
Kranichfrau
von
Kerstin Groeper
Seiten: (ca.) 476
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 2.9.2015
ISBN: eBook 9783956070358
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Seit ihrer Kindheit, hat die junge Indianerin Kranichfrau lieber mit Pfeil und Bogen gespielt und gejagt als sich den häuslichen Pflichten zu widmen, wie es sich für ein sittsames Blackfeet-Mädchen gehört. Doch Kranichfrau bleibt keine Wahl, als ihr geliebter Bruder bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den feindlichen Crow stirbt. Um zu überleben, muss sie ihre Freiheit aufgeben und die Ehefrau eines Stammesmitglieds werden. In einem letzten, verzweifelten Versuch, ihrem Schicksal zu entfliehen, bittet Kranichfrau den Sonnenhäuptling um göttlichen Beistand und hat eine überraschende Vision: Sie soll von nun an als Krieger leben und den Tod des Bruders rächen. Voller Eifer macht sich die junge Frau daran ihre Bestimmung zu erfüllen – und wird im Kampf gegen die Crow schwer verwundet. Als sie nach langer Krankheit erwacht, muss sie feststellen, dass sie sich in der Gewalt des Lakota-Kriegers Nata-He-Yukan befindet, der nichts unversucht lässt, um den Willen seiner schönen Gefangenen zu brechen. Doch aus dem anfänglichen Hass wird Freundschaft und aus Freundschaft Liebe... Plötzlich steht Kranichfrau vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens: Soll sie auf ihr Herz hören und bei dem Mann bleiben, den sie liebt oder muss sie zu ihrem Volk zurückkehren und den Weg der Rache gehen?
Details
- Titel
- Kranichfrau
- Untertitel
- Die Geschichte einer Blackfeet-Kriegerin
- Autor
- Kerstin Groeper
- Seiten
- 476
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Preis (eBook)
- 5,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956070358
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Kerstin Gröper
Kranichfrau
Die Geschichte einer Blackfeet-Kriegerin
Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München
Originalausgabe © 2010 bei Traumfänger Verlag, Hohenthann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-035-8
Inhaltsverzeichnis
Die Pecuni
(Nördliches Montana, 1830)
Kranichfrau starrte fassungslos auf ihren toten Bruder. Steif lag er vor ihr, verschmiert mit getrocknetem Blut. Ein tiefer Schnitt zog sich über seine Kehle, die ihm ein Krieger vom Stamm der Crow durchgeschnitten hatte. So war das also! Sein junges Leben beendet in seinem ersten Kampf gegen die Feinde. Nur drei seiner Freunde waren von dem Kriegszug zurückgekehrt, drei von acht jungen Pecuni-Kriegern, die ausgezogen waren, um Ruhm zu ernten. Klageschreie drangen aus den anderen Zelten, aber Kranichfrau war still. Zu tief saß der Schock über den Tod des Bruders. Warum nur?
War er nicht gut auf den Kampf vorbereitet worden? Hatte seine Medizin versagt? Hatte er nicht genügend gebetet? War der Sonnenhäuptling so erzürnt über ihn gewesen, dass er ihm seinen Schutz versagt hatte?
Mit zitternden Händen begann sie ihren Bruder zu waschen, rieb geduldig das getrocknete Blut von seinem Gesicht. Dann zog sie ihm die verdreckte Kleidung aus. Sie musste sein Hemd aufschneiden, denn seine Arme waren bereits steif und so konnte sie ihm das Gewand nicht über den Kopf ziehen. Vorsichtig knüpfte sie die Knoten an den Fransen seines besten Kriegshemdes auf und legte ihm die saubere Kleidung an. Dann bückte sie sich über den Körper und knüpfte das Hemd unter den Achseln wieder zusammen. Ihr Bruder sollte nur mit seinen besten Sachen ins Jenseits ziehen.
Es dauerte lange, bis er vollständig bekleidet war. Zärtlich bemalte sie sein Gesicht mit roter Farbe, dann wickelte sie ihn in eine schöne Schwarzhornrobe.
Apathisch ruhten ihre Hände in ihrem Schoß, jetzt, wo es nichts mehr zu tun gab.
Ihre Gedanken flogen. Was würde jetzt aus ihr werden? Ohne Mutter und Vater? Ihr Bruder hatte sie versorgt, denn noch wollte sie nicht im Zelt eines Mannes wohnen, fühlte sich noch nicht bereit, die Pflichten einer Ehefrau zu übernehmen. Jetzt blieb ihr wohl keine andere Wahl mehr!
Zwei Krieger steckten ihre Köpfe in das Zelt und blickten sie abwartend an. Sie machte eine hilflose Geste mit ihrer Hand, erlaubte ihnen den Leichnam hinauszutragen. Dann bemalte sie ihr Gesicht mit weißem Lehm und schnitt ihre langen Haare bis auf Schulterlänge zurück. So zeigte sie ihre Trauer um den Bruder.
Leiser Klagegesang erklang von draußen und mit steifen Beinen erhob sie sich, um sich den Trauernden anzuschließen. Langsam bewegte sich der Zug zu den nahen Bäumen und regungslos nahm sie wahr, wie ihr Bruder in einer Astgabel bestattet wurde. Ihre großen Augen sahen ausdruckslos zu ihm auf, keine Tränen sammelten sich in ihnen, denn sie wollte nicht weinen. Sie brauchte keine Tränen, um ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Sie wollte Rache!
Mit festem Schritt ging sie in ihr Tipi zurück und setzte sich an die erloschene Feuerstelle. Dort hing sie ihren Gedanken nach, kaute unablässig an ihren Lippen. Mit ihrem weiß bemalten Gesicht, aus dem nur die großen, fast schwarzen Augen leuchteten, und den blutroten geschwungenen Lippen wirkte sie wie ein klappriger Geist, der bereit war, die Träume der Schlafenden heimzusuchen.
Eine ältere, rundliche Frau mit gutmütigem Gesicht, ebenso mit weiß bemalter Stirn als Zeichen der Trauer, steckte den Kopf herein. Es war Zedernsängerin, ihre Tante, die sich um ihre Nichte sorgte. Doch Kranichfrau winkte energisch ab, wollte die Tante verscheuchen, wie man einen schlechten Traum wegwischt. Sie wollte keinen Trost, niemand konnte ihr den Bruder wieder zurückgeben.
Trotzdem setzte sich die beleibte Tante schnaufend auf den Platz neben ihr. „Ich verstehe deine Trauer, aber du musst jetzt bei uns wohnen!“ Es war keine Einladung, sondern ein Befehl.
Natürlich war es unmöglich, dass ein unverheiratetes Mädchen allein lebte. Sie nickte gehorsam. Ihr Onkel war jetzt für sie verantwortlich und würde entscheiden, was für sie am besten war.
„Liebe Tante, ich komme gleich“, murmelte sie leise.
„Lass dir Zeit, mein Kind.“
Dankbar blickte Kranichfrau ihrer Tante hinterher. Sie wollte noch ein wenig ihren Gedanken nachhängen, in Ruhe ihre Habseligkeiten packen. Traurig sah sie sich in dem Zelt um, das so lange ihre Heimat gewesen war. Wie ein Schattenspiel bewegten sich die bemalten Zeltwände im ewigen Wind und verliehen den Tierfiguren ein lebendiges Aussehen. Die Zeichnungen der Otter hatten sie stets beschützt. Jetzt würde das Tipi ihrem Onkel und ihrer Tante gehören, zumindest solange, bis sie heiratete.
Mit einem tiefen Seufzer begann sie methodisch ihre Sachen zu packen. Die meisten Dinge lagen sowieso ordentlich verstaut in ihren bunten Taschen.
Schweren Herzens ging sie zu dem Zelt ihres Onkels.
Das weiß schimmernde Gesicht ihres Onkels glänzte ihr ebenso traurig, aber auch ein wenig unwillig entgegen. Im Gegensatz zu seiner Frau wirkte der Körper ihres Onkels geradezu asketisch. „Willkommen in meinem Zelt. Du hättest schon längst bei mir wohnen sollen!“ Der Vorwurf war deutlich zu hören.
„Ja, Onkel“, antwortete sie, ohne ihre Stimme zu heben. Sie hatte nicht die Kraft schon wieder mit ihrem Onkel über dieses Thema zu streiten.
„Wenn deine Trauerzeit beendet ist, werden wir dir einen guten Ehemann suchen!“, versuchte er sie aufzuheitern, aber genau diese Worte wollte sie eigentlich nicht hören.
„Jetzt lass sie doch erst mal!“, schimpfte ihre Tante resolut. Betreten senkte der Mann seinen Kopf. Eigentlich wurde von ihm als Medizinmann mehr Rücksichtnahme erwartet. Er seufzte tief, als er in Trauer die Augen schloss. Auch er litt unter dem Verlust seines Neffen. „Zu viele junge Männer haben ihr Leben gelassen! Wir werden einen großen Kriegszug schicken, um es den Crow heimzuzahlen! Auch ich werde reiten, um deinen Bruder zu rächen!“
Kurz leuchteten die Augen in dem Gesicht des Mädchens auf. Ja, ihr Onkel würde ihren Bruder rächen! Das waren die Worte, die sie hören wollte, die sie fest in ihrem Herzen aufnahm. Mit plötzlicher Hochachtung ruhten ihre Augen auf ihrem Onkel, denn er war Medizinmann, ein Bewahrer des heiligen Biberbündels, längst dem Alter entwachsen, in dem er noch auf Kriegszüge ging. Seine Stirnhaare waren zu einem dicken Knoten zusammengebunden, in dem einige rote Federn steckten, Zeichen seiner hohen Würde, aber eigentlich konnte man es eher mit einem Vogelnest vergleichen. Seine Stirn war wie bei Zedernsängerin mit weißem Lehm eingeschmiert, die Haare bis auf Schulterlänge gekürzt. Ferner-Bär wurde er gerufen. Bär wegen seiner Stärke und Kraft, Fern, weil er ein Vielgesichtsmann war, einer, der Visionen hatte und Verbindungen zur Geisterwelt unterhielt.
Kranichfrau breitete ihre Decken neben den zwei Töchtern von Ferner-Bär aus und verstaute mit ruhigen Bewegungen ihre Taschen an der Zeltwand, dann versank sie in ihren Gedanken.
Die nächsten Tage vergingen für Kranichfrau wie im Traum. Nur von fern vernahm sie die Geräusche in dem Zelt, gleichmäßig plätscherten die Stimmen der Familie ihres Onkels dahin, für sie ohne Bedeutung.
Wie ein Geist saß sie da, unfähig etwas zu tun. Die beiden Mädchen im Alter von acht und zwölf Wintern machten einen Bogen um sie, denn das ausdruckslose Gesicht ihrer Cousine flößte ihnen Angst ein. Schließlich machte ihre Tante dem ein Ende, indem sie ihr einfache Aufgaben übertrug: „Bitte, hole mir doch Wasser!“, oder, „Bitte, hole mir doch Holz!“
Unwillig und nicht bereit in ihren Träumen gestört zu werden, machte sie sich jedes Mal auf den Weg, vergaß manchmal nach einigen Schritten, was sie eigentlich tun sollte. Dann ging sie wie abwesend durch das Dorf, geistig und körperlich entrückt. Mitleidige Blicke begleiteten sie und manchmal führte eine Frau das Mädchen zurück zu ihrem Zelt.
Zedernsängerin machte sich Sorgen um ihre Nichte. Immer wieder sprach sie mit ihrem Mann über das hohlwangige Mädchen: „Sie muss auf andere Gedanken kommen. Vielleicht wäre eine Ehe gut für sie?“
Nur zu gern willigte Ferner-Bär ein: „Vielleicht, aber im Moment sieht sie nicht gut aus. Wer sollte um sie werben?“
„Sie magert zu sehr ab, warum redest du nicht mit ihr?“
„Du bist doch die Frau! Du findest bestimmt treffendere Worte als ich.“
Scherzhaft schlug ihm seine Frau auf die Schulter und meinte: „Du bist der Onkel!“
„Ai!“ Seine runzeligen Züge verzogen sich zu einem freundlichen Grinsen. Selbst als Medizinmann war er in seinem eigenen Zelt zuerst einmal Ehemann und Vater.
Drei Tage schlich Ferner-Bär um das junge Mädchen herum und suchte nach einer passenden Gelegenheit, um mit seiner Nichte zu reden. Schließlich packte er sie am Arm und führte sie zu einem umgestürzten Baum. „Komm, ich will mit dir reden!“
Mit gesenktem Kopf setzte sich Kranichfrau neben ihren Onkel und wartete ab.
„Fühlst du dich wohl bei uns?“, fragte Ferner-Bär umständlich.
Kranichfrau nickte fast unmerklich. „Ja, eure Gegenwart spendet mir Trost.“
Ferner-Bär schluckte schwer. „Ich möchte mit dir über deine Zukunft reden.“
„Meine Zukunft?“
Sie hatte keine Zukunft, sie lebte in der Vergangenheit.
„Ja, denkst du nicht manchmal an eine eigene Familie?“
„Nein!“, kam es knapp und kurz von seiner Nichte.
„Aber du zählst siebzehn Winter! Es wird Zeit für dich, nach einem Mann Ausschau zu halten!“
„Das ist nicht mein Weg!“, wehrte sie ab.
„Nicht dein Weg? Was ist dann dein Weg?“, bohrte er nach.
„Ich weiß nicht“, wich sie aus.
„Du weißt es nicht?“ Langsam verlor der Onkel die Geduld. Das seltsame Verhalten seiner Nichte ging über seinen Verstand, trotz ihrer Trauer. Ihr Vater hatte sie als Lieblingskind behandelt, ihr immer wieder Sonderrechte eingeräumt, und auch ihr Bruder hatte diese Tradition nach dem Tod des Vaters fortgesetzt. Solche Kinder galten als schwierig, hielten sich nicht an überlieferte Traditionen, doch auch sie hatten ihren Platz in der Gesellschaft.
„Ach, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich einen anderen Weg beschreiten muss.“
Nachdenklich lehnte sich der Onkel ein wenig zurück, dann warf er einen unsicheren Blick auf seine Nichte. Ihr fast knabenhafter Körper, ausgehungert von der langen Trauer, wirkte nicht besonders einladend auf Männer. „Vielleicht solltest du dich in die Einsamkeit zurückziehen und beten? Vielleicht erhältst du dann eine Antwort?“, fragte er vorsichtig.
Ihr spitzes Kinn zitterte. Jetzt, als sie so dicht neben ihrem Onkel saß, war deutlich die Familienähnlichkeit zu sehen.
„Vielleicht. Würdest du dann diese Antwort achten?“
„Du bist meine Nichte. Wenn du eine Antwort auf deine Fragen bekommst, so werde ich dir nicht im Wege stehen!“
„Dann ist es gut. Ich werde beten!“
Mit einer leichten Geste erlaubte Ferner-Bär dem Mädchen sich zu entfernen und schaute ihr nach. Er hatte dabei ein mulmiges Gefühl im Bauch. Was sie jetzt wohl vorhatte?
Seine Nichte war wirklich schwierig. Anders herum, sagten die Frauen. Meistens arbeitete sie mit ihrer linken Hand, obwohl ihre Mutter versucht hatte, ihr das abzugewöhnen. Selbst bei ihren ersten Riten hatte sie mit ihrer linken Hand gestickt, und die Frauen hatten den Kopf geschüttelt.
Anders herum! Wie sehr hatte Kranichfrau die Belehrungen bei ihrer ersten Menstruation gehasst, aber nur gut unterwiesene Mädchen durften Quillarbeit machen, sonst würden sie erblinden. Sie wollte überhaupt nicht sticken, sondern viel lieber mit ihrem Bruder jagen gehen. Ihr Bruder, jetzt war er tot!
Am nächsten Morgen war Kranichfrau verschwunden.
Beunruhigt wandte sich Ferner-Bär an seine Frau: „Wohin ist Kranichfrau gegangen?“
Zedernsängerin legte sich die dünnen Zöpfe hinter ihre Ohren und blinzelte verlegen. „Sie wollte um eine Vision beten. In einigen Schlafen ist sie zurück!“
„Aber sie ist doch viel zu schwach für ein solches Unternehmen!“, ärgerte sich Ferner-Bär. Eigentlich fühlte er sich schuldig, weil er ihr diesen Vorschlag gemacht hatte. Aber wie hätte er ahnen können, dass dieses widerspenstige Kind sofort aufbrach!
„Offensichtlich nicht, denn sie ist gegangen“, bemerkte die Tante ruhig und vertiefte sich wieder in ihre Näharbeit.
Kopfschüttelnd trat der Mann aus dem Zelt und blickte in die Ferne. Wohin seine Nichte wohl gegangen war? Eine Visionssuche war schon für gesunde Menschen anstrengend, aber Kranichfrau war alles andere als geistig und körperlich stark. Besorgt holte er sein Pferd und machte sich auf die Suche.
Kranichfrau saß in einem kleinen Tal und betete zu dem Sonnenaufgang. Sie hatte keine Augen für die Schönheit des erwachenden Morgens, sondern flehte inbrünstig um die Gnade einer Vision: „Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich weiß nicht, wohin ich gehe! Hilf mir, meinen Weg zu finden!“
Unablässig flüsterte sie die kurzen Sätze, bat um eine Vision, die ihr sagte, wie sie weiterleben konnte. In der Ferne leuchteten schemenhaft die Berge, „Das Rückgrat der Welt“, wie ihre Leute sie nannten. Darüber tanzten Wolkenfetzen, die sich wie die Schaumkronen einer riesigen Welle auf sie zu bewegten. Am liebsten wollte sie darin versinken, für immer in diesem weichen Nebel verschwinden.
Am ersten Tag war sie noch bei klarem Verstand, achtete auf das Vogelgezwitscher in der näheren Umgebung, ob die gefiederten Freunde ihr etwas sagen wollten.
Leise singend schaukelte sie mit erhobenen Augen hin und her, flehte inbrünstig um eine Erleuchtung. Selbst als die kalten Finger der Nacht nach ihr griffen, hielt sie nicht inne. Zitternd vor Kälte sang sie heiser ihr Visionslied. Am nächsten Tag bereits rebellierte ihr geschwächter Körper gegen den Hunger und Durst. Grelle Blitze flimmerten vor ihren Augen und ihre Zunge lag geschwollen wie ein Fremdkörper in ihrem Mund. Fast unhörbar krächzte sie ihr Lied, wie in Trance schaukelte sie unablässig hin und her, nahm längst ihre Umwelt nicht mehr wahr. Erinnerungsfetzen stiegen in ihr hoch, Bilder aus ihrer frühen Kindheit, als ihr Vater sie maßlos verwöhnt hatte. Sie war das dritte Kind gewesen, das ihm geboren worden war. Eine ältere Schwester war bereits gestorben, und so steckten die Eltern alle Liebe in diese Tochter. Selbst ihr Bruder widmete sich hingebungsvoll dieser kleinen Schwester, lehrte sie Bogenschießen und Reiten. Warum musste ihr Leben eine solche Wendung nehmen? Ihr die Eltern, die Schwester und dann noch den geliebten Bruder nehmen? Was hatte der Sonnenhäuptling für sie vorgesehen? Welches Schicksal ihr zugedacht?
Die rote Nachtflamme zeigte sich am Firmament, ließ das Sternbild der Sieben Menschen fast verblassen. Wo war der Wolfspfad, wo der Stern, der still steht? Alles verschwamm um sie herum und kraftlos kippte sie auf die Seite.
In der Nacht bekam sie hohes Fieber und hatte längst nicht mehr die Kraft ins Dorf zurückzukehren. Hilflos lag sie am Boden, wurde von Fieberträumen geschüttelt. Ameisen krabbelten über ihr Gesicht und im Unterbewusstsein wollte sie sich dem schwarzen Nichts ergeben, das nach ihr griff.
Dann tauchte vor ihr plötzlich das lächelnde Gesicht ihres Bruders auf, der sich über sie beugte. Es war so klar und deutlich, dass sie glaubte, er wäre da. Sie wollte ihn begrüßen, doch ihr ausgetrockneter Mund brachte keinen Ton heraus. Er bewegte seine Lippen und mühsam versuchte sie, sich darauf zu konzentrieren, was er sagte. Es war so wichtig!
Langsam verschwand ihr Bruder und verzweifelt griff sie nach ihm, wollte ihn nicht fortlassen. Ein letztes Mal lächelte er, drückte ihr seinen Bogen in die Hand, dann wurde seine Stimme klar: „Tötet-die-Crow, folge meinem Weg!“, beschwor er sie, ehe seine Umrisse verblassten.
Sie spürte nicht mehr, wie eine Hand die Ameisen von ihrem Gesicht wischte, ihr Körper sanft hochgehoben und nach Hause getragen wurde. Traumlos schlief sie in dem Zelt ihres Onkels, schluckte benommen den Tee, der ihr vorsichtig eingeflößt wurde.
Sie fühlte sich um vieles gealtert, als sie endlich die Augen aufschlug und die freundlichen Gesichter ihrer Tante und ihres Onkels über sich erblickte.
„Wie komme ich hierher?“, fragte sie benommen.
„Haijah, du wärst eine leichte Beute für die Ameisen gewesen!“, meinte Ferner-Bär tadelnd, aber seine feuchten Augen verrieten, welche Sorgen er sich um seine Nichte gemacht hatte.
Sie schloss müde die Augen. Was redete er da? Sie konnte sich an keine Ameisen erinnern. Eine Schale berührte ihre Lippen und sie schlürfte hungrig die lauwarme Suppe.
„Onkel“, murmelte sie erschöpft, „ich hatte einen seltsamen Traum!“
„So? Möchtest du ihn mir erzählen?“
Sein spitzes Kinn berührte fast ihre eingefallene Wange, als er sich niederbeugte, um ihre schwache Stimme zu vernehmen.
„Ja! Ich träumte von meinem Bruder. Er lachte und es war so schön, ihn wiederzusehen. Ich wollte ihn nicht weglassen, wollte ihm folgen in die Sandhügel!“ Zögernd hielt sie inne, als sie an den deutlichen Traum dachte.
„Gut, dass du es nicht getan hast!“, seufzte ihr Onkel, ehrlich betroffen.
„Er nannte mich Tötet-die-Crow. Er hat mir seinen Bogen gegeben und mich gebeten, dass ich seinem Weg folge!“
Entsetztes Schweigen herrschte nach ihren Worten und die Tante schlug sich die Hand vor den Mund.
Ihr Onkel fing sich als Erster: „Das ist eine starke Vision!“
Sie nickte nur mit dem Kopf und schloss wieder erschöpft die Augen, während Ferner-Bär sich nachdenklich zurücklehnte. Prüfend musterte er seine Nichte, runzelte die Stirn über ihr
knabenhaftes Aussehen. War das ihr Weg? Manchmal wählten Frauen von sich aus wie ein Krieger zu leben, Frauen, mit dem Herzen eines Mannes. Vielleicht war sie eine solche Frau? Ihre Vision konnte nicht ignoriert werden. Der Sonnenhäuptling hatte ihren Weg gewählt und es wäre falsch, ihm nicht zu gehorchen!
„Onkel?“
„Ja?“
„Was bedeutet dieser Traum?“
Ferner-Bär schloss die Augen, seine Stimme wurde ernst. „Ich kenne nun deinen Weg. Du wirst wieder in deinem Zelt leben, als Krieger. Ich werde allen sagen, dass du nun mein Neffe bist und Tötet-die-Crow heißt.“
„Bin ich nun ein Mann?“
Ferner-Bär zögerte sichtlich. „Das wird der Sonnenhäuptling entscheiden. Dein Bruder gab dir seinen Bogen, damit du ihn rächst. Wir werden beide gegen die Crow ziehen, wenn du soweit bist. Wenn du deinen Bruder gerächt hast, wirst du wissen, was deine Bestimmung ist.“
Beruhigt schloss Kranichfrau die Augen. Morgen würde sie als Tötet-die-Crow aufwachen und ihr neues Leben beginnen.
Sie war oft mit ihrem Bruder zur Jagd gegangen, hatte wissbegierig seinen Worten gelauscht, fast wie ein kleiner Bruder. Jetzt würde sie dieser kleine Bruder sein. Selbst wenn sie nicht den Körper eines Mannes hatte, so würde sie doch wie ein Krieger leben. So ein großer Unterschied zu ihrem Leben vorher war das nicht, denn alle Mädchen lernten Bogenschießen, damit sie sich gegen Feinde verteidigen konnten. Wie oft hatte ihr Onkel missbilligend die Stirn gerunzelt, wenn sie eher wie ein Junge herumtobte, anstatt sittsam bei ihrer Tante zu sitzen und nähen zu lernen. Aber die Erziehung sah Strafen nicht vor, wenn sie einfach von ihren Arbeiten verschwand, um mit ihrem Bruder zur Jagd zu gehen. Manchmal hatten sie über dessen Verantwortungslosigkeit geschimpft, ihn gebeten das Mädchen in ihr Zelt zu geben, damit sie auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet wurde. Aber ebenso stur hatte er dies abgelehnt: „Kranichfrau bleibt bei mir! Sie wird schon lernen, was sie später einmal braucht. Sie ist ja oft genug bei ihrer Tante!“
„Ja, aber jedes Mal, wenn sie gerben oder nähen soll, verschwindet sie mit dir!“
Ihr Bruder hatte nur gelacht und seine Schwester mit einem Zwinkern eingeladen ihm zu folgen. Oh, wie hatte sie ihn geliebt und ihm nachgeeifert! Jetzt würde sie in seine Fußstapfen treten!
Die Frauen im Dorf waren entsetzt. Ein Mädchen, das wie ein Mann leben wollte! Sie fürchteten den schlechten Einfluss auf ihre Töchter und redeten auf die Tante ein, diesen Unsinn zu unterbinden. Auch die Tante wehrte sich mit Händen und Füßen, fürchtete um ihren Einfluss bei den Frauen und um den Status ihrer Familie.
„Wie kannst du uns nur so etwas antun?“, schimpfte sie mit ihrem Mann.
„Denk doch an unsere Töchter! Ich möchte nicht, dass sie ebenso werden! Alle werden über uns reden!“
„Sie hatte eine Vision! Das kann ich doch nicht ändern!“, verteidigte sich Ferner-Bär.
„Aber sie kann doch nicht als Mädchen allein in einem Zelt
leben!“
„Sie lebt neben uns und außerdem ist sie jetzt ein Krieger!“
„Ein Krieger!“, zischte die Tante empört, ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. „Sie sieht wahrlich nicht aus wie ein Krieger!“
„Dann nähe ihr eben Männerkleider!“
„Ai, wenn sie ein Krieger ist, dann kann sie sich ja selbst Männerkleider nähen!“ Ganz bestimmt wollte die Tante diesen Weg nicht auch noch unterstützen. Wutentbrannt schob sie ihre breiten Hüften an ihm vorbei und stürmte aus dem Zelt, schimpfte leise murmelnd vor sich hin.
Also nähte sich Tötet-die-Crow einfache Männerkleider, und ihr Onkel lehrte sie, wie man Pfeil und Bogen herstellte. Außerdem fertigte er ihr ein Medizinschild, den er mit dem Zeichen der Sonne verzierte. „Der Sonnenhäuptling gab dir diese Vision, also wird er dich auch beschützen!“, lächelte er.
Trotzdem wurde sie immer wieder daran erinnert, dass sie im Grunde eine Frau war. Weit vor dem Sonnenaufgang ging sie zu dem Badeplatz der Frauen, um sich zu waschen.
Natürlich tuschelten die Frauen über ihr ungehöriges Benehmen, und so wich sie ihnen aus. Trotzdem blühte sie auf in ihrer neuen Kleidung, lebte ungebunden und ohne die Zwänge, die sonst jungen Mädchen auferlegt waren.
Die Männer behandelten sie nach anfänglichem Zögern wie einen der Jungen, der sie bald auf dem Kriegszug begleiten würde. Doch oft war sie auch das Opfer derber Späße, obwohl sich diese Späße selten gegen ihre Weiblichkeit richteten, sondern eher gegen ihre Unwissenheit, wie bei allen anderen Jungen auch.
Unter diesen Gleichaltrigen fand sie noch am ehesten wirkliche neue Freunde, die fast vergaßen, dass sie ein Mädchen war.
Wiesel-gefangen-am-Schwanz oder Freund-der-Otter wurden gute Freunde, maßen sich mit ihr in vielen Wettkämpfen. Im Laufen hielt sie locker mit, aber im Ringen war sie selbst diesen gleichaltrigen Jungen hoffnungslos unterlegen. Manchmal verlor sie den Mut, wenn sie übersäht mit blauen Flecken an ihrem Feuer saß, aber dann besann sie sich auf ihre Stärken. Sie konnte den Bogen genauso gut wie die anderen spannen, und wenn ihre Treffsicherheit zunähme, wäre sie ein gefährlicher Gegner. Nur den Kampf Mann gegen Mann musste sie vermeiden, solange sie noch einen so mädchenhaften Körper hatte! Sie stählte ihren Körper, damit sie eines Tages stark genug war, um ihren Bruder zu rächen. Sie glaubte fest an ihre Vision, hatte ein großes Vertrauen darauf, dass der Sonnenhäuptling sie beschützen würde. Solange sie sich nicht den Gefühlen einer Frau hingab, konnte ihr nichts geschehen.
Aber sie hatte den Körper einer Frau, und auch bei ihr setzte regelmäßig die Monatsblutung ein, die sie in ihr Zelt verbannte. Bei einem Kriegszug wäre das ein Problem, denn dann musste sie abseits der Männer reiten, damit sie nicht deren Kraft schwächte. Wäre sie doch nur als Junge geboren worden!
Ohne sich um die missbilligenden Blicke der Frauen zu kümmern, ging sie zur Jagd. Sogar ein Schwarzhorn, wie ihr Volk die Büffel nannte, hatte sie bereits erfolgreich erlegt, obwohl ihr Onkel ihr noch nicht erlaubte auf die große Treibjagd mitzugehen. Aber das war auch den anderen Jungen verboten.
Kranichfrau versorgte umsichtig ihren Büffelläufer, eigentlich ein Pony, das Ferner-Bär ihr geschenkt hatte, und gewöhnte es an ihre Schenkel. Letztendlich musste sie sich bedingungslos auf ihr Pony verlassen können, wenn es zum Kampf kam. Sie arbeitete gern mit dem Pony, denn im Gegensatz zu den Männern spielte es keine Streiche mit ihr. Überschwänglich lobte sie es, als sie sich eines Nachmittages von seinem Rücken gleiten ließ und es schweißgebadet zum Stehen kam.
„Komm, genug für heute!“, tätschelte sie es, dann tauchte sie in den kühlen Fluten des nahen Bärenflusses unter und ließ sich eine Weile treiben. Die Kälte ging ihr durch und durch und frierend kletterte sie wieder ans Ufer.
