dunklen würde er nirgends entkommen, nirgends und nie! Jetzt bewegte sich der Mann doch, wandte vorsichtig den Kopf und erstarrte aufs Neue, während sich sein Herz wie das eines Hasen mit Furcht anfüllte. Narrte ihn sein Blick, oder war da tatsächlich für einen Moment ein Gesicht aufgetaucht, weit über ihm, in der Krone einer Pinie? Ein grimmiges schwarzes Gesicht mit dicken Wülsten über den Augen? Im Hinterkopf des Mannes stiegen Schreie auf, jene verzweifelten Schreie aus der Vergangenheit, die Schreie einer trauernden Frau, als Mascardit das erste Mal furchtbar herabgekommen war. Und das Zittern in den Händen des Mannes griff nach und nach auf seinen ganzen Körper über, bis er bebte wie eine Papyrusstaude im Sudd. Hatten seine Opfergaben nicht ausgereicht? Oder hatte der Dunkle die Opfer verworfen?

Als die Commissari nach Ravenna zurückfuhren, lichtete sich der Nebel; die noch feuchten Pflastersteine in den Gassen der Altstadt glänzten unter ersten Sonnenstrahlen.

Im Erdgeschoss des zweistöckigen, orangebraunen Hauses waren sämtliche Läden geschlossen. Luca und Lasse stiegen in den ersten Stock hinauf, wo eine handgetöpferte Mosaiktafel mit Arabeskenmuster die Klingel der Picos kennzeichnete. Doch als Lasse läutete, blieb alles still.

"Vielleicht ist sie bei Verwandten?", überlegte Lasse. "Oder hat sich hingelegt?" Gerade als die Commissari sich zum Gehen wandten, öffnete sich die Nachbartür und eine ältere Frau mit Raubvogelgesicht, in grauem Rock mit dicker grauer Strickjacke, trat heraus.

"Die Hure ist zu Hause", sagte sie grußlos. "Die macht bloß nicht auf." Und schon stapfte sie in grauen, flachen Stiefeletten die Treppe hinab.

Lasse zog die Brauen hoch. Luca klingelte erneut, anhaltend. Und tatsächlich, die Tür öffnete sich in Zeitlupe.

"Elena Pico?"

Die Frau war klein, kaum ein Meter sechzig, aber mit üppigen Kurven und weißblond gefärbtem Haar mit braunem Ansatz.

"Wieder polizia?" Ihr Gesicht, zu stark geschminkt, wirkte maskenhaft starr. Sie ging den Commissari voran in ein mit Möbeln und Blumentöpfen überfülltes Wohnzimmer, wo sie eine grüne Plastikgießkanne nahm und ihren Pflanzen Wasser gab, mehr auf diese Aufgabe konzentriert als auf ihre Besucher.

"Was wollen Sie? Ist … ist es nicht schlimm genug, dass Luigi …?"

"Dürfen wir uns setzen?", fragte Luca.

Mit fahriger Hand wies sie auf die braunen Sessel. Auf dem Tisch standen eine leere Kaffeetasse und ein Strauß Frühlingsblumen, deren bunte Farben unangemessen fröhlich wirkten. Luca fiel die einzelne Tasse vor allem auf, weil er erwartet hatte, geschäftige Verwandte und Freundinnen der Witwe anzutreffen, die versuchten, die Frau mit einer Mischung aus Cappuccino, hausgemachtem Kuchen und tränenreichen Erinnerungen zu trösten. Doch hier klingelte nicht einmal ein Telefon. Das Zimmer strahlte die gleiche Einsamkeit aus wie Lucas zu leere Wohnung in der Via Bixio.

"Bitte sagen Sie mir … Wissen Sie schon, wer Luigi …?"

"Wir befinden uns in einem sehr frühen Stadium der Ermittlungen." Luca nahm ihr die Kanne aus der Hand, stellte sie ab und führte die Frau zu einem Sofa. "Setzen Sie sich, per favore. Und gestatten Sie uns, Ihnen unser Beileid auszusprechen."

Sie schien nicht zuzuhören, starrte zu Boden.

"Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, Signora."

Keine Reaktion.

"Hat Ihr Mann gern im Zoo gearbeitet?"

Sie nickte wie in Trance. Während sein Chef mit ersten, bewusst harmlosen Fragen versuchte, der Frau ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, sah sich Lasse im Raum um. Besonders bemerkenswert fand er die Wand gegenüber den zwei hohen Fenstern, die fast vollständig mit gerahmten Fotografien zugehängt war. Ein Bild in der Mitte zeigte Elena und Luigi Pico im Hochzeitsstaat. Luigi, obwohl viel jünger als zum Zeitpunkt seines Todes, hatte sich vom Aussehen her wenig verändert, lediglich die tiefen Linien in seinem Gesicht fehlten auf dem Jugendfoto. Elena dagegen erkannte Lasse hauptsächlich, weil er wusste, dass sie es sein musste. Ihr Haar glänzte auf dem Bild schwarzbraun, vermutlich in der natürlichen Farbe, und ihre sonnengebräunte Haut stand in starkem Kontrast zum Weiß ihres Kleides.

Die anderen Fotos wurden sämtlich von ein und demselben Thema beherrscht: der Entwicklung eines mageren, kränklich wirkenden Jungen zum untersetzten, schüchtern lächelnden Mann. Das Kind als Baby, in himmelblaue Stricksachen gehüllt, der Kleine auf dem Fahrrad mit zahnlückigem Grinsen, auf dem Spielplatz, mit grünem Sandschäufelchen am Strand. Der Heranwachsende neben seinem Vater, vor dem Zoo. Schließlich der Mann, in linkischer Pose auf dem Bürgersteig vor einem kleinen Laden, dann am Meer, mit Angel und Fisch neben einem blauen Kahn. Und, und, und …

"Ihr Mann wurde ermordet, Signora", hörte Lasse seinen Chef sagen. "Hatte jemand Grund, ihn zu hassen? Ein Arbeitskollege, etwa? Oder sonst wer?"

"Hassen?" Elena presste die Hände im Schoß zusammen. "Niemand hatte etwas gegen ihn, wieso auch?"

"Und wie stand er zu Hossam Boctor?"

"Wie schon? Boctor ist langsam. Ein bisschen dumm. Andrerseits ziemlich schnell auf hundertachtzig. Manchmal hat Luigi sich geärgert, weil er ihm alles zehnmal erklären musste, aber sonst … Das ist kein Grund, jemanden umzubringen, Commissario!"

"Ich muss etwas ansprechen, das Ihnen eventuell unangenehm ist." Luca behielt sie genau im Auge. "Im Zoo gibt's Gerüchte. Über Ihre Ehe."

Sie wirkte keinesfalls überrascht, schüttelte halb missbilligend, halb resigniert den Kopf. "Commissario! Eine Frau mit blondgefärbten Haaren, die abends ohne ihren Mann spazieren geht, das gibt den Spießern immer Stoff zum Reden."

"Es ist also nicht wahr, dass Sie jemanden auf der Seite haben – hatten?", hakte Lasse ein.

"Natürlich nicht!" Schlagartig wurde sie zornig. "In diesen engen Straßen gedeihen Gerüchte tausendmal besser als Blumen. Wenn die Nachbarn glauben, sie wüssten was, erzählen sie's überall rum, und falls sie nichts wissen, erfinden sie was." Plötzlich wirkte sie erschöpft. "Ich muss in die Küche. Mein Sohn ist heut morgen nach Faenza gefahren, ich hab ihn vorhin angerufen und ihm gesagt … Er wird bald zurück sein."

"Die Fotos." Lasse gestikulierte zu der bildergeschmückten Wand. "Ist das Ihr Sohn, dort?"

Ihre Miene wurde weicher. "Das ist unser Daniele, ja."

"Bevor Sie kochen: Geben Sie uns noch zwei Minuten, bitte. Wo waren Sie gestern Nacht, zwischen Mitternacht und drei Uhr?" Sie hatte sich erhoben und Luca verstellte ihr den Weg zur Tür.

"Wo wohl? Zu Hause."

"Wussten Sie, dass Ihr Mann sich zu dieser Zeit im Zoo aufhielt?"

Ihr Zögern ging so schnell vorbei, dass es kaum zu bemerken war. "Ja. Er schaute manchmal nachts nach seinen Tieren. Wenn eins krank war, etwa."

"War vergangene Nacht ein Affe krank?"

"Dio mio! Ich hab nicht danach gefragt. Sehen Sie, er hat immer viel mehr über seine Affen erzählt, als ich überhaupt wissen wollte."

Wieder im Auto, sah Lasse seinen Chef an: "Kaufen Sie ihr das ab, diese Story von der braven, aber verleumdeten Ehefrau?"

Luca setzte seine verspiegelte Sonnenbrille auf, die Lasse insgeheim als Modell Mafia-Boss bezeichnete, und startete den Alfa.

Nachdem er Lasse losgeschickt hatte, die Spurensicherungsleute zur Arbeit anzutreiben, fuhr Luca zurück zum Zoo. Wann immer er mit den Kindern seiner Schwester hier durchgelaufen war, hatte er den Tieren nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt sondern statt dessen an seine Frau gedacht, die vor noch nicht einmal zwei Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war.

Angela hatte als Tierfotografin gearbeitet und war häufig in die Savana Adriatica gefahren, um Zebras, Giraffen oder Elefanten für Kalender, Bildbände und Zeitschriften abzulichten, aber in der Regel allein. Zum Fotografieren brauche sie Ruhe, hatte sie betont, es mache sie nervös, wenn Luca hinter ihr stehe und darauf warte, dass sie endlich die richtige Einstellung gefunden habe. Deshalb kannte der Commissario die Zoobewohner in der Hauptsache aus Angelas Bildern.

An diesem Tag interessierte Luca besonders der Afrikateil. Vor der Elefantensavanne studierte er das Schild, das wissbegierigen Besuchern verriet, dass die hiesigen Elefanten aus dem Südsudan stammten. Offenbar handelte es sich um Tiere, die von Wilderern angeschossen und mit internationaler Hilfe in den italienischen Zoo gebracht worden waren, um die aufwändige Behandlung zu sichern. Als er sich den Tieren zuwandte, fiel Luca auf, dass die Elefanten einen ausgezeichneten Blick auf den Weg zu den Gorillas hatten. Waren die Tiere in der Mordnacht draußen gestanden? Vielleicht könnten sie, sofern sie der menschlichen Sprache mächtig wären, den Mörder des unglückseligen Affenwärters bis ins kleinste Detail beschreiben? Der Fall bereitete Luca schon jetzt Magenschmerzen. Ein Täter, der einen Menschen ermordete und quasi im Vorbeigehen ein Affenbaby abschlachtete, musste außergewöhlich gefühlsarm sein. Eiskalt, brutal und somit extrem gefährlich. Jemand, den es so rasch wie möglich zu fassen galt …

Bei den Flusspferden entdeckte Luca die igelhaarige Frau – wie hieß sie noch gleich? Richtig, Francesca Cotti.

"Kommen Sie voran mit Ihren Ermittlungen?", schrie sie und kletterte über die Absperrung, während ihr die Flusspferde, in ihrer Mitte ein Jungtier mit im Gegenlicht rosig schimmernden Ohren, interessiert nachsahen.

"Man kommt immer voran. Sogar, wenn's einem selbst nicht klar ist." Hier, im Freien, wirkte die Gothic-Aufmachung der Frau, die Mitte der zwanzig sein mochte, auf Luca noch skurriler.

Francesca nickte. "Das mit Pico ist Horror pur. Aber wenigstens wird sich die polizia jetzt intensiver um den Zoo kümmern. Oder?"

"Wie meinen Sie das?" Bei der Befragung hatte sie nichts davon erwähnt, dass sie die Polizei im Tierpark vermisste; daran hätte sich Luca erinnert.

Sie fuhr sich durch die Haare, die sich dadurch noch mehr absträubten. "In letzter Zeit sind'n paar Dinge hier passiert … Immer nachts …"

"Was für Dinge?"

Francesca drehte sich zu ihren Schützlingen. "Verrückte Dinge. Schlimm verrückt. Zum Beispiel, Luisa da drüben", sie wies auf eins der ausgewachsenen Flusspferde, das für Luca genauso aussah wie seine beiden Kollegen, "Luisa hatte eines Morgens 'ne Wunde am Maul, 'ne üble Wunde. Auf den ersten Blick hätt ich gesagt, eine Stichwunde, wie von einer Lanze oder so." Sie fischte einen Kaugummi aus der Tasche. "Nettuno –."

"Felipe Nettuno, Ihr Chef?"

"Ja. Der sagt, es gibt viele Möglichkeiten, wie sie sich so 'ne Verletzung selbst hätte beibringen können, aber ich glaub nicht dran."

"Sie haben von mehreren Vorkommnissen gesprochen."

"Sì." Sie kniff die Augen zusammen, blickte sich um. "Auch bei andern Tieren hat's seltsame Verletzungen gegeben. Zuletzt bei den Dorcas."

"Gazellen?"

"Immer war's so, dass man mit ein bisschen Fantasie auch von 'nem Unfall hätte ausgehen können. Komisch nur, dass diese Dinge immer nachts geschahen."

"Nach dem, was Sie mir erzählen, wäre es also möglich, dass im Affengehege gerade etwas … Unschönes versucht wurde, wobei Luigi Pico zufällig störte?"

Die Frau nickte heftig und ihre Ohrringe blitzten.

"Signor Nettuno sagte, im Zoo würde nachts ein Wachdienst patrouillieren."

"Pornos lesen, wohl eher. Und saufen", fiel ihm Francesca grob ins Wort. "Außerdem – zwei Mann pro Schicht für dieses Riesengelände?" Sie sandte dem Commissario einen schrägen Blick. "Da wir grade vom Bewachen reden: Wo bleiben Ihre Carabinieri? Wollen die warten, bis unser Gonzo jemanden massakriert?"

Ein Schubkarren mit frischem Gras tauchte im Gehege auf, geschoben von einem jungen Mann mit mürrischer Miene. Die Flusspferde, die sich nahe dem Wassergraben aufgehalten hatten, trabten langsam auf die Futterladung zu.

"Ernesto! Spinnst du? Hau ab da, Mensch! Hau ab!" Für eine Sekunde schien Francesca wie gelähmt, sprang dann ins Gehege zurück, begann zu rennen. Auch die Flusspferde wurden schneller; Luca konnte erkennen, wie die Muskeln der Kolosse unter der grauen Haut arbeiteten.

Der Mann zögerte. Das vorderste Flusspferd ging in Galopp über. Luca stockte fast der Atem, als er sah, wie schnell sich das zuvor so behäbig wirkende Tier bewegte. Nervös fasste er nach seinem Holster. Leer! Die Beretta lag im Büro.

Woher Francesca das Ding so rasch hatte, wusste Luca nicht; jedenfalls schwang sie plötzlich eine wuchtige Eisenstange, brüllte abwechselnd ihren Kollegen und die Tiere an, während der Commissario wie gebannt stehen blieb.

"Hau ab, Ernesto!" Inzwischen hatte der Mann die Gefahr kapiert, flüchtete durch ein niedriges Tor in den angrenzenden, leeren Geländeteil. Francesca schlug einen Haken, schleuderte die Stange mit einer Kraft, die Luca verblüffte, vor das jetzt sie verfolgende Tier, rettete sich ebenfalls durch das Tor und verriegelte es mit einem Knall.

Lautes Gebrüll des enttäuschten Angreifers ließ Luca zusammenfahren. Doch das Flusspferd beruhigte sich bald, drohte einmal pro forma mit weit aufgerissenem Maul und trottete zu dem lockenden Grashaufen zurück.

Die Tierpflegerin war weniger leicht zu besänftigen. Sie riss ihren Kollegen herum, verpasste ihm eine Ohrfeige, noch eine, versuchte ihn zu treten, schrie ihm ins Gesicht: "Volltrottel! Wie oft hab ich gesagt, dass niemand reinkann, wenn die Tiere draußen sind! Falls dir Arsch was passiert, bin ich den Job los!"

"Selber blöd! Du warst doch auch drinnen, obwohl's verboten ist!" Der junge Mann schlug zurück, erwischte die Frau an der Brust. Rasch lief Luca zu dem Nilpferd-freien Geländeteil, kletterte über den Zaun, rannte zu den Streithähnen, versuchte, Francesca wegzuzerren.

"Aufhören! Schluss jetzt! Sind Sie beide verrückt geworden?"

"Fick dich ins Knie, Bulle! Lass mich los!" Francesca Cotti rastete völlig aus, und Luca, der ihr nicht wehtun wollte, hatte Mühe, ihr die Arme an den Körper zu drücken und gleichzeitig den Tritten ihrer Stiefel auszuweichen.

Erst als ihre Gegenwehr erlahmte, wagte er sie loszulassen. Der junge Mann hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; Francesca spuckte in seine Richtung.

"Manchmal denk ich, Nettuno versammelt bei uns sämtliche Deppen und Faulenzer der Region!"

Als Luca über die Absperrung zurückstieg, traf ihn ein Stein in den Rücken. Augenblicklich drehte er sich um, doch den feindseligen Mienen im Gehege ließ sich nicht entnehmen, wer der Werfer gewesen war.

Die streitenden jungen Leute hinter sich lassend, schlenderte Luca weiter durch den Afrikateil. Warum hatte die Cotti ihm von den Tierverletzungen erzählt? Sie schien launisch, schwer einzuschätzen. Und falls sie die Geschichte von den nächtlichen Tierquälereien nicht einfach erfunden hatte: Konnte Luigis Tod damit in Zusammenhang stehen? War der Affenpfleger einem Tierschinder auf der Spur gewesen und hatte den Betreffenden zu stellen versucht? War er aus diesem Grund nachts in den Tierpark gefahren? Der grausame Tod des kleinen Gorillas würde für diese Hypothese sprechen.

Auf der andern Seite stand die Geschichte mit der möglicherweise untreuen Ehefrau. Die Hure ist zu Hause. Aber weshalb sollte Elena Pico ihrem Mann erst bis in die Savana Adriatica folgen und ihn dann dort töten? Und vor allem: Weshalb sollte sie den jungen Affen umbringen?

Vielleicht hatte sich alles ganz anders abgespielt, ein noch im Dunkeln liegendes Motiv die Tat ausgelöst? Lucas Gefühl nach, das sich auf eine Vielzahl von Kleinigkeiten gründete, wie zum Beispiel die fehlenden Spuren eines längeren Kampfes, hatte Luigi Pico seinem Mörder ins Gesicht gesehen ohne auf den Angriff gefasst gewesen zu sein. Hatte er den Täter gekannt?

Luca stützte sich auf den nächstgelegenen Zaun, sah zu den Löwen hinab. Laut Infotafel stammten auch sie aus dem Sudan. Das große Männchen ruhte auf einem Sonnenfleck im hintersten Eck des Geheges. Ein Stück weiter vorn drei ausgewachsene Weibchen mit zwei Jungtieren. Deutlich weniger verdöst als ihr Pascha-Mann, denn zwei der Löwinnen hoben wachsam die Köpfe, sahen aber nicht in Lucas Richtung, sondern auf etwas am Rande ihrer Miniatur-Savanne, das der Commissario zunächst für einen grauen Felsen hielt. Bis er näher heranging.

Den breiten Rücken des riesigen Gorillas zierten silbrige Haare. Für einen Moment fühlte sich Luca verwirrt. Was machte ein Affe zwischen den Löwen? Zwar teilten sich in modernen Zoos oft Tierarten, die von den Lebensgewohnheiten her zusammenpassten, ein Gehege, Zebras und Strauße etwa. Aber bestimmt nicht Raubtiere und Affen?

Dann durchzuckte es Luca wie ein Schlag: Der vermisste Gorilla! Gonzo. Wenn wütend, will töten. Rasch blickte der Commissario sich um. Wo waren die Zooleute? Ausgerechnet jetzt befand sich niemand in seiner Nähe. Luca griff nach seinem Handy, ließ es versehentlich fallen und als er sich wieder aufrichtete, das cellulare in der Hand, sah er sich dem Affen direkt gegenüber. Das Tier hockte auf der steinernen Einfriedungsmauer des Löwengeheges, ein riesiger Affe, der Kopf von glänzenden Fliegen umschwärmt. Dunkle Augen unter dicken Augenbrauenwülsten starrten Luca misstrauisch an, über die Wange des Tieres zog sich eine Verletzung, die aussah wie ein von getrocknetem Blut überkrusteter Messerschnitt.

Schritt um Schritt wich der Commissario zurück, während Gonzo von der Mauer sprang, dem Polizisten auf allen Vieren folgte und kurze, bellende Laute ausstieß. Luca merkte, dass er weiterhin das Handy in der Hand hielt, aber Nettunos Nummer war noch nicht abgespeichert. Was tun? Luca fragte sich, ob er um Hilfe rufen sollte. Oder würde der Gorilla dies als Drohung interpretieren, in Wut geraten? Womöglich würde Luca ihn unbeabsichtigt zum Angriff reizen? Aber irgendetwas musste er tun. Vorsichtig, weil ihm nichts Besseres einfiel, hob Luca doch das Handy ans Ohr, drückte die Kurzwahl der Questura.

"Ruft im Zoo an. Ich brauche –." Er kam nicht weiter. Ein röhrender Schrei, ein schwarzes Gesicht mit gebleckten Zähnen direkt vor ihm. Luca spürte, wie ihm das telefonino entrissen wurde, sah, wie Gonzo das Gerät zu Boden schleuderte, darauf herumtrampelte.

"Komm, komm! Calmati! Ich tu dir nichts, Gonzo", murmelte der Commissario, der hoffte, dass menschliche Worte ein Tier, das in menschlicher Obhut aufgewachsen war, friedlich stimmen könnten. Wieder ging er im Zeitlupentempo rückwärts, einen Kiesweg entlang, der, wie er aus den Augenwinkeln sah, zu einem kleinen Gebäude führte. Einer Besuchertoilette, vielleicht? Ob er sich durch die Tür ins Innere retten konnte?

Durfte er sich im Notfall auf ein Handgemenge einlassen? Könnte ein Mensch so einen Kampf überhaupt gewinnen? Wahrscheinlich nicht. Eigentlich bestand die einzige Option darin, den Gorilla so lange friedlich zu halten, bis ein Zooangestellter auftauchte, der Luca aus dieser misslichen Lage befreite. Verzweifelt hielt Luca nach der grünen Montur der Tierpfleger Ausschau, doch vergeblich.

Im nächsten Moment stolperte er über einen Draht am Wegrand, fiel in eine Gießwasserpfütze, hörte das Knurren des Gorillas, viel zu nah, rappelte sich mit nassen Kleidern hoch. Sein Herz raste, als er die riesigen Eckzähne des Affen sah, die so gar nicht zu einem Pflanzenfresser passen wollten. Moschusartiger Geruch stieg übelkeitserregend in Lucas Nase. Würde das Tier beißen? Luca fühlte sich ohnmächtig. Dies war ein Gegner aus einer anderen Spezies, wie mit ihm kommunizieren? Sämtliche Deeskalationsstrategien der Polizeiausbildung befassten sich mit menschlichen Aggressoren.

Luca konnte nicht auf den Weg zurück; der Gorilla trieb ihn jetzt in das Gestrüpp neben dem Gebäude. Aus der unmittelbaren Nähe erschien der Affe noch beeindruckender als zuvor. Luca schätzte, dass sein Gegner mindestens hundertachtzig Kilo auf die Waage brachte. Hundertachtzig Kilogramm geballte Kraft, konzentriert vor allem in einem breiten Torso, mächtigen, muskelbepackten Oberarmen und kraftvollen Schenkeln.

"Hier." Luca fummelte den Autoschlüssel aus der Tasche. "Willst du das haben? Zum Spielen?" Langsam bewegte er seinen Arm nach vorn, das Mäppchen auf der flachen Hand. Der Gorilla runzelte die Stirn. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Luca rann der Schweiß in die Augen. Das Dornengestrüpp, in dem er stand, war praktisch undurchdringlich, er hatte sich in eine Falle treiben lassen. Und der Gorilla blockierte die einzige Fluchtmöglichkeit. Unglücklicherweise interessierte sich der Affe nicht für die Schlüssel, stampfte mit dem Fuß, riss Zweige und Blätter ab. Und im selben Moment begann auf dem Weg das Handy zu klingeln.

Sowohl Luca als auch Gonzo erstarrten, und gleich darauf griff der Gorilla an. Ein ohrenbetäubender Wutschrei zerriss die Luft; der Polizist flog in die Büsche, als sei er ein Federgewicht. Das cellulare klingelte beharrlich. Lucas Muskeln spannten sich; der Commissario rüstete sich mental für den unvermeidlich erscheinenden, mörderischen Kampf. Und dann – ein menschliches Gesicht, weit hinter dem Gorilla, ein Gesicht über einem grünen Overall. Silberne Ringe blitzten unter dunklem Haar. "Rühren Sie sich nicht! Auf keinen Fall! Halten Sie still, Mann, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!" Die Stimme von Francesca Cotti, panisch. Dann flüsterte die Frau drängend in ein telefonino.

Ein zottiger Arm kam auf Luca zu, eine schwarze Hand fasste den Commissario am Hemd. Luca spürte die harten Finger des Affen, während der Gorilla ihn näher zu sich heranzog. Der Wildgeruch wurde unerträglich; einige der Fliegen, die um den Kopf des Affen surrten, begannen jetzt auch Luca zu belästigen und er wagte nicht, sie fortzuscheuchen.

Der Commissario hielt den Atem an. Wie töteten Gorillas? Fraßen sie wirklich lediglich Pflanzen oder gelegentlich auch Fleisch?

Immer mehr Leute versammelten sich auf dem Weg. Zu seiner Erleichterung erkannte Luca neben Francesca den bulligen Hossam Boctor.

"Hast sicher Hunger, Gonzo." Der Affenwärter klopfte auf einen Blecheimer, den er in Brusthöhe schwenkte.

Der Affe zögerte.

"Hier, hol dir was", lockte Boctor. Er wedelte mit einem Stück Brot. Der Gorilla lockerte seinen Griff, wandte den Kopf. Luca verharrte reglos.

"Komm essen, mein Alter." Boctor stellte den Eimer ab, nahm einen Apfel heraus. Für einen kurzen Moment noch starrte der Gorilla Luca in die Augen, dann ließ er den Commissario los und trabte auf allen Vieren zu Boctor hinüber.

Luca, völlig erschöpft, spürte, wie ihn jemand aus dem Gestrüpp zog. "Kauern Sie sich da hin", sagte Francesca leise. "Warten wir, bis Hossam unsern Gonzo in die Kiste gelockt hat." Tatsächlich tauchte ein paar Meter weiter eine vergitterte Box auf Rädern auf, zu deren offen stehender Klappe sich Hossam langsam hinüberbewegte.

"Wie gefährlich ist er wirklich, dieser Affe?" Luca fand, dass er wieder sprechen konnte.

Noch ehe die Cotti Zeit hatte, seine Frage zu beantworten, schoss der Gorilla los, in Richtung zweier Männer, die sofort die Flucht ergriffen, sich hinter die Kiste retteten. Luca erkannte Francescas Assistenten Ernesto aus dem Flusspferdgehege. Der andere Mann mochte etwas jünger sein und riss im Rennen einen Ast ab, vermutlich, um sich im Notfall damit zu wehren.

"Nun ja", sagte Francesca trocken, während sie zusah, wie Gonzo schließlich stehenblieb, zu Hossam zurückblickte. "Seinen Pflegern gegenüber ist Gonzo in der Regel nicht allzu gefährlich. Ein bisschen unberechenbar höchstens. Was Massara grade zu spüren kriegt." Mit dem Kopf wies sie zu ihrem Assistenten. "Gelegentlich kann er allerdings auch nachtragend sein. Und Fremden gegenüber – da sieht's immer schlecht aus." Sie betrachtete Lucas erdverschmierte Hose und lachte. "Haben Sie mit Gonzo gemeinsam ein Schlammbad genommen, oder was?"

Fünf Minuten später stieg Luca in einer Abstellkammer des Verwaltungsgebäudes in eine grüne Latzhose, die nach Mist roch und dem schlanken Commissario um drei Bauchnummern zu weit war. So fand ihn Lasse Wolafka.

"Hübsches Outfit, Capo." Der Jüngere griente. "Sind Sie dabei, den Job zu wechseln?"

"Wir treffen uns später in der Questura. Und heut Abend können Sie sich das Putzpersonal vornehmen. Ebenso die Wachleute." Luca überhörte Lasses Spott geflissentlich. "Ich muss kurz weg."

Er schmiss die Tüte mit seiner verschlammten Hose in den Kofferraum und lenkte den Alfa Richtung Meer. Jetzt, im April, würde der Strand menschenleer sein, gut zum Nachdenken. Und Luca wollte nachdenken. Denn vage im Hinterkopf wusste er, dass ihm während dieser verrückten Szene mit dem Affen etwas Wichtiges aufgefallen war. Aber was?

In Lido Adriano, dem nahegelegenen Badeort an der Küste, fühlte Luca sich jedoch kaum mehr fähig, aus dem Wagen zu steigen. Die Müdigkeit, die unvermutet aufwallte, erfüllte seinen Körper und Geist mit nie gekannter Schwere. Luca wollte nur eins: den Sitz zurückstellen, den Kopf nach hinten legen und schlafen, schlafen, schlafen. Zudem merkte er, wie es in seinen Schläfen unangenehm zu pochen begann. Er hätte besser nach Hause fahren sollen. Aber er wollte, nein, musste sich die gesamte Gorillaszene Schritt für Schritt durch den Kopf gehen lassen, jedes Detail rekapitulieren.

Mit Mühe zwang sich Luca, das Handschuhfach zu öffnen, um nach den Pfefferminzkaugummis zu suchen, die sein Kollege Massimo überall deponierte, selbst im Wagen des Chefs. Und dort, im hintersten Winkel, fassten seine tastenden Finger eine eingeschweißte Pille. Luca starrte die Tablette an. Hatte er sich nicht erst vor zwei Wochen einen Komplettentzug verordnet, sämtliche Speedpillen in den Abfall geworfen? Die hier musste seiner Razzia entgangen sein.

Die Erschöpfung, die überstandene Angst, der noch nicht abgeschlossene, selbstverordnete Entzug – Lucas Widerstandskraft zerbröckelte in Sekunden. Der Commissario riss die Verpackung auf, schob die Pille in den Mund, verließ den Wagen und wanderte den muschelübersäten, einsamen Strand entlang.

Schon wenige Minuten später quälten ihn die heftigsten Selbstvorwürfe und das, woran er eigentlich hatte denken wollen, verschwand aus seinem Gedächtnis wie von den Meereswellen davongetragen.

Kapitel 2

"Daniele Pico?" Zurück in der Questura hatte Luca Mühe, sich auf den stämmigen jungen Mann zu konzentrieren, der auf der Stuhlkante hockte und jegliche Getränke ablehnte. "Wie geht's Ihrer Mutter?"

"Sie ist komplett mit den Nerven runter." Daniele starrte auf seine Hände; der Commissario sah, dass die Fingernägel beigefarbene Schmutzränder aufwiesen.

"Ihre Mutter sagte, dass Sie bei Ihren Eltern wohnen?"