Verärgert fing sie den spöttischen Blick eines fremden Mannes ein, der zweifelsfrei ihren fraulichen Brüsten galt und zischte ihn böse an: „Was grinst du so frech!“
Der Krieger zuckte nur die Schultern und meinte: „Gleichgültig wie gut du reitest, du wirst immer eine Frau bleiben!“
Wütend zog sie das Hemd über und legte den Lendenschurz um, doch dann traf sie die Wahrheit seiner Worte. Sie würde immer in diesen fraulichen Körper stecken! Mit trauriger Stimme drehte sie sich zu ihm um: „Du hast Recht. Wie sehr beneide ich dich, denn du hast den Geist eines Mannes und den Körper eines Mannes! Mein Geist dagegen steckt für immer in diesem Körper einer Frau! Doch ich kann mein Schicksal nicht ändern, sondern muss mit dem zufrieden sein, was der Sonnenhäuptling für mich vorsieht.“
Verlegen senkte der Mann die Augen und machte eine entschuldigende Bewegung mit der Hand. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wünschte nur, dass das Schicksal einen einfacheren Weg für dich gewählt hätte, denn du wärst eine wundervolle Ehefrau für jeden Mann dieses Dorfes! Das ist alles!“
Sie lächelte freundlich und strich sich die feuchten Haare aus dem Gesicht. „Nun, so werde ich eben ein wundervoller Kampfgefährte, meinst du nicht?“
Schallendes Gelächter antwortete ihr, doch dann wurden seine Augen ernst. „Ich bin Zwei-Pferde, du kannst mir gern den Rücken freihalten, wenn wir in den Kampf ziehen!“
Ihre Brust schwoll vor Stolz, dann richtete sie ihre feurigen Augen auf ihn. „Ai, du reitest mit?“
Sein Gesicht verdunkelte sich merklich: „Ja, auch ich habe einen Bruder durch die Crow verloren, und meine Schwester haben sie entführt. Ich habe wahrlich Grund genug, die Weiber der Crow zum Weinen zu bringen!“
Kurz streiften ihre Augen die schlanke Gestalt des Mannes. Er hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder: langes offenes Haar, einige Lachfalten um seinen Mund und schwarze Augen, in denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten. Eigentlich sah er ganz nett aus, musste sie sich eingestehen, aber auf so etwas durfte sie jetzt nicht mehr achten. Allein seine Kampfkraft zählte.
„Wir werden uns wiedersehen!“, verabschiedete sie sich und sprang gewandt auf ihr Pony.
In den nächsten Tagen trafen sich die Krieger in dem großen Versammlungszelt und berieten über den kommenden Kriegszug. Hitzige Reden über die Grausamkeit der Crow stachelten alle an und sie waren sich einig darüber, dass die Feinde eine harte Strafe verdienten. „Nie wieder darf sich ein Crow in unsere Jagdgründe trauen!“
„Wir müssen so hart zuschlagen, dass sich ihre Weiber und Kinder nicht mehr aus den Zelten wagen, wenn sie unseren Namen hören!“
„Wir werden so viele unserer Feinde töten, dass ihre Weiber noch lange um ihre Männer trauern!“
„Wir sollten ihre Frauen am besten gleich mitnehmen, damit sie nicht verhungern müssen!“, spottete ein anderer Krieger und löste schadenfrohes Gelächter aus.
„Ja, und dann gebären die Crowfrauen unsere Kinder!“
In den Zelten senkten die Frauen beschämt die Köpfe, denn ihnen blühte das gleiche Schicksal, wenn ein übermächtiger Gegner ihr Dorf überfiel. Viele verabscheuten den Krieg und sahen es nicht gern, wenn ihre Männer auszogen, Tod und Verderben über andere zu bringen. Die Blackfeet, aufgeteilt in drei große Untergruppen aus Pecuni, Siksika und Kaihnah, waren die größte Macht auf den nördlichen Plains, ihre Jagdgründe reichten von dem Missouri-Fluss im Süden bis weit über den Saskatchewan im Norden. Grundsätzlich kämpften sie gegen alle Nachbarstämme, aber mit den Crow verband sie seit Langem ein unversöhnlicher Hass.
Die Lakota
(Gebiet des Little-Bighorn-Flusses)
Nata-He-Yukan ging schnellen Schrittes durch das Dorf, dessen Zelte verstreut an der Biegung eines Flusses lagen. Er strotzte vor Selbstbewusstsaein, und sein ausholender Gang verriet, wie stolz sein Volk auf ihn sein konnte. Nata-He-Yukan, Kopf mit Hörnern, allein der Name besagte schon, dass er sich Respekt verschaffte. Niemand legte sich ungestraft mit ihm an. Aber warum auch? Bei seinem Volk, den Oglala-Lakota, die ihre Jagdgründe, mehr oder weniger, zwischen dem Platte-Fluss im Süden und dem Yellowstone im Norden sahen, galt er als guter Jäger und viel versprechender junger Kämpfer.
Sein ganzer Körper spiegelte sein kriegerisches Leben: schlank und groß, wie alle seines Volkes. Seine offenen tief-schwarzen Haare fielen ihm bis ins Kreuz, als Haarschmuck trug er den Roach seines Kriegerbundes: eine ovale Platte, gefertigt aus dem Brustbein des Hirsches, an dem senkrecht schwarzes Pferdehaar und die rot gefärbten Haare des Weißwedelhirsches befestigt waren, geschmückt mit zwei Adlerfedern, die ihn als fähigen Späher auszeichneten. Jetzt im Spätsommer trug er nur einen Lendenschurz, der rhythmisch seine Beine umspielte, als er gut gelaunt in sein Tipi glitt.
Verglichen mit dem gleißenden Sonnenlicht draußen, wirkte der sanfte Halbschatten in dem Tipi angenehm. Eine leise Brise wehte durch die geöffneten Zeltwände aus Büffelhäuten, die wegen der Hitze vom Boden weg nach oben geschlagen worden waren.
„Hau, Ina!“, grüßte er kurz.
„Han, Mitschinkschi!“, antwortete die verhaltene Stimme seiner Mutter.
Nata-He-Yukan setzte sich auf seinen Platz und wartete darauf, dass seine Mutter ihm etwas zu essen gab. Er lehnte sich gemütlich gegen seine Rückenstütze aus Weidenzweigen und sah zu, wie seine Mutter aus dem Tipi schlüpfte, um aus dem Büffelmagen, in dem die Suppe mit heißen Steinen erhitzt wurde, einige Fleischstücke zu fischen. Im Sommer kochte seine Mutter immer vor dem Zelt, auch weil der Bisonmist, den sie zum Feuern verwendete, entsetzlich qualmte. Mit einer Schüssel kehrte sie zurück und reichte sie ihm mit einem Lächeln. Ihre Zöpfe waren ordentlich geflochten und fielen über ihre Schultern nach vorne. Sie trug keinerlei Schmuck und doch hatte ihr einfaches Kleid etwas Festliches. Am Halsausschnitt war es mit einer blauen Borte aus gefärbten Stachelschweinborsten verziert, und auch ihre Mokassins führten das gleiche einfache Muster.
„Habt ihr Büffel gesehen?“, versuchte seine Mutter ein Gespräch zu beginnen.
Lässig winkte Nata-He-Yukan ab: „Nein, noch nicht! Heute Abend tanzen wir den Büffeltanz, um das Büffelvolk zu rufen. Ich werde wieder als Späher reiten und nach ihnen Ausschau halten!“
„Ma, das ist gut!“
Hungrig schlang der junge Mann das Fleisch hinunter, dann fiel ihm die offensichtliche Ruhe in dem Zelt auf. „Wo ist meine Schwester?“
„Bei ihrer Freundin.“
„So?“, amüsierte er sich. Seit dem Tod seines Vaters vor drei Wintern fühlte er sich verantwortlich für das kleine Mädchen. Sein Vater hatte sie nicht mehr gesehen, denn er war kurz vor der Geburt bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Seither kümmerte sich Nata-He-Yukan um die beiden, übernahm die Vaterrolle für seine kleine Schwester und war im Stillen froh, dass seine Mutter nicht einen neuen Mann genommen hatte. So wurde er bestens versorgt, und musste sich keine Gedanken machen irgendein Mädchen zu heiraten. Oft lebte er in dem Zelt der Kit-foxes, seines Kriegerbundes, achtete darauf seinen Ruf als Krieger zu stärken, ging auf jeden Kriegszug mit, der sich anbot, jedoch ohne sich Sorgen um eine Familie machen zu müssen.
Ein kleines nacktes und ziemlich schmutziges Mädchen steckte seine Nase in das Zelt und funkelte ihn strahlend an. „Mitiblo!“, mein Bruder!
„Mitankschi!“, meine Schwester, lächelte er zurück.
Sofort setzte sich das zierliche Wesen auf seinen Schoß und sperrte fordernd den Mund auf: „Lo watschin!“, ich habe Hunger.
„Hier, mein kleiner Hund!“ Er stopfte ein Stück Fleisch zwischen ihre blitzenden Zähne. Noch wurde zwischen den beiden nicht die Zurückhaltung erwartet, wie sie später zwischen Bruder und Schwester üblich war, denn das Kind galt noch als Baby, das tun und lassen durfte, was es wollte.
„Ich bin kein Hund! Ich bin Machpiya-ska, die Weiße-Wolke!“, empörte sich das Mädchen.
„Nein, du bist mein kleines Vielfraß!“, ärgerte er sie weiter.
„Nein, ich heiße Machpiya-ska!“ Sie stand ihm an Sturheit in nichts nach.
„Nein, du bist Mitankschi, meine kleine Schwester!“
Stirnrunzelnd starrte das Kind ihn an, etwas verwirrt von seiner Logik, aber wild entschlossen nicht klein beizugeben.
„Ich bin Machpiya-ska und Mitankschi“, bot sie schließlich als Kompromiss an.
Nata-He-Yukan lachte hellauf: „Das ist wahr! Du bist Machpiya-ska, Mitankschi!“ Oh, er liebte dieses kleine Mädchen und er war froh, dass es noch lange dauern würde, ehe ein Mann um ihre Hand anhalten durfte. Er war jetzt schon eifersüchtig!
Wieder ernst wandte er sich an seine Mutter:
„Lege meine schönsten Sachen bereit, denn ich möchte das Büffelvolk angemessen begrüßen, wenn ich losgeschickt werde, um sie zu suchen.“
Sie nickte nur, stolz über die wichtige Aufgabe, die ihr Sohn erfüllen sollte. „Vielleicht solltest du dich reinigen und beten?“, meinte sie fürsorglich.
Mit einem Lächeln sah er in ihre freundlichen Augen, in denen sich deutlich ihre Liebe und ihre Bewunderung widerspiegelten. „Vielleicht. Wenn mich dieser kleine Hund hier gehen lässt!“
„Ich heiße Weiße-Wolke!“, schnappte seine Schwester sofort.
„Na gut, du kleine Wolke, dann puste ich dich eben weg!“, drohte er und warf das Kind auf das dichte Fell neben sich.
„Du bist so ein guter Bruder! Es wird Zeit, dass du dir eine Frau suchst und eigene Kinder hast!“, wünschte sich seine Mutter sehnsüchtig.
„Hohch, aber nein! Dafür bin ich noch zu jung!“, wehrte er entsetzt ab.
„Zu jung! Du zählst zehn und acht Winter. Du brauchst eine Frau, die dir deine Kleider näht, für dich kocht und deine Lenden erfreut!“
Nata-He-Yukan hasste dieses Thema. Er wollte noch keine Frau, für was denn? Seine Mutter versorgte ihn und so recht wusste er nicht, was denn seine Lenden erfreuen sollte. Wenn er ein unerklärliches Gefühl verspürte, dann ging er eben auf einen Kriegszug, oder eine gefährliche Jagd, das kühlte sein Begehren wieder ab. Den Mädchen im Dorf ging er ganz bewusst aus dem Weg, denn noch war er kein reicher Mann, um den möglichen Schwiegereltern entsprechende Geschenke zu bieten. Seine Familie galt als arm. Mit nur zwei Pferden, die er dringend für die Jagd benötigte, konnte er unmöglich an eine Ehefrau denken.
Vielleicht schob er diesen Gedanken aber auch ganz bewusst von sich, weil so ein lausiger Miniconjou Krieger ihm das Mädchen Grashüpfer weggeschnappt hatte.
Noch einmal wollte er keine solche Schlappe erleben! Nein, erst musste er sich noch als fähiger Krieger beweisen, vielleicht noch einige Pferde von ihren Feinden den Crow, Shoshone, Ute oder Pawnee rauben. Bisher hatte er sich durch Mut einen Namen verdient, bereits seinen ersten Coup errungen, was sich aber weniger in seinem Besitz auszeichnete. Ihm war es wichtiger, einen Feind zu berühren oder zu töten als irgendwelche Pferde zu rauben.
Seine Mutter dagegen hoffte endlich auf eine junge Schwiegertochter, die ihr bei der Arbeit helfen konnte, und der es vielleicht gelang, ihren wilden Sohn zu zähmen. Jedes Mal zitterte sie um sein Leben, hatte Angst davor, endgültig allein dazustehen, wenn er von einem Kriegszug nicht mehr heimkam. Sorgenvoll blickte sie hinter ihm her, als er ohne zu antworten aus dem Zelt kletterte und einfach verschwand.
Nata-He-Yukan wandte sich zum Fluss. Dort sammelten seine Freunde bereits biegsame junge Weiden, um die rituelle Schwitzhütte zu bauen. Für jeden abgeschnittenen Ast legten sie ein Tabakopfer nieder, um sich bei Wakan-tanka, dem großen Geheimnis, für diese Gabe zu bedanken. In der Mittagshitze lief ihm sofort der Schweiß herunter und lästige Moskitos umschwirrten ihn. „Warum überhaupt eine Schwitzhütte bauen?“, dachte er mit einem flüchtigen Lächeln. Hier draußen war es vermutlich genauso heiß wie später in der Hütte, wenn der Feuerhüter die erhitzten Steine in das Innere rollte.
Zusammen mit dem Medizinmann und dessen Gehilfen half er den anderen die Zweige zu biegen und miteinander zu verbinden, sodass eine Halbkugel entstand, über die sie die Felle legten. Alles geschah mit ruhigem Gemurmel und voller Konzentration, denn diese Zeremonie war ein Gebet, eine rituelle Reinigung, damit die Jagd von Erfolg gekrönt sein würde.
Dann stellte der heilige Mann in jeder der vier Himmelsrichtungen einen Stab auf, der mit einer Adlerfeder geschmückt war, und hängte Tabakopfer daran. Ein Helfer des Medizinmannes entzündete die Pyramide aus Feuerholz, in der die Steine erhitzt wurden. Schweigend warteten alle darauf, dass die Steine die nötige Hitze für die Zeremonie erreichten. Der Feuerhüter wartete geduldig, bis das Feuer fast heruntergebrannt war, ehe er das Zeichen für den Beginn der Zeremonie gab. Der Medizinmann legte seine Kleider ab und wirkte plötzlich alt und zerbrechlich.
Nata-He-Yukan schluckte schwer, während er selbst seinen Lendenschurz ablegte und sein Geschlecht mit Salbeizweigen bedeckte. Er achtete den Medizinmann, aber selbst dessen Macht war nicht unbegrenzt. Trauer erfüllte ihn, als er daran dachte, wie sein Vater hatte sterben müssen, weil die Heilkünste des Medizinmannes nicht ausgereicht hatten. Aber er empfand keinen Hass gegen den heiligen Mann, erkannte nur, dass auch dessen Wissen und Medizin nicht allumfassend war. Nata-He-Yukan verließ sich lieber auf Dinge, die er sehen und fühlen konnte, nicht auf magischen Zauber, der dann doch versagte, wenn man ihn brauchte. So entstand eine Kluft in ihm, denn einerseits glaubte er an das Überirdische, an all die Geister, die ihn umgaben, andererseits glaubte er nicht an einen besonderen Schutz, der ihm helfen könnte in dieser Welt zu bestehen. Seine Waffen und sein starker Arm, das waren die Kräfte, denen er vertraute. Jeder Mann musste seinen eigenen Weg wählen.
Der Medizinmann kroch als erster in die winzige Hütte, dann folgten in einer Kreisbewegung nacheinander die anderen. Schweigend drängten sich die Männer um die kleine Grube und der Feuerhüter rollte die ersten sieben Steine herein. Das Eingangsfell fiel zu und plötzliche Dunkelheit umhüllte die Männer. Nur die rot glühenden Steine in der Grube wirkten wie das Nest eines gefährlichen Untiers.
Aromatischer Duft breitete sich aus, als Salbei verbrannt wurde, um die bösen Geister zu vertreiben. Leise sang der Medizinmann das Lied für die vier Winde, dann lud er mit einem Geistlied die guten Geister ein zu ihnen zu kommen. Süßlicher Geruch breitete sich aus, als er Süßgras verbrannte, um die guten Geister anzulocken. Anschließend spritzte ein Helfer Wasser auf die Steine und heißer Dampf stieg auf. In der zweiten Runde rollte der Feuerhüter fünf Steine in die Grube. Wieder stieg Dampf auf, dann wurde die Pfeife entzündet. Lieder wurden gesungen, um sich bei den Geistern zu bedanken. Ihr Volk gedieh, keine Krankheiten schwächten sie und die Jagd war gut. Sie hatten viele Gründe dankbar zu sein.
Ein weiteres Mal wurde das Fell hochgeschlagen und die nächsten Steine wurden hereingerollt. Nata-He-Yukan lief der Schweiß in Strömen herunter, als weiterer Dampf die winzige Hütte erfüllte. Doch tapfer betete er für eine gute Jagd, bat die Geister darum, ihnen die Büffel zu schicken.
Ein letztes Mal wurden die Steine hereingerollt und eine gewisse Apathie breitete sich aus. Schwer atmend saßen alle beisammen, plötzlich eins mit dem Herzschlag von Mutter Erde. In einem leisen Gesang wurden die Geister verabschiedet und der Medizinmann beendete die Zeremonie mit den Worten „Mitakuye-oyas´in.“ Dann verließ er die Hütte und fast erleichtert folgten ihm die anderen.
Nata-He-Yukan hatte jedes Mal Brandblasen auf der Haut, wenn er schließlich, gequält von der entsetzlichen Hitze und Atemnot, wieder heraus kroch, um in den kalten Fluss zu springen.
Erfrischt kletterten die Männer an das Ufer und schlüpften wieder in ihre Lendenschürze. Alle freuten sich auf den abendlichen Tanz, wenn sie als Büffel verkleidet um das Feuer tanzen würden.
„Ich bin auch als Späher erwählt worden!“, verkündete Bleza-Si mit vor Stolz geschwellter Brust. Ohne die Miene zu verziehen streifte Nata-He-Yukan den jungen Mann mit einem flüchtigen Blick, vermied den direkten Augenkontakt.
Entenfuß! Eigentlich sein ärgster Gegner, denn seit Kindheit an maß er sich mit ihm, wer von ihnen der Beste, der Schnellste, der Tapferste war. Es war ein ewiger Kampf um die Gunst des Häuptlings und der älteren Krieger. Als Folge ihrer harten Wettkämpfe verunstaltete eine gespaltene Lippe das Gesicht von Bleza-Si. Er war bei einem harten Wettrennen vom Pferd gestürzt und mit seinem Gesicht auf einen spitzen Stein geprallt. Den seltsamen Namen hatte er erhalten, weil er immer mit nach außen gedrehten Fußspitzen ging, sodass der Eindruck entstand, er watschle wie eine Ente.
Bleza-Si hasste diesen Namen, aber bisher war noch niemand auf die Idee gekommen, ihm einen anderen zu geben, obwohl auch er begierig war, seinen Mut zu beweisen, damit sie ihn endlich änderten.
Beide Krieger lächelten sich höflich zu. Sie kontrollierten ihre Gesichtszüge, damit sie nicht ihre weniger freundlichen Gedanken verrieten. Dann drehten sie sich einfach um und gingen zu ihren Zelten, um sich für den Tanz anzukleiden. Niemand wunderte sich über das Benehmen der beiden, denn alle kannten den Ehrgeiz, der diese Männer antrieb. Allein Tapferkeit zählte und es war nur natürlich, sogar erwünscht, dass Männer sich untereinander maßen. Sie waren ein kriegerisches Volk. Aber wo lag die Grenze zwischen Ehrgeiz und Hass?
Nata-He-Yukan machte sich darüber keine Gedanken, für ihn waren die Geplänkel mit Bleza-Si von jeher etwas rauere Wettspiele, wie sie unter Knaben und jungen Männern eben üblich waren.
Im Zelt steckte seine Mutter das zappelnde Mädchen bereits in ihr Festgewand und staunend nahm Nata-He-Yukan das frisch gewaschene Kind an beiden Händen und drehte sie hin und her. „Eh, was habe ich für eine schöne Schwester!“, lobte er lächelnd.
„Du musst dich auch schön anziehen!“, piepste sie zurück.
„Wan, alles was ich anziehe, ist bestimmt nicht so hübsch wie dein Kleid!“, entgegnete er und erntete ein glückliches Lachen seiner Schwester. Aber auch seine Mutter bot einen schönen Anblick in ihrem hellbraunen Hirschlederkleid, dessen gesamte Schulterpartie mit blau gefärbten Stachelschweinborsten bestickt war. Ihre festlichen Mokassins und Leggins waren vollständig bestickt, außerdem trug sie eine lange Kette aus weißen Dentalium-schnecken. Mit ihren zehnmal drei und sieben Wintern wäre sie auch jetzt noch eine gute Partie für einen Krieger.
Neugierig beugte sich Nata-He-Yukan über die Kleidung, die sie für ihn herausgesucht hatte. Ein sorgfältig gefertigtes Hemd, reichlich bestickt und mit Fransen verziert, dazu passende Leggins. Er hatte gesehen, dass sie den ganzen Winter daran gearbeitet hatte, und jetzt staunte er über die wunderschöne Arbeit, die in ihren Händen entstanden war. „Nape-waschte-win!“, Frau mit den guten Händen, so war ihr Name und sie führte ihn zu Recht.
„Nape-waschte-win. Meine Mutter“, flüsterte er dankbar und fühlte einen dicken Kloß in seiner Kehle.
Fast schüchtern schlüpfte er in das wunderschöne Hemd und ließ es zu, dass seine Mutter voller Stolz an ihm herumzupfte.
Freudig erregt verließ Nata-He-Yukan das Tipi und führte sein Pferd zu dem Tanzplatz. Voller Erwartung nickte er seinen Freunden zu, die ebenso ihre Pferde herbeiführten.
Ein riesiger Feuerball verschwand hinter den Hügeln und die tanzenden Strahlen der Sonne streichelten über die hoch aufgerichteten Tipis, ehe die Nacht hereinbrach.
Langsam versammelten sich die Menschen um das große Feuer, bestaunten die Männer, die sich als Büffel verkleidet hatten. Die Sänger saßen um die große Trommel und schlugen gleichmäßig den dumpfen Rhythmus, der wie ein Herzschlag alle Menschen erfasste. Der Gesang schwoll an, von kreischend hohen Tonlagen sank er tiefer, bis er fast den dunklen Ton der Trommel erreichte.
Mit langsamen Schritten bewegten sich die Frauen und Mädchen im Kreis, flehten um die Güte des Büffelvolkes, während die Männer die stampfenden Bewegungen der Büffel nachahmten. Ja, die Büffel nährten sie gut, mit ihrer Hilfe würden sie auch den kommenden Winter überleben.
Nata-He-Yukan wartete mit den anderen drei Reitern auf das Zeichen des Medizinmannes, dann würden sie in alle vier Himmelsrichtungen ausschwärmen und Ausschau halten, ob die Büffel bereits kämen. Schließlich gab der Medizinmann das Zeichen und die jungen Reiter stoben davon.
Die anderen tanzten weiter. Abwechselnd würden sie solange tanzen und flehen, bis ein Reiter zurückkäme und endlich die ersehnte Ankunft der Büffel verkündete.
Nata-He-Yukan spürte die Muskeln seines Ponys unter sich und erfreute sich an dessen Kraft. In der Dämmerung erlaubte er, dass es im vollen Galopp über die Steppe sauste, erst später würde er langsamer reiten, damit es nicht in einem Loch stolperte. Der Wind war angenehm und langsam trocknete der Schweiß an seinem Körper. Unermüdlich ritt er nach Westen, bewunderte, wie die Farben des Himmels von einem dunklen Rot in ein sanftes Lila wechselten. In den Senken des hügeligen Landes herrschte bereits Tiefschatten, der die lange Nacht erahnen ließ.
Mit einem Ruck an den Zügeln hielt er sein braun geflecktes Pony auf der Kuppe eines Hügels an. Sorgfältig ließ er seinen Blick über das Land schweifen, vernahm jede Bewegung. Er hoffte auf ein Zeichen, ehe es zu dunkel wurde etwas zu erkennen. Unschlüssig hockte er im Sattel und überlegte, welche Richtung er jetzt einschlagen sollte. Wo würde er hingehen, wenn er ein Büffel wäre? Als Adler würde er immer weiter in den Sonnenuntergang hinein fliegen, versuchen die letzten Strahlen zu erhaschen, aber als Büffel? Wasser wäre schön und hohes, grünes Gras. Er verzog wehmütig die Mundwinkel, ja, als Büffel würde er ein schönes Tal suchen!
Er wandte sich nord-westwärts, folgte dem Lauf eines kleinen Baches. Der Vollmond tauchte das Grasland in ein silbergraues Licht, hell genug, dass er zumindest Umrisse erkennen konnte. Dösend saß er auf dem Pony, hing seinen Gedanken nach, ohne wirklich auf den Weg zu achten. Manchmal stieg er auch ab und ließ das Pony ein wenig grasen. Er hatte es nicht eilig. Bisher waren die Büffel immer gekommen und er verließ sich auf die heiligen Gesänge, die das Büffelvolk herbeiriefen.
In den frühen Morgenstunden wurde es kalt.
Nebel stieg auf und die Feuchtigkeit ließ ihn frösteln. Die Sterne verblassten und in der ersten aufkommenden Morgendämmerung ließ er sein Pony angaloppieren, um wieder warm zu werden. Die Silhouette eines abgestorbenen Baumes zeichnete sich deutlich gegen den blassen Himmel ab, dann schob sich der Rand der Sonnenscheibe über den Horizont und tauchte ihn von einem Moment in den anderen in ein warmes Orange, durchzogen von lila Wolkenstreifen.
Nata-He-Yukan hielt neben dem Baum und hob seine Arme der Sonne entgegen. Leise flüsterte er ein Gebet, bat Wakan-tanka, das große Geheimnis, um Hilfe für seine Aufgabe. Warme Strahlen kitzelten sein Gesicht und er seufzte wohlig. Mit seinen Schenkeln dirigierte er sein Pferd den Hügel hinunter, dann ließ er es scharf angaloppieren, um auf der anderen Seite einen Hang zu erklimmen.
Dahinter schlängelte sich ein klarer Fluss durch ein breites Tal. Zu beiden Seiten des Ufers standen Pappeln und Büsche, die willkommenen Schatten spenden würden. Saftiges Gras, jetzt mit morgendlichem Nebel bedeckt, wuchs in den Niederungen und hob sich deutlich von dem sonst so braunen und verdorrten Steppengras ab.
Wie er es vermutet hatte, weideten in der Nähe die Büffel. Er genoss den Anblick der gewaltigen Tiere, schaute belustigt zu, wie sich riesige Stiere in Schlammkuhlen wälzten und kalumetrote Kälber um ihre Mütter sprangen. Mit einem frohen Grinsen zog er vorsichtig sein Pony zurück, um die Herde nicht aufzuschrecken, und machte sich auf den Rückweg. Bei Tage kam er wesentlich schneller voran und oft ließ er das Pony in einen ausdauernden Trab fallen. Gegen Mittag hörte er von fern den Trommelschlag seines Stammes. Hoka! Also war er der erste! Wakan-tanka war ihm wohl gesonnen! Er schmierte sich Staub in das Gesicht, damit es ein wenig theatralischer wirkte, vergaß auch nicht sein Pferd ordentlich mit Dreck einzuschmieren und sauste im gestreckten Galopp durch das Dorf. „Die Büffel, die Büffel!“, spielte er das Spiel, wie es von jeher von den erfolgreichen Spähern erwartet wurde. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Sein verdrecktes Äußeres und die Erschöpfung waren glaubhaft genug und er sonnte sich in der Bewunderung, die ihm von allen Seiten zuteil wurde. Wohlwollende Hände klopften ihm auf die Schulter, freundliche Frauen steckten ihm Leckerbissen zu. Die Ältesten lächelten zufrieden und gaben das Zeichen zum Aufbruch.
In aller Ruhe brachen die Frauen das Lager ab und innerhalb kürzester Zeit bildete sich die Marschordnung. Trotz seiner eher geringen Stellung im Stamm, durfte seine Mutter gleich nach den Ältesten reiten, denn ihr Sohn hatte die Büffel gefunden. Nape-waschte-win genoss es sichtlich. Zum ersten Mal musste sie nicht den Staub des gesamten Lagers schlucken, der aufwirbelte, wenn sich die Pferde mit den beladenen Travois in Bewegung setzten. Nata-He-Yukan hielt seine kleine Schwester vor sich auf dem Pferd und ritt stolz neben dem Häuptling und dem Medizinmann.
„Hast du deine Gebete verrichtet?“, fragte der Medizinmann besorgt, denn die kleinste Missachtung konnte verheerende Folgen haben.
„Ja, beim Sonnenaufgang habe ich gebetet!“, beruhigte ihn Nata-He-Yukan.
„Das ist gut! Und was geschah dann?“
„Hinter dem nächsten Hügel fand ich die Herde!“
„Eh, du siehst, Wakan-tanka belohnt dich gut!“
Sichtlich enttäuscht schlossen am Abend die erfolglosen anderen drei Reiter zu dem Stamm auf. Auch sie hätten sich gern in dem Ansehen gesonnt, als erste die Büffel gefunden zu haben! Nata-He-Yukan bemerkte nicht den Hass, der kurz in den Augen von Bleza-Si aufloderte, als er ihn und seine Mutter an der Spitze reiten sah. Stattdessen begrüßte er vergnügt die anderen Späher, die sicherlich das nächste Mal wieder erfolgreicher sein würden. Nur Bleza-Si verschwand in der Reihe der Travois und ließ seinen Unmut an seiner gefangenen Shoshonefrau aus. „Warum hast du nichts zu essen für mich?“, herrschte er sie an.
Mit einer Routine, wie sie jedem Nomadenvolk zu eigen ist, errichteten die Frauen das Lager für die Nacht. Kochfeuer wurden vor den Tipis entfacht und es summte wie in einem Bienenstock. Männer sprachen über die besten Jagdtaktiken, Frauen beratschlagten, wie man am schnellsten das Fleisch zerteilen konnte, ehe die Hunde über die wertvolle Beute herfielen.