"Das Geschäft wirft nicht viel ab, vor allem im Winter. Und Wohnungen sind teuer." Daniele Pico klang, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er nicht reich sei.

"Sie betreiben einen Souvenirladen, richtig?" Luca warf einen Blick auf seine Notizen. "Mitten in der Altstadt, in der Via Armando Diaz?"

Nicken.

"Haben Sie gestern Abend mitbekommen, dass Ihr Vater noch mal fortging?"

"Ich war gestern Abend gar nicht zu Hause."

"Und wo waren Sie?"

"Am Meer. Angeln."

"Haben Sie viel gefangen?"

Der andere blickte auf den dunklen Boden hinab. "Nicht der Rede wert. Aber meine Mutter liebt frischen Fisch."

"Hat Sie jemand gesehen? Bei Ihrem Boot? Am Strand?"

Kopfschütteln.

"Und als Sie zurückkamen? Wie spät war es? Waren Ihre Eltern da zu Hause?"

Kurzes Schweigen. "Ich weiß nicht." Danieles blassbraune Augen sahen den Commissario fast kläglich an. "Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, aber es war bestimmt nach Mitternacht. Ich bin gleich ins Bett und hab gedacht … meine Eltern würden schlafen." Die rundlichen Schultern sackten nach vorn. "Madonna! Ich geh nicht ins Schlafzimmer meines Vaters um nachzuschauen, ob er im Bett liegt."

Luca seufzte. Nach einer kurzen Pause sah er sein Gegenüber scharf an: "Ich nehme an, Sie wissen, dass es Gerüchte um die Ehe Ihrer Eltern gibt?"

"Böswilliger Klatsch!", brauste Daniele auf. "Meine Mutter ist wie ich, ab und an gern mal allein. Und da fährt sie halt einfach rum, so durch die Gegend. Die Nachbarn glauben dann –." Er brach ab.

"Wo genau fährt Ihre Mutter herum?"

"In der Stadt. Ravenna. Mit dem Fahrrad. Rumfahren, das empfindet sie als Entspannung. Ist gut für ihre Nerven, sagt sie."

Und Luca fragte sich, wodurch Elena Picos Nerven so strapaziert wurden, dass die Frau zur Beruhigung nachts spazieren fahren musste.

Die Putzfrauen im Verwaltungsgebäude des Zoos, zwei dunkelhäutige Migrantinnen, die kaum ein Wort Italienisch sprachen, hatten nichts gesehen, wollten nichts gesehen haben oder verstanden seine Fragen erst gar nicht, wie Lasse befürchtete. Auch ein Mann gehörte zum Reinigungspersonal, ebenfalls ein Farbiger, dessen Beitrag zur Unterhaltung sich auf ablehnende, wenig aussagekräftige Gesten beschränkte.

Frustriert schlenderte Lasse nach zwei fruchtlosen Stunden durch den nächtlichen Zoo in Richtung Ristorante. Insgeheim hoffte er, dass sich das dortige Putzpersonal bereits nach Hause begeben hatte, so dass er mit gutem Gewissen ebenfalls bald abziehen könnte. Bei seiner Freundin Arietta vorbeischauen, auf ein Glas Bardolino, das vielleicht zu mehr führen würde.

Leider erwartete ihn eine Enttäuschung: Die letzte Putzfrau war eben dabei, das Gebäude abzuschließen.

"Aspetti! Warten Sie!"

Sie fuhr herum, starrte ihn an, aus dunklen Augen unter einem blauen, rosengemusterten Kopftuch, und rannte. Hinein in die Finsternis, Richtung Affenhaus. Lasse spurtete ihr nach, nicht wirklich unglücklich über die erzwungene sportliche Einlage. Im Licht der Weglampe sah er, wie die Frau sich im Laufen ihrer braunen Slipper entledigte, die Flucht barfuß fortsetzte. Lasse war trotzdem schneller, erreichte sie, hielt sie am Kleid fest.

"Polizia! Verstehen Sie? Ich bin von der Polizei." Mit der freien Hand zerrte er seinen Ausweis hervor. Die Frau, sehr jung und sehr dunkel, zitterte unter seinem Griff wie ein verschreckter Vogel.

"Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Zum Tod von Luigi Pico." Möglicherweise würde die Frau ihn, geradeso wie ihre Kolleginnen vorhin, kaum verstehen, doch ihre panische Reaktion auf sein Erscheinen interessierte Lasse. Entschlossen führte er sie zurück, sammelte die ausgetretenen Schuhe auf, reichte sie ihr, einen nach dem andern. "Sollen wir uns auf eine der Bänke setzen?" Er wies auf die Terrasse der Gaststätte, aber die Frau schien unfähig, eine Antwort zu artikulieren, und so zog Lasse sie mit sich zu einem Tisch.

"Haben Sie Angst vor mir?"

Keine Reaktion. Sie sah ihn nur an. Sie konnte höchstens siebzehn, achtzehn sein, schätzte Lasse. Das Weiße in ihren Augen wirkte extrem hell gegen die schwarze Haut.

"Wie heißen Sie?"

"Randa." Ihre Stimme kam flüsternd, rau, während sie die Schuhe anzog. "Randa Matar."

"Waren Sie letzte Nacht auch so spät noch hier, Signora Matar?"

"Ich nicht verstehen." Lasse betrachtete ihr Gesicht, die Augen, die seinem Blick auswichen, und war sich absolut nicht sicher, ob sie die Wahrheit sprach.

"Letzte Nacht. Gestern. Wann sind Sie nach Hause gegangen?" Er ertappte sich dabei, dass er die Stimme hob, als hätte sie ein Hörproblem statt Sprachschwierigkeiten.

Ihr Blick irrte über das Gelände. Genervt wiederholte Lasse seine Frage. Die Frau schüttelte den Kopf, die Hände im Schoß zusammengepresst. "Ich nicht verstehen. Nicht viel das Italienische."

Lasse spürte, wie sich ihre Nervosität verstärkte. Auch er blickte hinaus in die Dunkelheit über den angrenzenden Gehegen. Bewegte sich da nicht etwas, weit hinten?

Idiot, schalt er sich gleich darauf, in diesem Zoo gibt's Hunderte von Tieren. Klar, dass sich da ständig irgendwas regt.

"Wo kommen Sie her? Welches Land?" Was verstand sie, was nicht? "Marokko oder …?"

"Nicht Marokko. Egitto."

"Sie kommen aus Ägypten?" Wie der Affenpfleger Hossam Boctor, fiel Lasse auf. Er notierte die Adresse des Mädchens und beschloss, die Befragung auf den nächsten Tag zu verschieben. Und gegebenenfalls einen Dolmetscher zuzuziehen. Hoffentlich begriff Randa Matar die Aufforderung, sich am folgenden Tag um ein Uhr im Zoorestaurant einzufinden. Zur Sicherheit schrieb er ihr die Uhrzeit auf, versuchte ihr seinen Wunsch pantomimisch zu verdeutlichen, eine Darbietung, die sie mit dem Blick eines Rehs, dem man die Urknalltheorie erklärt, begleitete.

"Ich gehen?" Sie zerrte ihre dünne Jacke enger um sich. "Jetzt gehen?"

Lasse sah der jungen Frau zu, wie sie davonhastete, sich immer wieder umblickte, als befürchte sie, er oder jemand anderer würde ihr folgen.

Wovor hatte sie Angst? Hielt sie sich illegal im Land auf oder arbeitete in einem nicht angemeldeten Beschäftigungsverhältnis, also in nero? Manchmal hatte Lasse das Gefühl, dass in Italien sowieso jeder Mensch mit Panik reagierte, sobald er es aus irgendeinem Grund mit der Polizei zu tun bekam. Als verberge jeder ein paar größere oder kleinere Leichen im Keller und empfand allein einen Polizeiausweis als das sprichwörtliche rote Tuch. Er wartete, bis die Ägypterin von der Finsternis verschluckt wurde und verspürte nicht die geringste Lust, sich als nächstes mit dem Sicherheitsdienst abzuplagen. Doch sein Chef hatte es ihm ausdrücklich aufgetragen.

Wo hatte die Security ihren Aufenthaltsraum? Es musste ein Zimmer geben, wo die Typen sich umziehen und ihre Getränke aufbewahren konnten, aber auf dem Faltprospekt für Zoobesucher war nichts Derartiges eingezeichnet.

Lasse überlegte. Vermutlich befand sich die Wachstube beim Verwaltungsgebäude oder in der Nähe eines der beiden Eingänge. Nachdem er vorhin genug Zeit bei der Verwaltung vergeudet hatte, entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Nach einem weiteren Blick auf den Plan marschierte er los, einen breiten Kiesweg entlang Richtung Haupteingang.

Rechts neben ihm heiseres Bellen. Zwei phosphoreszierende Augen, die gleich wieder verschwanden. Eine Hyäne? In der Nacht wirkte die Savana gruselig mit den ungewohnten Tierlauten, den weitläufigen Gehegen, der Finsternis unter den riesigen Schirmen der Pinien, die an Sommertagen angenehmen Schatten spendeten, aber zwischen den spärlichen Wegleuchten jetzt alles in unheimliche Schwärze tauchten.

Lasse trat zu einem Zaun, blickte auf eine Steppenlandschaft. Er schmunzelte bei der Erinnerung an das, was ihm die Flusspferdpflegerin über Lucas Begegnung mit dem ausgerasteten Gorilla erzählt hatte. Kein Wunder, dass der Commissario so rasch abgehauen war. Der Angriff des Affen hatte den Italiener in seinem Stolz gekränkt und Lasse wusste, wie wichtig in seiner neuen Heimat die bella figura war, das Wahren des Gesichts. Ob das Leben der Tiere einfacher war als das der Menschen?

Allmählich erinnerte sich Lasse, dass er die Wachstube hatte suchen wollen und fand sie tatsächlich in der Nähe des Haupteingangs. Unterwegs war er auf einen Securitydienstler gestoßen, der ihm den Weg erklärte. Nein, der Mann hatte in der Tatnacht nichts Verdächtiges gesehen, ebensowenig wie sein Kollege, der in der Stube neben einem Heizöfchen Espresso schlürfte und auf einem Uralt-Gameboy virtuelle Raumschiffe abschoss, während ein Radio mit schlechtem Empfang schnulzige Lieder plärrte.

"Wollen Sie?" Der Wachmann wies auf seine Thermoskanne, aber Lasse lehnte ab.

"Die Leute von der Putztruppe. Haben die Schlüssel für beide Zootore?"

"Sì." Der Wachmann erklärte, dass jeder vom Personal oder Reinigungsdienst einen Generalschlüssel besaß, der überall passte, mit Ausnahme von bestimmten Spezialräumen und ein paar Büros.

"Wär's Ihnen aufgefallen, wenn letzte Nacht jemand zu ungewöhnlicher Stunde die Savana betreten oder verlassen hätte?"

"Natürlich! Ist schließlich mein Job."

Mit der Musik dicht beim Ohr, voll auf sein Elektronikspiel konzentriert … Lasse vermutete, dass der Wachposten nicht mal mitgekriegt hätte, wenn ein Elefant vorbeigetrampelt wäre. Und erst recht zweifelte er daran, dass der Mann jemanden bemerkt hätte, der sich durch die schmale Fußgängerpforte, die neben dem breiten Haupttor unauffällig in den Zaun eingesetzt war, hinaus ließ.

"Hier im Zoo sollen des Öfteren nachts Tiere verletzt worden sein. Ist Ihnen davon was bekannt?"

"Gerüchteweise, ja." Der Wachmann kratzte sich hinter dem Ohr. "Aber man darf nicht alles ernst nehmen, was die Tierpfleger erzählen." Er grinste. "Da sind Typen dabei, die schreien nach den Piedipiatti, wenn ein Nashorn einen Mückenstich abgekriegt hat, Sie verstehen?"

Lasse verstand vor allem eins: Nämlich, dass die Wachleute nicht wachsam waren. Und ihn schauderte bei der Vorstellung, was einem Mädel wie der schwarzen Putzfrau passieren konnte, sollte es nachts dem Mörder in die Hände laufen.

Luca fröstelte. Und war nicht sicher, ob er das Kältegefühl den morgendlichen Temperaturen – wieder Nebel, kein Wunder im Podelta, wo Land und Wasser nahtlos ineinander übergingen – oder dem Speedkater verdankte.

Im Gorillagehege waren die Tiere längst wieder eingezogen. Lasse und Luca näherten sich dem Gitter, von wachsamen Blicken aus dunklen Augenpaaren verfolgt.

"Dottoressa Halima?" Zuerst sahen die beiden Commissari nur die Beine und das wohlgeformte Gesäß der Frau, die sich zu einem Eimer bückte.

Langsam richtete sich die Zoo-Tierärztin, von deren Existenz Luca erst vor einer Stunde erfahren hatte, auf, drehte sich um und schüttelte den schwarzlockigen Pferdeschwanz zurecht. Aus gelbbraunen Augen in einem orientalisch geschnittenen Gesicht musterte sie die Polizisten.

"Würden Sie bitte rauskommen?" Luca hielt seinen Ausweis vor das Gitter. "Wir würden gern mit ihnen reden."

"Ich hab viel Arbeit."

"Wir auch", konterte Lasse. "Aber, nachdem Sie in Eile sind, können wir das Ganze gern kurz abhaken: Wo waren Sie vorletzte Nacht zwischen Mitternacht und drei Uhr?"

Sie schnappte nach Luft. "Ist das eine Frage nach meinem Alibi?"

"So könnte man es formulieren", sagte Luca. "Also?"

"Ihre Unverschämtheit bestärkt mich in meiner Meinung über die italienische Polizei." Trotzdem kletterte Ines Halima aus dem Gehege. "Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich war zuhause und hab geschlafen. Allein."

"Wie sieht's mit Ihrem Motiv aus? Wie standen Sie zu Luigi Pico?" Wenn sie Konfrontationskurs fahren wollte, Luca konnte das auch.

"Kein Motiv. Gleich einsperren dürfen Sie mich somit nicht."

"Hören Sie!" Luca mühte sich um Sachlichkeit. "Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass wir einen Mord aufklären wollen. Dass hier ein Mensch brutal ums Leben gekommen ist."

Die Frau schwieg eine Weile. "Tut mir leid", sagte sie dann. "Allora, fangen Sie an mit Ihren Fragen, und ich werde mich bemühen, sie so gut ich kann zu beantworten."

"Das hoffe ich." Luca blickte auf den Weg, auf dem die Leiche des Affenpflegers gelegen hatte. "Erzählen Sie uns, was Sie über Luigi Pico wissen. Was war er für ein Mensch? Wer waren seine Freunde?"

"Die besten Freunde waren für ihn unsere Primaten." Ines klopfte ein paar Strohhalme von ihrer Hose ab. "Ansonsten … Pico war ein Einzelgänger. Eigentlich haben wir immer nur über die Affen geredet, oder den Zoo. Nichts Privates."

"Hossam Boctor. Sein Kollege. Wie stand er zu Luigi?", fragte Lasse.

"Nun ja." Ines zögerte. "Sie waren Arbeitskollegen. Mehr nicht."

"Gab es Probleme zwischen den beiden?"

"Nichts … äh … Konkretes, das ich wüsste. Sie befanden sich nicht auf der gleichen Wellenlänge, aber Hossam hängt an seinen Tieren wie Pico."

Die beiden Commissari befragten die Ärztin mindestens eine Viertelstunde lang, doch ihre Antworten blieben vage.

"Zu schade, dass nicht mehr Leute wie Pico nachts in der Savana rumgeistern", murmelte Lasse endlich. "Dann gäb's vielleicht einen Zeugen. Oder wenigstens jemanden, der den Täter rumschleichen sah."

Ines Halima blickte zu Boden, dann wieder auf.