Jungenbanden spitzten ihre Pfeile und hofften, dass viele Kälber übrig blieben, die sie zum Schluss erlegen durften. Denn so ungefährlich war auch das nicht. Die allgemeine Unruhe erfasste sogar die Babys in ihren Wiegen, die ihre Eltern die ganze Nacht hindurch wach hielten.
Am Morgen herrschte hektische Betriebsamkeit. Mit Lendenschürzen bekleidete Krieger bemalten sich mit Schutzzeichen für die Jagd, dann schmückten sie ihre Ponys mit Federn, und bemalten deren Beine mit ebensolchen Zeichen. Das war wichtig, denn wenn ein Pferd stolperte, konnte das tödlich für Pferd und Reiter sein.
Auch Nata-He-Yukan verließ sich ganz gern auf solche Schutzzeichen und kniete geduldig vor seinem Pony, um die Beine mit roten Streifen zu versehen. Was nützen ihm seine Reitkünste, wenn sein Pferd stürzte? Ansonsten kleidete er sich für die Jagd eher spärlich: Lendenschurz und Mokassins, sonst brauchte er nichts. Seine Haare hatte er in einfache Zöpfe geflochten und dick mit Fett eingerieben, damit sich während der Jagd keine Strähnen lösten und ins Gesicht wehten. Auf dem Rücken trug er seinen Köcher mit Pfeilen, in der Hand hielt er locker seinen Bogen. Ansonsten hatte er nur eine Messerscheide am Gürtel. Er war bereit! Schon saß ein Trupp Jäger auf ihren Ponys und mit einem Hochgefühl schloss sich Nata-He-Yukan ihnen an. Büffelvolk, wir kommen!
Unruhe brach unter den braunen Kolossen aus, als sich die Jäger näherten, aber noch dachten sie nicht an Flucht. Erst das schrille Geschrei ließ sie unwillig schnauben und erste Tiere setzten sich langsam in Bewegung. Den Lakota gelang es, einen Keil in die Herde zu treiben und eine kleine Gruppe der Tiere abzuspalten. Jetzt begann die Jagd. Einzelne Jäger hielten ihre Ponys Schulter an Schulter mit den Büffeln, gut gezielte Pfeile fanden den Weg in den empfindlichen Nacken des Tieres. Staub wirbelte auf, wenn so ein Koloss zusammenbrach und der Jäger geistesgegenwärtig sein Pferd zur Seite riss.
Han! Sie waren gute Jäger!
Nata-He-Yukan hatte bereits das dritte Tier erlegt, als er bemerkte, wie seitlich von ihm ein Mann mit seinem Pferd stürzte. Sofort wirbelte er herum, um ihm zu Hilfe zu kommen, doch von der anderen Seite näherte sich bereits Bleza-Si. Beruhigt bemerkte er, wie dieser sicherlich schneller bei dem gestürzten Mann sein würde, und setzte die Jagd fort. Sein Pony zeigte bald die ersten Anzeichen von Erschöpfung. Vielleicht sollte er es wechseln? Aber das andere seiner Pferde hatte längst nicht so viel Erfahrung, und so trieb er seinen Schecken wieder an. Noch ein oder zwei Büffel und er hätte Jagdbeute genug.
In dem aufgewirbelten Staub der fliehenden Herde konnte er fast nichts mehr sehen, nur schemenhaft erkannte er die Umrisse der anderen Jäger. Hier und da tauchte ein Horn auf, dann der schwarze Schwanz eines Pferdes. Irgendwie nahm er nur einzelne Körperteile wahr, manchmal einen Kopf, dann einen Arm, wie dieser den Bogen hob. Diese Jagd war irgendwie unwirklich, fast gespenstisch. Kein Blöken war zu hören, nur das Trommeln tausender Hufe. Er verschoss seine letzten zwei Pfeile und ließ sein Pferd ausgaloppieren. Plötzliche Stille umgab ihn, kein Vogelzwitschern, kein Zirpen, einfach nichts.
Als ob die Natur vor Schreck erstarrt wäre, als die unhaltbare Flut brauner Leiber alles niedertrampelte. Nata-He-Yukan fühlte seinen schnellen Herzschlag in der Brust, spürte das Blut, das in seinen Adern pulsierte. Dankbar klopfte er den schweißnassen Hals seines Ponys und flüsterte beruhigende Worte. Langsam lenkte er es zum Fluss, dann ließ er es durch das klare Wasser plantschen. Durstig tauchte das Pony seine Nase in das kalte Nass und ebenso durstig ließ sich Nata-He-Yukan vom Rücken gleiten, um einige Handvoll zu schöpfen. Er war völlig verschwitzt und in einem Impuls tauchte er mitsamt seinem Lendenschurz unter. Wan, das tat gut! Bei der Hitze würden seine Sachen blitzschnell wieder trocken sein, nur seine Mokassins trieften und er musste sie auswringen, sonst wären sie ihm von den Füßen gerutscht.
Erste Frauen liefen bereits über das Feld, um die gejagten Tier auszunehmen, aber ihn interessierte das nicht sonderlich. Seine Aufgabe war getan, alles andere war jetzt Frauensache.
Überhaupt, sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Er schaute sich nach den anderen Jägern um, doch er konnte niemanden sehen. Immer noch war es merkwürdig still, keine Jubelschreie, nichts war zu hören. Seltsam!
Etwas beunruhigt schwang er sich wieder auf sein Pferd und trottete in Richtung Dorf zurück. Eine Mauer finsterer Blicke und eisigen Schweigens empfing ihn. Unsicher drehte er sich um, ob vielleicht irgendwelche Feinde hinter ihm her waren, aber die deutliche Ablehnung galt offensichtlich ihm. Er schluckte schwer und wartete einfach ab. Mehrere Akitschitas, Krieger mit Ordnungsfunktion, kamen drohend auf ihn zu und herrschten ihn an: „Komm mit ins Beratungszelt!“
Er war völlig fassungslos. Was hatte er getan? Ungläubig starrte er auf die Männer, die noch am Morgen seine Freunde gewesen waren. „Warum?“, krächzte er mühsam.
„Du hast Kalter-Stein im Stich gelassen. Die Büffel haben ihn zu Tode getrampelt!“
Nata-He-Yukans Augen schlossen sich vor Entsetzen. Aber Bleza-Si … Eine entsetzliche Ahnung stieg in ihm auf. Hatte er …? Mühsam blinzelte er zu dem Krieger mit der gespaltenen Lippe. Ein hämisches Grinsen huschte kurz über dessen Gesicht, für die anderen nicht zu sehen. Wie gelähmt folgte Nata-He-Yukan den Akitschitas, doch seine Gedanken wirbelten. Was war passiert?
Drohendes Schweigen schlug ihm entgegen, als er in das große Versammlungszelt schlüpfte und ihn beschlich ein unangenehmes Gefühl.
Der Häuptling musterte ihn scharf, seine listigen Augen waren hart, als er mit seiner Hand auf Bleza-Si deutete. „Er beschuldigt dich! Du hast Kalter-Stein im Stich gelassen, hast dich einfach abgewandt, als ein Mann deine Hilfe brauchte!“
Nata-He-Yukan warf Bleza-Si einen kalten Blick zu. Ihm wurde schlecht vor dessen Falschheit. „Ich habe Kalter-Stein nicht im Stich gelassen!“, brachte er mühsam hervor.
Der Häuptling runzelte irritiert die Stirn: „Hast du gesehen, dass Kalter-Stein gestürzt ist?“
Nata-He-Yukan nickte nur und ein empörtes Murmeln war von den anderen zu hören.
„Warum hast du ihm dann nicht geholfen?“
„Ich sah, dass Bleza-Si zu ihm reiten wollte!“, belastete er den anderen Mann. Er erkannte sofort, dass er einen Fehler machte, denn in den ungläubigen Augen der anderen erkannte er, dass sie ihm kein Wort glaubten.
„Bleza-Si konnte ihm nicht helfen, denn ein Büffel hatte sein Pony aufgespießt!“
Bleza-Si trat vor und zeigte anklagend auf den jungen Mann. „Ja, ich wollte Kalter-Stein helfen, aber auch mein Pferd wurde von einem Büffel getötet. Nur mit Müh und Not konnte ich entkommen, aber Kalter-Stein wurde zu Tode getrampelt! Kalter-Stein wurde getötet, weil Nata-He-Yukan sich abgewandt hat!“
Mit gerunzelter Stirn und unsagbar traurig schaute der Häuptling in die Runde, denn die Anschuldigung lastete schwer auf Nata-He-Yukan. Trotzdem richtete er seinen drahtigen Körper auf, strahlte die Autorität eines Anführers aus, der eine schwere Entscheidung fällen musste. „Wer kann etwas dazu sagen?“
Ein anderer Mann erhob sich und alle Augen waren wie gebannt auf ihn gerichtet, als er leise seine Stimme erhob: „Ich habe gesehen, wie Bleza-Si neben seinem toten Pony stand und nach Nata-He-Yukan gerufen hat! Dann kamen die Büffel!“
Ein entsetztes Raunen ging durch die Runde und alle senkten beschämt ihre Augen, vermieden den Blickkontakt mit dem jungen Mann, der bis zu diesem Moment beliebt gewesen war. Nata-He-Yukan blinzelte vor Überraschung, denn das war eine offensichtliche Lüge. Er hatte gesehen, dass das Pony von Bleza-Si unverletzt war, aber dann? „Das Pony war nicht verletzt!“, erklärte er lahm. Wütende Stimmen erhoben sich: „Wir haben das tote Pferd gesehen! Du hast zwei Krieger im Stich gelassen! Du gehörst nicht mehr zu uns!“
Nata-He-Yukans Ohren dröhnten plötzlich, als ihm kalte Abneigung entgegenschlug. Was war hier geschehen?
Der Häuptling senkte betroffen den Kopf und fasste die Anschuldigungen zusammen: „Hast du gesehen, dass Kalter-Stein gestürzt ist?“
Nata-He-Yukan biss die Zähne zusammen. „Ja!“
„Hast du ihm geholfen?“
Es war eine so einfache Frage, aber sie entschied alles. Er hatte als Freund und Gefährte versagt! „Nein“, gestand er leise.
Alles, was er jetzt noch sagte, würde gegen ihn verwendet werden, würde ihn als Feigling dastehen lassen.
Sein Freund Langes-Messer machte eine Bewegung, als wollte er etwas sagen, aber Nata-He-Yukan schüttelte unmerklich den Kopf.
Trotzdem stand der Krieger auf und zeigte mit seinen Lippen auf seinen Freund. „Wir alle kennen Nata-He-Yukan. Er ist ein guter Jäger und ein tapferer Krieger. Wir sollten gut überlegen, was wir nun tun!“
Der Häuptling richtete sich schweren Herzens auf und machte eine auffordernde Handbewegung. „Nata-He-Yukan, warte draußen! Wir werden über deine gerechte Bestrafung beraten!“ Nata-He-Yukans Herz sank in den Staub. Bestrafung! Er wusste, was das bedeutete! Das Blut schoss ihm ins Gesicht, als er vor das Zelt trat und die Umstehenden erblickte. Hilflos suchten seine Augen nach seiner Mutter und Schwester. Was würde aus ihnen werden?
Deutlich waren die Stimmen aus dem Zelt zu hören, aber er versuchte sie zu ignorieren. Bleza-Si! Warum hatte er gelogen? Aufgeregte Rufe erschallten und er hörte, dass seine Freunde versuchten ihn zu verteidigen. Im Stillen dankte er, dass sie für ihn eintraten, doch immer wieder fiel die schneidende Stimme von Bleza-Si dazwischen. „Verräter, Feigling!“, zischte sein Widersacher und andere murmelten beifällig „Aho“. Einen anderen Krieger im Stich zu lassen galt als schlimmstes Vergehen, gleichzusetzen mit Mord! Bewegungslos stand Nata-He-Yukan vor seinem Pferd, sein Blick folgte den Bussarden, die über den getöteten Büffeln schwebten. „Ich bin kein Feigling!“, schrie seine innere Stimme.
Nach einer Ewigkeit traten die Krieger vor das Zelt und einige spuckten ihm verächtlich vor die Füße. Der Häuptling nickte ihm zu und seine Stimme war ernst: „Wir sind Lakota. Wir müssen einander vertrauen und wir müssen füreinander kämpfen. Du hast Kalter-Stein und Bleza-Si im Stich gelassen! So eine Tat schadet unserem Volk. So jemanden können wir nicht mehr bei uns dulden. Deshalb sollst du gehen! Du bist hier nicht mehr willkommen!“
Nata-He-Yukan schluckte schwer, als der Häuptling das aussprach, was er befürchtet hatte. „Meine Mutter und meine Schwester?“, wagte er zu fragen.
„Ihr Zelt und all dein Besitz geht an die Familie von Kalter-Stein! Deine Mutter und deine Schwester werden in einem anderen Zelt leben. Jetzt geh!“
Verbannung! Sie straften ihn mit Verbannung. Das kam einem Todesurteil gleich! Er wusste, was das bedeutete.
Vier Winter durfte er nicht zu seinem Stamm zurückkehren.
„Du bist hier nicht mehr willkommen. Iyaya-yo! Geh!“, wiederholte ein anderer Mann und gab ihm einen Stoß.
Nata-He-Yukan unterdrückte den Impuls zurückzuschlagen und sein Herz wurde schwer. Sein Blick schweifte über die Menschen, die sich demonstrativ umdrehten und ihm die kalte Schulter zeigten.
„Ich werde überleben und wiederkommen!“, drohte Nata-He-Yukan mit vor Wut verzerrter Stimme.
Im Hintergrund wurde das Grinsen von Bleza-Si noch unangenehmer. Noch nie hatte dieser gehört, dass ein einzelner Mann vier Winter allein in der Wildnis überlebt hätte.
Höhnisch leuchteten seine grauen Augen, ein Erbe seines weißen Vaters. Er hatte lange auf diesen Augenblick gewartet, doch nun sah er befriedigt, wie der Sohn des Mannes, der seinen Vater vor Jahren in einem Streit getötet hatte, in die Verbannung geschickt wurde. Endlich war er seinen Rivalen los!
Der Kriegszug
(Montana, nördlich des Missouri)
In vollem Kriegsschmuck brachen gut einhundert Männer der Pecuni auf, eine gewaltige Streitmacht, bereit über die Dörfer der Crow herzufallen. Eine eindrucksvolle Parade marschierte einmal um das Dorf, begleitet von den Hochrufen und den Wünschen der Frauen. So manch eine steckte ihrem Liebsten noch gute Medizin zu, so mancher Rat wurde noch schnell von dem Großvater an den Enkel weitergegeben, dann verschwand der Kriegszug gen Süden.
Tötet-die-Crow ritt neben ihrem Onkel, ein wenig flau im Magen war ihr jetzt doch. Noch nie hatte sie einen Menschen getötet und jetzt war sie auf dem Weg genau dies zu tun. Wie würde es sein, wenn ihre Keule einen Kopf zerschmetterte, ihr Pfeil in einen Körper surrte? Konnte sie jetzt noch zurück?
Nein, denn dann würde sie sicherlich bestraft werden! Niemand verriet seine Vision!
Ihre Anspannung wich schnell einem Gefühl von Langeweile, denn die Jagdgründe der Crow lagen weit entfernt. Tagelang ritten sie gemächlich dahin, ließen den Milch- und den Sonnenfluss hinter sich, zogen dann am Großen Fluss entlang, bis sie eine Stelle fanden, wo sie ihn überqueren konnten. Sie folgten den endlosen Wäldern, manchmal versteckten sie sich, rasteten dann in irgendwelchen Senken, überließen Tötet-die-Crow und einigen Jungen das Wasserholen und Kochen.
Plötzlich war sie doch wieder eine Frau, flickte Mokassins, sammelte Holz und bereitete das Nachtlager. Aber sie tat es wie die anderen Jungen, die zum ersten Mal auf einen Kriegszug mitgingen, die ohne zu murren genau die gleichen Aufgaben verrichteten wie sie. Achselzuckend schloss sie sich Wiesel-gefangen-am-Schwanz und Freund-der-Otter an, wenn sie Holz sammelten oder die Reservepferde trieben. Tatsächlich hatte sie den Eindruck, wie einer der anderen Jungen behandelt zu werden, und das spornte sie an. Sie überschritten den Hirschfluss und waren nun endgültig inmitten des feindlichen Stammesgebietes.
Vorsichtig erkundeten die Späher das Gebiet, suchten nach den Dörfern der Crow. Immer südlicher stießen sie vor, stets in der Gefahr selbst überrascht zu werden. Dann, als sie auf keine feindlichen Dörfer stießen, schwenkten sie nach Osten. Eine angespannte Stimmung breitete sich aus, denn die ständige Wachsamkeit lastete auf ihren Nerven.
Tötet-die-Crow spürte wieder dieses flaue Gefühl in ihrem Magen. Sie hörte die Gespräche der Männer, hing gierig an den Lippen der Späher, wenn sie etwas über feindliche Bewegungen berichteten und zur Vorsicht mahnten. Oft bauten sie sich einen kleinen Unterschlupf, um abzuwarten und in Ruhe die hügelige Umgebung zu erkunden.
Schließlich stießen ihre Späher auf ein feindliches Dorf. Es lag zu Füßen eines hohen Gebirges, an einem schnell fließenden Fluss, der mit Kirschbäumen und Pappeln gesäumt war.
„Dreißig Zelte!“, berichteten die Späher mit glänzenden Augen, als sie zurückkehrten.
„Viele Männer sind zur Jagd!“ Eine leichte Beute für sie!
Umsichtig führten die Späher den Kriegstrupp in die Nähe des Dorfes, nutzten ihre Kenntnis des Geländes, um verborgen zu bleiben. Schließlich machten sie eine warnende Geste. Sofort glitten alle von den Pferden, versteckten sich hinter einer Hügelkette, damit der Feind sie nicht entdeckte.
Das Gebiet der Crow war zerklüftet und hügelig, mit weitläufigen Wäldern, in denen sich ein feindlicher Trupp tagelang verstecken konnte, ohne gesehen zu werden. Bedächtig bemalten sich die Pecuni mit Kriegsfarbe, zogen ihre prächtigen Kriegshemden an, beteten über ihren Medizinbündeln und warteten auf den geeigneten Moment für den Angriff. Tötet-die-Crow hatte kein Medizinbündel und erschrak sichtlich. Was würde sie jetzt beschützen? Vielleicht der Geist ihres Bruders? Plötzlich war sie völlig verunsichert. Sie hatte auch keine Kriegsfarbe, um sich zu bemalen, und unentschlossen ging sie zu ihrem Onkel. „Du hütest die Pferde!“, ordnete er an.
„Aber mein Traum?“, entgegnete sie schüchtern.
„Es ist dein erster Kriegszug. Du lernst wie alle Jungen! Zuerst hütest du die Pferde!“
Irgendwie war sie froh, dass Ferner-Bär ihr die Entscheidung abnahm. Es hatte keinen Sinn, etwas zu überstürzen, wenn sie noch nicht erfahren genug war.
Grimmig machten sich die Krieger auf den Weg. Sie hielten ihre todbringenden Waffen in den Händen, bereit ihre Feinde empfindlich zu strafen.
Nur aus der Ferne hörte Tötet-die-Crow den Kriegsschrei ihres Volkes und das entsetzte Kreischen von Frauen und Kindern, die um ihr Leben liefen. Tötet-die-Crow verharrte betend und flehte um den Beistand des Sonnenhäuptlings. Bereits nach kurzer Zeit ebbte der Kampflärm ab, dann kehrten die ersten Krieger siegestrunken zurück. Schreiend wirbelten sie die Skalpe gefallener Gegner über ihren Köpfen, manche zerrten Frauen und Mädchen hinter sich her. Nichts mehr war von den freundlichen, zurückhaltenden Männern übrig, die Tötet-die-Crow sonst kannte. Es war ein leichter Sieg gewesen. Ein kleines Dorf, das dieser Übermacht kaum etwas entgegen setzen konnte.
Mit klopfendem Herzen sah Tötet-die-Crow den Kriegern entgegen, beobachtete verächtlich die Gefangenen, die ins Lager getrieben wurden. Weinende Frauen wurden vorwärts getreten und geschlagen, während sich hilflose Kinder an ihre Mütter klammerten. Ein schreiendes Mädchen wurde von einem Krieger zu Boden gedrückt, dann unterband er ihr Schreien mit seiner Hand. Die Augen des Mädchens nagelten sich in den ihren fest, aber Tötet-die-Crow hatte kein Mitleid.
Diese Männer nahmen sich nur, was ihnen ihrer Meinung nach zustand. Nach dem Kampf gehörten die Frauen des Feindes ihnen. Mit seinem Messer ritzte der Krieger das Mädchen an der Backe und machte somit deutlich, dass er sie für sich beanspruchte. Dann schickte er sie wieder zu den anderen Gefangenen.
Unbarmherzig trieben die Pecuni die Gefangenen voran, es waren nicht viele, verglichen mit der Angriffskraft der Krieger. Acht Frauen, drei Mädchen und fünf Kinder aus einem Dorf mit dreißig Zelten. Kurz überlegte Tötet-die-Crow, wie viele Feinde wohl überlebt hatten. Aber ihr blieb keine Zeit, weiter darauf zu achten oder Mitleid zu empfinden. Auf einen Befehl hin trieb sie hastig die Pferde vor sich her. Sie wunderte sich über die plötzliche Eile der anderen. Sie hatten doch gesiegt! Wurden sie verfolgt?
Erst am Abend erlaubten es sich, die Pecuni endlich eine Rast einzulegen und hungrig fielen die Krieger über die Vorräte her. Neugierig setzte sich Tötet-die-Crow neben die Männer und versuchte endlich zu erfahren, wie der Angriff verlaufen war. Ihr flüchtiger Blick streifte dabei die gefangenen Kinder, die zusammengekauert bei ihren Müttern saßen und leise schluchzten. Sie würden auf die Zelte der Krieger verteilt werden, ebenso wie deren gefangene Mütter. Zum ersten Mal überdachte Tötet-die-Crow diese harte Tatsache. Frauen und Kinder, die aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen wurden, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen.
„Vielleicht nimmst du dir eine Gefangene?“, zwinkerte Ferner-Bär ihr zu, so als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Ich?“ Ihre Augen wurden rund vor Überraschung.
„Na ja, jetzt, wo du ein Krieger bist, brauchst du doch eine Frau, die dein Tipi führt. Eine gefangene Frau wäre gewiss sehr dankbar, wenn sie nicht dein Lager teilen muss!“
Wieherndes Gelächter schlug ihr entgegen und sie senkte empört die Augen. Der Krieg hatte ein Gesicht, das ihr nicht gefiel. Schweigend setzte sie sich abseits und wickelte sich in eine Decke, um ein wenig zu ruhen.
Kurz nach Sonnenaufgang schreckte sie hoch. In der Ferne erklang es wie ein Donnergrollen und kurz dachte Tötet-die-Crow an ein Gewitter. Doch dann waren die Verfolger da: eine riesige Staubwolke aufgestachelter Krieger, die nur noch töten wollten. Ohne Warnung fielen die Crow über die Pecuni her, die sich ebenso mutig den Angreifern entgegen stellten.
Ein wimmerndes Crowmädchen versuchte sich vor dem tödlichen Schlag eines Beils in Sicherheit zu bringen, als der Krieger die lästige Gefangene einfach vom Pferd warf. Ein anderer Krieger schrie ihn an und deutete auf die angreifenden Crow: „Die sind deiner würdig, nicht das Mädchen!“ Dann knallten die verfeindeten Parteien aufeinander und auch Tötet-die-Crow zog ihr Beil. In dem Staub war fast nichts mehr zu sehen und hilflos drehte sich ihr Pferd im Kreis. Wer war hier Freund, wer Feind? Orientierungslos preschte sie vorwärts, hoffte, dass wenigstens ihr Pony wusste, was es tat. Graue Gestalten schlugen aufeinander ein, erst im letzten Augenblick war überhaupt zu erkennen, wer der Feind war. Plötzlich war sie mitten in dem Getümmel aus um sich schlagenden Ponys, schreienden Feinden und kämpfenden Freunden.
Ein Pferd krachte seitlich in ihres und mit einer drehenden Bewegung schlug sie dem Reiter die Keule an das Kinn. Der Kopf des Angreifers flog nach hinten, als wäre er abgebrochen und sie stieß einen heiseren Schrei aus. Dann verschwand sie schnellstens in der Wand aus Staub, denn im Nahkampf wäre sie den Männern hoffnungslos unterlegen. Mit einem Ruck zog sie ihren Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie den Nebel aus Staub zu durchdringen, irgendein Ziel auszumachen.
Dann erkannte Tötet-die-Crow die hoch gekämmten Haare eines feindlichen Kriegers vor sich und schoss. Ihr Pfeil verletzte ihn am Arm und wutentbrannt ging der Crow auf sie los. Für ihn war es nur ein Pecuniknabe, der es frecherweise wagte, auf ihn zu schießen. Ihr Herz rutschte in den Lendenschurz, als sie die geballte Wut auf sich zukommen sah. Hastig griff sie in den Köcher und legte den nächsten Pfeil auf. Da hatte er sie bereits erreicht und reflexartig ließ sie sich von ihrem Pferd fallen und tauchte unter dessen Bauch. Wütend duckte sich der Krieger, glitt von seinem Pony und suchte nach ihr. Ein schwarz bemaltes Gesicht mit fleischigen Lippen verzerrte sich zu einer Grimasse, als er seine Beute in unmittelbarer Nähe erspähte.
Tötet-die-Crow rutschte am Boden liegend rückwärts, Panik stieg in ihr hoch, als der Mann den Tomahawk hob, um sie zu töten. In Todesangst hob sie ihr Hemd, um ihm zu zeigen, dass sie ein Mädchen war. Einen winzigen Moment stutzte der Krieger, dann huschte ein brutales Grinsen über sein Gesicht. Eine Hand griff nach ihren Brüsten, während er den Tomahawk an ihren Hals setzte. Kaltes Eisen, eingetauscht bei einem weißen Trapper, drückte gegen ihre Kehle. Dann krallten sich seine Finger so in ihre Brust, dass sie stöhnen musste. Verzweifelt tasteten ihre Finger nach einer Waffe oder sonst etwas, um sich diesen Mann vom Leib zu halten. Sie erwischte mit ihrer rechten Hand einen mittelgroßen Stein und schlug ihn mit aller Kraft gegen seine Schläfe. Sein Tomahawk rutschte von ihrer Kehle weg und sofort schob sie seine Hand mit aller Kraft weiter, dann schlug sie ein zweites Mal gegen seinen Kopf.
Langsam dämmerte dem Mann, dass sie gefährlich war, und benommen versuchte er sie mit seinen Beinen zu kontrollieren. Mühsam holte er mit dem Tomahawk aus, um sie zu töten, doch die Bewegung dauerte viel zu lange. Mit ihrem Messer stach sie in seinen Bauch, worauf er stöhnend zusammensank.
Er hatte nicht damit gerechnet, denn sie kämpfte mit ihrer linken Hand, hatte die Messerscheide aus diesem Grund auch auf dieser Seite gehabt. Wieder stach sie zu und versuchte unter ihm herauszurollen. Er war schwer und brach über ihr zusammen. Immer wieder stach sie in Panik zu, bis sie merkte, dass der Mann längst tot war.
Zappelnd versuchte sie sich zu befreien, doch sie klemmte unter dem schweren Körper fest, der sie selbst im Tod noch umklammert hielt. Es war unmöglich, in ihrer Situation um Hilfe zu rufen. Der Kampflärm hatte sich zwar entfernt, aber sie konnte nicht wissen, ob sich gerade Freund oder Feind in der Nähe befanden. Sie verschnaufte eine Weile, versuchte langsam zu Luft zu kommen, dann zog sie sich Stück für Stück unter der Leiche hervor. Völlig außer Atem starrte sie auf den Toten, bemerkte dann schockiert das Blut, das ihre Kleidung verunreinigt hatte. Ihr Pony war weggelaufen. So sammelte sie erst einmal ihre Waffen zusammen.
Der Lärm war verebbt und bei der Suche nach ihren Kampfgefährten stolperte sie immer wieder über Leichen: Crow und Pecuni! Ihr Herz zog sich zusammen, als sie die vielen Toten sah. So viele Witwen würden um ihre Männer trauern. Sie schnappte sich ein herumirrendes Pony und galoppierte nordwärts, in Richtung ihrer Heimat.
Sie folgte einer Senke und blieb im Schatten der hohen Felsen, während sie eigentlich damit rechnete, auf irgendwelche Crow zu stoßen, die kein Erbarmen kennen würden.
Sie wich in einen lichten Wald aus und sprang vom Pferd, um es zu führen. Hastig zog sie es immer weiter, versuchte in den Halbschatten der Bäume zu verschwinden.
Ihr Herz schlug unregelmäßig und sie versuchte sich zu orientieren. Wohin sollte sie nur gehen? Wo würden die anderen Männer hingehen? Sie bewegte sich ungefähr in nördlicher Richtung, immer auf der Hut vor den Crow, und versuchte auf Umwegen den alten Lagerplatz zu erreichen. Vielleicht würden einige versprengte Krieger dorthin zurückkehren?
Gegen Mittag erreichte sie den Ort, an dem sie noch vor zwei Tagen ihr provisorisches Lager errichtet hatten. Erleichtert atmete sie auf, als sie tatsächlich fünf Krieger erkannte, drei von ihnen verletzt. Sie waren dorthin zurückgekehrt, um ihre Wunden zu verbinden, unter ihnen Zwei-Pferde. Er hatte auf mehr Verstärkung gehofft und nicht nur auf ein Mädchen in Knabenkleidung. „Also hast du überlebt?“, meinte er mit einem kurzen Nicken.
Tötet-die-Crow konnte ihre Erleichterung nicht verbergen: „Ja, aber es war ein schrecklicher Kampf!“
„Es war ein großer Kampf! Viele Feinde sind gestorben!“, hörte sie die stolze Stimme von Zwei-Pferde, der aus einer Wunde am Arm blutete.
Tötet-die-Crow antwortete nicht.
Zwei-Pferdes Blick fiel auf das blutverschmierte Hemd des Mädchens: „Bist du verletzt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich tötete einen Crow, es ist sein Blut!“
„So, du hast also deinen ersten Feind getötet?“ Seine Stimme verriet ein wenig seinen Zweifel, aber das Blut war Beweis genug.
„Ich tötete heute zwei Männer! Aber auch viele unserer Männer sind gestorben!“
„Ai, es war ein guter Kampf! Die Crow sind unsere Feinde! Es ist gut, wenn sie sterben!“
„Ja, aber wieder mussten Krieger von uns sterben! Warum?“
„Mädchen!“, antwortete er auf herablassende Art. „Wenn du das nicht verstehst, dann solltest du nicht Krieg führen!“
„Ich war voller Hass auf die Crow, denn sie haben meinen Bruder ermordet. Ich wollte ihn rächen. Zuerst haben wir getötet. Dann kamen die Crow, um ihre Toten zu sühnen. Wieder starben Krieger und wieder werden unsere Männer kommen, um sie zu rächen! Ist das der Krieg?“
„Ja!“, antwortete Zwei-Pferde knapp. „Und noch sind wir lange nicht daheim. Du kannst froh sein, wenn du ihnen nicht lebend in die Hände fällst! Sie werden keine Rücksicht auf deine Visionen nehmen!“
Sie dachte an die brutale Hand, die sich in ihre Brust gekrallt hatte, und gab ihm Recht: „Das weiß ich!“
Schweigend warteten die Krieger auf die Dunkelheit und hofften auf ein Zeichen der anderen. Manchmal ließ einer das Rufen einer Eule erklingen, aber niemand antwortete. Entweder sie waren weit entfernt oder es war eine vernichtende Niederlage gewesen. Am schlimmsten war die Ungewissheit, nichts von den anderen zu hören, nicht zu wissen, ob der Onkel noch lebte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Tötet-die-Crow mit bangem Herzen.
„Wir schlagen uns durch!“
„So weit, allein durch feindliches Gebiet?“
„Hast du einen anderen Vorschlag?“
Sie schüttelte betroffen den Kopf. „Vielleicht sollten wir bei Nacht reiten, damit wir nicht entdeckt werden?“
Ein anderer Krieger deutete spöttisch auf das Mädchen. „Schaut euch dieses Küken an! Das erste Mal auf einem Kriegszug dabei und schon hat sie Ideen! Vielleicht sollte sie uns führen?“
Alle lachten verhalten, aber die Stimmung war gedrückt, fast feindselig. Sie waren gereizt, denn ohne die anderen waren sie dem Feind ausgeliefert.
„Wir sollten sofort aufbrechen und die anderen suchen!“, meinte Roter-Fuchs, ein junger Krieger, groß und schwer, mit riesigen Händen und Füßen.
„Und wenn uns die Crow sehen?“, warf Zwei-Pferde ein.
„Sie sind bestimmt in ihr Dorf zurück geritten und pflegen ihre Wunden. Wir sollten möglichst viel Abstand zwischen uns und sie bringen!“ Vorsichtig rückte Roter-Fuchs seinen imposanten Kopfschmuck aus zwei langen gespaltenen Hörnern und Streifen aus Hermelinfell zurecht. Seine Haare waren gänzlich unter der Haube verschwunden und so wirkte es, als hätte er weiße Schwänze anstatt Haare. Eigentlich ähnelte er einem mystischen, riesigen Tiergeist.
„In der Dunkelheit sehen die Hundegesichter sowieso nicht weit!“, meinte ein anderer verächtlich.
„Gut! Lasst uns aufbrechen!“, stimmte Zwei-Pferde zu. Seine Zöpfe hatten sich gelöst und auch die Federn seiner Kriegshaube hatten im Kampf dermaßen gelitten, dass er nun aussah wie ein gerupftes Huhn. Es war ein vernünftiger Vorschlag, denn bei Sonnenaufgang würden sich wieder rachsüchtige Crow an ihre Fersen heften.
In einer Reihe folgten sie einem Flusslauf, umgingen einen dunklen Wald, der sich tiefschwarz und drohend vor ihnen auftat. Sie hatten keine Angst vor Geistern, aber nachts war der Wald undurchdringlich, zu groß die Gefahr, dass die Pferde über Wurzeln stolperten. Die Stille ließ Tötet-die-Crow frösteln, immer wieder stieg das Bild des getöteten Mannes in ihr hoch. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie knapp sie mit dem Leben davongekommen war und ihr Herz raste, wenn sie an die fleischigen Lippen dachte, die sich verächtlich nach unten verzogen hatten, als er sie töten wollte. Sie hatte wie ein Feigling ihre Brüste gezeigt, um Gnade gebeten. Nichts Männliches war an dieser Handlung gewesen, sondern nur die Angst zu sterben. Hatte sie so wenig Vertrauen in ihre Bestimmung? Zweifelnd beobachtete sie Zwei-Pferde, der kurz vor ihr ritt. Er hatte bestimmt keine Angst vor dem Tod! Überhaupt, alle Krieger erschienen ihr als überaus mutig, nur sie war ein Feigling! Sie lenkte ihr Pferd neben Zwei-Pferde und sah ihn unsicher von der Seite an.
„Was?“, fragte er kurz angebunden.
„Ich hatte heute Angst“, erklärte sie unumwunden.
„Angst?“
„Ja, Angst vor dem Sterben!“
Er lachte leise.
Ohne Spott gestand er ihr: „Heute hatten alle Angst!“
„Wirklich?“ Ihr fiel sichtbar ein Stein vom Herzen.
„Ja, nur die Angst lässt uns überleben, durch sie werden wir wendig und geschickt!“
Sie dachte darüber nach, erinnerte sich, wie ungewohnte Kräfte die Hand mit dem tödlichen Tomahawk beiseite geschoben und ihr Körper sich aufgebäumt hatte, damit sie das Messer ziehen konnte.
„Die Angst ist eine innere Stimme in dir! Du musst lernen auf sie zu hören und ihr zu vertrauen!“
„Ich soll auf meine Angst hören? Dann würde ich ja ständig weglaufen!“ Sie kicherte bei dem Gedanken und er lachte gutmütig mit.
Dann fasste er sie eindringlich an der Schulter. „Du sollst nicht weglaufen, aber die Angst warnt dich, macht dich vorsichtig! Gute Krieger hören auf sie!“
„Und schlechte Krieger?“
„Sind bald tot!“
War ihr Bruder ein schlechter Krieger gewesen? Hatte er nicht auf seine innere Stimme gehört? War er zu unbedarft und wagemutig gewesen, eigentlich das, was sie immer so an ihm bewundert hatte? War das ihre Bestimmung? Umsichtiger zu sein, überlegter zu handeln, ihrer inneren Stimme zu folgen? Wenn sie nur wieder lebend heimkamen!
Seufzend ließ sie ihr Pony zurück fallen und hing ihren Gedanken nach.
Lange vor der Morgendämmerung wurde der Himmel grau und die Pecuni ließen ihre Pferde in einen ausdauernden Trab fallen. Noch hatten sie keine Spur der anderen Krieger gefunden und beunruhigt ritten sie immer weiter nach Norden. Es war eine leicht vorauszuberechnende Handlung, aber sie hatten keine Wahl. Deshalb wunderte es sie auch nicht, als im rötlichen Dunst der aufgehenden Sonne gut zwanzig Crow vor ihnen auftauchten. Sie waren im Feindesland, hatten sie gereizt und diese würden nicht eher ruhen, bis sie alle Pecuni getötet hatten.
„Kehrt um!“, befahl Zwei-Pferde. Er übernahm als erfahrener Krieger die Führung. Niemand widersprach, denn die Crow setzten sich bereits in Bewegung, um ihren Widersachern zu begegnen.
Im vollen Galopp preschten die Pecuni davon, schlugen Haken, verschwanden in dem hügeligen Gebiet, indem sie manchmal die Richtung wechselten, aber die Crow folgten unbeirrbar ihrer Fährte. Selbst, wenn die Crow ihre Feinde nicht erspähten, verrieten ihnen doch die Spuren, wo sie suchen mussten. Manchmal verloren sie etwas Zeit, wenn die Pecuni ihre Pferde durch einen seichten Fluss trieben. Aber spätestens, wenn sie den Fluss wieder verließen, trafen die Crow auf die verräterischen Hufabdrücke.
Drei Tage und Nächte saßen die Pecuni auf ihren Pferden, gönnten ihnen nur kurze Pausen, bis diese vor Erschöpfung schwankten. Allen knurrte der Magen, aber sie hatten nichts mehr. Außer einigen Schluck Wasser, die sie beim Durchwaten eines Flusses zu sich nahmen, hatten sie keine Nahrung zu sich genommen. Zwangsläufig mussten sie eine längere Rast machen, denn auch die Pferde brauchten Ruhe. In ihrer Verzweiflung zogen die Flüchtigen ihre Ponys in das Unterholz des Waldes, dort kamen auch die Crow nicht schnell voran, außerdem würden die Pferde der Crow ebenso erschöpft sein, wie die ihren.
Noch fiel das Licht durch die Zweige auf die erschöpfte Gruppe, doch bald würde sich die Dämmerung über den Wald senken. Sie brauchten etwas zu essen oder die Rast half ihnen nichts! Auf einer kleinen Lichtung machten sie schließlich halt. Hungrig rupften die Ponys das weiche Gras, knabberten an Zweigen und Ästen, nur für die Menschen war nichts Essbares in der Nähe.
Mit tiefen Rändern unter den Augen saß Tötet-die-Crow auf der Lichtung und schlang ihre Arme um die Knie. Ihr Magen knurrte hörbar und ihr war schlecht vor Hunger, aber sie konnte sich nicht aufraffen etwas Essbares zu suchen.
„Komm!“, forderte Zwei-Pferde sie auf. „Vielleicht finden wir Nüsse!“
„Hier gibt es keine Nüsse!“
„Woher willst du das wissen, wenn du keine suchst!“
„Ich möchte ein großes Stück Fleisch!“, beharrte sie wie ein kleines Kind.
„Wir haben keine Zeit zum Jagen! Jetzt geh und such Nüsse!“ Sein Ton ließ keine Widerrede zu und taumelnd richtete sich Tötet-die-Crow auf. „Warum können wir kein Gras wie die Ponys fressen?“
„Such Nüsse!“
„Oh!“ Widerwillig trollte sie sich in den Wald, prüfend wanderten ihre Augen über die Bäume: Nadelbäume, keine Laubbäume! Seufzend ging sie einige Schritte weiter und suchte nach Büschen oder Pilzen. Nichts! Aber vielleicht war sie auch nur zu müde! Ihr ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf, nur mit Mühe hielt sie ihre Augen geöffnet. Nur ein bisschen schlafen, nur ganz wenig! Wo sie stand, sank sie zu Boden, von Müdigkeit übermannt.
Schwärze war um sie herum, totale Finsternis, ohne Erinnerungen, Visionen oder Träume. Sie fühlte sich hochgehoben, doch sie war zu müde, um die Augen zu öffnen.
Nach einer Ewigkeit rüttelte sie Zwei-Pferde wach und erschrocken fuhr sie hoch. Licht fiel durch die Zweige und orientierungslos blickte sie sich um.
„Na, du kleiner Mann? Fühlst du dich besser?“ Neckend hielt ihr Zwei-Pferde eine Hand voll Pinienkerne entgegen.
Das schlechte Gewissen drückte sie. „Oh, bin ich …?“
„Du hast geschlafen wie ein Bär im Winter!“
„Oh!“ Überrascht überblickte sie das kleine Lager, das um sie herum aufgebaut worden war. Sogar ein Feuer hatte offensichtlich gebrannt.
„Du wärst eine leichte Beute für alle Schlangen, Bären und Pumas gewesen!“, lachte Zwei-Pferde sie aus. „Jetzt iss! Wir müssen sofort weiter!“
Gierig stopfte sich Tötet-die-Crow eine ganze Handvoll Kerne in den Mund, doch verglichen mit ihrem Hunger war es so gut wie nichts. Eigentlich verschlimmerte sich ihr Appetit nur, denn ihr ausgehungerter Körper wollte mehr. Sie hatte fast nicht mehr die Kraft auf ihr Pony zu steigen. Mit zitternden Knien zog sie sich nach oben und sofort wurde sie von einem Schwindelgefühl erfasst. Verzweifelt presste sie die Augen zusammen, versuchte schwankend das Gleichgewicht auf dem Pony zu finden.
Dann beruhigten sich die roten Flecken vor ihren Augen und sie atmete erleichtert durch. Sie durfte nicht ohnmächtig werden wie ein kleines Mädchen!
Wieder trotteten sie durch den Wald, wichen Bäumen aus, duckten sich unter tief hängenden Ästen durch. Doch das Schlimmste war die Richtung. Sie ritten nach Süden, nicht nach Norden. Immer weiter wurden sie von ihrer Heimat weggeführt. Glasklar standen die Gipfel eines Gebirges vor ihnen und sie folgten den bewaldeten Hängen.
Gegen Mittag hielt Zwei-Pferde unvermittelt an und deutete auf einige umgestürzte Kiefern, die in einem heillosen Chaos übereinander lagen, ein Windbruch vom letzten Orkan. „Hier!“
„Was hier?“
„Hier werden wir uns verteidigen.“
„Verteidigen?“
„Ja, wir können nicht ewig vor ihnen davon laufen!“
„Aber wenn wir hier bleiben, werden sie uns einkesseln! Wir haben keine Vorräte und kein Wasser!“, wandte Tötet-die-Crow ein.
„Hast du eine andere Idee?“ Spöttisch drehte sich der Tiergeist zu ihr um, seine Hörner ein wenig zur Seite gelegt, während er auf eine Antwort wartete. Roter-Fuchs schwitzte unter seiner Haube, aber um nichts in der Welt hätte er seine Kriegsmedizin abgesetzt. Herausfordernd blitzte sie ihn an, hatte keine Angst vor diesem Tiergeist, denn sie wusste, dass es eine Täuschung war. Dies war Roter-Fuchs, ihr Freund. Dann schoss es wie ein Blitz durch ihre Gedanken. Täuschung! Vielleicht konnte man die Crow täuschen? Ihre verzweifelte Lage doch noch zu einem Vorteil wenden?
„Ja!“, erklärte sie selbstsicher. „Wir sollten sie lediglich glauben machen, dass wir uns hier verteidigen, einige von ihnen töten und dann schnellstens weiter reiten!“
Zwei-Pferde lächelte amüsiert. „Wie sollte uns das gelingen?“
Sie zuckte ein wenig zurück und dachte nach. „Wir machen ein Feuer und erwecken den Eindruck, als wollten wir hier bleiben!“
„Und dann?“
„Nur zwei bleiben beim Feuer, die anderen legen sich in einen Hinterhalt. Wenn die Crow kommen, schießen wir von mehreren Seiten auf sie! Dann, wenn sie sich um ihre Verletzten und Toten kümmern, fliehen wir auf den Pferden!“
Tadelnd warf ihr Zwei-Pferde einen kurzen Blick zu. „Es ist nicht unsere Art, so zu kämpfen!“
Sie blaffte ihn giftig an: „Na und! Diese Crow sind in der Überzahl! Was ist daran tapfer?“
Zögernd überdachte Zwei-Pferde die Worte des Mädchens.
Eigentlich hatte sie Recht. Kein Mann hätte es gewagt, einen solchen Vorschlag zu machen, aber jetzt war er ganz froh um diesen Ausweg.
„Gute Idee!“, lächelte Roter-Fuchs und schlug ihr freundschaftlich mit seiner riesigen Hand auf die Schulter. Alles war besser als dieses ständige Fortlaufen.
In aller Hast zogen sie einige kleinere Stämme zusammen und bauten sie zu einer Brustwehr auf. Es wirkte ziemlich echt. Die Pferde versteckten sie im Wald, während einer der Krieger ein Stück zurück lief, um auf die Ankunft der Crow zu warten.
Tötet-die-Crow sammelte Holz und machte ein kleines Feuer, um die Täuschung perfekt zu machen. Hungrig saßen sie um das Feuer, dösten ein wenig, während ein Mann Wache hielt.
Tötet-die-Crow war schlecht vor Hunger und sie kaute auf einen Grashalm, um sich ein wenig abzulenken. Sollten diese Hundegesichter nur kommen! Lieber suchte sie den Kampf, als dass sie feige vor ihren Feinden davonrannte. Es dauerte eine geraume Zeit, und nervös kauten die Männer auf den Lippen. Einige beteten über ihrer Medizin, bereiteten sich auf den möglichen Tod vor, dann kam der Späher mit langen Sätzen zurück.
„Sie kommen!“
Blitzschnell verschwanden die vier Krieger außerhalb der Lichtung hinter den Bäumen, während Tötet-die-Crow und Zwei-Pferde am Feuer blieben.
Als lebende Zielscheiben präsentierten sie sich den Feinden, denn die Crow sollten glauben, dass alle sich hier für ein letztes Gefecht verschanzt hatten. Das Feuer war eine gute Finte, sie in diesem Glauben zu lassen.
Dann waren die Feinde da! Hohe Gestalten, bunt bemalt, mit Federn geschmückt, Waffen griffbereit in den Händen. Die Crow waren kriegerisch, bekämpften jeden, der es wagte in ihre Jagdgründe einzudringen und hatten wenig Skrupel davor, regelmäßig gegen andere Stämme Krieg zu führen. Für ein so kleines Volk hatten sie unverhältnismäßig viele Feinde, aber jetzt fühlten sie sich überlegen.
Sich ihrer Übermacht wohl bewusst, schauten sie auf die klägliche Abwehr, die sich die paar Pecuni dort gebaut hatten. Bald würden die Skalpe dieser Eindringlinge an ihren Gürteln hängen. Zehn Krieger zählten sie noch, die sich an die Fährte dieser versprengten Gruppe gehängt hatten. Die anderen hatten sich dem anderen Verband angeschlossen, um die größere Gruppe der Pecuni endgültig zu vernichten.
Niemand sollte ihnen entkommen! Mit einer gewissen Vorsicht näherten sie sich dem Versteck, spähten misstrauisch auf die Lichtung und glitten dann von ihren Pferden. Einen jüngeren Krieger schickten sie mit den Ponys zurück, dann verteilten sie sich lautlos und schlichen sich von mehreren Seiten an, nutzten die Deckung der umgestürzten Bäume. Deutlich waren die Pecuni zwischen den Zweigen der behelfsmäßigen Brustwehr zu erkennen. Der erste Crow hob seinen Bogen und zielte auf die Gestalt am Feuer.
Im letzten Moment konnte Zwei-Pferde das Mädchen zu Boden ziehen, dann hob er bereits seinen Bogen, um dem Crow seine todbringenden Pfeile entgegen zu schicken. Die im Wald versteckten Krieger nahmen die Crow von hinten unter Beschuss. Völlig überrascht merkten diese, dass sich die Situation zu ihren Ungunsten verschob. Drei fielen zu Boden, von Pfeilen hinterrücks getroffen. Das war ein unglaublich hoher Blutzoll für die erste Angriffswelle.
Wütend zogen sie sich zurück und umkreisten die Pecuni, die ihnen einen Hinterhalt gelegt hatten. Doch diese waren schlau, bewegten sich sofort weiter und versuchten zu der Brustwehr durchzukommen. Verhaltener Kampflärm war zu hören, dann ein Stöhnen, aber in dem Dickicht des Waldes und zwischen den umgestürzten Bäumen war nicht zu erkennen, wer kämpfte.
Von der Brustwehr aus versuchte Zwei-Pferde einen Treffer zu erlangen und schoss auf jeden Crow, der zwischen den Stämmen seine Deckung verließ. Er traf einen, der eben mit seinem Tomahawk auf Schwarzer-Fluss losgehen wollte. Ein Blick tiefster Dankbarkeit belohnte ihn, dann hechtete der junge Mann über die Brustwehr in Sicherheit.
„Wo sind die anderen?“, fragte Zwei-Pferde besorgt.
„Ich weiß es nicht! Ich habe sie nicht gesehen!“
„Wir müssen hier weg, ehe die Crow sich sammeln!“ Suchend wanderten seine Augen durch das Unterholz, bis er endlich einen weiteren seiner Freunde erblickte. Mit einem Satz warf sich Roter-Fuchs neben Zwei-Pferde auf den Boden.
„Wo sind die anderen?“, wiederholte Zwei-Pferde.
„Tot!“
„Oh!“ Tiefes Bedauern stieg in Zwei-Pferde auf, aber er konnte es nicht mehr ändern. „Wie viele Crow haben wir getötet?“
„Vielleicht vier!“
Sie hatten selbst zwei Männer verloren, also blieben noch fünf oder sechs Feinde übrig. Die Chancen standen nicht so schlecht.
„Seid ihr bereit?“
Sie nickten nur, denn sie hatten keine Zeit mehr. Bald würden die Crow wieder zu ihrem vermeintlichen Versteck vordringen. Bis dahin brauchten sie wenigsten einen kleinen Vorsprung.
„Also los!“
Geduckt kletterten sie über die Stämme, schlichen zwischen den Bäumen hindurch, überwanden die Distanz zu ihren Pferden.
Hastig nahm Tötet-die-Crow die Zügel ihres Ponys, dann sprang sie auf. Ein Pfeil traf sie an der Hüfte und sie zuckte zusammen.
„Nicht reiten!“, zischte Zwei-Pferde, aber es war zu spät.
Die Crow hatten die Finte erraten und waren ihnen sofort gefolgt! Verzweifelt hob Zwei-Pferde seinen Bogen und schickte ihnen einige Pfeile entgegen, während die anderen weiter in den Wald flüchteten, das Pferd mit der verletzten Frau hinter sich herziehend.
Tötet-die-Crow fühlte nur eine merkwürdige Schwäche, als sie mit ihrer Hand nach dem Pfeil tastete. „So ist es also, zu sterben!“, dachte sie merkwürdig ruhig. Sie hatte keine Ahnung, dass dieser Pfeil sie nicht so schnell töten konnte.
Dann preschte Zwei-Pferde heran und untersuchte kurz ihre Wunde. Vorsichtig brach er den Pfeil ab, und sie fiel stöhnend nach vorne.
„Rühr die Pfeilspitze nicht an, wir schneiden sie später heraus!“
Dann drehte er sich zu den Verfolgern um.
Wie Wölfe, die Blut gerochen haben, folgten ihnen die Crow. Jetzt würden sie nicht mehr von ihrer Beute ablassen!
Tötet-die-Crow fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Er hatte später gesagt! Später! In einem Anflug von fast heiterer Gelassenheit wusste sie, dass sie später tot sein würde. Wieso redete er solch einen Unsinn? Ihr Herz raste unregelmäßig und Schweiß lief über ihre Augen. Sie hatte nicht die Kraft, ihn wegzuwischen, sondern hörte mit geschlossenen Augen auf das seltsame Rauschen in ihren Ohren. „Wie ein Wasserfall!“, dachte sie verwundert, aber hier war überhaupt kein Fluss.
„Tötet-die-Crow, kämpfe dagegen an!“, rüttelte sie die Stimme von Zwei-Pferde wach.
„Wogegen?“, hauchte sie.
„Du darfst nicht ohnmächtig werden! Reiß dich zusammen! Mach die Augen auf!“
Gehorsam blinzelte sie den Schweiß weg und öffnete die Augen zu einem kleinen Schlitz.
„Reite weiter! Wir lenken die Crow von dir ab! Bleibe in südlicher Richtung, bis wir dich wieder einholen!“
Sie nickte dankbar, denn sie hatte keine Kraft mehr irgendetwas zu tun. Es kostete sie alle Anstrengungen, überhaupt auf dem Pferd zu bleiben. Langsam trottete es in südlicher Richtung davon und sie klammerte sich an der Mähne fest.
Kurz entschlossen folgte ihr Roter-Fuchs, während die anderen sorgfältig alle Spuren verwischten. Dann änderten sie die Richtung, hofften auf eine Möglichkeit, sich abermals den Crow zu stellen.
Aber so leicht ließen sich die Crow nicht täuschen, auch sie waren hervorragende Fährtenleser. Sofort erkannten sie, dass sie nur noch die Spuren von zwei Pferden vor sich hatten, und teilten sich auf, um auch die anderen Reiter zu suchen. Zwei setzten Tötet-die-Crow und Roter-Fuchs nach, die anderen vier blieben Zwei-Pferde und Schwarzer-Fluss auf der Spur.
Die Crow hatten es nicht eilig. Bald würden sie die Pecuni ohnehin einholen, außerdem wussten sie, dass sie sich dem Kampf stellen würden. Die beiden Crow, die Tötet-die-Crow und Roter-Fuchs folgten, erkannten außerdem an den deutlichen Blutstropfen, dass einer der Krieger vor ihnen verletzt sein musste.
Mutig stellte sich ihnen Roter-Fuchs in den Weg, während das verletzte Mädchen unter den Bäumen verschwand.
Zu zweit näherten sich die Crow, warteten geringschätzig auf den Krieger, der sich ihnen in den Weg stellte. Sein Pfeil zischte haarscharf an ihnen vorbei und mit gezogenem Tomahawk stellte sich Roter-Fuchs seinen Feinden entgegen.
Die Crow waren gereizt. Zu viele waren bei dem Angriff auf das Dorf getötet worden. Der Feind vor ihnen war groß und schwer, also gingen die beiden Crow gleichzeitig auf ihn los.
Kurz dachte Roter-Fuchs an Tötet-die-Crow und an seine Frau, die zu Hause auf ihn wartete, dann spaltete ein Schlag seinen Schädel.
Es war ein kurzer und ungleicher Kampf, aber den Crow war nicht nach Ehre zu Mute, sondern nach Rache. Sofort setzten sie dem verwundeten Pecuni hinterher, um auch diesen in die Geisterwelt zu schicken. Siegesgewiss näherten sie sich langsam, ihre Aufmerksamkeit gänzlich auf den Feind vor sich gerichtet.
Tötet-die-Crow zitterte. Eine plötzliche Kälte in ihrem Körper ließ sie erschauern, zudem pochte die Wunde in ihrer Hüfte. Sie wusste, dass die Crow kurz hinter ihr waren, und wartete auf den tödlichen Pfeil. Zusammengesunken hockte sie auf dem Pony, wünschte sich einen kühlen Schluck Wasser für ihren staubtrockenen Mund. Ein Kriegsschrei forderte sie zum Kampf heraus, aber sie hatte nicht einmal mehr die Kraft den Kopf zu heben. Wieder schwoll das Rauschen in ihren Ohren an, dann traf sie der längst erwartete Pfeil an der Schulter. Von der Wucht des Aufpralls verlor sie das Gleichgewicht und stürzte vom Pferd. Ehe sie noch den weichen Waldboden berührte, war sie in eine gnädige Ohnmacht gefallen.
Die Verbannung
(Bei den Lakota, westlich des Little-Bighorn Flusses)
Nata-He-Yukan warf einen verzweifelten Blick auf seine Mutter, die vor Scham eine Decke über ihr Gesicht gezogen hatte. Eines Tages würde sie die Wahrheit erfahren!
Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er sich um. Stolz und aufrecht schritt er davon, ließ sich nichts von seiner Demütigung anmerken. Dabei dachte er an Bleza-Si und er fühlte den Hass in sich brodeln. Ja, dieser Hass würde ihn am Leben erhalten und eines Tages würde es eine Gelegenheit geben, sich zu rächen.
Mit düsteren Gedanken ging er an den erlegten Büffeln vorbei, ignorierte die Frauen, die beschämt die Köpfe wegdrehten, als sie ihn sahen. Sollten sie ihn nur verachten, eines Tages würden sie anders von ihm denken.
Im Moment schlug der Sinn für das Praktische bei ihm durch. Er trug nur das, was er am Leibe hatte, und sein Magen knurrte.
Wenigstens hatte er noch seinen Bogen und sein Messer steckte im Gürtel. Im Vorbeigehen zog er ein paar Pfeile aus den Kadavern und er überlegte, ob er sein Pony rufen sollte. Noch war es in Rufweite! Aber dann dachte er daran, wie die anderen verächtlich über ihn reden würden und gönnte ihnen diesen Triumph nicht. Er wandte sich nach Westen, fort von den Jagdgründen seines Volkes.
Es dämmerte bereits und er hatte keine Ahnung, wohin er eigentlich gehen sollte. Im Süden lebten die Pawnee, im Norden die Blackfeet, im Westen die Crow, Shoshone und Ute, alle begierig darauf, seinen Skalp an ihre Gürtel zu hängen.
Allein, ohne den Schutz seines Dorfes, wäre er eine leichte Beute für jeden seiner Feinde. Aber er hatte keine Wahl!
Noch bewegte er sich in seinen Jagdgründen, war also halbwegs sicher, doch langsam wurde ihm die Aussichtslosigkeit seiner Situation bewusst. Er hatte keine Kleidung, keine Nahrung, kein Pony, wo sollte er den Winter überleben? Quälende Fragen schossen durch seinen Kopf, dabei wusste er noch nicht einmal, wo er die nächste Nacht verbringen sollte. Der lange Schatten des nächsten Höhenzuges mahnte ihn, dass er dringend einen Unterschlupf suchen musste.
Zwischen einigen vertrockneten Büschen grub er sich mit dem Messer eine Kuhle, dann sammelte er in einem weiten Kreis die verdorrten Äste zusammen und schlug dabei immer wieder mit einem Ast auf den Boden, um eventuelle Klapperschlagen zu vertreiben.
Dann kniete er sich hin, um ein Feuer zu machen. Seine Handflächen wurden wund, als er endlos einen schmalen Zweig zwischen seinen Händen drehte, bis endlich ein Funke in das strohtrockene Gras sprang, das er als Zunder benutzte.
„Jede Frau stellt sich geschickter dabei an!“, stellte er ernüchtert fest. Frierend saß er mit nacktem Oberkörper vor dem kleinen Feuer und zählte in Gedanken auf, was er alles zurückgelassen hatte. Wo sollte er das jetzt herbekommen?
Er brauchte ein Hemd, eine Decke, eine Unterkunft, neue Waffen! Tränen der Wut stiegen in ihm hoch, als er an die Demütigung dachte, die sein Volk ihm angetan hatte. Dann dachte er mit Schrecken an seine Mutter. In welchem Zelt würde sie jetzt wohl wohnen müssen? Wer kümmerte sich nun um seine kleine Schwester? Wenn ihnen etwas zustieß, dann würde er furchtbare Rache üben!
Die gnadenlose Kälte der Nacht griff mit klammen Händen nach seinem ungeschützten Körper und ihm wurde bewusst, dass er viel zu leicht angezogen war. Frierend legte er sich in die Kuhle und deckte sich mit Sand und Grasbüscheln zu.
Kurz vor Morgengrauen weckte ihn die Kälte und zitternd fuhr er hoch. Er glaubte sich in einen schlechten Traum versetzt, aber dann holte ihn die Realität wieder ein.
Wenn er nicht schnellstens einige Felle bekam, würde er erfrieren. Es war Spätsommer, bald käme der Herbst und mit ihm der erste Frost. Dann musste er sich für den Winter rüsten. Wo sollte er überhaupt hin? Aufrecht stellte er sich hin und streckte seine Arme der aufgehenden Sonne entgegen. Die Einsamkeit traf ihn, und zum ersten Mal in seinem Leben war er völlig verwirrt. Nicht einmal bei seiner Visionssuche hatte er eine solche Verlassenheit gespürt, denn damals hatte er gewusst, dass er einen tierischen Begleiter finden würde, der ihm Kraft verleihen würde. Jetzt hatte er alles verloren, was ihm vertraut war, und flehend suchte er die Hilfe seines Traumtieres: „Schildkröte! Ich bin allein! Gib mir die Kraft, die Zeit der Verbannung zu ertragen! Zeige mir, wohin ich gehen soll!“
Er machte sich weiter auf den Weg, entspannte seine steifen Muskeln im warmen Sonnenschein. Seine geübten Augen tasteten über den Boden und suchten nach Spuren. Sein Magen knurrte unüberhörbar und lenkte ihn ab. Er musste jagen, denn mit vollem Bauch konnte er besser nachdenken.