"Wollen Sie etwas sagen?", fragte Luca rasch. "Bitte bedenken Sie, dass jede Kleinigkeit zur Lösung des Falls beitragen kann."

Sie antwortete nicht sofort, aber schließlich nickte sie müde. "Es gibt möglicherweise einen Zeugen, das heißt, eine Zeugin, um genau zu sein. Zumindest … könnte sie eine Zeugin sein."

"Eine Zeugin? Sie meinen, eine Augenzeugin des Mordes? Warum erfahren wir das erst jetzt?", schimpfte Luca los. "Ist es eine Tierpflegerin?"

Die Ärztin seufzte. "Ich hab bisher nicht drüber gesprochen, weil Sie mir genauso wenig glauben werden wie die andern, Signor Nettuno inklusive."

"Inwiefern glauben?" Lasse kapierte nicht. "Sind Sie die Zeugin? Was haben Sie beobachtet? Weshalb sollten wir Ihnen nicht glauben?"

"Nicht mir." Ines Halima sah an dem Affenhaus neben dem Freigehege hinauf, zu einem Fenster im ersten Stock. "Ich rede nicht von mir. Sondern von Sissy."

"Wie, eine Bonobo? Was ist überhaupt eine Bonobo?" Lasse konnte nicht fassen, was die Ärztin behauptete.

"Eine Schimpansenart. Aus Zentralafrika. Sissy … ist hochintelligent. Ihr Vokabular entspricht etwa dem eines zwei- bis dreijährigen Kindes."

"Soll das heißen, sie kann sprechen? Richtig sprechen?"

"Auf ihre Art … Ja …"

"Und Sie meinen, dieser Affe könnte den Mord beobachtet haben?"

Ines Halima führte die beiden Männer ins Obergeschoss des Affenhauses. Über einen venezianischen Spiegel konnten die Polizisten in ein helles Zimmer mit bunten Kissen, Plüschtieren, einer zusammengeklappten Campingliege und einem Tisch blicken. Auf einem passend zurechtgesägten Baumstamm thronte ein Nest aus Decken; ein Eck des Raums wurde von einem Klettergerüst aus Seilen beherrscht. Zwei Affen hockten vor einem Teller am Boden, pickten Fruchtstücke auf.

"Sissy ist die größere. Wir haben ihr heut den kleinen Gorilla Mikey zugesellt, damit sie sich nicht so allein fühlt. Die beiden verstehen sich in der Regel sehr gut."

"Wie kommuniziert sie mit Ihnen?", wollte Luca wissen.

"Kommen Sie. Aber nur einer, bitte." Die Ärztin zögerte, wies endlich auf Luca. "Sie."

Luca folgte ihr in das Affenzimmer. Mikey klaubte weiter in den Leckerbissen herum. Sissy hingegen zog sich in die hinterste Ecke zurück.

"Wir haben sie vor einem Jahr von einem Ein-Mann-Wanderzirkus quasi geerbt. Will heißen, eine Tierschutzorga hat sie, als ihr Besitzer starb, aus einem zu engen Käfig gerettet und zu uns gebracht. Wir konnten gar nicht fassen, welchen Schatz dieser Mann besessen hatte." Die Ärztin ging zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, bedeutete Luca, neben der Tür zu bleiben. "Wie geht es dir heute, Sissy?"

Die Schimpansin starrte Luca an. "Dieser Mann ist ein Freund, Sissy. Amico. Freund." Ines sprach sorgfältig akzentuiert. "Non avere paura. Hab keine Angst, meine Kleine."

Der Blick der braunen Augen glitt zu Luca. Abschätzend, wie der Commissario fand.

"Wie geht es dir, Sissy?" Geduldig wiederholte Ines die Frage. Langsam näherte sich die Schimpansin dem Tisch, ohne Luca aus den Augen zu lassen. Schließlich sprang sie auf einen leeren Stuhl, fasste in eine Pappschachtel, die etwas enthielt, das wie eine Menge Spielkarten aussah, in verschiedene Abteilungen eingeordnet.

Um das Tier nicht zu erschrecken, wagte Luca, keine Frage zu stellen, beobachtete lediglich. Beide. Die Ärztin, die er so etwa auf fünfunddreißig schätzte, und die Schimpansin, die gefunden hatte, wonach sie suchte: Eine Karte in der Hand beugte sie sich zu Ines vor, die ihr gegenübersaß.

Fast ohne es zu merken, trat Luca näher. Die Bonobo verfolgte jeden seiner Schritte, floh jedoch nicht.

"Bleiben Sie stehen! Sie ist seit Luigis Tod ziemlich durcheinander." Ines hob die Karte hoch, so dass Luca, der sich mittlerweile direkt hinter ihr befand, sie ebenfalls sehen konnte: Ein abstraktes Symbol in Schwarz-Weiß, darunter das Wort triste. "Traurig?", fragte Ines in geradezu mütterlichem Tonfall. Die Bonobo sah erst sie an, dann Luca, und der Commissario fühlte sich wie gelähmt von dem Schmerz, den er in den Augen des Tieres las.

Gleich darauf konzentrierte sich die Schimpansin wieder auf ihre Schachtel. Diesmal gab sie ihrer Betreuerin zwei Karten, und Luca spürte einen Kloß im Hals, auf den er nicht gefasst gewesen war. Die Worte unter den Symbolen lauteten: Baby und tot.

"Ja, Sissy. Der kleine Pepe ist tot. Wir sind alle traurig darüber."

Der junge Affe, das zweite Opfer. "Können Sie ihr eine Frage zu dem Mord stellen? Ob sie in der Nacht jemanden gesehen hat?" Luca hörte die Ungeduld in seiner Stimme und erwartete halb, dass die Tierärztin ihn aus dem Raum werfen würde. Aber Ines sandte ihm zwar einen verweisenden Blick, schien dann nachzudenken.

"Luigi", sagte sie und legte ihre Hand auf die der Bonobo. "Wo ist Luigi, Sissy?" Zu Luca gewandt, murmelte sie: "Sie versteht nicht jede Art Fragen. Ich muss alles auf eine bestimmte Weise formulieren."

Der Blick der Schimpansin veränderte sich. Luca war sicher, dass er statt Kummer nun Angst in den braunen Augen las. Sissy entzog der Tierärztin ihre Hand. Wieder wühlte sie in den Karten. Mann tot, las Luca und er starrte die Bonobo an. Woher konnte Sissy das wissen? Wenn Ines ihr nicht von Luigis Tod erzählt hatte – konnte die Schimpansin von ihrem Fenster aus die Leiche des Tierpflegers gesehen haben? Oder tatsächlich den Mord beobachtet?

Während er überlegte, welche Fragen Ines noch stellen könnte, kletterte Sissy von ihrem Sitz und lief ans Fenster. Auf alle weiteren Versuche der Tierärztin, sie zu den Karten zurück zu locken, schüttelte die Schimpansin stumm den Kopf, hielt die Hände vor die Augen.

"Ich vermute, sie hat wirklich etwas beobachtet", sagte Ines leise. "Gestern stand sie richtiggehend unter Schock. Wollte nicht reden, nicht essen, nicht spielen."

"Mann tot." Luca nahm die in Plastik eingeschweißten Karten vom Tisch. "Darf man das alles denn ernst nehmen? Ich meine … Versteht ein Affe das Konzept des Todes? Seine Unwiderruflichkeit?"

"Oh ja." Ines ordnete die triste-Karte in den Kasten zurück. "Ich bin sicher, dass Sissy den Tod versteht."

Luca trat neben die Bonobo, die aus ihrem Fenster in das Gorilla-Gehege hinabsah. Der Platz, an dem sich der Tote befunden hatte, lag voll im Blickfeld. Der Commissario drehte sich zu der Ärztin. "Werden Sie weiter mit ihr reden? Mich verständigen, falls sie … etwas zur Aufklärung des Falls beitragen kann?"

"Natürlich, Commissario." Ines nahm Sissy bei der Hand. "Der Commissario wird uns wieder besuchen. Möchtest du das?" Sissy legte den Kopf in den Nacken und gab Laute von sich, die sich wie whuh whuh anhörten.

"Whuh heißt ja." Doch Ines sah absolut nicht glücklich aus.

Der Mann hatte sich in das Gestrüpp hinter der Angestelltentoilette zurückgezogen, wo er sich niederkauerte, die Hände auf die Ohren presste.

Doch die Stimme, die er vernahm, ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Nein, der Dunkle war wieder einmal in seinen Kopf gedrungen, erfüllte ihn mit dröhnenden, blutgierigen Worten.

"Oh, mein Schöpfer!

Schöpfer, der du mich in meiner Mutter Leib geschaffen hast: Lass das Böse nicht an mich herankommen."

Der Mann wagte nicht, sein Lied laut zu singen, aber seine Finger bewegten sich, als spiele er auf einer imaginären Trommel, während er sich auf die gemurmelten Worte konzentrierte, in der Hoffnung, durch magische Beschwörungen Mascardits Drohungen auszublenden.

Doch selbst der Zauber des Liedes weigerte sich zu wirken. Der Mann spürte die furchteinflößende Nähe des Dunklen, der schon vor vielen Jahren angefangen hatte, sein Leben zu zerstören.

Und als endlich die Worte Mascardits verklangen, war dem Mann trotzdem kein Frieden vergönnt, denn jetzt hörte er das Hufegetrappel in seinem Kopf, die Schüsse, die Schreie der Frauen, sah die Flammen hochschlagen, die brennenden Dächer in sich zusammenstürzen … Aufstöhnend barg er den Kopf in den Händen, schaukelte auf den Fersen hin und her.

Mascardit würde nicht ruhen, ehe sie alle tot waren, alle!

Kapitel 3

"Mit Ihnen haben wir noch nicht gesprochen." Luca blieb vor dem Kassentisch des Zoo-Shops stehen, wo ein junger Mann mit finster zusammengezogenen Augenbrauen Zahlen auf ein Blatt Papier kritzelte.

"Ich arbeite nur stundenweise." Der Verkäufer zögerte einen Moment, ehe er sich erhob und Luca die Hand hinstreckte. "Tonio Massara."

Massara … Irgendwo, wusste Luca, hatte er den Namen schon mal gehört.

"Und was machen Sie, wenn Sie nicht hier arbeiten, Signor Massara?" Lasse hob ein Holzkrokodil auf, um es mit dem fachmännischen Blick des Hobbyschnitzers zu studieren. Die Reptilschuppen waren gut gelungen, aber das Gesicht des Tieres schien Lasse zu freundlich. Kinderspielzeug eben. Hergestellt für eine Altersgruppe, in der alles zum Kumpel werden konnte, vom Kroko bis zum Tyrannosaurus.

Der Junge, der siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein mochte, schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. "Ich geh aufs Liceo. In der Via Nicolodi." Unruhig glitt sein Blick von einem zum andern.

Die Schule war Luca bekannt; es handelte sich um eins der besten und teuersten privaten Gymnasien. Wie gern hätte er seine Tochter dorthin geschickt statt ins Internat … Eine Welle der Verzweiflung überflutete Luca, doch er durfte ihr nicht nachgeben. Nicht hier und jetzt. Der Commissario nahm sich zusammen und fragte, ob der Junge etwas von seltsamen Verletzungen der Zootiere gehört habe.

"Mit den Viechern hab ich nicht oft zu tun." Die Antwort kam schnell, abwehrend. "Bis auf die hier." Tonios Hand beschrieb einen Halbkreis über die Regale mit Löwen aus Kunststein, Plüschaffen, Echtfell-Minigazellen und ähnlichem.

"Aber Sie werden doch eine Menge von dem mitbekommen, was in der Savana geschieht!" beharrte Luca.

Angriffslustig hob der Junge das Kinn. "Mann, wissen Sie, wie beschissen Schule ist? Meine Noten … also, mein Vater lässt mich bloß hier jobben, wenn ich nicht weiter absacke! Deshalb hab ich immer Bücher dabei, zum Pauken, für die Zeiten, wo im Laden tote Hose ist." Er griff nach dem Blatt, auf dem er vorhin geschrieben hatte. "Sehen Sie? Kurvendiskussion. Maxima, Minima, Wendepunkte, Symmetrie. Den Schrottkram muss ich morgen abgeben. Da krieg ich von andern Sachen absolut nichts mit."

Fast hatten die Commissari damit gerechnet, dass die Putzfrau nicht zu ihrem Befragungstermin erscheinen würde, doch Randa Matar saß in der Nähe des Restaurants auf einer Bank, den Blick ins Tigergehege gerichtet.

Leider hatte Lasse keinen Dolmetscher auftreiben können. Doch Ines Halima, die ebenfalls aus Ägypten stammende Tierärztin, hatte den Polizisten versichert, dass Randa, wenn sie wollte, durchaus Italienisch verstand. Aber vermutlich hatte die Putzfrau die Erfahrung gemacht, dass sie im Umgang mit Behörden besser fuhr, wenn sie vorgab, nichts zu wissen und nichts zu verstehen, und erst recht nichts sagte.

"Wie lange waren Sie in der Nacht, als Luigi Pico starb, im Zoo?", fragte Luca.

Die junge Ägypterin senkte den Kopf tiefer. Der einzige Tiger, riesig und extrem mager, lag wie tot auf seiner hölzernen Plattform. "Ich nicht wissen." Sie blickte keinen an. "Wenn ich bin fertig mit Arbeit, ich gehe. Ich schaue nicht auf Uhr."

"Als Sie in jener Nacht zum Tor gingen, haben Sie da jemanden auf dem Gelände bemerkt? War außer Ihnen und den Wachleuten noch jemand im Zoo?"

Kopfschütteln. "Ich laufe schnell. Ich will nach Hause, schnell, alle Tag."

"Was wollen Sie von ihr?" Keiner der Polizisten hatte Felipe Nettuno kommen gesehen. Seine Stirn glänzte vor Schweiß; neben ihm stand ein zweiter Mann, den die Commissari nicht kannten. "Die Frau putzt nur bei uns. Und kapiert nicht mal richtig, was man ihr anschafft."

"Aber sie hat Augen um zu sehen, oder nicht?", konterte Lasse.

"Was soll sie Interessantes gesehen haben?" Der andere Mann, groß, durchtrainiert und in Schuhen, auf deren spiegelglattem braunem Leder sich offenbar kein Stäubchen niederzulassen wagte, sprach mit ungewöhnlich tiefer Stimme. "Der Mörder wird seine Tat kaum begangen haben, während das Mädchen daneben saß."

"Darf ich erfahren, wer Sie sind? Weshalb Sie sich so gut mit Mördern auskennen?", fragte Luca wenig freundlich.

"Dottor Bernardo Massara." Gelassen überreichte der Fremde dem Commissario eine goldumrandete Visitenkarte. "Und ja, in gewissem Umfang kenne ich mich tatsächlich mit Mördern aus. Ich bin Psychiater."

"Dann erstellen Sie mal schnell ein Täterprofil. Für den Sauhund, der Luigi Pico auf dem Gewissen hat", schlug Lasse vor. "Falls der Betreffende ein Gewissen kennt."

"Schnell, Signor Poliziotto, geht in meinem Beruf selten etwas." Massaras Lächeln erreichte nicht seine Augen. "Das ist etwas, was uns verbindet, finden Sie nicht? Schließlich gehört gründliche Recherche auch in Ihrem Beruf dazu, oder sollte ich mich täuschen?"

"Da Sie das Thema Recherche anschneiden. Was genau machen Sie in der Savana Adriatica?", fragte Luca.

"Einen Freund besuchen. Felipe hier." Massaras Lächeln blieb unverändert. Unverbindlich und zugleich wachsam. Weshalb wachsam? fragte sich Luca. Wer wachsam war, versuchte, etwas zu bewachen. Aber was?

"Tonio Massara. Der Junge im Zooshop. Ist der mit Ihnen verwandt?", wechselte der Commissario das Thema.

"Er ist mein Sohn." Bildete Lasse es sich ein oder klang die Stimme des Mannes kälter?

"Warum steht dieser Junge nicht auf der Mitarbeiterliste, die wir von Signor Nettuno erhalten haben?"

"Weil …" Nettuno sah erneut zu Massara, betupfte seine Stirn, von der dünne Schweißfäden rannen. "Er ist ja lediglich ein paar Stunden am Tag hier … Unregelmäßig."

Und arbeitet schwarz, dachte Luca, doch dafür war die Kriminalpolizei nicht zuständig.

"Weshalb wollten die beiden nicht, dass wir uns mit Randa Matar unterhalten?", fragte Lasse stirnrunzelnd, als Nettuno und Massara sich verabschiedet hatten. "Bloß, weil sie nicht mitansehen können, wie wir unsere Zeit verschwenden?"

Luca lächelte sein seltenes, nie wirklich fröhliches Lächeln. "Meine Idee wäre, dass wir uns die beiden Herren genauer anschauen sollten." Der Commissario hatte den Eindruck, dass der Zoodirektor nur aussprechen durfte, was sein Psychiaterfreund guthieß. Und er fragte sich, wieso. Ihm war auch nicht entgangen, dass die junge Putzfrau sich verdrückt hatte; weit entfernt konnte er gerade noch ihr Kopftuch sehen. Lasse blickte in die gleiche Richtung.

"Die kleine Matar müssen Sie sich unbedingt noch mal vornehmen, allein", sagte der Commissario. "Ihre Nervosität legt nahe, dass sie etwas verschweigt. Und ich vermute, etwas für uns höchst Interessantes!"

Ein dreistöckiges Haus am Stadtrand, in einer engen, trostlosen Straße. Graubraun von oben bis unten, die Fenster verstaubt oder mit Läden geschlossen, von denen die Farbe blätterte. Lasse studierte die Namen auf den Klingelschildern, entdeckte Matar / Nasim, drückte auf den Knopf. Keine Reaktion. Der Polizist schob die Haustür auf. Der schmale Flur wurde zur Hälfte von einem Kinderwagen blockiert, dessen blassgrüner Sonnenschutz aussah als hätte er Motten zur Notration gedient. Ein Stück weiter lag ein Kinderfahrrad am Boden, hellblau mit Rostflecken und verbogenen Speichen. Dahinter Plastiktüten mit leeren Flaschen, ein Müllsack, aus dem es nach Fisch stank. Langsam stieg Lasse die schlampig geputzte Treppe hoch, überflog nicht jugendfreie Graffiti, las die Namen der Parteien neben den Türen. Matar / Nasim fand er im dritten Stock, klingelte. Hartnäckig. Bis er drinnen Schritte hörte.

"Dio mio, können Sie einen nicht schlafen lassen?" Die Frau, eine Farbige um die dreißig, hatte einen ansprechend gerundeten Körper, eine dunkle Mähne, die ihr bis tief auf den Rücken fiel und üppige Lippen. Sie trug einen Kaftan aus durchsichtigem Material, der deutlich zeigte, dass sie darunter nichts weiter anhatte als einen schwarzen Slip.

"Mi spiace, aber für die meisten Leute der Stadt wäre dies eine normale Stunde."

Die Frau musterte Lasse. "Ich arbeite erst ab fünf. Kommen Sie dann wieder!" Sie wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Lasse schob seinen Fuß dazwischen.

"Sorry, Signora, wir reden jetzt!"

Im nächsten Augenblick wurde eine Tür hinter der Frau aufgerissen, ein hünenhafter Kerl mit ungekämmten, schwarzen Locken schoss heraus. Kräftige Fäuste packten Lasses Hemd, stießen den Polizisten zurück auf den Flur, und ehe Lasse begriff, wie ihm geschah, flog er die Treppe hinab.

In Panik suchte er das Geländer zu erwischen, fasste irgendwo eine Strebe, doch sie rutschte ihm aus der Hand und er konnte seinen Sturz lediglich dämpfen.

"Hundskrüppel, miserabler!" Mit schmerzender Schulter stürmte er wieder hinauf, hämmerte gegen die erneut geschlossene Tür. "Macht verdammt noch mal auf oder ich trete eure verdammte Tür ein!"

Die Tür schwang auf und der Hüne hob den Arm zum Schlag, aber diesmal war Lasse vorbereitet. Sein perfekt gezielter Fußkick gegen das Schienbein des anderen brachte dessen Gleichgewicht ins Wanken; ein nachgesetzter Fausthieb ans Kinn trieb den Mann zurück in die Wohnung, wo er gegen einen Schrank taumelte. Lasse packte die Frau, stieß sie zu dem Mann hinüber, der dadurch seinen begonnenen Gegenangriff vereitelt sah.

"Polizia!", fauchte Lasse und wedelte mit seinem Ausweis. "Habt ihr kapiert? Ich bin ein Piedipiatti und wenn ihr eure bescheuerten Spielchen fortsetzt, pack ich euch in die Arrestzelle, klaro?"

Sie starrten ihn an und die Frau zog ihren Kaftan enger, was bewirkte, dass Lasse ihre Brüste noch besser erkennen konnte. Vorsichtig trat der Hüne einen Schritt näher, studierte den Ausweis, wobei er die Augen zusammenkniff wie jemand, der eine Brille benötigt.

"Signor Commissario, ich hatte keine Ahnung." Vage wies er in Richtung der Frau. "Ich dachte, Sie … würden meine Verlobte belästigen."

"Verlobte? Wie komm ich drauf, Sie für ihren ruffiano zu halten?", fragte Lasse hart dagegen. "Ihr Name? Papiere?"

Den Kopf gesenkt, wollte die Frau sich in das Zimmer, aus dem vorhin der Mann aufgetaucht war, verdrücken. Lasse hielt sie fest. "Hiergeblieben!"

"Ich wollte mir was anziehen."

Lasse zögerte, sah das zornige Funkeln in den Augen des Hünen, zog die Frau mit sich in das, was eine Wohnküche sein mochte, und befahl dem Mann mit einer Handbewegung zu folgen. Ein Kühlschrank, der gurgelnde Laute von sich gab, und ein paar Kästchen mit einer elektrischen Doppelkochplatte teilten sich die eine Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Tisch mit grauer Kunststoffplatte, ein paar Plastikstühle, ein Sofa in schmuddeligem Beige. Vor dem Fenster ein verwaschener Vorhang in Blau-gelb. Lasse riss ihn von der Stange, warf ihn der Frau zu.

Ohne den Blick vom Boden zu nehmen wickelte sie den Stoff wie einen Pareo um ihren Körper und setzte sich auf das Sofa, so weit wie möglich von Lasse entfernt.

Der Mann kramte in einer Schublade, wobei Lasse ihm sicherheitshalber über die Schulter spähte, zog einen fleckigen Pass heraus, knallte ihn auf den Tisch. Lasse notierte den Namen, der nach Ostblock klang, sowie die Ausweisnummer. Wenn die Frau ebenfalls über Papiere verfügte, machte sie jedenfalls keine Anstalten sie zu suchen.

"Und jetzt werdet ihr meine Fragen beantworten. Zur Person von Frau Matar." Lasse wusste, dass er autoritär auftreten musste, um den Hünen in Schach zu halten.

"Matar? Wer soll das sein?" Der Mann stemmte die Hände in die Seiten und Lasse fuhr ihn an: "Setzen! Neben die Frau!"

Der Mann gehorchte erst nach geraumem Zögern. "Ich kenn niemanden namens Matar", knurrte er.

"Wie merkwürdig. Wo Randa Matar hier wohnt." Lasse behielt das Paar scharf im Auge. Die Frau sank in sich zusammen; der Mann ballte die Hände zu Fäusten.

"Hier gibt's keine Matar."

"Was sagen Sie dazu? Wie heißen Sie überhaupt?", wandte Lasse sich nun an die Frau.

"Latifa Nasim … Ich kenn keine Matar." Sie war jetzt weniger selbstsicher, flüsterte nur.

"Warum steht dann Randa Matars Name an der Tür?"

"Tür?" Aus großen Unschuldsaugen sah sie ihn an, und Lasse war überzeugt, dass sie eine Menge Übung im Lügen hatte.

"Sie wissen, was eine Tür ist? Das, was Sie mir vorhin vor der Nase zuschlagen wollten!" Allmählich verlor Lasse die Geduld, von der er ohnehin lediglich ein Minimalquantum besaß. "Also, warum steht Frau Matars Name auf dem Türschild, wenn Sie sie gar nicht kennen?"

"Sie wird die frühere Mieterin gewesen sein", knurrte der Mann. "Und die müssen wir nicht kennen, oder? Latifa hatte keine Zeit, ein neues Schild zu machen, also hat sie ihren Namen einfach dazugeschrieben."

Als er das Haus in der Via Bixio betrat, sah Luca zuerst in den Briefkasten. In wenigen Wochen würde seine Tochter vierzehn werden, und bis jetzt hatte sie nicht auf seine Frage reagiert, ob er sie zumindest an diesem Tag im Internat besuchen dürfe. Noch immer hatte sie Luca nicht verziehen, dass er das Pferd, mit dem ihre Mutter tödlich verunglückt war, an den Schlachter verkauft hatte. Eine Kurzschlussreaktion, die Luca für den Rest seines Lebens bereuen müsste? Jedenfalls fand er im Briefkasten nur die Stromrechnung, eine Restaurantwerbung und ironischerweise einen Prospekt des Zoos, der auf die im April wieder beginnenden Wildnis-Erlebnisnächte hinwies.

Die normale Welt ist mir Wildnis genug, dachte Luca, während er die Treppen in den zweiten Stock hinaufstieg. Oben, vor seiner Tür, saß Lasse.

"In der Questura hat man mir gesagt, dass Sie grade heimgehen. Ich dachte, Sie hätten eventuell Lust auf ein gemeinsames Brainstorming?" Der Deutsche schwenkte eine Flasche südafrikanischen Fleur du Cap. "Bei einem Glas Wein?"

Schon wieder Afrika? Bloß nicht. "Können wir das auf morgen verschieben?" Luca schloss auf und Lasse folgte ihm ungefragt in die Wohnung.

"Wo haben Sie noch mal gleich Ihre Gläser?"

Ohne zu antworten baute Luca seinen Laptop auf, checkte die Mails. Heutzutage verschickte man keine Briefe mehr, erledigte alles via Computer.

"Besonders toll sind Sie nicht drauf, wie?"

"Hat meine Schwester Sie hergeschickt? Macht sie sich Sorgen über mein unzureichendes Sozialleben?" Luca nahm den Blick nicht vom Bildschirm. Der übliche Spam, eine Mail seines Providers über anstehende Wartungsarbeiten. Nichts von Sara.

"Äh …" Lasse stellte den Wein ab.

"Also ja. Dann sagen Sie Arietta, dass es mir am besten geht, wenn man mir abends meine Ruhe lässt. Ich hab einen anstrengenden Tag hinter mir. Addio!" Manchmal, fand Luca, war es ausgesprochen nervig, dass sich sein hyperaktiver Kollege ausgerechnet mit seiner Schwester angefreundet hatte. Warum hatten die verdammten Deutschen nicht einen netten älteren Mann nach Ravenna ausleihen können anstelle dieses Energiebündels mit dem frechen Mundwerk?

Lasse nahm die Flasche wieder an sich. "Una buona serata, Commissario. Ich werd's ausrichten."

Als Luca sich umdrehte, hörte er die Tür zuknallen und stützte den Kopf in die Hände.

Von irgendwoher erklang Musik. Eine Melodie, so sanft und ruhig, wie der Commissario sie nie zuvor gehört hatte. Das Mädchen saß auf einem golden schimmernden Parkettboden, spielte mit der Bonobo Sissy. Luca konnte sein Lachen hören, sehen, wie Sissy in der Schachtel mit den Symbolkarten wühlte. "Zum Geburtstag wünsche ich mir einen Affen", sagte das Mädchen, doch erst als es den Kopf wandte, erkannte Luca seine Tochter Sara. "Whuh", antwortete die Bonobo und hielt eine Karte hoch. "Alles Gute zum Geburtstag, Sara!" stand darauf und das Mädchen umarmte die Schimpansin, drückte sie an sich. Auf einmal Totenstille. Die ätherische Musik verstummte. Der Raum, in dem das Mädchen gesessen hatte, füllte sich mit weißem Nebel, die Wände lösten sich auf und Luca merkte, dass das Zimmer lediglich Illusion gewesen war, dass Sara und Sissy in Wahrheit auf rötlicher Erde hockten. In einer wüstenartigen Steppe mit einem einzigen blattlosen Baobabbaum.

Jetzt setzte die Musik wieder ein, doch sie hatte sich verändert, klang bedrohlich, beklemmend. Und dann bemerkte Luca die Löwen. Lautlos, von allen Seiten, näherten sie sich dem arglos lachenden Mädchen. Das Männchen, der Pascha, leckte sich im Hintergrund über absurd rosige Lippen, während die Löwinnen geduckt heranschlichen, die Bäuche fast auf dem Boden. Luca wollte schreien, seine Tochter warnen, zu ihr rennen, aber aus seinem Mund kam kein Laut und seine Beine gehorchten nicht. Als sei sein Inneres in einem Körper aus Stein gefangen. Seine Beretta, wo war seine Beretta? Er riss sie aus der Tasche, wollte abdrücken, erkannte entsetzt, dass er keine Pistole in der Hand hielt, sondern einen menschlichen Oberarmknochen. Und die Löwin, die sich genau hinter Saras Rücken befand, sprang los … Jemand schrie, schrie gellend! Der Commissario erwachte von dem eigenen Schrei, schweißgebadet, kurz bevor der Wecker klingelte. Ihm war speiübel und sein Herz raste. Wie ein Zombie marschierte er ins Bad, schluckte als erstes eine Amphetamin-Tablette. Nach Angelas Tod hatte er mit dem Speed angefangen, aus purer Verzweiflung. Um als Polizist arbeitsfähig zu bleiben, trotz zahlloser schlafloser Nächte, trotz der alles umfassenden Trauer. Und jetzt kam er von dem Teufelszeug nicht mehr los und hasste sich dafür. Ebenso wie dafür, dass er die Wut auf die eigene Schwäche ins Büro hineintrug.

"Fangen wir an mit dem von Ihnen so dringend erwünschten Brainstorming", sagte er ohne einleitenden Gruß zu Lasse. "Was erzählen die Nachbarn über Randa Matar?"

Lasse berichtete, dass Randa nicht mehr unter der Adresse, die sie ihm genannt hatte, wohnte. Der Deutsche schlug vor, die junge Putzfrau am Abend zu beschatten, sobald sie den Zoo verließ.

"Zuerst müssen Sie erneut mit ihr reden. Wenn sie begreift, dass ihr Schwindel aufgeflogen ist, verrät sie Ihnen vielleicht, wo sie wirklich wohnt." Luca wandte sich an Massimo, der Elena Picos Nachbarn hatte befragen sollen. "Was haben Sie rausgefunden?"

"Sie hatte wahrscheinlich tatsächlich einen Liebhaber. Oder sogar mehrere."

"Irgendein Hinweis auf den derzeitigen Favoriten?"

"Niemand wusste einen Namen, niemand hat den Mann je gesehen." Massimo kratzte sich am Kopf. "Aber sie ist oft fast jede Nacht rumgezogen. Schon lange übrigens. Jahrelang. Ihre Vorliebe für Häuslichkeit scheint sich in Grenzen zu halten. Seit dem Tod ihres Mannes hat sie ihre nächtlichen Streifzüge allerdings eingestellt, so dass eine Observierung sinnlos wäre. Außerdem, als Täterin scheidet die Frau ohnehin aus, Capo."