Er erlegte ein Kaninchen und nahm sich die Zeit, ein Feuer zu entfachen und es zu braten. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, als er endlich in das saftige Fleisch biss.
Dann legte er sich zurück und sah den Wolken zu. Sollte er sich einem anderen Stamm seines Volkes anschließen und dort die Zeit abwarten, bis er zurück konnte?
Aber er wollte nicht als Bettler erscheinen, als jemand, der nichts hatte! Nein! Sein Volk hatte ihn davongejagt und er würde die Strafe hinnehmen, ihnen beweisen, dass er es auch allein schaffte! Er hatte Kalter-Stein nicht im Stich gelassen und das würde er beweisen, indem er nach vier Wintern zurückkehrte!
Ein Adler schwebte in der Ferne davon und lächelnd blickte er ihm nach. Ein gutes Zeichen!
Er würde dem Adler folgen, der auch allein seine Kreise am Himmel zog! Vielleicht sollte er in die Berge ziehen, sich ein Nest suchen, weit oben, wie es der Adler tat?
Warum sonst schickte die Schildkröte ihm dieses Zeichen! Er würde sich ein kleines Tal suchen, wo die Gefahr nicht so groß war, entdeckt zu werden. Hier war es ihm sowieso zu kalt! Auf der offenen Prärie hätte er im Winter so gut wie keine Überlebenschancen. Mit neuem Mut brach er auf, hatte nun ein Ziel, das es zu erreichen galt. Die fernen Berge! Mit weiten Schritten holte er aus, unermüdlich suchten seine Augen nach Gefahren, denen es auszuweichen galt oder nach Wild, das er erlegen könnte. Vielleicht sollte er eine Antilope erlegen, denn das Fell würde ihm nützen. Aber wer sollte für ihn nähen? Abgesehen von der Gefahr, dass irgendwelche Feinde ihn ausfindig machten, stellten sich ihm schwer lösbare Probleme. Er war ein Krieger und Jäger! Das Verarbeiten der Felle war Frauenarbeit!
Er hatte nicht einmal Sehnen oder eine Nadel zum Nähen!
Er reduzierte das gesamte Dilemma, in dem er steckte, auf einen Namen: Bleza-Si!
Er würde dessen Gedärme bei lebendigem Leib auf einen Stock drehen!
Hasserfüllt trabte er immer weiter nach Westen, folgte einem Bachlauf und achte scharf auf irgendwelche Veränderungen in der Landschaft. In der Ferne sichtete er eine Herde Antilopen und entschlossen trabte er im schnellen Dauerlauf darauf zu. Vielleicht konnte er am Morgen ein Tier erlegen, wenn es zur Tränke kam?
In der Nacht regnete es leicht und langsam kamen ihm doch Zweifel, ob er es schaffen konnte. Der Baum, unter dem er sich verkrochen hatte, bot kaum Schutz und er war gezwungen sich einen Unterschlupf aus Zweigen zu bauen.
Am Morgen war alles nass, und so konnte er unmöglich weiter gehen. Die Mokassins wären im Nu durchnässt und er würde sich seine Füße blutig laufen.
Missmutig beschloss er, einige Tage in der Senke zu verbringen, um zu jagen und sich einfache Kleidung zu nähen. Geduldig legte er sich auf die Lauer und wartete auf die Antilopen, die sich misstrauisch dem Ufer näherten. Sein Pfeil traf ein Tier, das sich auf die vermeintliche Sicherheit der Herde verlassen hatte, während die anderen Antilopen in hohen Sätzen verschwanden. Geschickt schlug er das Tier aus seiner Decke, dann trennte er vorsichtig die Rückensehne heraus, denn damit konnte er später vielleicht etwas nähen. Wenn man die Sehne trocknete, ließ sie sich ganz einfach zwischen den Fingern teilen, und es entstanden lange, dünne Fäden, die er brauchte, um später Kleidung herzustellen. Nur mit seinem Messer kratzte er vorsichtig das Fleisch und Fett von der Haut. Mehrmals ritzte er dabei die Haut, aber er hatte kein geeignetes Werkzeug dabei. Schließlich hielte er das steife Ding vor sich, das ziemlich nach nassem Leder stank, schnitt eine Öffnung in die Mitte und zog es wie einen Poncho über den Kopf. Wan! Wenigstens war es warm!
Er verbrachte zwei Tage in der Senke, briet das Fleisch der Antilope und wartete darauf, dass das Wetter besser wurde. Dann wanderte er weiter in Richtung der Berge, die in der Ferne leuchteten. Das einzige Wegzeichen, an das er sich hielt. Es war mühsam und er wünschte sich sein Pferd herbei.
Die Prärie erstreckte sich nicht in sanften Wellen, sondern lag wie ein sturmgepeitschter Ozean vor ihm, mit grotesken Formationen. Immer wieder stand er auf einem kegelförmigen Hügel oder tischartig abgeflachten Berg, um in die Ferne zu sehen. Er wurde vorsichtiger, ging lieber in der Nacht, damit ihn keine Feinde erspähten, aber auch, weil er nachts entsetzlich fror. Tagsüber kuschelte er sich in den sandigen Boden, gewärmt von den Strahlen der Sonne und döste übermüdet.
Nur in der Dämmerung erlaubte er es sich, ein kleines Feuer zu entfachen, um das Fleisch der Tiere zu braten, die er unterwegs getötet hatte.
Manchmal war er gezwungen, einige Tage in einem Unterschlupf zu bleiben und er übte sich im Gerben. Verzweifelt versuchte er, sich daran zu erinnern, was seine Mutter getan hatte, um das Leder weich zu bekommen. Der Poncho war inzwischen so steif wie ein Stück Holz und stank unangenehm.
Seine Mokassins wurden löchrig, immer wieder musste er eine Naht mit einem Stück Sehne flicken und es war absehbar, wann sie auseinander fallen würden. Außerdem brauchte er unbedingt Leggins, denn seine Beine waren von den Dornen und dem scharfkantigen Gras völlig zerkratzt. Er wickelte sich dicke Fellstreifen um die Waden, nicht nur gegen die Dornen, sondern auch gegen die Klapperschlangen. Allerdings bezweifelte er, ob das Leder wirklich einen ausreichenden Schutz gegen einen Biss bot. Warum machte er sich überhaupt die Mühe, seine Beine oder abends sein Lager vor den Klapperschlangen zu schützen? Warum hoffte er nicht einfach auf den tödlichen Biss einer seiner schleichenden Brüder und alles wäre zu Ende!
Langsam veränderte sich die Landschaft. Endlose Prärie wurde durchbrochen von Ausläufern kleinerer Wälder, das ewige Braun der Steppe verwandelte sich in das Dunkelgrün der Pinien.
Unbeirrbar folgte er dem kreisenden Adler, erklomm die ersten Höhenzüge und drang tiefer in die Bergwelt vor. Weiße Felsen wechselten sich mit rotem Gestein ab, dazwischen krallten sich die Wurzeln der Bäume in den kargen Boden zwischen den Felsen. Die Berge waren fast vollständig bewaldet. Dichter, undurchdringlicher Wald, dunkel und düster, öffnete sich zu grünen Bergwiesen oder lichter stehendem Baumbewuchs.
Nur die hohen Gipfel der Berge waren spärlich bewachsen, auf einigen lag bereits der erste Schnee und bedeckte die kargen Geröllhänge.
Die Luft kühlte tagsüber merklich ab, ohne dass es nachts wesentlich kälter wurde.
Nata-He-Yukan hatte sogar den Eindruck, dass es hier milder war, weil der ewige Wind durch die Berge und Wälder gebremst wurde. Hier waren die Jagdgründe der Crow, obwohl er bisher noch keine Anzeichen ihrer Anwesenheit bemerkt hatte. Meist lebten sie nördlich der Berge in den sanften Tälern, an Flussläufen verteilt, aber sie kamen durchaus auch zur Jagd hierher.
Nata-He-Yukan fürchtete sie nicht. Er war in der Lage sich zu verteidigen und selbst der Tod schreckte ihn nicht. Mehr Angst machte ihm tatsächlich die Einsamkeit, außerdem fehlten ihm Pfeife und Tabak. Er verbrannte Salbei und Süßgras, damit seine Gedanken zu Wakan-tanka getragen wurden. Seit mehr als zehn Mal zwei Tagen hatte er mit niemandem mehr gesprochen, und so führte er Selbstgespräche, um die Stille zu vertreiben. Vier Winter! Das war eine entsetzlich lange Zeit, wenn er sie denn überlebte.
Nach drei weiteren Tagen hatte er endlich gefunden, wonach er suchte: eine geräumige Felsenhöhle, offensichtlich das Winterquartier eines Bären, wie er unschwer an den Tatzenabdrücken erkennen konnte. Der Adler hatte seinen Nistplatz auf einem hohen Felsen, den er von seiner Höhle aus in der Ferne sehen konnte, und Nata-He-Yukan fühlte sich durch ihn beschützt.
„Danke, mein Bruder! Du fliegst hoch! Warne mich, wenn du Feinde erspähst!“
Es war nicht ungefährlich, trotzdem entschied er sich, hier zu bleiben und die Höhle, wenn nötig, gegen den vierbeinigen Widersacher zu verteidigen. Der Boden war weich und trocken, im hinteren Bereich hatte die Höhle einen zweiten, wenn auch winzigen, Ausgang, durch den er sich knapp durchzwängen konnte. Den Vordereingang der Höhle verengte er durch Äste und Zweige, die er mit Steinen und Erde beschwerte. Anschließend verhängte er das verbliebene Loch mit einem Fell und betrachtete zufrieden sein Werk.
Jetzt konnte er sich an andere Dinge machen. Neugierig erkundete er die nähere Umgebung, prägte sich jeden Schritt und Tritt ein. Er erlegte eine flinke Bergziege, doch nicht das Jagen war das Problem, sondern das Verarbeiten. Wie sehr wünschte er sich seine
Mutter herbei, die mit ihren geschickten Händen wunderschöne Sachen herstellen konnte.
Auf mehreren Gestellen neben dem Höhleneingang trocknete das Fleisch in der Sonne und insgeheim war er stolz darauf, dass er langsam Fortschritte machte. Vielleicht sollte er Wasna herstellen? Noch gab es in der Umgebung Beeren und Pinienkerne, die er zusammen mit dem getrockneten Fleisch und Fett zu einer schmackhaften Masse zerstampfen konnte.
„Ich wäre eine gute Ehefrau!“, scherzte er mit sich selbst. Überhaupt, wozu brauchte er die anderen? Sollten sie doch ohne ihn fertig werden! Er brauchte niemanden! Manchmal warf er dem Adler etwas von seiner Beute hin und sah zufrieden, wie der gefiederte Bruder seinen Dank annahm.
Ihm blieb keine Zeit, großartig über sein Schicksal nachzudenken. Stattdessen entwickelte er eine gewisse Routine im täglichen Überleben. Morgens wusch er sich wieder regelmäßig, achtete darauf, dass er gepflegt und sauber war. Auch seine Haare kämmte er mit einem Kamm, den er sich geschnitzt hatte. Eitel, wie er war, ließ er sie wieder offen über den Rücken fallen. Er jagte Bighornschafe und versuchte das Fell richtig zu gerben. Seine Versuche endeten damit, dass er halbwegs brauchbare Leggins bekam, die er nicht nähte, sondern an den Fransen zusammenknüpfte. Ähnlich schneiderte er sich ein warmes Lederhemd, welches den stinkenden Poncho ersetzte.
Die Blätter der wenigen Laubbäume färbten sich in strahlendes Gelb, manchmal gemischt mit Rottönen. Herbst und Winter kamen schnell in diesem Land.
Nata-He-Yukan sammelte fast vertrocknete Pflaumen, stahl den Eichhörnchen ihre mühsam angelegten Nussvorräte und sammelte Brennholz. In der Nähe des Eingangs brannte stets ein kleines Feuer, um den Bären aufzuhalten, sollte dieser in sein Winterquartier schlüpfen wollen. Anfangs hatte sich der Rauch des Feuers in der Höhle gesammelt, bis er hustend und spuckend geflüchtet war. Doch dann hatte er oberhalb des Eingangs ein Loch gelassen, das als Rauchabzug diente. Geduldig legte er das Holz neben das Feuer, damit es trocknen konnte, ehe er es verbrannte. Und so war es ihm gelungen, die Höhle für den Winter bewohnbar zu machen.
Seine Streifzüge führten ihn jetzt in die weitere Umgebung. Morgens lag bereits der erste Frost auf den Halmen und mahnte ihn an den kommenden Winter. Verschwunden war die flimmernde Luft des heißen Sommers, stattdessen herrschte in der klaren Luft eine Fernsicht, die schmerzte. Alle Farben, alle Umrisse traten überdeutlich hervor, als wäre die Luft von der Kälte gereinigt worden.
Oft regnete es und Nata-He-Yukan war gezwungen in seiner Höhle zu bleiben, um die wenige Kleidung zu schonen, die er hatte. Dann traf ihn die Einsamkeit mit ganzer Wucht. Noch nie hatte er eine solche Verlassenheit gespürt, denn immer war irgendjemand um ihn gewesen. Seine Freunde, seine Mutter, seine Schwester, die Dorfbewohner. Er stürzte ins Bodenlose, fühlte sich wie ein Falke im Sturzflug, nur dass auf der Wiese keine Maus wartete, die er packen konnte.
Manchmal wäre er am liebsten in ein Dorf der Crow geritten, damit sie ihn töten könnten. Lieber ein ehrenvoller Tod als diese Leere. Aber er wollte nicht aufgeben. In seinen Tagträumen verfolgte ihn die gespaltene Lippe seines Widersachers und dann arbeitete er wutentbrannt an seiner Ausrüstung.
„Ich komme wieder!“, schwor er sich selbst. In seinen Händen entstanden neue Pfeile, ein Speer, nur mit neuen Mokassins tat er sich schwer. Das war wirklich ein Problem. Er wickelte sich Felle um die Füße, die er mit Lederstreifen festband. Sie hinterließen so merkwürdige Abdrücke, dass vermutlich kein Feind auf die Idee käme, die Spur eines Menschen vor sich zu haben.
Aber noch war er niemandem begegnet, nicht einmal von fern hatte er eine Rauchsäule gesehen, die ihm die Anwesenheit von Menschen bestätigt hätte.
So nutzte er die schönen Tage für die Jagd, verwischte sorgsam alle Spuren, die zu seiner Höhle führten und richtete sich für den Winter ein. Er brauchte unbedingt noch ein Bisonfell, damit er eine warme Decke hatte, und so kletterte er öfter ins Tal, um dort nach den lockigen Brüdern zu suchen. Ihr Fell würde bereits für den Winter dicht und warm sein, genau das, was er für die langen Nächte brauchte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Büffel im Herbst in die bewaldeten Hügel zurückzogen war groß, denn nicht einmal die Büffel setzten sich den winterlichen Stürmen in der offenen Prärie aus. Auf seiner Suche lief er lange Strecken, immer auf der Hut vor möglichen feindlichen Jägern. Er hielt sich in der Deckung der Pinien und Kiefern, suchte die Gebiete nördlich der Berge auf, damit die Wälder ihn schützten. Vielleicht konnte er sich an ein feindliches Dorf heranschleichen und sich die Ausrüstung, die er brauchte, einfach stehlen?
Das wäre ein Spaß! So einem Crowweib die Mokassins aus dem Tipi zu stehlen, das wäre eine Herausforderung! Doch seine Feinde hatten sich offensichtlich weit nach Norden verzogen, auch um dem Druck der Lakota zu entgehen, die immer weiter nach Westen drängten. Nata-He-Yukan grinste freudlos. Ja, die Crow hatten gute Jagdgründe bewohnt! Doch jetzt gehörte das Land des fetten Grasflusses den Lakota!
Ihn fröstelte und er überlegte, ob er nicht besser in seine Höhle zurückkehren sollte. Waziya, der Herr des Nordwinds, blies mit seinem kalten Atem und bald würde der erste Schnee fallen.
Dann duckte er sich erschrocken hinter einen Baum, als er unweit einige berittene Crow entdeckte. Deutlich erkannte er die kunstvolle Haarfrisur und die prächtig bestickten Hemden. Crow auf dem Kriegspfad!
Nach der Einsamkeit der vergangenen Monde traf ihn die Anwesenheit seiner Feinde wie ein Schock, erinnerte ihn unsanft daran, dass er sich mitten in feindlichem Gebiet befand.
Die Aufmerksamkeit hatte nachgelassen und er hatte sich von der trügerischen Ruhe blenden lassen. Wan! Fast hätten die Feinde ihn entdeckt! Griffbereit lag sein Bogen in seiner Hand, dann sah er bereits, wie einer der Krieger langsam zwischen den Kiefern auf ihn zuritt.
Irgendetwas hatte doch dessen Aufmerksamkeit erregt und nun näherte er sich misstrauisch. Nata-He-Yukan wand sich wie ein Fisch im Netz. Wenn dieser Crow ihn fand, dann wäre er verloren, hätte bald den ganzen Stamm auf dem Hals.
Entschlossen legte er einen Pfeil auf die Sehne, schnellte aus seiner Deckung und schoss. Kurz flammte die Überraschung in den Augen des anderen auf, dann stürzte er geräuschlos von seinem Pferd. Ohne weiter auf ihn zu achten rannte Nata-He-Yukan hinter dem anderen Crow her. In der Ferne verschwand ein weiterer Reiter zwischen den Bäumen. Gleich würden sie das Verschwinden ihres Freundes bemerken und die Gefahr ahnen.
Der weiche Boden verschluckte das Geräusch seiner langen Sätze, mit denen er den beiden Crow hinterherrannte. Er verharrte atemlos, als er bemerkte, wie der hintere Mann innehielt und sich suchend umdrehte. Ein forderndes Rufen erklang. Dann, als keine Antwort erfolgte, riss der Crow seine Keule aus dem Gürtel. Zu spät! Ein Pfeil traf ihn in der Gurgel und verzweifelt griff der Mann an seinen Hals, schnappte hilflos nach Luft. Nata-He-Yukan hatte ein Würgen in seinem Hals, denn was er hier tat, war schändlich, ohne jede Ehre. Er tötete aus dem Hinterhalt, schoss auf ahnungslose Feinde, doch er musste es tun, wenn er überleben wollte. Mit zusammengebissenen Zähnen machte er sich auf den Weg, den Letzten der Crow zu töten. Hoffentlich hatte dieser etwas gemerkt und lieferte ihm einen wahren Kampf.
Das Pony des hintersten aber trottete ohne Eile dahin, der Mann saß zusammengesunken auf dessen Rücken, als schliefe er.
Nata-He-Yukans Kampfruf schallte durch die Wildnis und entschlossen zogen sich seine Lippen nach unten. Seine Hand umschloss fest den Bogen, als er diesen Feind hinterherstürmte. Jetzt! Sein Pfeil traf den Mann an der Schulter und befriedigt sah er zu, wie der Crow vom Pferd stürzte und reglos liegen blieb. Ohne zu zögern zog er sein Messer, um dem Feind den Todesstoß zu versetzen.
Winyan-o‘hanschitscha
(Little-Bighorn Berge, Ausläufer der Rocky Mountains)
Nata-He-Yukan drehte den Körper des Crow um und setzte ihm das Messer an die Kehle. Mitten in der Bewegung erstarrte er und blickte verblüfft auf den Feind. Es war kein Crow! Es war überhaupt kein Mann! Es war ein Mädchen in Männerkleidung. Er war so verblüfft, dass er vorsichtshalber das Hemd hochschob, doch ihre Brüste bewiesen ihm, dass er tatsächlich ein Mädchen vor sich hatte. Hoh!
Sofort nahm er die klaffende Wunde an ihrer Hüfte wahr, aber auch sein Pfeil hatte ein Übriges getan, sodass sie nun schwer verletzt vor ihm lag. Ihr Atem war nur noch ein feiner Hauch und kalter Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Seufzend steckte er das Messer weg, dann sicherte er mit einem kurzen Blick die Umgebung. Was sollte er jetzt tun? Und was sollte er mit einem schwer verletzten Mädchen? Waren noch mehr Crow in der Nähe, die sie verfolgten?
Alles war eine Bedrohung für seine kleine Welt, die er sich aufgebaut hatte. Auch die Leichen der beiden Crow waren ein Problem. Sicherlich würden andere Stammesmitglieder nach ihnen suchen, dann wäre er entdeckt!
Außer sie dachten vielleicht, dass jemand anderer sie getötet hatte!
Mit einem Grinsen nahm er zwei Pfeile aus dem Köcher des Mädchens und lief zu den getöteten Crow zurück. Kaltblütig entfernte er seine eigenen Pfeile aus den Wunden und steckte stattdessen die Pfeile des Mädchens in die Körper der Crow. Prüfend drehte er einen weiteren Pfeil in seinen Händen. „Blackfeet!“, entschied er schließlich. War das Mädchen vom Volk der Blackfeet? Ohne Hemmungen zog er den Leichen die Mokassins aus und probierte sie an seinen Füßen an. Er konnte sich Verschwendung nicht leisten. Sie waren ein wenig zu groß, aber wenn er etwas Moos hineinstopfte würde es schon gehen. Auch die schönen Kriegshemden nahm er mit, nichts Ungewöhnliches, denn die Kriegshemden der Crow waren begehrte Tauschobjekte. Jeder Feind hätte sie mitgenommen! Sanft lockte er die Ponys der zwei Krieger, die irritiert in der Nähe standen und darauf warteten, dass ihre Herren nach ihnen riefen. Mit einem Mal hatte er drei Pferde, ein wahrer Reichtum für ihn!
Mit den Pferden am Zügel kehrte er zu dem Mädchen zurück, das unverändert auf dem Boden lag, fast tot, aber hier konnte er sie nicht versorgen, nicht mit der Gefahr weiterer Feinde in der Nähe. Er legte sie vor sich in den Sattel, band ihr Pony an den Zügeln des anderen Pferdes fest und machte sich auf den Rückweg zu seiner Höhle.
Unterwegs dachte er nach, fühlte das Mädchen an seinem Körper und hoffte, dass sie überleben würde. Wieso hatte er sie nicht getötet? Sie trug eindeutig Waffen, durfte somit keine Gnade erwarten. Auch die Blackfeet waren seine Feinde, obwohl die Lakota
nicht oft auf diesen Stamm trafen. Aber irgendwie hatte er Hemmungen, ein Mädchen zu töten, das sich nicht verteidigen konnte. Außerdem interessierte ihn, welche Bewandtnis es mit ihr hatte. Wieso trug sie Jungenkleidung?
Er fand, dass sie lächerlich damit aussah, unschicklich. Ein Lendenschurz, wo es überhaupt keine Lenden gab!
Ihr knabenhafter Körper schaukelte im Schritt des Pferdes hin und her und er lächelte. Sie wirkte wirklich nicht wie ein Mädchen, nur ihr Gesicht war zart, mit feinen Linien gezeichnet. Ihr Kopf baumelte schlapp nach unten, ebenso ihre kurzen Zöpfe, die einen zierlichen Nacken entblößten. Vielleicht war sie eine Gefangene gewesen, der es gelungen war, ihren Feinden zu entkommen? Was sollte er bloß mit einem Mädchen? Der Winter würde bald kommen, dann müsste er seine Vorräte teilen, es würde mühsamer werden, zwei Menschen zu ernähren. Abgesehen davon, dass er für niemanden verantwortlich sein wollte, wenn sie überhaupt überlebte. Kurz fasste er an ihren Hals, prüfte, ob sie noch atmete.
Endlich hatte er seine Höhle erreicht und behutsam legte er die Fremde auf sein Lager, doch dann ging er erst eine gute Strecke zurück und verwischte sorgfältig alle Spuren. Ihre Überlebenschancen nahmen ohne Behandlung der Wunden stetig ab, aber er durfte sein Versteck nicht verraten. Geduldig richtete er Grashalme wieder auf, drehte einzelne Kiesel um, bis nichts, aber rein gar nichts mehr seine Anwesenheit verriet. Erst dann kehrte er in sein Tal zurück. Die Ponys suchten in der Nähe nach Gras und einigermaßen beruhigt schlüpfte er in seine Höhle, um nach der verwundeten Frau zu sehen. Hoh!
In ihrer Hüfte steckte noch die Pfeilspitze. Die Blutung hatte zwar aufgehört, aber wenn er die Pfeilspitze entfernte, würde die Wunde wieder aufbrechen. Er biss sich besorgt auf die Lippen. Er war kein Heiler oder Medizinmann, eigentlich hatte er von Wunden wenig Ahnung, hatte plötzlich eine ungeheure Angst, etwas falsch zu machen. Wenn er die Pfeilspitze einfach stecken ließ? Dann würde sie eitern, soviel wusste auch er.
Hunhunhe! Wenig begeistert schürte er das Feuer, zog der Frau die Sachen aus und drehte sie auf den Bauch. Dann beugte er sich über ihren schweißgebadeten Körper und stach in das wunde Fleisch. Yun! Das Blut von erlegten Tieren machte ihm nichts aus, aber jetzt stieg ein verräterisches Würgen in ihm hoch. Tapfer bohrte er weiter, versuchte mit der Messerspitzte unter den Pfeil zu kommen. Vorsichtig fischte er danach, schob den Fremdkörper immer weiter aus ihrem Fleisch nach oben.
Dann säuberte er die Wunde und versuchte mit einem brennenden Ast die Blutung zu stillen. Es stank erbärmlich und wenig heldenhaft fühlte er, wie ihm die Magensäure nach oben stieg. Mit Müh und Not schaffte er es vor die Höhle, dann rebellierte sein Magen.
Er schöpfte einige Handvoll frischen Wassers aus dem nahen Bach, um den schalen Geschmack aus seinem Mund zu bekommen, dann kroch er wieder in die Höhle. Prüfend musterte er die Wunde, aber die Blutung schien aufgehört zu haben.
Aus Lederstreifen legte er einen festen Verband an, ärgerte sich ein wenig, dass er dafür eine wertvolle Haut zerschnitt. Seine Lippen pressten sich energisch zusammen, als er daran ging, die zweite Verletzung zu behandeln. Mit einem Ruck zog er wenig zartfühlend seinen Pfeil aus ihrer Schulter, der zum Glück nicht so tief steckte, legte einen weiteren Verband an und wusch ihren Körper sauber. Vorsichtig legte er das Mädchen auf sein Lager und betrachtete prüfend sein Werk. Ohne diese lächerlichen Knabenkleider wirkte sie schon eher wie ein Mädchen, zumindest hatte sie hübsche, feste Brüste, die ihm unter dem Hemd nicht weiter aufgefallen waren.
Jetzt fielen sie ihm auf und behutsam streichelte er über ihre zarte Haut. Seine Finger zitterten plötzlich und ungewohnte Gefühle stiegen in ihm hoch. Fast erschrocken zog er seine Hand zurück, dabei konnte er seine Augen nicht von den Brüsten des Mädchens abwenden. Mit einem Kopfschütteln stand er auf und deckte sie behutsam zu. Was sollte das? Schließlich war sie verletzt!
Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass er sie gefunden hatte? Sie könnte ihm die lästigen Frauenarbeiten abnehmen, kochen, nähen und, wie sagte seine Mutter, seine Lenden erfreuen? Sein Atem ging schneller, als er sich vorstellte, wie es wäre, auf ihr zu liegen, ihren Körper zu spüren, eins mit ihr zu werden. Andererseits hatte er Angst vor dem Unbekannten. Wie behandelte man eigentlich eine Frau? Dunkel konnte er sich an das Flüstern und Stöhnen unter der Decke erinnern, wenn sein Vater Liebe mit seiner Mutter gemacht hatte. Aber was wirklich passiert war, das hatte er nicht gesehen.
Draußen war es inzwischen dunkel. Trotzdem suchte er nochmals nach den Pferden und nahm ihnen die Sättel ab. Die Crow hatten schöne Pferdedecken, stellte er fest, gut genug, um sie als Schlafdecken zu nutzen.
Dann sammelte er einige Tannenzweige, um auch für sich ein Nachtlager zu bauen. Er zerrte sie in seine Höhle und legte eine der Decken darüber.
Manchmal schaute er nach dem Mädchen, wischte ihr den Schweiß von Stirn und Hals, versuchte ihr etwas zu trinken einzuflößen. Er hatte kein Gefäß und so war es fast unmöglich, ihr mit der flachen Hand Wasser in den Mund zu gießen. Am nächsten Morgen wollte er eine Schale schnitzen, denn damit wäre es einfacher. Wachsam hörte er auf die Stimmen der Nacht, doch dann legte er sich beruhigt auf sein Lager, wickelte sich in die erbeutete Decke, um zu schlafen. Er konnte lange nicht einschlafen, denn die Ereignisse des Tages hatten ihn aufgewühlt. Immer noch pulsierte nach dem Kampf das Blut in seinen Adern und seine Hände wurden heiß, als er an die zarte Haut des Mädchens dachte.
Am Morgen glühte die Verletzte vor Fieber und wälzte sich unruhig hin und her. Er befürchtete, dass so die Wunden wieder aufbrechen würden oder sie dem Feuer zu nahe kam. So hieb er zwei Pflöcke in den Boden und band sie mit gestreckten Armen fest. Auf diese Weise lag sie bequem auf dem Rücken, konnte sich aber nicht mehr hin und her wälzen.
Wieder war sie schweißgebadet und geduldig wusch er sie sauber, erneuerte ihre Verbände. Dann suchte er nach einem geeigneten Stück Holz, um daraus eine Schale zu schnitzen. Er verbrachte den ganzen Vormittag damit, dann betrachtete er stolz das schiefe Ding, das in seinen Händen entstanden war. Aber man konnte es mit Wasser füllen und sein Rand war dünn genug, um ihn zwischen ihre Lippen zu schieben.
Vorsichtig hob er ihren Kopf und versuchte ihr etwas Wasser einzuflößen. Das Mädchen war völlig ausgedörrt, selbst in ihrer tiefen Ohnmacht nippte sie an dem Wasser, als wüsste sie, dass sie sonst sterben würde. Für ihn war das ein gutes Zeichen, denn viel mehr konnte er nicht tun. Er bereitete einen fiebersenkenden Tee zu und sammelte einige Kräuter gegen Wundbrand, ansonsten verließ er sich einfach darauf, dass die Zeit die schweren Wunden heilen würde.
Immer wieder suchte er das Tal auf und legte sich auf die Lauer, um auszuspähen, ob irgendwelche Feinde auftauchten. Er misstraute dem scheinbaren Frieden, rechnete damit, dass weitere Crow nach dem Mädchen oder den beiden getöteten Kriegern suchen würden. Aber nichts rührte sich und so kehrte er stets beruhigt zu seiner Höhle zurück.