Überrascht sah Luca ihn an. "Weshalb? Sie sagte uns, sie habe kein Alibi."

"Im Haus gegenüber hat jemand in der Mordnacht Geburtstag gefeiert. Den fünfzigsten." Der Ispettore blätterte in seinen Notizen. "Ein Signor Malto. Er hat die Pico auf dem Balkon gesehen. Während der gesamten Zeitspanne, die für die Tat in Frage kommt, ist sie immer wieder mal rausgekommen, hat sich auf einen Stuhl gesetzt und auf die Straße gestarrt."

"Sie hat sich auf den Balkon gesetzt? In einer Aprilnacht?"

"Der Balkon ist verglast, wie ein Wintergarten. Ohne Genehmigung, hat Signor Malto betont. Und er behauptet, die Pico deutlich erkannt zu haben."

Luca nickte nachdenklich. Damit kam die Frau als Mörderin nicht mehr in Frage. Aber vielleicht der unbekannte Liebhaber? Luca machte sich einen Vermerk auf seinen Block. "Allora, Elena Pico hat jetzt ein Alibi. Was bedeutet, dass der Staatsanwalt eine Überprüfung ihrer Telefonverbindungen nicht genehmigen wird." Der Commissario runzelte die Stirn. "Der Questore fragt uns heute garantiert, warum wir noch nicht weiter sind und –." Er brach ab, als das Telefon klingelte.

Zwanzig Minuten später hielt Lucas Alfa mit quietschenden Bremsen vor dem Zootor und der Commissario und Lasse eilten den Weg zum Affenhaus hinab.

"Vielleicht bin ich ja nur hysterisch, Commissario …" Doch die Stimme der Tierärztin klang eher besorgt.

"Haben Sie feststellen können, ob etwas gestohlen wurde?"

"Was sollte man stehlen? Plüschtiere?" Ines begleitete die Polizisten in den oberen Stock. Bevor sie den Vorraum mit dem venezianischen Spiegel betraten, hinter dem Sissys Zimmer lag, inspizierte Lasse, der seiner Jugend auf der Straße nützliche Spezialkenntnisse zum Thema Einbruch verdankte, das Türschloss.

"Wenn hier jemand eingedrungen ist, hatte er entweder einen Schlüssel oder den perfekt gefeilten Dietrich. Aber was wollte der oder die Betreffende, mitten in der Nacht?"

"Sissy, fürchte ich. Haben Sie gestern Abend kein Radio gehört?" Ines seufzte. "Jemand muss den Medienleuten gesteckt haben, dass der einzige Zeuge des Mordes eine sprechende Schimpansin namens Sissy sei."

"Wo ist Sissy?", fragte Luca erschrocken.

Die Tierärztin erzählte, dass sie die Schimpansin am Vorabend wegen einer kleinen vereiterten Wunde am Ellbogen operiert hatte. "Ich hab Sissy in der Krankenstation übernachten lassen und auch selbst dort geschlafen, für den Fall, dass sie durch die Narkose Probleme bekommen hätte."

"Fassen Sie nichts an, Dotteressa! Wir sehen uns um, dann wird die Spurensicherung geholt. Aber erklären Sie uns, wie Sie bemerkt haben, dass jemand im Raum war."

"Die Karten." Ines trat zu der Schachtel mit den Kärtchen, die Sissy zum Sprechen benutzte.

"Was ist damit? Sie sind doch da?"

"Sì. Sie sind da. Aber", sie wies mit dem Finger auf die Abteilungen, "komplett durcheinander, Commissario. So als habe jemand die Schachtel versehentlich ausgekippt und die Karten in Eile wieder zurückgepackt."

"Könnte es Hossam gewesen sein, der Affenpfleger?"

Ines verneinte entschieden.

"Aber die Putzfrau?"

"Ich war nach ihr noch einmal in diesem Zimmer, Commissario. Ich hab Sissy eins ihrer Lieblingstiere geholt, einen Plüschschimpansen, und ein paar der wichtigsten Karten eingesteckt, für den Fall, dass sie mir etwas sagen wollte. Zu dem Zeitpunkt war die Putzfrau längst fort. Und die Karten geordnet."

"Sicher?"

"Absolut, Commissario. Ich hab die Karten eigenhändig aus der Schachtel genommen. Außerdem, da ist noch was …" Sie führte die Commissari zu dem Kühlschrank im Vorraum, wies mit einer Kopfbewegung darauf. Lasse zog die Tür auf – und schrak zurück.

Die Ratte war riesig, eine gewöhnliche graue Ratte. Sie lag im Mittelfach des Kühlschranks, ganz vorn. Zwischen einer Flasche Bitter Lemon und zwei Cola. Aus toten Augen blickte sie die Polizisten an.

Kapitel 4

Drei Stunden später wartete Luca auf der Bank vor dem Tigergehege auf Lasse, mit dem er sich in die neuerliche Befragung der Zoo-Mitarbeiter geteilt hatte. Da niemand von dem Einbruch in Sissys Zimmer erfahren sollte, hatten sie vereinbart, ihre Fragen darauf zu konzentrieren, ob jemand in der Nacht verdächtige Beobachtungen gemacht hatte. Als Grund hatten sie Francesca Cottis Verdacht auf Tierquälereien genannt. Doch niemand wollte etwas gesehen haben.

Luca faltete seinen Zooplan auseinander. Die Größe des Geländes, etwa dreißig Hektar, frustrierte ihn, denn selbst wenn die Securityleute diensteifriger wären, hätten sie wenig Chancen, einen einzelnen Einbrecher zu bemerken. Die veralteten Überwachungskameras liefen seit Jahren nicht mehr. Die Eisenzäune ragten zur Straße hin zwar zirka drei Meter hoch auf und wurden zumindest an dieser Seite mit einem elektrischen Alarmdraht geschützt. Aber an den von der Straße abgewandten Grenzen gab es etliche Stellen, an denen lediglich eine marode Mauer mit oben angebrachter Stacheldrahtrolle den Park sicherte.

Als Luca den Plan wieder zusammenfaltete, merkte er, dass der Tiger, der bis dahin unter einem Baum gedöst hatte, aufstand und sich dem Zaun näherte. Auge in Auge mit Luca blieb das magere Tier stehen und der Commissario konnte jeden Muskel unter dem Fell erkennen.

"Versuchen Sie bloß nicht wieder, sich mit großen Viechern anzulegen, Capo! Der Kerl sieht richtig fies drein." Lasse Wolafka, natürlich.

"Verschonen Sie mich mit Ihren Kommentaren!" Lucas Laune hielt sich hartnäckig auf dem Tiefpunkt. "Sagen Sie mir lieber, was Sie rausgefunden haben."

"Niente. Oder zumindest fast nichts." Lasse schwenkte ein Blatt Papier. "Immerhin hab ich mir eine Zusammenstellung der Leute geholt, die im letzten Jahr bei den Affen gearbeitet haben. Wollen Sie sehen?"

Luca studierte die kurze Liste. "Ernesto Massara?", entfuhr es ihm überrascht. "Besteht ein Zusammenhang zwischen unserm Psychodoktor, dem jungen Tonio Massara und diesem Mann?"

"Ernesto ist Bernardo Massaras ältester Sohn, das hat mir Nettuno geflüstert. Angeblich nimmt er eine Auszeit von seinem Zahnmedizinstudium." Lasse griente; seine seegrünen Augen unter dem dunkelblonden Haar funkelten mutwillig. "Ich vermute, in realistischer Übersetzung heißt das, dass er das Studium geschmissen hat, weil er zu faul oder zu dämlich dafür ist."

Als er durch einen Anruf im Verwaltungsgebäude erfuhr, dass Ernesto Massara derzeit bei den Flusspferden arbeitete, erinnerte sich Luca schlagartig, warum ihm der Name Massara bei seiner Begegnung mit dem Psychiater so bekannt vorgekommen war: Ernesto hatte sich unter den Leuten befunden, die den ausgebrochenen Gorilla Gonzo in die Transportkiste zu drängen versucht hatten, eine Erinnerung, die dem Commissario reichlich unangenehm war.

Francesca Cottis Stimme war schon weit vor dem Flusspferdgehege zu hören. Und klang wütend.

"Er sollte die Hautwunde bei dem kleinen Ramses pflegen, aber –." Während die Cotti versuchte, ihren Ärger über Ernesto bei den Polizisten abzuladen, schnitt der junge Mann ihr das Wort ab: "Die Mutter lässt mich nicht in die Nähe. Was hätt ich tun sollen? Mich niedertrampeln lassen? Reicht's nicht, dass der Luigi tot ist?"

Francesca verdrehte die Augen und Luca beeilte sich sein Anliegen vorzubringen: "Wir wollen mit Signor Massara sprechen. Genau wegen des Mordes an Luigi Pico."

Der junge Mann hatte das eckige Kinn und das gewellte Haar des Vaters und mühte sich offensichtlich, das gleiche Machogehabe zu zeigen. Als er zwischen den Polizisten zum nahe gelegenen Stehimbiss ging, wo Luca ihm eine Cola spendierte und Lasse sich einen Pfirsichsaft und ein panino genehmigte, grinste Ernesto komplizenhaft.

"Danke, dass Sie grade jetzt aufgekreuzt sind. Die Cotti hat das gleiche aufbrausende Temperament wie ihre Hippos."

"Was diese Wunde angeht, wie hat sich das Jungtier verletzt?", fragte Lasse und erntete einen anerkennenden Blick von Seiten seines Chefs.

"Keine Ahnung. Die Wunde war einfach eines Morgens da." Ernesto, der so um die fünfundzwanzig sein mochte, schlug nach einer Fliege, die sich auf seinem Colabecher niederlassen wollte. "Das sind Wildtiere, Commissario. Die kämpfen untereinander. Da geht's nicht zimperlich zu." Fast mitleidig schüttelte er den Kopf. "Die meisten Leute halten Flusspferde für gemütlich, sogar ein bisschen doof, weil sie meist faul im Wasser rumdösen. Aber in Wahrheit sind die Biester irre reizbar und brutal gefährlich."

Nachts also hatte sich das Flusspferdjunge verletzt. Oder war verletzt worden? "Helfen Sie oft bei den Affen aus?", fragte der Commissario.

Der andere schüttelte den Kopf. Er sei nicht wirklich gern im Affenrevier, ihm seien die großen Tiere lieber. Raubtiere vor allem, Löwen, Tiger, Bären. Aber natürlich müsse er sich da einsetzen lassen, wo er gebraucht werde.

"Nettuno sagt, dass wir demnächst drei neue Raubkatzen kriegen, Bengaltiger, die von einer Tierschutzorga aus schlechter privater Haltung freigekauft wurden. Die müssen sicher erst mal in Quarantäne." Mit dem Kopf wies der junge Mann in die Richtung, in der man die rötliche Kuppel des alten Quarantänehauses durch die Baumwipfel schimmern sehen konnte. "Ich hab Nettuno geflüstert, dass ich dann gern dort arbeiten würde."

"Wie kommen Sie mit dem Zoochef aus?"

"Ach, er ist okay. Das sind eigentlich die meisten hier."

"Auch Signora Cotti?"

Ernesto lachte. "Wenn Sie nicht grade ihren Rappel kriegt …"

"Was ist mit Ihren Studienplänen?" fragte Lasse, als eine Pause eintrat. Überrascht runzelte Ernesto die Stirn.

"Wieso interessiert Sie das?"

"Weil wir versuchen, uns ein möglichst umfassendes Bild zu machen. Über den Zoo und die Menschen, die hier arbeiten", erklärte Luca.

"Mein Vater wollte, dass ich Zahnmedizin studiere."

"Und Sie?"

Ernesto drückte den leeren Pappbecher zusammen. "Ich hab's versucht. Ihm zuliebe. Ich meine, er ist mein Vater und alles."

"Aber?"

"In andrer Leute Zähne rumzubohren liegt halt nicht jedem. Mir zumindest nicht. Aber hören Sie, diese Fragen haben weder was mit Pico noch mit der Savana zu tun, und ich kann nicht ewig mit Ihnen plaudern, sonst lässt die Cotti's mich büßen!"

"D'accordo. Reden wir über Pico. Wie sind Sie mit ihm klargekommen?"

"Wie fast alle, die mit ihm arbeiten mussten. Schlecht."

Überrascht blickten die Commissari einander an; das hatte ihnen bisher niemand gesagt.

"Inwiefern schlecht?"

"Er dachte, die blöden Primaten gehörten ihm allein. Sehen Sie, das ist der Hauptgrund, warum ich dort ungern gearbeitet hab. Wenn man aushalf, durfte man lediglich die Drecksarbeit machen, Wände schrubben, Futterreste entfernen, Scheiße von den Böden kratzen. Bloß keins der kostbaren Tiere anfassen."

"Galt das auch für Hossam Boctor?"

"Na klar. Für den erst recht. Nur, dass der sich nicht an Picos Regeln gehalten hat. Aber Pico hatte immer Schiss, dass ein anderer ihn als Chef im Affenbereich ablösen könnte."

"Hatte er Grund, das zu fürchten?", hakte Luca sofort nach.

Der junge Mann warf den malträtierten Becher in den Papierkorb. "Er hat halt gesoffen. Nicht in der Arbeit und auch nicht dauernd. Ungefähr einmal alle drei Wochen. Dann ist er mit 'ner Mordsfahne im Zoo aufgekreuzt und hat Panik gehabt, irgendwer könne ihn bei Nettuno verpfeifen."

Lasse sah dem jungen Mann nach, als der fortschlenderte, ganz und gar nicht in Eile. "Pico war also nicht so umgänglich, wie ihn bisher alle schilderten?"

"De mortuis nil nisi bene", murmelte Luca. "Die Frage ist, wollten die andern bloß nicht schlecht über einen verstorbenen Kollegen reden, oder hat der eine oder andere von ihnen selbst was zu verbergen? Hat vielleicht jemand gedroht, er würde dem Zoochef verraten, dass Pico trinkt und es ist zum Streit gekommen?"

"Mit andern Worten, neben dem mysteriösen Liebhaber der Witwe Pico gibt's auch ein paar Verdächtige in der Savana", stellte Lasse fest. "Wir sollten vor allem Hossam grillen, der am engsten mit Pico zusammengearbeitet hat."

"Das übernehme ich. Sie hingegen sollten nach Hause gehen, sich ausruhen." Luca hatte vor, seinen Partner diese Nacht in der Uniform eines Wachmanns im Zoo patrouillieren zu lassen. "Heute Abend müssen Sie außerdem wieder mit der Putzfrau sprechen. Und wenn Sie nachts was herausfinden, rufen Sie mich an!"

"Nachts im Dschungel, wow! Ich werd mich fühlen wie Indiana Jones."

"Mir wäre es lieber, Sie würden sich fühlen wie ein Polizist." Luca runzelte die Stirn. "Da ist nachts dieser Tierquäler unterwegs. Von dem wir nicht wissen, ob er zugleich ein Mörder ist. Seien Sie vorsichtig, Lasse! Wirklich vorsichtig!"

Er hätte es sich denken können. Hossam Boctor stritt ab, je ernsthaft mit Pico aneinandergeraten zu sein. Weil sie beide die Tiere liebten beziehungsweise geliebt hatten, in Picos Fall. Entnervt fuhr Luca in die Questura. Der Einbruch im Affenhaus bereitete ihm neue Magenschmerzen. Es erschien ihm geraten, die Schimpansin vorübergehend außerhalb des Zoos unterzubringen und er hatte sogar schon eine Idee, wo. Doch wenn er Sissy umsiedeln wollte, musste er die Gegend ihres neuen Quartiers – er hatte ein bestimmtes Haus an der Küste im Sinn – verstärkt bestreifen lassen, und dafür sollte er das Einverständnis des Questores einholen. Der wenig begeistert reagierte.