Besonders einfühlsam war er nicht. Damit die Fremde nicht auf das Lager urinierte, legte er ihr eine einfache Windel aus Leder und Moos unter, die er manchmal entleerte, ansonsten kümmerte er sich wenig um die Frau. Hin und wieder flößte er ihr Wasser oder Suppe ein oder kühlte ihre heiße Stirn. Nur waschen tat er sie gern, dann erfreute er sich an ihrem nackten Körper, tastete versuchsweise nach ihren festen Brüsten. Schüchtern stellte er sich vor, was er vielleicht bald mit ihr tun könnte.
Bisher hatte er sich Zurückhaltung und Selbstbeherrschung abverlangt, aber jetzt fühlte er eine Begierde in sich, die er bald nicht mehr kontrollieren konnte. Die Anwesenheit des Mädchens irritierte ihn und so versuchte er sich irgendwie abzulenken. Diese Art von Gefühlen war neu für ihn, verunsicherte ihn, und er versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bekommen.
Er musste ohnehin seine Waffen aufrüsten, für den Fall, dass neue Feinde auftauchten. So sammelte er Feuersteine für neue Pfeile, klopfte mit einem Stein, den er als Meißel benutzte, geduldig scharfe Steinsplitter ab und bastelte aus einem größeren Bruchstück einen Speer. Mit seinem Messer, das ebenfalls eine scharfe Steinklinge hatte, spaltete er Truthahnfedern und band sie mit den feineren Sehnen an die Pfeilschäfte.
All diese Aufgaben waren ihm vertraut und lenkten ihn von der Frau ab, die auf den Decken lag und um ihr Leben kämpfte. Wenn sie starb, wäre er wieder allein, aber er konnte auch nicht einschätzen, was geschah, wenn sie erwachte.
Manchmal kletterte er auf den höchsten Punkt der Berge, weit über die Baumgrenze hinaus und schaute nach Osten. Wie es wohl seiner Mutter ging? Ihm wurde schwer ums Herz, wenn er an sie und seine Schwester dachte. Wütend warf er einige Steine in die Luft, sah zu, wie sie auftrafen und eine kleine Gerölllawine auslösten.
Aufgeschreckt erhob sich der mächtige Adler in die Lüfte, seine Schwingen trugen ihn höher und majestätisch verschwand er nach Osten, fixierte mit einem Auge den Eindringling unter sich. „Ja, flieg nur! Sage meinen Brüdern, dass ich noch lebe!“, schrie er ihm nach. Wie eine Lawine würde er zurückkehren! Aber nicht als Habenichts, sondern reich, mit vielen Pferden, Fellen und anderen Dingen! Vielleicht sogar mit diesem Blackfeetmädchen!
Die Lakota sollten sehen, welch einen großartigen Krieger sie weggeschickt hatten. Stolz erhobenen Hauptes würde er zurückkehren, nicht wie ein geprügelter Hund! Ja, und seine Schwester würde für ihn tanzen! Wehmütig dachte er an das kleine Mädchen, hielt in Gedanken wieder ihre zarten Hände.
„Machpiya-ska!“, flüsterte er und schaute dabei sehnsüchtig in den Himmel.
„Sieh nur, diese weißen Wolken schicke ich dir!“ Mit geblähten Wangen pustete er in den Himmel und bildete sich ein, dass er die Wolken weiterwandern ließ.
Dann musste er über seine seltsame Idee lachen und sprang kopfschüttelnd auf. Es war längst dunkel, als er seine Höhle erreichte. Sofort beugte er sich über die fast erloschene Glut des Feuers und blies hinein. Er warf einige Tannenzapfen in die aufglühenden Funken, die lodernd in Flammen aufgingen. Kurz fühlte er nach dem Herzschlag des Mädchens, dann legte er zufrieden weitere Äste in das Feuer und beobachtete, wie der Rauch über die Öffnung oberhalb des Höhleneingangs abzog.
Zwei Schaffelle hingen zum Räuchern über der Feuerstelle, drehten sich langsam hin und her, wie in einem Tanz. Es erschien ihm bereits wie eine Ewigkeit her, dass sein Volk den Büffeltanz getanzt hatte. Die Zeit verging hier nur langsam, und es würde eine weitere Ewigkeit dauern, ehe er zurückkehren durfte.
Draußen fiel inzwischen der erste Schnee und es wurde kalt, bitterkalt. Meist trug er zwei Hemden übereinander, wenn er hinausging. Die Crowhemden erwiesen sich jetzt als wertvolle Beute. Innen prasselte ein warmes Feuer, das ihn wärmte, wenn er von seinen kurzen Ausflügen zurückkehrte.
Das Fieber des Mädchens war gesunken und er hoffte, dass sie bald aufwachte. Die lange Ohnmacht machte ihm Sorgen. Aber schließlich war es soweit: ihre Lider flackerten, dann öffneten sich riesige schwarze Augen, die in ihrem eingefallenen Gesicht deutlich hervorstachen. Wan!
Das Erste, was Tötet-die-Crow sah, war ein junger Crowkrieger, in dem Hemd mit den typischen Mustern dieses Volkes, der mit einem selbstgefälligen Grinsen auf sie hinunterblickte. Ihre Hände zuckten in Abwehr, aber sie konnte sie nicht bewegen, weil sie festgebunden waren. Sie war gefangen! Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie die Erinnerung daran einholte, wie der Pfeil sie getroffen hatte. Schmerzen!
In ihrer Hüfte pochte es, obwohl sie spürte, dass ein fester Verband um die Wunde lag, ebenso um ihre Schulter. Ansonsten war sie unter der Decke nackt und sie schämte sich wegen ihrer Blöße. Wo waren ihre Sachen? Wieso lag sie in einer Höhle?
Lebten die Crow in Höhlen? Sicherlich nicht! Sie konzentrierte sich wieder auf den Krieger, der sich über sie beugte und die Fesseln löste. „Nicht-bewegen!“, deutete er in Zeichensprache an. „Du-schwer-verletzt!“
Bewegen! Sie hatte nicht einmal die Kraft, mit den Kopf zu nicken, aber sie war froh, dass ihre Hände nicht mehr angebunden waren. Ihr Kopf wurde angehoben und sie fühlte, wie eine Schale ihre Lippen berührte. Durst! Gierig schlürfte sie das frische Wasser und schloss dann sofort wieder die Augen vor Anstrengung. Das Schlucken raubte ihr alle Kraft und völlig erschöpft fiel sie wieder in ihren Dämmerschlaf.
Nata-He-Yukan schwankte zwischen Befriedigung und Besorgnis. Manchmal hatte er nicht geglaubt, dass sie je aufwachen würde, so nahm er es als gutes Zeichen, dass sie überhaupt aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war.
Aber er erkannte sofort, dass die Heilung noch lange dauern würde. Dann stand er vor einem unlösbaren Problem: Ihre Monatsblutung hatte eingesetzt, und angeekelt starrte er auf das Blut zwischen ihren Beinen. Er war völlig überfordert mit dieser Situation und überlegte fieberhaft, wie er damit umgehen sollte. Ihr Blut würde ihn schwächen, deshalb musste sie unbedingt aus seiner Höhle hinaus. Aber wohin?
Draußen lag Schnee und sie würde erfrieren! Oder reichte es, wenn er einen größeren Abstand zu ihr einhielt? Sein Lager einfach in den hinteren Teil der Höhle verlegte, weg von dem mächtigen Menstruationsblut? Achselzuckend zog er sein Lager nach hinten, brachte seine Waffen aus ihrer Reichweite, aber damit löste er immer noch nicht das Problem, dass sie versorgt werden musste. Mit spitzen Fingern stopfte er einfach mehr Moos auf das Fell, ansonsten berührte er es nicht. Danach reinigte er sich die Hände mehrmals, schrubbte sie mit Sand, damit nichts von dem Unreinen zurückblieb.
Verunsichert streifte sein Blick die blutende Frau und er beschloss eine Schwitzhütte zu bauen, um sich spirituell zu reinigen. Schon längst hätte er in einer Zeremonie Klarheit finden müssen und nun war der Zeitpunkt endgültig gekommen. Sein ganzes Leben war durcheinander gewirbelt worden und er brauchte den Beistand der Geister.
Er hatte keinen Tabak, so sammelte er Salbei und Süßgras. Dann kletterte er weit ins Tal hinab und suchte sich einen abgelegenen Platz mit jungen Weiden.
Mit seinem Beil fällte er sie und legte jedes Mal Rauchopfer für sie auf den Boden.
Wie gewohnt baute er sich eine winzige Schwitzhütte, so klein, dass drei Häute genügten, um sie völlig abzudecken.
Dann band er Salbei für die vier Winde an einige Stangen. In einem Feuer erhitzte er sieben Steine und rollte sie in die kleine Grube der Schwitzhütte. Alles war so seltsam.
Zum ersten Mal machte er diese Dinge allein, ohne die anderen. Er verbrannte Salbei und Süßgras, schwitzte, als der heiße Dampf aufstieg. Leise sang er die rituellen Lieder, dankte Wakan-tanka, dass er noch lebte.
Er bat um Reinigung, weil er mit dem Menstruationsblut in Berührung gekommen war, und er bat um Hilfe, damit er die Zeit der Verbannung überstand.
Verbannung! Dieses entsetzliche Wort. Tränen schossen in seine Augen und plötzlich konnte er sie nicht mehr zurückhalten. Schluchzend saß er in der Schwitzhütte und weinte seinen Schmerz heraus. Diese Einsamkeit war unerträglich!
Vielleicht hatte er deshalb dieses Feindmädchen nicht getötet? Abgesehen davon, dass er eine Frau brauchte, die ihm beim Gerben und Nähen half. Aber warum hatte sein Pfeil nicht besser getroffen? Hatte Wakan-tanka dieses Mädchen geschickt? War sie ein Zeichen seines Wohlwollens? Gehörten sie am Ende zusammen? Hier draußen brauchte er eine Frau, dachte er nüchtern. Fast erleichtert verabschiedete er sich von den Geistern und kroch benommen aus der Schwitzhütte. Mit dem Wasser des nahen Flusses erfrischte er sich und seltsam befreit ging er zu seiner Höhle zurück.
Die nächsten zwei Tage wachte das Mädchen immer nur kurz auf und er begnügte sich damit, ihr hin und wieder etwas Wasser einzuflößen und weich gekautes Fleisch in den Mund zu stopfen. Ihn ekelte es so vor dem Menstruationsblut, dass er sie nicht mehr wusch und auch sonst sich selbst überließ.
Er hoffte auf den Tag, an dem sie in der Lage war aufzustehen und für sich selbst zu sorgen. Allmählich wurde die ganze Situation unerträglich. Sie stank nach Urin und Blut, aber ganz sicher würde er nicht das Fell auswechseln, solange sie blutete.
Auch ihre Wunden untersuchte er nur unregelmäßig, verließ sich ganz darauf, dass sie von alleine heilen würden.
Er hatte das Mädchen nicht mehr festgebunden, weil die Wunden sich geschlossen hatten. Matt lag sie auf dem Lager, zu schwach, um sich hochzuziehen. Aus glatten Zweigen, die er mit Lederschnüren zu einer Matte verband, baute er eine Rückenstütze für sie. Er befestigte sie an einem Dreibein aus starken Ästen und zog das Mädchen schließlich in eine sitzende Position. Sie war so leicht wie eine Feder, bis auf die Knochen abgemagert und geschwächt von den schweren Verletzungen. Sie lehnte kraftlos an der Rückenstütze, kaum in der Lage ihren Kopf zu halten. Er sah in ihr keine Gefahr und machte sich am Feuer zu schaffen.
Dankbar richtete Tötet-die-Crow ihren Körper etwas auf, froh darüber, nicht mehr auf dem Rücken zu liegen. Jeder Muskel tat ihr dort weh, obwohl die sitzende Stellung sie ebenso anstrengte wie das Liegen.
Immer noch saß sie nackt, nur in eine Decke gehüllt, an dem Feuer, das in der Nähe brannte und sie wärmte. Manchmal, wenn der Krieger die Höhle verließ, konnte sie sehen, dass eine weiße Pulverschicht das Land bedeckte. Kaltmacher war inzwischen gekommen! Wie lange lag sie schon hier? Die Schmerzen ihrer Verletzungen hatten nachgelassen, aber sie fühlte das schmutzige Moos zwischen ihren Beinen und sie stank erbärmlich. Prüfend fuhr sie mit ihren Fingern zwischen die Beine, aber das Blut dort war längst geronnen, ihre Blutung hatte inzwischen aufgehört. Sie musste den Schmutz loswerden, sich gründlich waschen, ihre Haare kämmen!
Wieder hockte sich der Krieger vor sie hin und bot ihr eine Schüssel mit Fleisch an. Höflich schüttelte sie den Kopf, deutete mit der Hand nach draußen und machte das Zeichen für Waschen. Ein erleichtertes Grinsen huschte über das Gesicht des Mannes, und mit Schwung riss er das Antilopenfell vor dem Höhleneingang nach oben.
Die Sonne blendete sie und ein Schwall kalter Luft ließ sie frösteln. Fest packte sie der Mann unter den Achseln, hob sie ein wenig hoch und schleifte sie einfach nach draußen in den Schnee. Huh! Alles zog sich in ihr zusammen!
Es war kalt und schwankend hockte sie im Schnee, mühsam gegen die Schwäche ankämpfend. Angeekelt zog sie das Fell zwischen ihren Beinen hervor, wickelte es zusammen und bedeutete ihm, dass sie es nicht mehr brauchte.
Auf einem Stock balancierend brachte er es einige Schritte weg, wo er es in einer Versenkung verschwinden ließ. Ohne Hemmungen begann er ihren Rücken mit Schnee abzureiben, doch sie zuckte bei der Berührung zusammen. Es war so unschicklich, wie er mit dem Schnee über ihren Körper fuhr!
Böse zischte sie ihn an, befahl ihn mit ihren Augen, seine Finger von ihr zu lassen. Doch angestachelt von ihrer Abwehr ließ er seine Hand besitzergreifend auf ihrer Brust liegen. Sie schluckte schwer, hatte aber nicht die Kraft, irgendetwas dagegen zu tun. Schließlich hob der Krieger sie hoch und trug sie wieder in die Wärme der Höhle zurück. Mit zitternder Stimme bat sie um ihre Sachen, aber er gab ihr nur wieder eine Decke, die sie hastig um ihren nackten Körper wickelte. Sie fühlte sich schutzlos und ausgeliefert, als der Mann den Verband prüfte und ihre Scham ignorierte. Dann deckte er sie endlich mit einem Fell zu und verließ die Höhle.
In ihr wirbelten die Gedanken. Warum machte sich dieser Mann die Mühe sie zu pflegen? Sie durfte hier nicht bleiben, zu deutlich hatte ihr dieser Mann gezeigt, was er von ihr wollte. Warum hatte er sie nicht getötet, das wäre ehrenvoller gewesen als dieses Schicksal jetzt!
Mit einem Bündel Holz in seinen Armen kehrte der Krieger nach einer Weile zurück, sein Blick streifte prüfend ihr Gesicht und er grinste herausfordernd. Sie verdammte ihre momentane Schwäche! Mühsam zog sie sich in eine sitzende Position und wickelte ihre Decke fester um ihren Körper, dann funkelte sie ihn böse an.
Nata-He-Yukan dagegen amüsierte sich köstlich. Kaum war dieses freche Ding erwacht, zeigte sie bereits ihre Zähne. Wie ein zusammengefallenes Gerippe lehnte sie an der Rückenstütze. Nur ihre Augen zeugten von einer inneren Kraft, die ihn erstaunte. „Du-hungrig?“, fragte er, doch sie schaute hochmütig weg. Dabei musste sie am Verhungern sein.
Eigentlich ärgerte er sich über ihr Verhalten! Was bildete dieses Weib sich ein? Ohne den Blick von ihr abzuwenden klatschte er herausfordernd einige Stücke Fleisch in die Schale und hielt sie ihr vor die Nase. „Iss!“, befahl er mit einem drohenden Unterton in der Stimme.
Sie zögerte etwas, aber dann siegte der Hunger, und gierig stopfte sie sich das Fleisch in ihren Mund.
Zufrieden setzte sich Nata-He-Yukan auf seinen Platz, eingebildet darüber, dass sie seinem ersten Befehl gehorchte. Die Schale war leer und bittend hielt sie ihm das Mädchen entgegen. Das war doch schon viel besser! „Waschté? Gut, fragte er und sie ließ sich zu einem Nicken herab.
Sichtlich besser gelaunt füllte er die Schale erneut und sah zu, wie sie das Fleisch herunter schlang. Dann kniete er sich über seine Zweige und begann sie zu sortieren. Einige waren lang und gerade, sie wollte er als Pfeilschäfte verwenden. Die kräftigeren bog er in eine runde Form. Verflochten mit Zweigen und Leder waren bald einfache Schneeschuhe hergestellt, mit denen er im Winter zur Jagd gehen konnte. Das Gerippe hatte sich in der Zwischenzeit zu einer Kugel zusammengerollt und schlief wieder. Er hatte keine Angst vor dem Mädchen, trotzdem versteckte er vorsichtshalber alle Waffen außerhalb der Höhle, nur seine eigenen ließ er neben dem Eingang hängen, achtete wachsam darauf, immer zwischen ihr und den Waffen zu sitzen.
Natürlich bemerkte sie sein Misstrauen, schob enttäuscht die Lippen vor, aber im Moment war sie nicht einmal in der Lage, sich zu erheben. Immer noch musste er sie stützen, wenn sie in die Decke gehüllt vor die Höhle trat, um ihre Notdurft zu verrichten. Es war so beschämend, in seiner Gegenwart zu urinieren, auf seine Hilfe beim Waschen angewiesen zu sein! Sie fühlte seine Blicke auf ihrem Körper und wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken.
Trotzdem brauchte sie die Möglichkeit, sich zu bewegen, merkte, dass langsam ihre Kraft zurückkehrte. Dabei war der fremde Mann noch nicht einmal unwirsch. Er behandelte sie einfach als … Frau. Doch genau diese Tatsache verwirrte sie zutiefst und löste eine tiefe Angst in ihr aus. Sie war keine Frau!
Wie selbstverständlich half er ihr bei den alltäglichen Dingen, erwies sich sogar als ausgesprochen nett, als er nach dem Waschen ihre verfilzten Haare kämmte und sorgfältig in kurze Zöpfe flocht. Dann lächelte er freundlich, wartete offensichtlich auf ihre Dankbarkeit. Bockig senkte sie den Blick, täuschte vor, müde und erschöpft zu sein. Sie war nicht nett oder gar dankbar!
Nein! Warum hatte er ihr diese Demütigung nicht erspart und sie getötet? Das wäre ehrenhaft gewesen.
Unschlüssig beobachtete Nata-He-Yukan die schlafende Frau, ein wenig enttäuscht über ihr Verhalten. Der Morgen war durch ihre lange Morgentoilette weit fortgeschritten und so nahm er seinen Bogen, um zur Jagd zu gehen. Er hoffte noch auf ein wenig Großwild, ehe eine dichte Schneedecke weitere Ausflüge unmöglich machte. Außerdem gewann er so ein wenig Abstand zu diesem undankbaren Ding!
Leichtfüßig sprang er über den murmelnden Bach, wandte sich ostwärts und verschwand zwischen den Bäumen. Seine Höhle befand sich am südlichen Ende eines winzigen Tales, gerade groß genug, dass die Pferde grasen konnten. Ansonsten war es umgeben von sanften Hügeln. Erst dann wurde die Gegend schroffer, verwandelte sich in ein Gebirge mit verkrüppelten Kiefern und scharfen Felsen. Sein Tal wirkte unberührt, als wäre noch nie ein Mensch vor ihm dort gewesen, aber dem war nicht so. Selbstverständlich kamen regelmäßig Jäger verschiedener Stämme vorbei, aber für einen Stamm war es als Rastplatz für die Tipis zu klein. Für einen einzelnen Mann dagegen war es ideal.
Die Zeit der Streifzüge war vorbei, längst hatten Crow, Shoshone und Ute ihre Winterquartiere erreicht. Die Gefahr entdeckt zu werden sank entsprechend.
Ziemlich unbekümmert durchstreifte Nata-He-Yukan daher die Wildnis, achtete nicht so sehr darauf, seine Spuren zu verwischen, sondern folgte den Wildwechseln auf der Suche nach Beute.
Er fand einen Dachsbau, fand Spuren von Stachelschweinen, aber die wollte er später im Winter jagen, wenn ansonsten die Beute spärlich wurde. So merkte er sich den Ort des Dachsbaus, betrachtete ihn als lebende Speisekammer.
Auch die Höhlen von Stinktieren und Füchsen registrierte er, suchte nach den Vorräten von Eichhörnchen oder den Verstecken von Wachteln und Truthähnen. Er vermisste die anderen, seine Freunde bei den Lakota, vermisste ihr Gelächter und ihre Gesellschaft. Keine Tänze, keine Versammlungen in den Zelten der Kriegerbünde, keine rituellen Schwitzhüttenzeremonien.
Ihm missfiel die Stille und das Blackfeetmädchen war auch kein sonderlich guter Gesprächspartner. Eigentlich sprach sie überhaupt nichts, starrte ihn nur mit diesen riesigen schwarzen Augen an! „Wie eine Schlange, ehe sie zubeißt!“, dachte er unwillig. Fast bereute er es, sie mitgenommen zu haben. Sollte er sie etwa den ganzen Winter beaufsichtigen, wie ein Wildpferd, das bei der ersten Gelegenheit versuchte auszubüchsen?
Andererseits konnte sie ihm helfen, ihm die lästigen Arbeiten abnehmen, wenn sie sich endlich erholt hatte. Irgendwann würde er kosten, wie es war bei einer Frau zu liegen. Es lohnte sich vielleicht, darauf zu warten!
Tötet-die-Crow lag unterdessen wach auf dem Fell und überdachte ihre Situation. Offensichtlich lebte der Krieger allein in dieser Höhle und es war klar, was er früher oder später mit ihr tun würde. Sie war nicht einmal wütend darüber, denn dieses Schicksal blühte allen gefangenen Frauen. Aber sie war keine Frau! Sie war ein Krieger!
Sollte sie versuchen, ihm das verständlich zu machen? Durfte sie einem Feind von ihrer Vision erzählen?
Nein! Sie musste schnellstens wieder zu Kräften kommen und die Flucht wagen. Sie versuchte sich auch ohne seine Hilfe hochzuziehen, spannte die Muskeln an und hob abwechselnd ihre Beine. Es zog unangenehm im Bauch und sie fühlte deutlich die Narbe in ihrem Rücken. Sie stützte sich an der Höhlenwand ab, überwand das Schwindelgefühl und machte einige Schritte.
Dann ließ sie sich schweißgebadet wieder auf ihren Platz sinken. Aber jeder Schritt machte sie stärker und sie wusste instinktiv, dass der Mann nicht mehr lange warten würde. Sie musste hier weg!
Dann versteifte sie sich plötzlich vor Furcht. Ein Tapsen erklang vor dem Eingang, ein vorsichtiges Schnüffeln, dann wurde daraus ein zorniges Brüllen und wütende Tatzen rissen das Antilopenfell weg. Ein Echtbär!
Dieser verrückte Crow lebte in der Höhle eines Echtbären! Panik überfiel sie, und hastig riss sie einen brennenden Ast aus dem Feuer. Wo waren ihre Waffen? Ihre Augen suchten die Höhle ab, aber sie war dem Bären schutzlos ausgeliefert.
Der Grizzly schlug unterdessen mit seinen Tatzen auf die Zweige und Äste am Eingang, versuchte mit aller Kraft in seine Winterbehausung einzudringen. Erde und Dreck flogen durch die Gegend, tiefe Kratzspuren zogen sich über den vereisten Boden. Der Rauch des Feuers und der Geruch der Menschen irritierten den Bären. Wütend riss er das Maul auf und ließ ein markerschütterndes Brüllen hören. Mit ihrer Beherrschung war es vorbei. Hysterisch schrie sie um Hilfe, sah bereits die gewaltigen Zähne, mit denen der Bär sie zerfleischen würde. Dann hatte der Bär den Eingang frei und schob seinen gewaltigen Kopf in die Höhle. Ihr Schreien wurde schrill, mit dem bloßen Fuß erwischte sie die glimmenden Äste des Lagerfeuers und schubste sie in Richtung des Bären. Fauchend wich er ein Stück zurück, doch dann überwand er seine Furcht und schob sich weiter in seine Höhle.
Nata-He-Yukan hatte das Geschrei gehört und rannte mit federnden Sprüngen zurück zu seiner Höhle. Der Bär, auf den er so lange gewartet hatte, war endlich da! Entsetzt verharrte er, als er erkannte, dass der Bär bereits in die Höhle eingedrungen war. Sein Speer! Er hatte ihn in der Höhle gelassen!
Kurz zögerte er und schätzte die Situation ein. Der Vordereingang war versperrt und er musste sich beeilen oder der Bär würde das Mädchen bei lebendigem Leib verschlingen. Eilig zwängte er sich durch den Hintereingang, ließ die Keule fallen und griff nach seinem Speer, der im hinteren Teil an der Wand lehnte.
Mit einem Schrei stürmte er nach vorne. Immer noch schreiend wälzte sich das Mädchen weg und kurz überraschte ihn die Kraft, die sie plötzlich aufbrachte.
Dann hatte er nur noch Augen für den Bären, der sich immer weiter in die Höhle zwängte. Zielsicher stach Nata-He-Yukan mit der Lanze nach den Augen des Bären und brüllend vor Schmerz richtete dieser sich auf, fuhr mit seiner Tatze nach dem verletzten Auge. Wieder stach Nata-He-Yukan zu, suchte den Weg durch die Brust des Bären zu dessen Herzen.
Aufbrüllend griff der Bär nach dem Speer, schlug mit seinen Tatzen nach dem Angreifer. Seine Gestalt richtete sich drohend auf, sein Kopf verhedderte sich in den Fellen, die zum Trocknen an der Decke hingen. Wütend schlug er seinen Kopf hin und her, sein gewaltiger Körper stürzte taumelnd über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, richtete ein heilloses Chaos an.
Schwitzend suchte Nata-He-Yukan nach einer günstigen Gelegenheit, dem wildgewordenen Tier den Todesstoß zu versetzen, doch der Bär drehte sich orientierungslos im Kreis und tapste in das Feuer. Der Geruch nach verbranntem Haar erfüllte die Höhle und das Gebrüll wurde zu einem Fauchen, als der Bär wütend gegen das Feuer schlug. Glühende Äste und Holzkohle flogen durch die Höhle, dann hatte der Bär sich befreit und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als er drohend gegen den bewaffneten Mann schlug. Wieder stieß Nata-He-Yukan zu, sein Speer drang tief in das Fleisch des Bären ein, dann zog er sich blitzschnell zurück. Viel Platz blieb ihm nicht mehr, er hatte fast die rückseitige Wand der Höhle erreicht, dort, wo das Mädchen kauerte und spitze Schreie ausstieß.
„Geh raus!“, befahl er ihr, aber dann fiel ihm ein, dass sie ja kein Wort verstand. Ihm blieb keine Zeit, eine erklärende Geste zu machen, denn der Bär griff schon wieder an.
Es wurde eng. Dicker Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er mit zusammengekniffenen Augen den Bären beobachtete. Noch ein Fehlstoß und er wäre tot.
Ganz ruhig wartete er auf den Angriff, hoffte, dass der Bär sich wieder aufrichten würde. Schließlich riss er seine Arme hoch und brüllte den Bären an, tat so, als wollte er nun angreifen.
Irritiert richtete sich der Bär zu einer Drohgebärde auf. Er wollte dem Widersacher zeigen, dass er der Größere und Stärkere war. Der Speer drang tief in das Herz ein und aufschnaufend fiel der Bär in sich zusammen.
Völlig außer Atem schaute Nata-He-Yukan auf das gewaltige Tier, zu benommen, um zu realisieren, wie knapp das Mädchen und er dem Tod entronnen waren. Seine zitternde Hand wischte den Schweiß ab, der über seine Augen lief, dann drehte er sich nach dem Mädchen um. Es kauerte in der Ecke und hielt drohend die Keule, die er hatte fallen lassen.
So! Der Kampf war also noch nicht zu Ende! Heiße Wut erfüllte ihn plötzlich über die offensichtliche Undankbarkeit der Frau. Hatte er sie nicht tagelang gepflegt? Eben gerade vor dem Bären gerettet? Unbewaffnet beugte er sich über sie, seine Stimme heiser vor Zorn: „Du störrisches Weib! Leg die Waffe weg!“
Ihre Augen waren weit vor Entsetzen und er erkannte, welche Todesangst sie gerade gehabt haben musste. Etwas freundlicher befahl er: „Leg die Waffe weg! Der Bär ist tot!“
Fordernd streckte er ihr die Hand entgegen und deutete mit seinen Lippen an, dass er seine Waffe zurück wollte. Eine winzige Ewigkeit schaute er in ihre schwarzen Augen, sah ihren Kampfeswillen, doch dann ließ sie gehorsam die Keule sinken.
„Komm!“, befahl er, und griff nach ihren Armen, um ihr hoch zu helfen.
Schwankend vor Erschöpfung wankte sie zu ihrem Lager, kaum in der Lage einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mit einem Seufzen erkannte er, dass sie ihm beim Ausweiden des Bären keine Hilfe sein würde und so setzte er sie an die Rückenlehne. Ihre Atmung kam schwer und unregelmäßig und ihre Lippen zitterten im Schock.
Hastig brachte er das Lager in Ordnung, damit sie sich ausruhen konnte, dann besserte er den Eingang aus und hängte das Antilopenfell wieder davor. Es wurde empfindlich kalt und nachlässig warf er ein Fell über die am Boden liegende Frau.
Dann sammelte er die glühenden Zweige zusammen und setzte sich erst einmal müde an das Feuer. Hätte diese Frau wirklich zugeschlagen? Ihr Blick ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, der deutliche Wille zu kämpfen!
Oder war es nur die Angst gewesen? Seine Lippen zogen sich verächtlich nach unten. Was machte er sich Gedanken um dieses Mädchen! Er war ein Krieger und sie in keiner Verfassung, es mit ihm aufzunehmen. So war das!
Auch sein pochender Herzschlag hatte sich nach dem Kampf beruhigt und so setzte er sich neben den erlegten Bären und streichelte ihm über das dichte Fell. Es würde ihn im Winter warm halten. „Danke, mein Bruder!“, murmelte er. Dann zog er sein Messer und begann methodisch das Fell zu lösen.
Es wurde Abend, ehe er das Tier zerlegt hatte, doch dann briet das erste Fleisch des Bären über dem Feuer und er freute sich auf die Mahlzeit.
Tötet-die-Crow öffnete bei dem Duft nach Fleisch mühsam die Augen. Ihr ganzer Körper stand noch unter dem Schock des Erlebten, ihre Muskeln zitterten von der Anstrengung, die es sie kostete, sich hochzuziehen. An einem Gestell an der Wand hing das große Bärenfell und ihr wurde schlecht. Ein Bär war heilig! Dieser Crow hatte ihn getötet, weil der Bär sonst ihn getötet hätte. Was für ein Frevel, dem heiligen Tier das Fell abzuziehen! Briet dieser dumme Mensch etwa sein Fleisch auf dem Feuer? Oh!
Ihr drehte sich der Magen um und sie wurde ganz steif vor Ekel. Dann beugte sich der Mann zu ihr und bot ihr etwas von dem Fleisch an. Nein!
Der Geist des Bären würde sie von innen heraus zerfressen! Schnell drehte sie ihren Kopf weg, deutete an, dass sie nichts von dem Fleisch wollte. Dieser verrückte Crow würde sie beide ins Verderben stürzen!
Sichtlich verärgert setzte sich der Mann an das Feuer und blitzte sie drohend an. Bemerkte er nicht ihre völlige Verzweiflung? „Oh Sonnenhäuptling, hast du mich verlassen?“, flüsterte sie unhörbar.
Nata-He-Yukan biss in das saftige Fleisch und schimpfte über seine Gefangene. „Du störrische Frau!“, wiederholte er mehrere Male, „Verhungere doch, du machst mir ohnehin nichts als Ärger!“
Wahrscheinlich war sie überhaupt keine Frau, sondern nur ein böser Geist, der ihm die Zeit der Verbannung erschweren sollte. Wahrscheinlich taugte sie nicht einmal als Frau etwas!
Wütend stopfte er das Fleisch in den Mund, Fleisch, das er tapfer erlegt hatte, und das sie nun verweigerte. Er würde sehen, wie viel sie ihm noch verweigerte. Noch konnte sie ihm sowieso nicht viel Widerstand entgegen setzen!
Es amüsierte ihn, wie sie so dasaß und ihn hasserfüllt anstarrte. Vielleicht war es an der Zeit, diesem Weib zu zeigen, wo ihr Platz war! Immer noch fühlte er die Nachwirkungen des Kampfes in seinen Adern und mit plötzlicher Entschlossenheit wischte er sich die Hände ab und kroch zu ihr.
Vielleicht war es an der Zeit, einen anderen Kampf auszufechten! Mit ihr und mit seiner eigenen Unsicherheit! Die dunklen Augen wurden noch größer, als er mit einem Ruck die Decke von ihr zog und fordernd in ihre schwarzen Augen blickte. Sein Geschlecht wurde hart und plötzlich fühlte er eine ungewohnte Hitze in seinem Körper. Wenigstens als Frau wollte er sie haben, als Belohnung für all den Ärger, den er mit ihr bereits gehabt hatte. Sie schob ihre Hände gegen seine Brust, doch er packte sie an den Armen und schob sie auf das Lager. Jetzt!
Seine Backenmuskeln zogen sich zusammen, als er mit zitternden Händen über ihre Brüste strich, dann zog er seinen Lendenschurz aus und drückte sich auf ihren Körper, fühlte ihre Wärme und glitt mit seinen Fingern in den Spalt zwischen ihren Beinen. Verzweifelt zwängte sie die Beine zusammen, flüsterte Worte, die er nicht verstand und die ihn auch nicht interessierten. Jetzt wollte er wissen, was das wohl sein konnte, was seine Lenden erfreute und was für ein Gefühl das genau war.
Er folgte seinem Instinkt, drückte ohne nennenswerten Widerstand ihre Beine auseinander und stieß zu. Wan! Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten! Schwer atmend drang er tiefer in sie ein, stöhnte unbeherrscht, als die Erregung schier unerträglich wurde. Er war ungeschickt, wusste noch nichts davon, wie man auch einer Frau Freude bereiten konnte. Er schloss die Augen und überhörte, wie sie scharf die Luft einzog. Nie da gewesene Gefühle brandeten durch seinen Körper, ein wohliges Zittern durchlief ihn, dann brach er schweißgebadet und viel zu schnell über ihr zusammen. Hokahey! Er war ein Mann!
Eine seltsame Befriedigung erfüllte ihn und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass sie den Ärger wert war!
Sie lag wehrlos unter ihm, ergab sich einfach in ihr Schicksal. Kurz dachte sie an das Crowmädchen, das hilflos zu ihr geblickt hatte, als der Blackfeetmann sie mit dem Messer zeichnete.
Vielleicht war ihr die Flucht gelungen, ansonsten hatte sie erdulden müssen, was sie jetzt erduldete, eben weil dieser Crow sich nahm, was ihm zustand.
Sie war seine Gefangene und sie hatte Angst vor dem Unbekannten. In ihrer Sprache bat sie ihn sanft zu sein, vergaß in ihrer Angst, dass er sie überhaupt nicht verstand.
Doch dann ließ sie ein scharfer Schmerz zusammenzucken. Mussten alle Mädchen so leiden? Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass genau dieser Schmerz sie für immer von einem Mann unterschied. Aber sie wollte keine Frau sein! Ihre Vision!
Sicherlich musste sie jetzt sterben! Ihre Arme spannten sich an, als sie ihre Brüste schützen wollte, ihn wegdrücken wollte aus ihrem Innersten. Aber es war zwecklos. Apathisch lag sie einfach da und wartete, bis es vorbei war, hoffte, dass sie endlich sterben würde. Sie sah sein zufriedenes Gesicht und drehte ihren Kopf weg. Dieses Hundegesicht!
So war das also, von einem Mann genommen zu werden. Den Samen eines Mannes in sich zu tragen, der von dem Volk stammte, das ihren Bruder getötet hatte. Sie dachte an die gefangenen Crowfrauen, die vielleicht Kinder empfingen, von den Feinden, die ihre Ehemänner getötet hatten. Deswegen wollte sie keine Frau sein! Weil sie dieses Schicksal nicht wollte!
Warum wählte es der Sonnenhäuptling trotzdem für sie, lieferte sie den Händen ihres Feindes aus? Wollte der Sonnenhäuptling ihre Standhaftigkeit testen? Warum starb sie nicht nach diesem Frevel?
Müde und erschöpft schloss sie die Augen, blendete die Anwesenheit des Mannes und das, was er gerade mit ihr getan hatte, einfach aus.
Nata-He-Yukan wickelte sich in seine Decke und schlief außergewöhnlich gut. Er war wie berauscht, fühlte sich unbesiegbar und stark. Hoh, er hatte diesem Weib seine Manneskraft bewiesen! Am nächsten Morgen half er ihr gut gelaunt auf und ließ sie in den Schnee hinaustreten, damit sie sich erleichtern und waschen konnte. „Eigentlich bräuchte sie überhaupt kein Kleid!“, dachte er mit einem anzüglichen Lächeln.
Er war in Hochstimmung und warf ihr großzügig zwei Felle zu: Du-machen-Kleid! Dann suchte er seine primitive Nähnadel und einige Sehnen, damit sie arbeiten konnte und verließ die Höhle, um zu jagen. Er fühlte sich seltsam erfrischt und befreit, atmete tief die kalte Luft ein und machte sich auf den Weg in das Tal. Er hatte dieser Frau gezeigt, wo ihr Platz war!
Schluchzend legte sich Tötet-die-Crow auf ihre Felle, winkelte die Beine an und hielt die Hände an ihre wunde Stelle. Das war erniedrigend und furchtbar! Sie musste hier weg! Sie wollte nicht die Gespielin für diesen Feind sein! Sie war ein Krieger!
Hastig suchte sie in dem Halbdunkel der Höhle nach ihren Sachen. Schließlich fand sie ihre Mokassins und Leggins, zog eines seiner Kriegshemden über und band sich ein Fell wie einen Rock um ihre Hüften. Alle ihre Waffen waren weg, trotzdem verließ sie die Höhle, ungeachtet der Gefahr, der sie sich aussetzte.
Nur weg von hier! Weg! Sie erkannte an seinen Spuren, dass er in Richtung des Tales gegangen war und schlug eine andere Richtung ein. Oberhalb der Höhle kletterte sie die Felsen entlang, rutschte mehrmals im Schnee aus und versuchte auf schnellstem Weg das Tal zu verlassen.
Bereits nach kurzer Zeit war sie schweißgebadet und grelle Blitze schossen durch ihre Augen. Sie hatte sich zu viel zugemutet und nach der ersten Anhöhe sank sie erschöpft zusammen. Wenn er sie wenigstens nicht vor der Nacht fand! Dann könnte sie in der Nacht sterben, sich dem Kaltmacher ergeben, damit er sie mit seiner Kälte einhüllte! Das wäre ehrenvoller als diese Schande! Immer wieder musste sie sich ausruhen, lag zitternd am Boden, ständig in der Angst, dass der Krieger sie einholte. Noch ein Stück, noch ein Stück. Mit diesen Worten zog sie sich schließlich mit steif gefrorenen Fingern über den Boden, weil sie nicht mehr die Kraft hatte aufzustehen.
Ihre Knie bluteten von den scharfen Steinen, doch unbeirrbar kroch sie höher und höher, hoffte, dass er ihre Spuren auf dem felsigen Boden nicht fand.
„Oh, mein Bruder, hilf mir! Sonnenhäuptling, verberge mich vor diesem Feind!“, betete sie inbrünstig.
Zitternd vor Erschöpfung rutschte sie über den Kamm des Berges und glitt in eine schmale Schlucht. Vor ihr lag ein weiteres Tal, mit einigen Bäumen und schneebedeckten Wiesen. An den Hängen scharrten einige Bighornschafe den Schnee zur Seite.
Sie flüchteten aufgeregt, als Tötet-die-Crow einige Steine lostrat. Hier war ein schöner Ort, um zu sterben! Mühsam zog sie sich weiter, rote Flecken tanzten vor ihren Augen, als sie leise ihren Todesgesang anstimmte und sich bereit machte in die Sandhügel zu ihren Vorfahren zu gehen. Die Bighornschafe hatten sich beruhigt und sie hörte den dumpfen Knall der Hörner, als zwei Männchen miteinander balgten. Fast amüsierte es sie, dass sie eine solche Kleinigkeit überhaupt noch wahrnahm. Aber vielleicht war sie schon tot und all dies nur noch eine Sinnestäuschung?
Dann hörte sie Hufgeklapper und rollte sich entsetzt zusammen, verbarg sich hinter einem Felsen. Nein! Pferde! Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Deutlich waren die Tritte des Ponys zu hören, das sich stetig ihrem Versteck näherte. Der Mann gab sich überhaupt keine Mühe, leise zu sein. Weit vor der Dämmerung hatte er sie gefunden, war problemlos ihren deutlichen Spuren gefolgt. Warum durfte sie nicht sterben?
Mit finsterem Gesicht baute sich Nata-He-Yukan vor dem Mädchen auf. Ihre Hände und Knie waren blutig von dem vergeblichen Versuch, ihm zu entkommen. Spöttisch verzog er seine Lippen und beugte sich zu ihr hinunter. Er berührte sie spielerisch mit seinem Bogen, als zählte er einen Coup an ihr. „Erwischt!“, grunzte er triumphierend.
Müde, apathische Augen blickten ihn an, warteten nur noch auf den Tod. Erst jetzt sah er in ihr das junge Mädchen, das zu Tode erschöpft war, und seine Wut verrauchte. Trotzdem!
Sie bedeutete eine Menge Ärger! Unwillig befahl er ihr aufzustehen, doch dazu fehlte ihr die Kraft.
Mit flatternden Händen versuchte sie sich an den Felsen hochzuziehen und rutschte erbarmungswürdig zu Boden. Er musste sie stützen und lehnte ihren zusammensinkenden Körper gegen die Schulter seines Pferdes. Seine Lippen wurden schmal, als er befürchtete, dass sie sich ernsthaft verletzt hatte und alles wieder von vorne anfing. Er hatte keine Lust mehr, sie ewig zu pflegen, schon gar nicht wegen eines übereilten Fluchtversuches.
„Halt dich fest!“, befahl er gereizt. Mit einem Satz schwang er sich hoch, dann zog er sie vor sich in den Sattel. Kraftlos hing sie in seinen Armen und er schüttelte den Kopf über ihre Dummheit.
„Wo wolltest du störrisches Ding eigentlich hin?“, fauchte er unwirsch. Wieso unternahm sie einen Fluchtversuch, wenn sie viel zu schwach dazu war? Mit geschlossenen Augen lag sie an seiner Brust, nur ein schwaches Mädchen und längst kein Feind mehr.
Vor der Höhle hielt er sein Pony an und glitt mit ihr im Arm vom Rücken des Pferdes. Er duckte sich in die Höhle, etwas unsanft setzte er sie an die Rückenstütze und zog ihr das Kriegshemd aus. Er brauchte diese Dinge dringend selbst, zumindest, bis dieses störrische Weib ihm neue nähen konnte. Kurz prüfte er ihre Verletzungen, aber die Wunden heilten gut und hatten sich zum Glück nicht wieder geöffnet.
Tötet-die-Crow genierte sich, hasste es, schon wieder mit entblößten Brüsten vor ihm zu sitzen und verschränkte ihre Arme. Er lachte amüsiert über ihre Scheu und gab ihr eine Decke. Dann entzündete er mit klammen Fingern das Feuer, eine Aufgabe, die in Zukunft ihr überlassen bliebe. Es wurde Zeit, dass sie sich als Frau fügte und richtige Aufgaben übernahm.
Wieder deutete er auf die zwei Felle und meinte großzügig: „Du-nähen-Kleid!“
Mit keinem Wort erwähnte er ihren Fluchtversuch, hielt es nicht einmal für nötig, sie vor einem weiteren Versuch zu warnen, denn er würde sie ohnehin schnell wieder einholen! Was sollte dieser ganze Unsinn? Er war weder unfreundlich, noch sah er schlecht aus! Jede Frau wäre froh, wenn er um sie werben würde!
Freundlich bot er ihr eine Schale mit Fleisch an, versuchte ganz bewusst ihren finsteren Blick zu ignorieren.
Angewidert lehnte sie ab, dabei musste ihr Magen ganz gehörig knurren. Erstaunt musterte Nata-He-Yukan das widerspenstige Mädchen. Sie war nur noch Haut und Knochen, musste unbedingt ein wenig zunehmen, damit sie ihm gefiel. Warum verweigerte sie ständig die Nahrung? Selbst ihr musste klar sein, dass sie in diesem geschwächten Zustand keinen weiteren Fluchtversuch wagen konnte!
Er versuchte es zur Abwechslung mit einem freundlichen Lächeln: „Fleisch-gut, du-essen, du-zu-schwach!“
Misstrauisch schaute sie ihn an, verwundert über die Lachfältchen um seinen Mund, die so überhaupt nicht zu diesem grimmigen Krieger passten. Aber auch er war noch jung, nicht viel älter als sie, obwohl er einen kräftigen, drahtigen Körper hatte. „Bär-ist-heilig!“, erklärte sie mit Handzeichen, „Ich-nicht-essen!“ Die Verblüffung stand ihm in das Gesicht geschrieben, doch dann bot er ihr etwas Hirschfleisch an. „Du-essen-Hirsch?“
Tränen schossen in ihre Augen und sie schalt sich für diese Schwäche. Warum konnte sie nicht stark sein? Zögernd nahm sie die Schale und nickte höflich, versuchte ihm nicht ihre Erleichterung zu zeigen.
„Ich-heißen-Kopf-mit-Hörnern, Nata-He-Yukan!“, versuchte er ein Gespräch anzufangen, aber sie antwortete nicht.
Tötet-die-Crow wollte nicht, dass er Macht über ihre Seele gewann, wenn er ihren Namen wusste. Es genügte, dass er ihren Körper besaß.
„Wie-du-heißen?“, versuchte er es wieder, aber sie schüttelte stur ihren Kopf. Sofort verfinsterte sich sein Gesicht über ihren Starrsinn und wütend blitzte er sie an: „Dein-Name-Winyan-o‘hanschitscha! Verstehen-du? Ungehorsame-Frau!“
Dazu zeigte er mit Gesten die Bedeutung ihres Namens. Eigentlich bedeutete es mehr. Störrisches, ungehorsames, gemeines Weib! Ja, das war sie!
Ihr war das völlig gleichgültig, sollte er sie doch rufen, wie es ihm gefiel! Trotzdem funkelte sie ihn wütend an und legte die Hand an ihre Stirn, das Zeichen für Crow. „Du-feiger-Crow!“ deutete sie unmissverständlich mit ihren Gesten an.
Verblüfft riss der Mann die Augen auf, ignorierte dabei die Beleidigung, weil er froh war, dass sie überhaupt etwas sagte.
„Ich-nicht-Crow! Ich-Lakota!“, erklärte er grinsend.
Ungläubig starrte Tötet-die-Crow auf das schöne Hemd, das dieser Krieger trug, eindeutig ein Crowhemd.
„Crow-verfolgen-mich?“, fragte sie zögernd.
„Ja, zwei Crow! Ich-töten-Crow-mit-meinem-Bogen!“, erklärte Nata-He-Yukan leichthin.
„Warum-du-nicht-töten-mich?“, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen.
Ein wenig beleidigt legte Nata-He-Yukan den Kopf schief. „Ich-nicht-töten-verletztes-Mädchen!“
„Du-verrückter-Mann!“, ärgerte sie ihn ganz bewusst, hasste ihn dafür, dass er ihr keinen ehrenvollen Tod gewährt hatte.
Die Miene des Kriegers verfinsterte sich zusehends: „Winyan-o‘hanschitscha!“, zischte er. „Störrische-Frau!“
Sie hielt seinem Blick ohne weiteres stand, schwor sich, diesen Mann eines Tages zu töten. Irgendwie erleichterte es sie nicht besonders, dass er kein Crow war. Er hatte ihr wehgetan, gegen ihre Vision gehandelt, allein diese Tatsache genügte ihr, seinen Tod herbeizuwünschen.
Nata-He-Yukan übersah ihre Entschlossenheit, konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mädchen in irgendeiner Form eine Gefahr darstellen könnte.
In den nächsten Tagen erholte sie sich zusehends, aß von dem Hirschfleisch und machte sich widerwillig an die Arbeit, die er ihr auftrug. Ihre bockige Art reizte ihn und so ließ er sie schuften, behandelte sie wie eine Gefangene und nicht wie eine wahre Frau, die selbst wusste, was zu tun war.
Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie vielleicht eine andere Bestimmung hatte.
In ihrem neuen Kleid beugte sich Tötet-die-Crow über die Jagdbeute, die er ihr brachte, fügte sich zum Schein in die Rolle, die er ihr zudachte: Sorgsam nahm sie die Innereien heraus, trennte das Fell von dem Fleisch, schabte es sauber, kratzte das Haar herunter. Dazu gab ihr dieser Krieger tatsächlich das Messer zurück, obwohl er sie nicht aus den Augen ließ. Aber sie beherrschte sich. Sie musste Kraft sammeln, ehe sie sich mit ihm anlegen konnte!
Stöhnend beugte sie sich über die schwere Arbeit, bekam raue Hände, als sie das Fell mit Sand glatt rieb, außerdem schmerzte ihre kaum verheilte Hüfte.
Ihre Fingernägel bekamen dunkle Ränder von der dreckigen Arbeit und selbst durch kräftiges Waschen bekam sie den Geruch nach Blut nicht von ihren Händen. Mit einem Stein klopfte sie das Gehirn der erlegten Tiere zu Brei, stellte sich hasserfüllt vor, wie sie stattdessen auf den Kopf dieses arroganten Kriegers einschlug. Dann weichte sie das Leder in dem Sud aus Wasser und Hirnmasse ein. Fliegen, angelockt von dem Geruch, umschwirrten sie und einige hartnäckige Moskitos, die vor der Kälte in die Höhle geflüchtet waren, fanden in ihr eine willkommene Beute. Sorgfältig wrang sie das Leder aus, wiederholte das Einweichen des Fells, damit die ölige Substanz in alle Poren der Haut eindringen konnte.
Schließlich quetschte sie mit aller Kraft die Feuchtigkeit aus dem Leder, drehte es auf einem Stock, um den letzten Tropfen auszuwringen. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, ihre Augen wanderten zu dem Mann, der ruhig am Feuer saß und sie beobachtete.
Warum gab sie sich überhaupt so viel Mühe? Andererseits wollte sie nicht, dass er sie für wertlos hielt und sie vielleicht tötete. Nein, sie war gut unterwiesen worden! Dieser Feind sollte nicht denken, dass die Pecuni faule Frauen hatten!
Sorgfältig untersuchte sie die Haut auf eventuelle Risse und stopfte diese vor dem endgültigen Trocknen. Eines Tages würde sie dafür ihm die Haut abziehen!
Zum Glück verlangte er nicht, dass sie das Bärenfell bearbeitete. Mit einer Sorgfalt, die ihr verriet, dass er so etwas schon öfter gemacht hatte, bereitete er selbst das Fell zu. Schließlich legte er es auf sein Bett und nahm es als Zudecke für sie beide. Sie glaubte keine Luft zu bekommen, dachte, dass der Geist des Bären sie bestimmt töten würde, aber nichts geschah. Ganz im Gegenteil. Ohne Fell wären sie wahrscheinlich einfach erfroren, wenn das Feuer, während sie schliefen, herunterbrannte, aber unter dem Fell war es kuschelig warm.
Tiefer Schnee machte längere Ausflüge unmöglich, oft musste Nata-He-Yukan den Eingang frei graben, ehe er hinausgehen konnte. Der hintere Zugang war völlig verschneit, begraben unter einer dicken Schicht des weißen Pulvers.
Tötet-die-Crow konnte nicht hinaus. Tagsüber, wenn Nata-He-Yukan auf seine Streifzüge ging, überließ er ihr sein Messer, während sie in der Höhle das Feuer hütete und ihre Arbeiten erledigte. Sie dachte nicht an Flucht, noch nicht!
Erst wollte sie warten, bis ihr Körper kräftig genug war auch eine lange Wanderung durchzustehen, oder sie sicher genug war, um ihn zu töten. Der gescheiterte Fluchtversuch war ihr eine Lehre, niemals wieder würde sie ihr Leben so sinnlos aufs Spiel setzen. Jetzt im Winter wäre eine Flucht ohnehin erfolglos, also fügte sie sich und bemühte sich, nicht sein Missfallen zu erregen. Sie hörte auf das Heulen der Wölfe und bat ihre Brüder, sie von der Gegenwart dieses grässlichen Mannes zu befreien.
„Wölfe! Reißt ihm die Gedärme heraus!“
Aber stets kehrte der Lakota zurück, mit einem jugendlichen, überheblichen Grinsen.
Mit Tränen in den Augen beugte sie sich über ihre Näharbeit. Sie vermisste ihren Stamm so sehr! Ob es die anderen geschafft hatten, den Crow zu entkommen? Und ihr Onkel?
Die Ungewissheit nagte an ihr, sie war zu oft allein und hing ihren trüben Gedanken nach. Dieser Lakota redete kaum mit ihr und so lernte sie nichts von seiner Sprache, wollte es im Grunde auch nicht. Er gab Befehle wie „Mach das Feuer!“, „Gib mir Essen!“, die sie verstand, ansonsten sprach er nichts.
Auch der Reiz des ersten Geschlechtsaktes war verflogen, denn sie lag einfach nur da wie ein Stück Holz und ließ es über sich ergehen. So genügte es dem Krieger, nur hin und wieder ihre Beine zu spreizen, um sich an ihr zu befriedigen. Wie konnte der Sonnenhäuptling so etwas zulassen? Warum schickte er nicht den Blitz, um diesen dreckigen Lakota zu bestrafen?
Für Nata-He-Yukan dagegen war die Welt in Ordnung. Er hatte eine Frau, wenn auch nur eine Blackfeet, die für ihn arbeitete und ihm die einsamen Nächte versüßte. Sie redete nichts, aber das erwartete er auch nicht.
Außerdem hatte er genug zu tun, da hätte ihn das ewige Geplapper ohnehin nur gestört. Das Überleben zu zweit war schwierig, selbst in der Höhle wurde es unerträglich kalt. Er kam sich vor wie Tokahe, der Erste seines Volkes, der den Lockungen Anog-Ites erlag und sein Volk aus der Höhle auf die Erde geführt hatte. Vielleicht war diese störrische Frau in Wirklichkeit sogar Anog-Ite, die Doppelgesichtige Frau, deren eine Gesichtshälfte wunderschön und die andere verunstaltet war?
Nata-He-Yukan lächelte still. Wie oft hatte sein Vater ihm diese Geschichte erzählt, als Mahnung nicht zu viel zu begehren! War dieses Blackfeetmädchen in Wahrheit Anog-Ite, die Doppelgesichtige Frau? War sie nur hier, um ihn in die Irre zu führen?
Energisch setzte er sich vor das Mädchen hin und nahm ihr Gesicht in seine Hand. Dann wischte er mit seiner Hand heftig über ihre Wangen, um zu prüfen, ob sie ihn vielleicht mit Farbe täuschte. Abwehrend ruckte die Frau ihren Kopf zurück und er ließ sie los, musterte stattdessen eindringlich ihre Züge. Gut! Sie war hübsch, aber nicht blendend schön! Ihre Augen waren ein wenig zu groß in ihrem feinen Gesicht, und sie hatte eine lange gerade Nase über schön geschwungenen Lippen. Außerdem hatte sie ein kleines, spitzes Kinn, das ihr einen energischen Ausdruck verlieh. „Eine widerspenstige Frau, keine Hexe!“, urteilte er zufrieden.
„Ist dir kalt?“, fragte er, um seinem Handeln einen Sinn zu geben.
Sie nickte wortlos.
„Vielleicht-Decken-nehmen?“, überlegte er in Zeichensprache.
Bereitwillig stand sie auf und spannte Decken, die das hintere Ende der Höhle abteilten. Die Hitze des Feuers wurde nun reflektiert und im vorderen Teil der Höhle sammelte sich die Wärme. Keine schlechte Idee!
Zufrieden beugte er sich über die Zweige, aus denen er neue Pfeile schnitzen wollte. Er hatte ihr nichts davon gesagt, aber seine Vorräte wurden spärlich. So viel Wild gab es in der Umgebung nicht und er machte sich Sorgen, wie er die Frau satt bekommen sollte. Das Fleisch des Bären würde nicht mehr lange reichen und er hatte nichts mehr für das Mädchen. Sollte er sie verhungern lassen? Zur Not blieben ihm noch die Ponys, aber eigentlich brauchte er sie im Frühjahr zur Jagd. Außerdem wollte er in vier Sommern mit ihnen zu seinem Volk zurückkehren.
Immer noch fielen ihm seine langen schwarzen Haare offen über den Rücken und Tötet-die-Crow amüsierte sich über seine Eitelkeit. Täglich musste sie seine Haare kämmen und manchmal rupfte sie absichtlich an den langen Strähnen!
So ein Biest!
Mit einem besorgten Blick streifte Nata-He-Yukan die junge Frau, die still am Feuer saß und nähte. Ihre Haare waren nachgewachsen, außerdem wirkte sie rundlicher, fraulicher. Ihm gefiel das. Warum hatte sie überhaupt so kurze Haare gehabt? Trauerte sie um jemanden? Kurz flammte die Neugier in ihm auf, aber dann hatte er doch Hemmungen, sie zu fragen. Wie sollte er etwas so Sensibles fragen? Du-weinen-um-jemand? Da ließ er es lieber gleich. Außerdem würde sie ihm darauf sicherlich keine Antwort geben, wenn sie schon bei etwas so Einfachem wie ihrem Namen die Lippen zusammenpresste.
Also schnappte er sich seine Schneeschuhe, zog ein zweites Hemd gegen die Kälte über und machte sich auf die Suche nach Wild. Des Öfteren fing er Kaninchen und Schneehasen, aber die reichten höchstens für eine Mahlzeit. Aber er wollte nicht, dass sie hungerte, wieder so mager wurde wie anfangs, als er sie gefunden hatte.
In der Ferne heulten Wölfe und am Himmel kreisten Aasfresser, warteten auf die Reste, die für sie übrig bleiben würden. Vielleicht sollte er ihnen die Beute entreißen?
Aber sein Stolz ließ das nicht zu. Noch war er wie der Adler, der seine Beute selbst fand! Entschlossen drückte er die weiße Mütze aus Schneehasenfell, die sie ihm genäht hatte, auf den Kopf und blinzelte in die schmerzende Helligkeit des reflektierenden Schnees. Die Mütze war warm und hier draußen, in dieser Kälte konnte er sie gut gebrauchen. Vorsichtig machte er sich an den Abstieg in das Tal.
Er überlegte, ob er vielleicht einige Fische fangen könnte. Der schnell dahin fließende Fluss war nicht zugefroren und so konnte er sein Glück dort versuchen. Seine Füße sanken dank seiner Schneeschuhe kaum ein, trotzdem fühlte er die unbarmherzige Kälte. Er war froh, dass er seine Beine mit Fellen umwickelt hatte und schlitterte in seinem ausdauernden Trab voran.
Am Fluss setzte er sich auf einen Stein, nahm seinen Speer und blickte in das eisblaue Wasser.
Forellen sammelten sich gern unter solchen natürlichen Hindernissen und geduldig wartete er auf seinen ersten Fang. Nach sechs Fischen hatte er genug, Wakan-tanka, was für ein Fang!
Vor Freude glühten seine Backen, denn mit den Fischen konnte er sie beide für zwei Tage ernähren. Stolz machte er sich auf den Rückweg, hielt die Fische lässig über der Schulter baumelnd an einer Lederschnur. Die Bewegung wärmte ihn, erinnerte ihn an seine fast erfrorenen Füße. Haun, er würde sie in die Nähe des Feuers strecken und dann sollte Winyan-o‘hanschitscha sie massieren. Argwöhnisch zog er den Vorhang zur Seite, achtete darauf, dass sie nicht neben dem Eingang stand und ihm eine Keule überzog, aber sie saß harmlos am Feuer, schaute ihn mit ihren großen Augen an.
Dann wurden sie vor Entsetzen blank, als sie die Fische sah. Was wollte er mit diesen Ungeheuern aus dem Wasser? Sie waren giftig, gehörten allein den Wasserwesen!
Platschend landeten die Fische vor ihren Füßen und sie sprang aschgrau vor Ekel in die Höhe.
„Bereite sie zu!“, befahl er.
Ungläubig starrte sie ihn an, verstand nicht, was sie tun sollte.
„Hörst du nicht, Winyan-o‘hanschitscha? Bereite sie zu!“
Es schüttelte sie vor Ekel und sie wich entsetzt zurück.
Wütend setzte sich Nata-He-Yukan neben das Feuer und rieb seine Hände. Was war denn jetzt schon wieder mit dieser störrischen Frau los? Hatte sie etwa Angst vor ein paar toten Fischen? Das war ja lachhaft!