"Können wir das Tier nicht im Zoo bewachen lassen?"

"Theoretisch schon", stimmte Luca zu. "Allerdings müssten wir dann mehrere Leute abstellen, die Sissy rund um die Uhr schützen. Dazu fehlt uns das Personal."

"Was ist mit dem Zoo-Sicherheitsdienst?"

"So wie der arbeitet", sagte Luca düster, "würde ich ihn nicht mal meinen Mülleimer bewachen lassen."

Questore Zingara, ein nervöser Mann, der wichtige Entscheidungen am liebsten so lange hinauszögerte, bis sie überflüssig wurden, schüttelte unmutig den Kopf. "Schlagen Sie sich das mit dem Ferienhaus aus dem Sinn, Manaro! Was glauben Sie, wie wir dastehen, wenn sich das rumspricht? Müssen Sie sich im wahrsten Sinne des Wortes zum Affen machen?" Ärgerlich blätterte er in einem leeren Notizblock. "Außerdem, dieser Affe ist ein extrem wertvolles Tier. Stellen Sie sich die Scherereien mit den Versicherungsleuten vor, wenn dem Schimpansen in dem von Ihnen gewählten Quartier etwas zustoßen sollte! Und, ganz im Ernst, was die Qualität des Tiers als hochgelobten Zeugen betrifft: Dieser Affe kann ein paar Pappkärtchen schwenken, mehr nicht. Von dem werden wir nie was von Wert erfahren."

"Darum geht es nicht. Zumindest nicht nur." Luca fühlte sich müde. "Egal, ob die Bonobo uns helfen kann oder nicht, irgendjemand, vielleicht der Mörder, glaubt das und versucht, sie zu rauben. Oder gar zu töten. Es geht um Sissys Sicherheit."

"Die Sicherheit eines Affen."

Luca sah plötzlich wieder Sissys traurige Augen, wie sie in seine blickten. Doch würde er Zingara je begreiflich machen können, dass er in den Augen des Tieres mindestens so viel Menschlichkeit entdeckt hatte wie in der Miene so manches Zoobesuchers?

Lasse gefiel es, die Uniform eines Schwarzen Sheriffs überzustreifen. Er hatte es von jeher geliebt, in andere Rollen zu schlüpfen, undercover unterwegs zu sein. Und war geradezu süchtig nach dem Kick des Abenteuers, auch wenn ihn sein Pflegevater Anton stets ermahnt hatte, dass das für einen Polizisten nicht unbedingt angemessen war.

Deswegen war Lasse seinem Chef unendlich dankbar dafür, dass der ihm diesen Spaß ermöglichte.

Spaß? meinte er beinahe, Lucas irritierte Stimme zu hören. Lasse, wir ermitteln in einem Mordfall, falls Ihnen das nicht klar sein sollte! Wie oft hatte sein italienischer Chef dieses oder ähnliches gesagt? Genau wie Anton, der als Streifenpolizist in München gearbeitet hatte. Im Einsatz erschossen … Schlagartig verflog jegliches Spaßgefühl. Natürlich hatten sie recht, die Stimmen der Vernunft, egal, ob von Luca oder von Anton. Lasse war nicht hier, um sich zu amüsieren.

"Tut mir leid, Anton", murmelte er in Richtung des Büffelgeheges. "Manchmal frag ich mich, wie du's überhaupt mit mir ausgehalten hast." Und dann grinste er wieder. Mit dem Straßenjungen Lasse, den er in seinen frauenlosen Haushalt aufgenommen hatte, hatte Anton am Ende fast mehr verbunden als mit seinen beiden leiblichen Söhnen, insbesondere die Leidenschaft zum Polizeiberuf.

Und eben diese Passion stellte auch Lasses wichtigstes Bindeglied zu seinem gutaussehenden italienischen Capo dar, dessen negativ eingefärbte Lebenseinstellung bisher nicht mal Lasse hatte aufhellen können …

Die afrikanischen Grasbüffel standen still auf ihrer Wiese, massive, dunkle Körper. Lasse stützte sich auf den Zaun. Seine Einstellung zu Zoos war gespalten: Einerseits hegte er die Ansicht, dass große Tiere wie Büffel, Eisbären oder Elefanten in keinem Zoo der Welt je genügend Platz haben könnten, um so umherzustreifen, wie es ihr natürlicher Lebensstil verlangte, und wenn es jemanden gab, der ein freies Leben zu schätzen wusste, so Lasse selbst. Auf der andern Seite wusste er, dass etliche Tiere, deren Art vom Aussterben bedroht war, in den Zoos wertvolle Refugien fanden, da eine wirklich freie Natur vielerorts nicht mehr existierte. Auch der Tierpark von Ravenna beteiligte sich an Artenschutzprogrammen, zum Beispiel für die asiatische Fischkatze, deren Bestand in der freien Wildbahn stark gefährdet war.

In einer Befragungspause hatte einer der älteren Tierpfleger, ein Mann namens Nicolo Zettini, Lasse zudem erklärt, dass exotische Großtiere wie Giraffen und Elefanten in Zoos gezeigt werden mussten, um Besucher anzulocken, von deren Eintrittsgeldern dann unter anderem die Zuchtprogramme zum Erhalt bedrohter, aber weniger spektakulärer Arten finanziert wurden. Galt es wie so oft auf der Welt vielleicht auch hier Kompromisse zu schließen?

Einer der Büffel schüttelte den Kopf, wie um Insekten zu verjagen. Nachdenklich sah Lasse zu ihm hinüber. Träumte ein Büffel in Ravenna von der Freiheit der Savanne? Besaß er diesen Instinkt überhaupt noch, den Instinkt, ewig dem frischesten Gras nachzuziehen, von Norden nach Süden und von Süden nach Norden? Oder störte es ihn nicht, eingesperrt zu leben, weil er an der Adriaküste geboten bekam, was er brauchte: Eine Herde Artgenossen zum Lieben und Streiten, Gras, Kraftfutter und medizinische Versorgung? Viele Menschen auf der Welt hungerten, weil man ihnen nicht so viel Nahrung gönnte wie diesen umhätschelten Büffeln … Lasse dachte an die afrikanischen Flüchtlinge, die sich in winzigen, oft völlig ungeeigneten Booten aufs Mittelmeer wagten, um Lampedusa zu erreichen und damit die EU, wo sie, wenn überhaupt, halb verhungert und krank ankamen. Hatte nicht jeder Zoobüffel ein angenehmeres Leben als diese bedauernswerten Menschen?

Lasse zwang sich die tristen Gedanken zu verscheuchen. Im Moment sollte er sich nicht den Tieren widmen, sondern den Menschen. Ob die junge Putzfrau bald fertig war? Er lenkte seine Schritte Richtung Verwaltungsgebäude, wo Randa laut Dienstplan saubermachen sollte, schrak zusammen, als er weiter weg, auf einem schlecht beleuchteten Seitenweg, eine Silhouette sah, die sich bewegte. Der Größe nach ein Mensch, der Statur nach ein Mann.

Hastig trat Lasse an den Wegrand, wo er nicht so leicht von den Bäumen unterschieden werden konnte. Wer ging dort? Freund oder Feind? Der Polizist tastete nach seiner Beretta. Im Zoo putzten auch Männer, aber es konnte sich bei dem Schatten ebensogut um den Tierquäler handeln. Oder gar Picos Mörder?

Angestrengt starrte der Polizist zu dem andern, der ebenfalls stehengeblieben war, hinüber. Irgendwie hätte er sich einen nächtlichen Zoo weniger gruselig vorgestellt, dachte Lasse mit einem Anflug von Sarkasmus.

Plötzlich eine Erinnerung, scheinbar aus dem Nichts. Er hatte eine Eintrittskarte für den Tierpark Hellabrunn gefunden, damals, an jenem kalten, grauen Herbsttag in München. Als er sie einsteckte, fing der Regen an. Kräftiger Regen, zusammen mit einem heftigen Ostwind, der schwere Tropfen in Lasses Gesicht peitschte. Jacky, seine Gefährtin, hockte in der Arrestzelle und Bullys Gang hatte ihn auf dem Kieker, weil er den Liebling ihres Chefs vermöbelt hatte. Verdient vermöbelt, aus Lasses Sicht. Der Mann an der Zookasse starrte den dünnen Jungen mit dem ungeschnittenen Haar und dem schmutzigen Rucksack feindselig an, wollte etwas sagen, doch als Lasse ihm stumm die Karte entgegenstreckte, ließ er ihn ein. Lasse hatte gehofft, in einem der Tierhäuser übernachten zu können, wo es warm war, bei den Faultieren etwa oder den tropischen Vögeln. Doch kurz bevor der Zoo schloss wurde er überall rausgeschmissen, und schließlich schlug er im Wirtschaftsbereich ein Schuppenfenster ein und bereitete sich ein Bett im Heu. Und träumte von Elefanten, die sich rund um ihn aufstellten und zu fressen begannen. An die Traumelefanten erinnerte sich Lasse genau. Weiß waren sie gewesen, prunkvoll geschmückt und sehr, sehr sanft …

Wie lange wollte der andere dort drüben stocksteif rumstehen? Lasse verlor die Geduld, an der es ihm ohnehin mangelte. Er schlich ein Stück zurück, um einen Querweg zu erreichen, der ihn in den Rücken des fremden nächtlichen Wanderers führen würde.

"Hallo?" Eine Männerstimme. Der Kerl hatte was gemerkt. Wieder blieb Lasse stehen, drückte sich an ein Gitter und hoffte, dass nicht irgendeine Krallentatze hindurchlangte. Lautlos zählte er bis zehn. Und konnte den anderen nicht mehr sehen. Jetzt holte Lasse doch seine Dienstwaffe heraus, schlich erst an dem Gitter entlang, dann durch den Querweg.

Verdammt! Wo war der andre hin? Während er sich immer wieder umsah, um in keine Falle zu tappen, bewegte sich Lasse vorsichtig auf die Stelle zu, an der der Typ gestanden haben musste. Täuschte er sich oder hing hier ein schwacher Duft von Kokos in der Luft? Auf jeden Fall gab es nichts außer dem Geruch. Nichts und niemanden. Lasse versuchte sich zu orientieren. Er musste sich am Rande Asiens befinden, in der Nähe der Yaks. Nachdenklich starrte er auf die flachen Gebäude zu seiner Rechten. Vielleicht war der Kerl über die Dächer geflohen? Lasse stellte einen Fuß auf ein niedriges Fensterbrett, zog sich an der Dachrinne des Häuschens hoch. Oben ein Flachdach, auf der anderen Seite, nur durch einen Spalt getrennt, gleich das nächste. Lasse fühlte Enttäuschung. Sinnlos, in der Nacht jemanden zu verfolgen, der andre war sicher längst über alle Berge, beziehungsweise hier in der Poebene wohl eher über alle Sümpfe. Doch was hatte er gewollt? Töten? Lasse schauderte.

Er sprang vom Dach herab und ging eilig weiter Richtung Verwaltung.

Die Putzfrau war da; durch eins der Fenster konnte er sehen, wie sie mit einem blauen Staubsauger, der zu schwer für sie schien, hantierte. Aus der Entfernung wirkte die Schwarze noch kleiner und zierlicher als aus der Nähe, und Lasses Beschützerinstinkt erwachte. In diesem riesigen Tierpark trieb sich ein Mörder herum und das Mädel putzte ganz allein, musste ohne Begleitung über unheimliche, schlecht beleuchtete Wege nach Hause laufen. Falls sie ein Zuhause besaß. Nun, zumindest diese Nacht würde sie ein Bodyguard begleiten, selbst wenn sie nichts davon ahnte.

Eigentlich lautete Lasses Auftrag, zunächst mit dem Mädchen zu reden, aber seine Erfahrung sagte dem Polizisten, dass Worte in diesem Fall verschwendete Luft wären. Wo immer die Kleine schlief – bei einer Freundin, ihrer Mutter oder einem Mann – sie würde der Polizei höchstens neue Ausreden auftischen. Lasses Bauchgefühl nach versuchte sie, jemanden zu schützen. Vielleicht andre Illegale, falls sie selbst keine Aufenthaltsgenehmigung besaß. Vielleicht ihre Familie.

Lasse kauerte sich hinter eine Strauchgruppe in der Nähe der Gebäudetür. Jetzt, im April, waren die Nächte kühl, und er war dankbar für die Uniformjacke. Je länger er wartete, desto mehr drangen die fremdartigen Tierlaute in sein Bewusstsein. Klagende Vogelrufe, seltsame, hohe Schreie, ein schrilles Keckern. Tiere aus Asien und Afrika, versammelt hier in Norditalien. Tiere, die schliefen, und Tiere, die nachts umherstreiften, wie er selbst.

Das plötzliche Heulen ließ ihn vor Schreck fast aufspringen, ehe er sich besann: Wölfe. Einer von ihnen sang sein Nachtlied und in dieser Düsternis klang es wie der Vorbote kommenden Unheils in einem Gruselschocker. Eine zweite Stimme fiel ein, vereinte sich mit der ersten zu einem Duett. Zwischen den Zweigen hindurch konnte Lasse sehen, wie Randa ans Fenster trat. Fürchtete sich die Kleine? Oder war das Geheul der Wölfe längst zur vertrauten Begleitmusik ihrer Arbeit geworden? Er konnte Randas Gesicht nicht deutlich erkennen, aber aus ihrer Haltung schloss er, dass sie sich nicht wohl fühlte. In zahllosen Befragungen hatte er zuviel über Körpersprache gelernt, um das nicht zu erraten.

Als die Wölfe ihren Gesang einstellten, schien die Stille danach fast genauso unheimlich. Es war, als hielte der gesamte Tierpark den Atem an. Genau in diesem Augenblick trat Randa Matar aus dem Haus.

Erst spähte das Mädchen nach allen Seiten in die Nacht hinaus, dann sperrte es die Tür ab. Für kurze Zeit stand es nur da, in die Jacke gehüllt, die Schultern hochgezogen. Der Wind vom Meer fing an, die Zweige der Büsche sanft hin und her zu bewegen, und Lasse konnte fast spüren, wie die Furcht des Mädchens wuchs. Am liebsten wäre er zu ihr hinübergelaufen, hätte ihr versichert: Non avere paura.Ich bring dich nach Hause. Doch genau das durfte er nicht.

Schließlich zupfte Randa das rosengemusterte Kopftuch zurecht und stieg zögernd die Stufen zum Vorplatz hinab. Zu Lasses Überraschung wählte sie den Weg nach Afrika anstatt den Zoo durch das näher liegende Haupttor zu verlassen. Sie ging schnell, schrak immer wieder zusammen, wenn der Wind die Sträucher zum Erzittern brachte oder ein besonders lauter Tierruf an ihr Ohr drang. Lasse folgte ihr in weitem Abstand.

Beim Gorillagehege blieb Randa stehen, sah sich um. Lasse glitt rasch hinter einen Pinienstamm, doch er fürchtete, das Mädchen habe die Bewegung bemerkt. Halblaut fragte sie etwas; er verstand die Worte nicht, aber er hörte das Beben in ihrer Stimme und das Mitleid mit ihr wurde fast übermächtig. Armes Mädchen, in einem Land, das nicht seine Heimat war, das die junge Schwarze, wie er vermutete, nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen hatte. Wo steckten ihre Eltern, befand sich ihre Familie? In dem Zuhause, das sie besser so rasch wie möglich aufsuchen sollte? Was hatte sie im Afrikabereich verloren, wo kürzlich ein Mensch ermordet worden war? Als sie weiterging, immer wieder angstvoll über die Schulter spähte, wurde Lasses Wunsch sie zu schützen stärker und stärker; die Vernunft jedoch zwang ihn, Sicherheitsabstand zu halten.

Die katzengleich leisen Schritte hinter sich vernahm Lasse den Bruchteil einer Sekunde zu spät: Ehe er sich umdrehen konnte, traf etwas seinen Hinterkopf, heftiger Schmerz schoss wie Feuer durch sein Bewusstsein – dann kam der Boden auf ihn zu.

Ich würde dir so gern ein Geschenk schicken, Sara, carìssima, wenn du nicht möchtest, dass ich selbst zu dir komme, tippte Luca und biss sich auf die Lippen. Ein junges Mädchen wie du hat bestimmt Wünsche und ich würde sie dir gern erfüllen, wenn du mich lässt. Er starrte auf den Computerbildschirm, auf dem der Cursor ungeduldig blinkte, rieb sich über die Stirn.

"Angela", flüsterte er den Namen seiner Frau, "Angela, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich möchte ihr alles sein, Vater und Mutter zugleich, aber wie soll ich das schaffen, wenn sie nicht mit mir redet?" Nach einer Weile zog er die oberste Schublade seines Schreibtisches auf, in die er das Bild seiner Frau gebettet hatte, weil er nicht ertragen konnte, es aufzustellen und ihr Lachen zu sehen, das viel zu früh erloschen war. "Was soll ich tun, Angela, was soll ich nur tun?" Er stützte den Kopf in die Hände. Was würde Angela ihm raten? Sie und Sara waren einander so nah gestanden, bestimmt hätte Angela, wenn sie noch lebte, eine Idee, was er machen könne. Nur dass, wenn sie nicht verunglückt wäre, diese entsetzliche Entfremdung zwischen Luca und seiner Tochter nie stattgefunden hätte.

Das Klingeln des Telefons, laut in der Stille, ließ Luca hochschrecken. Automatisch griff er nach dem Hörer, allerdings ohne ein Wort herauszubringen.

"Hallo?" Eine Frauenstimme. Für einen verrückten Moment hätte Luca beinahe gedacht, es sei Angela, die anrief um ihn zu trösten. Er unterdrückte den Impuls, sie um Hilfe zu bitten.

"Commissario? Ist das die Nummer von Commissario Manaro?"

"Sì. Certo." Um Fassung ringend, schob Luca die Schublade zu. Die Stimme kam ihm vage vertraut vor, aber in seinem Kummer befangen, konnte er sie nicht zuordnen.

"Ines Halima hier, Commissario."

"Oh!" Luca mühte sich, seine privaten Sorgen in den Hintergrund zu verbannen. "Dottoressa. Was kann ich für Sie tun?"

"Sissy … Sie ist unruhig. Will nicht schlafen. Sie versucht, mir etwas mitzuteilen."

"Moment! Sind Sie im Zoo? Um diese Zeit?"

Kurz darauf saß er im Auto, eine Speedtablette im Magen, die ihm helfen sollte, auf Touren zu kommen, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu funktionieren, wie es von einem Polizisten erwartet wurde. Der Alfa schoss aus der Stadt hinaus und erst jetzt dachte Luca daran, dass sein deutscher Kollege im Tierpark sein musste. Was hatte Lasses Gespräch mit der Putzfrau ergeben? Er hatte nicht angerufen. Nun, Luca konnte ihn kaum dafür tadeln, nachdem er den Mann erst kürzlich mit der Begründung, nachts seine Ruhe zu brauchen, aus der Wohnung geworfen hatte. Fast hätte Luca gelächelt. Wahrscheinlich pokerte Lasse darauf, dass der Commissario brannte zu erfahren, wie es mit Randa Matar gelaufen war, und ließ ihn absichtlich bis zum Morgen im Unklaren. Luca gestand sich ein, dass er sich Lasse gegenüber gelegentlich unfair verhielt, einfach, weil ihm dessen unbekümmertes Naturell fremd war.

Er ließ den Alfa vor dem Zoo stehen, wollte nicht im Innern des Geländes Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sicherheitshalber steckte er die Mini-Taschenlampe ein, die immer im Handschuhfach lag.

Ines Halima erwartete ihn vor dem Affenhaus.

"Was um alles in der Welt machen Sie hier, mitten in der Nacht?" Luca nahm ihren Arm, schob sie unzeremoniell in den Gebäudeeingang, während seine Blicke die Umgebung absuchten, nichts Verdächtiges feststellen konnten.

"Nach dem Einbruch – hab ich mir Sorgen gemacht." Ines zögerte. "Deshalb wollte ich bei Sissy schlafen."

"Ist Ihnen klar, dass Sie sich möglicherweise selbst in Gefahr bringen?"

"Sì, lo so." Sie zögerte. "Commissario, Sissy ist … jemand Besonderes. Sie hat Mitgefühl. Nicht nur für ihre Artgenossen. Sondern ebenso für die Menschen, denen sie begegnet."

Luca seufzte. Und erzählte ihr von seinem Plan, Sissy für die nächste Zeit woanders unterzubringen. "Leider kann ich nicht versprechen, dass es klappen wird."

Als die Tierärztin und der Polizist in ihr Zimmer traten, wandte die Schimpansin den Kopf. Ihr Blick glitt von Ines zu Luca und der Commissario fragte sich, ob die Bonobo ihn wiedererkannte. Ein paar Sekunden später sprang Sissy von ihrem Fenstersitz herab. Sie lief zu der Kiste mit den Pappkarten, suchte eine heraus, trug sie zu Ines. Unter einem abstrakten Symbol, das vage an zwei Hände erinnerte, las Luca das Wort amico – Freund. Fragend sah die Bonobo zu Ines.

"Ja, Sissy. Der Commissario ist dein Freund." Ines sagte es sanft. Eine Weile blickte Sissy wieder auf Luca, als müsse sie abwägen, ob sie Ines' Einschätzung trauen dürfe. Dann kehrte sie zu ihren Karten zurück.

Mann – tot las Luca die beiden Wörter, die die Bonobo als nächstes suchte. Enttäuscht seufzte er. "Pico. Das wissen wir bereits."

"Luigi?", fragte Ines die Schimpansin zweifelnd. Mann – tot. Die Bonobo nahm Ines die Karten ab, hielt sie Luca hin. Als der Commissario sie zögernd ergriff, holte Sissy eine dritte Karte: Aufstehen.

"Was will sie sagen? Möchte sie, dass Luigi Pico wieder lebendig wird?"

"Ich glaube nicht, dass sie es so meint …" Doch auch Ines schien ratlos. Plötzlich nahm Sissy die drei Karten wieder an sich, griff nach Lucas Hand, zog den Commissario zum Fenster. Mann – tot – aufstehen. Sie legte die Karten auf das Fensterbrett, ließ Luca los, schwang sich auf ihren Sitz und blickte demonstrativ in die Dunkelheit hinaus.

"Temo che … Commissario, ich glaube … vielleicht hat sie wieder was gesehen, heute Nacht."

Luca starrte die Ärztin an. "Einen auferstandenen Toten?"

"Ihr Wortschatz ist der eines kleinen Kindes. Sie kann nicht alles korrekt ausdrücken", verteidigte Ines ihren Schützling. "Aber … vielleicht sollten wir uns die Umgebung des Affengeheges mal ansehen?"

Luca trat neben Sissy. Die Bonobo streckte einen Arm aus, in Richtung des Wegs unter dem Affenhaus. Dem Commissario fiel auf, dass sie nicht wie ein Mensch mit einzelnen Fingern deutete, sondern mit der ganzen Faust. Er blickte zum Fenster hinaus, bewegt von widerstreitenden Gefühlen. Würde er am nächsten Tag in der Zeitung lesen, dass sich der ermittelnde Kommissar nachts zum Affen machen ließ? Oder durfte er Sissy, und vor allem Ines, trauen?

"D'accordo." Und dann tat Luca etwas, das ihn selbst überraschte: Er beugte sich zu der Schimpansin hinüber, wartete, bis ihre Blicke einander trafen und sagte: "Ich geh raus und werde den Mann suchen, Sissy."

"Ich komme mit." Ines Halima, in Khakihose und karierter Bluse, wollte zusammen mit ihm den Raum verlassen; Luca schob sie zurück.

"Das ist nicht Ihre Aufgabe, Dottoressa. Außerdem gefährlich." Zorn wallte in ihm auf. "Wo steckt überhaupt der Wachmann, der unten aufpassen sollte? Der Chef der Security hatte mir versprochen, diese Nacht jemanden extra für das Affenhaus abzustellen." In der Hoffnung, Lasse sei noch im Park unterwegs, griff der Commissario nach seinem Handy, doch das Klingeln des cellulares verhallte ungehört. Luca versuchte Lasses Festnetznummer, aber auch dort meldete sich niemand. Einen Moment erwog der Commissario, das Wachpersonal zuzuziehen, dann überlegte er es sich anders. Sollte die Bonobo ihn auf eine sinnlose Mission schicken, war es besser, wenn so wenige Leute wie möglich davon erfuhren.

Draußen, auf dem Weg, schien alles ruhig. Als Luca dicht an der Gebäudewand stand, alle Sinne auf seine Umgebung gerichtet, merkte er, wie stark die Illusion Afrikas um diese Zeit wirkte. Die scharfen Gerüche aus dem Gorillarevier mischten sich mit denen der Elefanten von gegenüber; irgendwo keckerte ein Affe im Halbschlaf, bellte eine Hyäne. Oder einer dieser gefleckten Wildhunde? Langsam setzte sich der Commissario in Bewegung. Was immer Sissy beobachtet hatte, musste sich im Blickkegel ihres Fensters abgespielt haben.

Zunächst untersuchte Luca den Platz vor dem Gorillagelände, wo Luigi Pico ermordet worden war. Nichts. Die Hand auf der Beretta, ging er weiter. Nein, da war nichts, so weit er sehen konnte. Luca spürte erneut Ärger aufsteigen. Er vergeudete seine Zeit. Wie hatte er so dumm sein können zu glauben, dass die Bonobo tatsächlich etwas Wichtiges mitzuteilen hätte! Wie ein Kind sei sie, hatte Dottoressa Halima erklärt, und wie ein Kind hatte sie unter einem schlechten Traum gelitten, einem Alptraum von Picos Ermordung etwa, und ihn hinterher als Realität interpretiert. Falls eine Schimpansin überhaupt interpretierte. Und er, Luca, fiel sofort darauf herein.

Der Commissario blickte zurück zum Affenhaus. Er konnte das dunkle Fenster sehen, aber nicht, ob Sissy hinter der Scheibe saß. Er war längst zu weit weg. Auch die Bonobo konnte vermutlich nicht viel weiter in die Dunkelheit hinausgesehen haben. Was bedeutete, dass er ruhigen Gewissens ins Bett gehen durfte.

Mit einer Mischung aus Zorn und Resignation kickte er einen Stein aus dem Weg. Der Kiesel kullerte ins Gras und als Lucas Blick ihm folgte, sah der Commissario etwas, das ihm vorhin entgangen war: ein kurzes Aufblitzen von Metall. Rasch blickte er sich um, trat an den Wegrand. Neben dem Stein etwas Schwarzes. Ein Schlüsselmäppchen. Mit einem sibernen Anhänger in Form einer Pistole.

Für einen Moment dachte Luca, sein Blut würde in den Adern stocken. Er kannte nur einen Menschen, der einen derartigen Anhänger an seinem Wagenschlüssel trug.

"Lasse?" flüsterte er in die Dunkelheit. "Lasse, sind Sie hier?"

Keine Antwort. Luca schaltete die Taschenlampe an. Und sofort fiel seinem geschulten Auge das niedergetretene Gras weiter hinten auf, das aussah, als habe ein Kampf stattgefunden.

Der Commissario zückte seine Beretta, sah sich noch einmal gründlich um. Und bemerkte oder glaubte zumindest, eine schattenhafte Bewegung am Ende des Weges zu bemerken.

"Stehenbleiben!" Automatisch umfasste Luca die Waffe fester. "Stehenbleiben oder ich schieße!"

Schritte auf Kies, ganz kurz, dann war der Schatten fort, alles still. Luca, die Waffe in der Rechten, ging langsam, sich nach allen Seiten sichernd, weiter. Als er den Punkt erreicht hatte, wo der andere gestanden haben musste, war nichts zu sehen. Rasch lief Luca zu dem Schlüsselmäppchen zurück. Mit Hilfe eines Ästchens schob er es, ohne es anzufassen, in eine der Spurensicherungs-Plastiktüten, die er stets bei sich trug. Die Beretta immer noch in der einen Hand, zog er mit der andern sein cellulare heraus, drückte die Kurzwahl der Questura.

"Hat sich Signor Wolafka bei euch gemeldet, am späten Abend oder in der Nacht?"

"Nein, Commissario." Die Stimme des Wachhabenden klang verschlafen. Luca gab Anweisung, ihn sofort zu verständigen, sobald die Polizisten etwas von Lasse hörten, versuchte dann Massimos Nummer.

"Commissario, wissen Sie, wie spät es ist?!"

Luca ging nicht auf die Frage ein, erkundigte sich stattdessen sofort nach Lasse. Auch bei Massimo hatte sich der deutsche Kollege nicht gemeldet.

"Dio, Commissario, was ist passiert?"

"Fahren Sie hinaus zum Zoo. Und bleiben Sie im Affenhaus, bis ich wieder anrufe." Luca steckte das Telefon ein. Vielleicht hatte Lasse den Schlüssel einfach verloren, als er ein Taschentuch suchte oder das eigene Handy. Es muss so sein, versuchte Luca sich selbst einzureden, aber die aufsteigende Furcht ließ sich nicht vertreiben. Schnell kehrte er zu Ines Halima zurück, die ihn besorgt musterte.

"Hat Sissy tatsächlich etwas beobachtet?"

"Möglicherweise ja." Luca ließ die Ärztin mit der Security telefonieren, einen der Wachleute herbestellen, der bis zu Massimos Eintreffen bei ihr warten sollte. Er selbst rief seine Schwester an.

"Arietta, du hast sicher einen Schlüssel zu Lasses Wohnung?"

Ihre Reaktion glich fast wortwörtlich der von Massimo. "Oddio, Luca! Ist was passiert?"

Sie wollte mitkommen, doch der Bruder verwehrte es ihr. "Das ist Polizeiarbeit, Cara." Er wollte nicht sagen, was er wirklich dachte. Entweder hatte Lasse den Schlüssel verloren und ein Taxi genommen oder aber dem Deutschen war etwas zugestoßen. In welchem Fall Luca eine leere Wohnung vorfinden würde.

Mann – tot – aufstehen. Wie war das zu interpretieren? Hatte der Zoomörder Lasse getötet? Und ihn dann hochgezogen, um den Leichnam an andrer Stelle zu entsorgen? Hatte Sissy gar nicht jemanden aus eigener Kraft aufstehen sehen, sondern das Fortschaffen eines Toten als Aufstehen bezeichnet? Luca schauderte bei dem Gedanken. Schuldbewusst erinnerte er sich daran, wie widerwillig er Lasse anfangs, als der Deutsche nach Italien gekommen war, in sein Team aufgenommen hatte. Doch der fröhliche Tedesco mit seinen Blödeleien und dem losen Mundwerk hatte sich rasch zu Lucas wertvollstem Mitarbeiter gemausert, nicht zuletzt wegen seiner Bereitwilligkeit, sich auf unorthodoxe, nicht mit Questore oder Staatsanwalt abgesprochene Ermittlungsmethoden einzulassen. Mann – tot – aufstehen. Wie konnte ein Toter aufstehen?

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783956070235
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Krimi Mord Polizei Ermittler Kommissare Italien Zoo Spannung Tod Fortsetzung Vergeltet wie auch sie vergalten Kriminalfall
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Titel: Der Zoo des schwarzen Gottes