Mit geübten Schnitten nahm er die Forellen aus, dann steckte er sie auf einige lange Äste und hielt sie über das Feuer. Eigentlich mochte er sie lieber in einer Kochgrube gebraten, aber direkt über dem Feuer ging es schneller, und er hatte Hunger. Ungeduldig winkte er die Frau heran. „Setz dich wieder hin. Du siehst doch, dass die Fische tot sind!“
Widerstrebend hockte sich Tötet-die-Crow auf ihren Platz, verfolgte ungläubig, wie der Mann die Fische briet. Er wollte sie offensichtlich essen!
Oh, allein der Geruch drehte ihr den Magen um. Die Mäuler standen weit offen, lange Barthaare krümmten sich in dem Feuer und die Glupschaugen schienen sie durchbohren zu wollen. Ihr wurde schlecht und hastig verließ sie die Höhle, um sich zu übergeben. Schnell wurde es draußen zu kalt für sie und mit weichen Knien begab sie sich wieder in das Innere, drückte sich an der Wand entlang nach hinten, um nicht sehen zu müssen, was der Mann dort tat.
Nata-He-Yukan hockte zufrieden neben dem Feuer, legte den ersten Fisch auf einen flachen Stein und zerteilte ihn. Sorgfältig entfernte er die Gräten, dann stopfte er die ersten Stücke in seinen Mund. Ein vergnügtes Lächeln spielte um seine Lippen und freundlich bot er ihr auch etwas an.
Sie wand sich vor Ekel, drehte empört den Kopf weg und strafte ihn mit Verachtung. Wie konnte er nur! Gleich würde er bestimmt umfallen, sich in Krämpfen winden und sterben. Ha, sie brauchte nur abzuwarten und sie wäre ihn los.
Eine plötzliche Wut wallte in Nata-He-Yukan hoch. Wie sollte er sie satt bekommen, wenn sie ständig irgendetwas nicht aß!
Gut, sollte sie doch verhungern!
Missmutig legte er sich neben sie, verzichtete darauf, sich an ihrem Körper zu wärmen. Blackfeetfrauen waren wirklich nicht nach seinem Geschmack!
Vielleicht sollte er sich lieber ein anderes Mädchen rauben, das sich seinen Wünschen fügte!
Am nächsten Tag konnte er die Höhle nicht verlassen, weil ein Schneesturm über das Land fegte. Nata-He-Yukan blieb gezwungenermaßen in der Höhle und bastelte an neuen Pfeilen. Aber er hatte keine besondere Eile zur Jagd zu gehen, denn er hatte noch die anderen Fische. Er ignorierte den entsetzten Blick seiner Gefangenen und briet sie über dem Feuer.
„Du-nicht-essen! Dann-du-hungrig!“, meinte er kalt. Er konnte es nicht ändern.
Ihre Augen wurden zu Schlitzen und hasserfüllt starrte sie ihn an. „Du-schlechter-Mann!“, zeigte sie mit deutlichen Gesten. „Schlechter-Mann!“
Dieser Lakota würde sie sicherlich elendig verhungern lassen. Sie musste ihn endlich loswerden!
Ihr Blick fiel auf das Messer, das er achtlos neben sich gelegt hatte, fast in ihrer Reichweite. Ohne nachzudenken packte sie es und ging unvermittelt auf ihn los. Mit erhobenem Arm richtete sie sich auf und stach mit voller Wucht zu, ihr Gesicht vor Wut verzerrt.
Eine stahlharte Faust schloss sich um ihr Handgelenk und blitzschnell ließ sich der Krieger nach hinten fallen. Durch den Schwung stürzte sie auf ihn und in einer drehenden Bewegung warf sie der Mann brutal zu Boden.
Alles ging so schnell, dass sie kaum merkte, wie er ihr das Messer entwand und es ihr an die Kehle setzte.
Entsetzt hielt sie die Luft an und wartete auf den Todesstoß. Seine losen Haare fielen in ihr Gesicht, aber sie wagte nicht sich zu bewegen, fühlte nur den schweren Körper auf sich, der sie zu Boden drückte. Warum war er so viel kräftiger als sie? Seine Augen sprühten vor Zorn und die Messerspitze drückte in ihre Halsschlagader. „Stich doch zu!“, dachte sie hasserfüllt. „Mach dem allem endlich ein Ende!“
Dieses Blackfeetweib! Wie konnte sie es wagen, ihn anzugreifen! Er hatte es satt! Drohend begann er in deutlicher Zeichensprache mit ihr zu reden, ohne den Druck auf ihren Hals auch nur zu verringern. „Du-meine-Gefangene! Du-schlechte-Frau! Meine-Medizin-stärker-als-deine! Du-angreifen, dann-ich-nehmen-deinen-Skalp!“
Mit nur einer Hand, die er für die Zeichensprache zur Verfügung hatte, war es ein bisschen schwierig, alle Gesten richtig zu zeigen, trotzdem verstand Tötet-die-Crow seine Botschaft. Sein Blick aus obsidianschwarzen Augen ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung zu. Fordernd wartete er auf eine Antwort.
Sie schluckte schwer.
Wieder drückte die Messerspitze gegen ihren Hals und kurz überlegte sie, ob es nicht ehrenvoller wäre, zu sterben. Doch sie wollte leben, hatte plötzlich Angst, selbst den Tod zu wählen. Warum konnte sie nicht stark sein? Dieser Mann wollte ihre Unterwerfung, nichts anderes, und sie gab auf: „Ich-gehorche!“
Seine Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. Betont langsam steckte er das Messer weg und setzte sich zurück an das Feuer.
Für die Nacht fesselte er ihre Hände grob an einem Pflock fest, ignorierte ihren hasserfüllten Blick. Dieses Weib war gefährlich und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass sie ihn hinterrücks ermordete. Ihre Augen blitzten wütend, aber er war gewarnt!
In Tötet-die-Crow dagegen tobten die Gefühle. Wütend drehte sie an ihren Handgelenken, doch die Fesseln saßen fest. Vielleicht sollte sie versuchen, das Leder durchzunagen? Aber was nützte ihr das? Wohin sollte sie im Winter gehen? Entmutigt schloss sie die Augen, versuchte mit ihren gefesselten Händen eine bequeme Lage zu finden. Sie hatte ihre Chance verspielt und nun würde dieser Mann sie den ganzen Winter anbinden wie einen bissigen Hund. Aber noch schlimmer war das Gefühl der Demütigung: Sie hatte aufgegeben, sich unterworfen, hatte zugegeben seine Gefangene zu sein! „Oh, mein Bruder, welchen Weg hast du für mich gewählt!“, schluchzte sie unhörbar. Sie fühlte sich verraten, sowohl von ihrem Gott als auch von ihrem Bruder.
Jean Baptiste
(Little-Bighorn Berge)
Winterstürme zogen über das Land und fesselten die beiden an die Enge der Höhle. Die Vorräte gingen zur Neige, auch weil ein Teil des Wasnas Schimmel angesetzt hatte. Es wurde Zeit, dass Nata-He-Yukan dem Dachs an den Kragen ging oder er nach anderem Kleinwild Ausschau hielt. Tagsüber krachten die Stämme der Bäume, wenn sie von der unmenschlichen Kälte barsten. Der laute Knall war weithin zu hören, wurde als Echo von den Berghängen zurückgeworfen. Die Stimmung in der Höhle war gereizt.
Nata-He-Yukan hasste es, wenn er nicht hinaus konnte, außerdem fehlte jeder Tag, an dem er nicht jagen konnte. Dann wurde auch noch das Feuerholz knapp und sehnsüchtig wartete er auf besseres Wetter. Kaum schien die Sonne, nahm er die Blackfeetfrau mit nach draußen und ließ sie Holz sammeln.
Tötet-die-Crow genoss die Abwechslung, manchmal der Enge der Höhle entfliehen zu können, und folgte ihm zum Holzsammeln in den Wald. Nüchtern erkannte sie, dass sie beide um ihr Überleben kämpften und ihre Chancen standen mit diesem Mann besser, als wenn sie alleine wäre. Gehorsam sammelte sie das Holz und beobachtete, wie er einen Dachsbau freilegte. An sich war er ein guter Jäger, stellte sie bewundernd fest.
Schade, dass er ein Lakota war und sie ihn töten musste, sich rächen für das, was dieser Mann ihr angetan hatte!
Mit einem langen gegabelten Stock stieß er in den Bau und drehte das sich windende Tier hinaus. Es war bissig und gefährlich, doch Nata-He-Yukan drückte den Kopf mit der Astgabel nach unten und stach mit dem Messer zu. Der Dachs zuckte kurz, dann blutete er aus dem Maul und starb.
„Gutes Essen heute Abend!“, frohlockte der junge Mann und zeigte ihr stolz seinen Fang.
Sie lächelte zurück, bemüht sein Misstrauen einzuschläfern. Sie hatte festgestellt, dass er wesentlich freundlicher war, wenn sie manchmal lächelte. Trotzdem fesselte er sie nach wie vor in der Nacht, ließ in seiner Wachsamkeit nicht nach. Aber bis zum Vielregenmond blieb ihr noch viel Zeit ihn einzuschläfern und in Sicherheit zu wiegen.
Sie hatte ein riesiges Bündel Holz mit einem Riemen zusammengebunden und zog es hinter sich her. Sorgfältig schichtete sie es neben dem Feuer, damit es schneller trocknete, dann befahl ihr der Krieger erneut Holz zu sammeln.
Nata-He-Yukan ließ sie allein und suchte woanders nach Beute, wohl wissend, dass sie bei diesem Schnee keinen Fluchtversuch wagen konnte.
In seinen Schneeschuhen trabte er den Hügel hinunter, bis er plötzlich auf eine andere Spur stieß. Die Fußabdrücke eines Menschen! Und nicht seine eigenen! Jetzt, mitten im Winter!
Bestürzt dachte er an all die Spuren, die er hinterlassen hatte, und die jeden Feind sofort zu seiner Höhle führen würden.
Seine Pferde unter den Bäumen! Wachsam nahm er seinen Bogen in die Hand und folgte vorsichtig der deutlichen Spur.
Dann stürzte er fast in eine Felsspalte, die von dem Schnee zugeweht worden war. Jetzt klaffte hier eine Öffnung, weil der Eindringling ahnungslos darüber gegangen war. Han!
Nata-He-Yukan zog die Schneeschuhe aus, umging den Felsen und sein erstaunter Blick fiel auf den Mann, der vor ihm im Schnee lag. Hoka! Damit hatte er hier am wenigstens gerechnet!
„Mon dieu!“, murmelte der Fremde und machte das Zeichen für Freund.
Etwas spöttisch beugte sich Nata-He-Yukan herunter, nahm sein Messer und setzte es dem Fremden an die Kehle. Freund!
Noch entschied er, wer hier Freund oder Feind war.
Aber an der Stelle des Mannes, der offensichtlich verletzt war, würde auch er allen die Freundschaft anbieten. Der seltsame Mann zuckte nicht einmal zurück, als die Spitze des Messers seine Kehle berührte und Nata-He-Yukan bewunderte dessen Mut. „Ich bin Franzose!“, erklärte der Mann, aber Nata-He-Yukan hatte nicht wirklich eine Ahnung, wo dieses merkwürdige Volk lebte. Wenigstens konnte er sich in Zeichensprache verständigen. „Ich heiße Jean!“
„Dschon?“, versuchte Nata-He-Yukan das seltsame Wort nachzusprechen.
„Oui, Jean!“
„Ich heiße Nata-He-Yukan!“
„Ah, Natter!“
„Hiya, Nata-He-Yukan!“, schmunzelte der Indianer und ließ die Hand mit dem Messer sinken.
„Nata-he-comment?“
„Nata-He-Yukan!“, wiederholte der Krieger geduldig. Längst hatte er beschlossen diesen seltsamen Mann am Leben zu lassen, denn er fand ihn lustig.
„Welches Volk?“, fragte der Franzose.
„Lakota!“
Ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht des Weißen. „Ah, Lakota-meine-Freunde!“
Jetzt lachte Nata-He-Yukan wirklich, denn er hatte längst gesehen, dass das Bein des Mannes gebrochen war.
„Dein-Bein-gebrochen, so-alle-deine-Freunde!“, meinte er lässig.
Lachend fiel der Mann in sein Gelächter ein und vergnügte blaue Augen blitzten in seinem Gesicht. Dann sagte er in verständlichem Lakota: „Waschitschu iktschetscha hematscha!“- Ich bin ein guter Weißer!
So wurden die Franzosen meist von den Lakota genannt, weil sie durch ihren fairen Handel beliebt waren.
Nata-He-Yukan staunte, obwohl er sich redliche Mühe gab, seine Überraschung zu verbergen. Sein Stamm hatte oft mit den Waschitschu iktschetscha gehandelt, manchmal hatten sie den ganzen Winter bei dem Handelsposten verbracht, aber einen Händler soweit westlich anzutreffen wunderte ihn.
„Du sprichst meine Sprache?“ Seine Stimme klang neutral, kaum interessiert, so als würde er fragen, ob das Wetter schön wäre.
„Nur wenig!“, antwortet der Mann mit leichtem Bedauern.
Nata-He-Yukan musterte ihn abschätzend, überlegte, was er jetzt tun sollte. „Du bist weit im Westen!“
„Na, du auch!“, entgegnete der Weiße und reizte Nata-He-Yukan damit schon wieder zum Lachen.
„Hecetu! Ich bin dein Freund!“, bot er großzügig an.
Dann überlegte er sich, wie er den verletzten Mann transportieren konnte. Er kletterte zurück und holte seine Schneeschuhe, versuchte den Mann auf seiner Schulter zu tragen, aber mit dem zusätzlichen Gewicht sank er zu tief ein. Ächzend legte er den Mann wieder in den Schnee und nagte an seiner Lippe. Er brauchte einen Schlitten. Vielleicht konnte er die bunte Decke des Franzosen dazu benutzen? Sie war aus einem seltsamen Material, allein schon wegen der bunten Farben ein begehrtes Tauschobjekt bei seinem Volk. Vorsichtig legte er Jean auf die Wolldecke und begann ihn hinter sich herzuziehen.
„Mon dieu, mein Bein!“, stöhnte der Franzose, aber Nata-He-Yukan konnte auf seine Schmerzen keine Rücksicht nehmen. Erst musste er ihn in die sichere Wärme seiner Höhle bringen. Es wunderte ihn sowieso, was dieser Mann so alleine hier draußen tat.
Mit großen Augen bestaunte Tötet-die-Crow den weißen Mann, den Nata-He-Yukan hinter sich her zog. So etwas hatte sie noch nie gesehen, obwohl sie wusste, dass es solche Menschen gab.
„Omakiya-yo!“Hilf mir, befahl Nata-He-Yukan der Frau.
Gemeinsam zogen sie den Verletzten in die Höhle und legten ihn auf das Lager von Nata-He-Yukan. Ungeschickt fingerte Tötet-die-Crow an den unbekannten Knöpfen seiner Jacke und Hose, löste den Gürtel und schnitt einfach die Verschnürungen seiner Stiefel auf, weil die Knoten völlig vereist waren. Dann zog sie die Hose über sein gebrochenes Bein und staunte über die helle Haut. „Wie der Mond!“, dachte sie verwundert. Vielleicht kamen diese Menschen vom Mond? Er trug eine komische rote Hose über seinen Lenden und sie kicherte bei dem Anblick.
„Deine Frau?“, fragte der Franzose.
„Meine Gefangene!“, winkte Nata-He-Yukan ab.
„Oh!“ Etwas verblüfft sah Jean die Frau an, dann grinste er freundlich. „Sie-haben-schönes-Gesicht!“
Nata-He-Yukan hob warnend seinen Zeigefinger: „Sie hat ein scharfes Messer! Diese Frau ist gefährlich!“ Dann beugte er sich über das Bein des Weißen und richtete mit einem Ruck den Knochen wieder ein.
„Oh!“, machte der Mann, seine blauen Augen verdrehten sich, und er fiel in Ohnmacht.
Nata-He-Yukan war das nur recht, so konnte er in Ruhe das Bein schienen und es mit Fellstreifen umwickeln.
Dann untersuchte er interessiert die Sachen des Weißen und zog voller Bewunderung das blanke Messer aus der Scheide. Das war eine Waffe! Er steckte es ein, damit es der Blackfeetfrau nicht in die Hände fiel und machte sich auf den Weg, die Ausrüstung des Mannes zu bergen.
Schneeflocken tanzten in der Luft, kündigten einen weiteren Schneesturm an. Eilig kehrte er zu der Stelle zurück, wo er den Mann gefunden hatte, und suchte methodisch den Schnee ab. Er fand ein Gewehr und hielt es staunend in seinen Händen. Der Vater von Bleza-Si hatte eine solche Waffe besessen und kurz flammte die Erinnerung an seinen verhassten Gegner auf.
Hastig sammelte er die Taschen und ein Bündel mit Fellen auf, dann musste er die Suche abbrechen, weil das Schneegestöber zu gefährlich wurde. Seine Wangen brannten und hastig trabte er den Weg zu seiner Höhle zurück, senkte seinen Kopf gegen die unbarmherzige Kälte. Frierend tauchte er in die Wärme und zog mit einem Ruck das Antilopenfell vor die Öffnung.
Die Frau hatte die Decke des Weißen zum Trocknen über das Feuer gehängt, kniete brav an der Kochstelle und nahm den Dachs aus. Nata-He-Yukan blies in seine Fäuste und schüttelte mit Schwung den Schnee aus seinem Haar. Dann untersuchte er neugierig die Beutel des Weißen. Er fand einen Sack mit Kugeln, in einem Horn befand sich stinkendes Pulver. Vielleicht Medizin? In einer größeren Tasche steckte Proviant, und vorsichtig knabberte Nata-He-Yukan an einem Zwieback. Das unbekannte Gebäck schmeckte gut, und während er kaute, untersuchte er die weitere Ausrüstung des Mannes. Wäsche zum Wechseln in eigenartiger Qualität, weich und leicht, nicht so fest wie die hirschledernen Gewänder, die sein Volk trug.
Dann drehte er neugierig das Gewehr in seinen Händen, wusste aber nicht, wie es funktionierte. Als damals der weiße Mann bei ihnen gelebt hatte, war er noch ein Kind gewesen, und der Weiße hatte seine „Medizin“ geheim gehalten und immer einen großen Zauber darum gemacht.
Mit einem Achselzucken packte er alle Sachen wieder ein und verstaute sie neben dem Eingang. Er hatte gesagt, dass dieser Weiße sein Freund war und Freunde beraubte man nicht, man fragte! Auch das Messer legte er dazu, obwohl er es mitnehmen würde, wenn er die Höhle verließ, damit es nicht der Frau in die Hände fiel. Mit den anderen Sachen konnte sie ohnehin nichts anfangen.
Mit einem gequälten Stöhnen wachte Jean wieder auf. „Oh, merde!“, fluchte er, als er sein eingebundenes Bein wahrnahm. Schweiß trat auf seine Stirn, als die Schmerzen in Wellen seinen Körper erfassten.
Nata-He-Yukan konnte ihm nicht helfen, er hatte keine schmerzlindernden Kräuter und konnte auch keine suchen. Ob Kälte helfen würde? Als er den Weißen gefunden hatte, schien er keine großen Schmerzen gehabt zu haben.
Er hob das Fell von dem Eingang hoch und schaufelte den hereinfallenden Schnee, der sich wie eine kleine Lawine in die Höhle ergoss, auf das Bein des stöhnenden Mannes. Nach einer kleinen Weile entspannte sich dessen Gesicht und es schien ihm besser zu gehen.
„Bist du hungrig?“, fragte er höflich.
„Mais oui, comme un loup!“, erklärte Jean mit einer deutlichen Geste auf seinen Bauch.
Nata-He-Yukan machte eine befehlende Handbewegung und gehorsam brachte Tötet-die-Crow dem Weißen eine Schale mit Essen.
„Prisonée, he?“, brummte der Mann und schlang hungrig das Essen in sich hinein. Dann verfolgte er verwundert, wie Nata-He-Yukan das Mädchen für die Nacht fesselte.
„Du hast Angst vor dem kleinen Mädchen?“, fragte Jean verblüfft. Seine Lakota war holperig, aber seine Zeichen waren schnell und geübt.
Nata-He-Yukan schnaubte empört: „Das ist kein kleines Mädchen! Diese Frau ist gefährlich! Sie hat versucht mich zu töten!“
„Was?“, fragte der Franzose, denn alle Worte hatte er nun doch nicht verstanden.
„Sie-will-mich-töten!“, erklärte Nata-He-Yukan in Zeichensprache.
„Mon dieu!“, entfuhr es dem Franzosen. „Du-nicht-lassen-allein-mich-mit-Frau!“
Nata-He-Yukan grinste wie ein Fuchs und beruhigte ihn: „Ich gebe dir dein großes Messer, damit du dich verteidigen kannst!“ Wieder lachten beide, amüsierten sich über die erste Konversation, die zwischen ihnen möglich war. Nata-He-Yukan erkannte plötzlich, dass auch sein Gegenüber noch sehr jung war. Er wirkte nur älter, weil er diese komischen Haare im Gesicht hatte, aber sein Körper war noch so schlaksig wie bei einem Jugendlichen.
„Du bist ein junger Mann!“, stellte er fest. „Warum bist du allein hier?“
Wieder antwortete ihm dieses jungenhafte Grinsen: „Ich-bin-Trapper! Ich-fangen-Biber, Wölfe, Füchse, tauschen-mit-Indianern!“
Han! Das beantwortete aber nicht, warum er allein hier war. Oder waren noch mehr Menschen in der Nähe, Freunde oder Feinde?
Vorsichtig forschte er genauer nach: „Wir jagen im Stamm! Du bist allein, das ist sehr gefährlich, warum?“
„Nicht gefährlich! Indianer sind meine Freunde!“
Nata-He-Yukan unterdrückte ein Grunzen, denn mit einem Pfeil im Rücken würde er nicht mehr sagen können, dass alle Indianer seine Freunde waren. Er staunte über die Naivität dieses Mannes, aber offensichtlich hatte er noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.
„Du-auch-allein, nur-mit-gefangener-Frau, warum?“, stellte Jean die Gegenfrage.
Ebenso gespannt wartete Tötet-die-Crow auf die Antwort, hoffte auf diese Weise etwas über diesen fremden Lakota zu erfahren.
Zögernd senkte Nata-He-Yukan den Kopf, dann machte er eine abschließende Handbewegung, denn er wollte nicht davon erzählen. Stattdessen schaufelte er weiteren Schnee auf das Bein des Trappers und schlüpfte dann unter sein warmes Bärenfell.
Eines merkte Nata-He-Yukan schnell: Der Weiße war zwar lustig, aber eine riesige Belastung! Mit seinem gebrochenen Bein war er unfähig, irgendetwas zu tun und ihre Vorräte schwanden rapide, weil er sie jetzt mit drei Personen teilen musste. Längst waren die Vorräte der Eichhörnchen geplündert, selbst Erdhörnchen gehörten inzwischen zu seiner Jagdbeute, oder Fisch.
Jedes Mal verzog sich Tötet-die-Crow in den bitterkalten hinteren Teil der Höhle, wartete angeekelt, bis die Männer diese schlüpfrigen Biester verschlungen hatten, ehe sie sich wieder hervor wagte. Jean lachte Tränen über ihre Dummheit, aber selbst er konnte sie nicht überzeugen, dass Fische genießbar waren.
Irgendwann hätten beide Männer Glupschaugen und würden als Geister in die Wasserwelt ziehen! Lieber hungerte sie, denn andere Nahrung war nicht da!
Nata-He-Yukan war das gleichgültig. Wenn er etwas anderes fand, dann brachte er es ihr, ansonsten musste sie eben hungern. Ungehorsame-Frau!
Oft knurrte ihr der Magen, während die Männer sich die Bäuche vollschlugen. Aber wenn die Winterstürme tobten, hungerten auch die Männer, aßen lediglich von dem trockenen Zwieback.
Nata-He-Yukan jagte nun für drei und die Verantwortung lastete schwer auf ihm. Das nächste Mal würde er niemanden mehr aufsammeln, der seine Hilfe benötigte. Andererseits genoss er die Anwesenheit des Franzosen. Mit ihm konnte er Männergespräche führen und Witze machen.
Am meisten freute er sich über die Fortschritte des Trappers seine Sprache zu lernen. Wan! Jean lernte schnell, während diese störrische Frau keine Anstalten machte sich mit ihm zu verständigen. Aber sie gerbte, kochte, nähte und wehrte sich im Bett nicht, was wollte er mehr?
Manchmal verglich er sie mit seiner Mutter, mit ihren geschickten Händen, ihrer freundlichen Stimme und ihren lustigen Augen. Diese Blackfeetfrau war bockig, widerspenstig, stumm, kein freundliches Wort kam über ihre Lippen, kein nettes Lächeln verschönerte ihr Gesicht. Niemals hätte er um dieses Mädchen geworben, aber sie war ihm schließlich in die Hände gefallen, gehörte nun ihm.
Jeans Bein heilte langsam, und manchmal humpelte er bereits mit einem Stock vor die Höhle, um zu urinieren. Es war ihm schrecklich peinlich gewesen, dazu ein Fell zu benutzen, das die Frau dann mit spitzen Fingern vor die Höhle trug, aber es ging nicht anders. Jetzt konnte er immerhin hüpfen und er kam sich vor wie ein Storch. Das Messer steckte an seinem Gürtel in der Scheide, wenn Nata-He-Yukan die Höhle verließ, um zu jagen.
Nicht, dass er glaubte, dass das Mädchen ihn angreifen würde, aber man konnte ja nie wissen.
Überhaupt konnte es nicht schaden, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen.
Also lud er sein Gewehr, für den Fall, dass doch feindlich gesinnte Indianer vorbei kamen und verließ die Höhle, um zu testen, ob das Pulver trocken war.
Wissbegierig beugte sich Nata-He-Yukan über die Waffe, sah endlich die Möglichkeit, etwas mehr über dieses Zauberding zu erfahren: „Wie schießt diese Waffe?“
Grinsend lud Jean die Waffe mit einer Kugel, schüttete Pulver in den Lauf und steckte ein Zündhütchen auf.
„Schau her!“, lachte er, dann legte er an, zielte auf einen Ast und schoss.
Vor Schreck ließ Nata-He-Yukan sich zu Boden fallen, dann hallte das Echo zurück. Wan! Er hatte ganz vergessen, wie laut diese Waffe war!
Aber auch bei seinem Volk hatten die Menschen geglaubt, dass der Weiße den Donner in diesem Stock gefangen hielt!
Bewundernd starrte er auf den Ast, der krachend zu Boden fiel. Auch dieser Weiße konnte mit Donner töten! War er ein Donnergott, so wie der Vater von Bleza-Si?
„Waschté?“, fragte Jean unschuldig.
Nur mühsam konnte sich Nata-He-Yukan beherrschen, versuchte wieder den Jungen in diesem Gott zu sehen, den er vor vielen Tagen im Schnee gefunden hatte. „Mhh, waschté!“, brachte er heraus und Jean nickte zufrieden.
Höflich hielt er ihm das Gewehr hin: „Du auch?“
Fassungslos starrte Nata-He-Yukan auf diese mächtige Waffe. Durfte er sie tatsächlich abfeuern? Unsicher nahm er das Gewehr in die Hände, unschlüssig was er jetzt tun sollte.
Jean zeigte ihm, wie er die Waffe laden konnte, dann legte er sie an die Schulter, wie er es bei Jean gesehen hatte. „Non, non, non, mon ami!“, bremste ihn sein Freund. „Du musst gut stehen, oder du fällst um!“
Zufrieden sah er zu, wie Nata-He-Yukan sorgfältig zielte und abdrückte. Die Kugel prallte in den Baum und hinterließ eine lange Schramme, während Nata-He-Yukan sich fassungslos das Ohr hielt. Das war laut!
Dann blickte er in den Himmel, an dem schimpfend ein Schwarm Gänse vorbei flog, die ersten Vorboten des nahenden Frühlings. Seine Pfeile waren wesentlich leiser und verscheuchten nicht alles Wild. „Zu laut!“, mit diesen Worten drückte er Jean das Gewehr wieder in die Hand.
„Zu laut! Alle Feinde werden uns hören!“
Grummelnd verschwand Jean in der Höhle und setzte sich beleidigt auf sein Lager. Aber so Unrecht hatte der Junge nicht. Wenn er nur wüsste, warum er allein hier lebte, nur mit diesem gefangenen Mädchen. Sein Blick blieb an ihr kleben und er dachte neidisch an die Nächte, in denen sich Nata-He-Yukan mit ihr vergnügte.
Auch Tötet-die-Crow hatte die Gänse gehört und Hoffnung regte sich in ihr. In ein, zwei Monden würde der Schnee verschwinden und sie konnte an ihre Flucht denken. Sie fühlte den Blick des weißen Mannes auf sich und Angst griff nach ihrem Herzen. Es würde schwierig werden, der Wachsamkeit von zwei Männern zu entkommen, aber vielleicht verschwand der Weiße ja, um seine Biber zu jagen. Ihr Magen knurrte und sie hoffte, dass Nata-He-Yukan mit Beute zurückkam.
Tatsächlich bückte sich der Krieger nach einiger Zeit grinsend mit zwei erlegten Gänsen in die Höhle und hielt sie ihr hin, damit sie das Essen zubereitete. Angewidert drehte sie sich weg.
Was brachte dieser Lakota denn noch? Aßen sie etwa auch Vögel?
Nata-He-Yukan sah ihren Ekel und sein Hals schwoll an vor unterdrücktem Zorn. Wovon ernährten sich die Blackfeet eigentlich? Er hatte es satt, ewig ihren angewiderten Blick zu ertragen, wenn sie doch froh sein konnte, dass er überhaupt etwas Essbares brachte! Drohend kam er auf sie zu und befahl ihr die Gänse zuzubereiten.
Ihre Hände wurden feucht, als sie nach den Füßen der Vögel griff und ungeschickt ließ sie das Federvieh zu Boden fallen. Ihr entsetzter Blick fiel auf die toten Körper, und sie fühlte, wie ein Würgen in ihr hoch stieg. Mit weichen Knien drückte sie sich an dem Krieger vorbei, hastete aus der Höhle und übergab sich. Oh nein! Sie konnte die Vögel nicht zubereiten, alles in ihr wehrte sich dagegen.
Wütend beugte sich Nata-He-Yukan über die Gänse und begann sie zu rupfen.
Jean setzte sich hilfsbereit neben ihn und half ihm mit dem anderen Vogel. „Verrückte Frau!“, lachte er scherzhaft.
Nata-He-Yukan war nicht nach Lachen zumute, ihm reichte es schon lange. Verbissen nahm er die Gans aus und steckte sie zum Braten über das Feuer. Gut! Sollte sie doch verhungern!
Er würde ihr jedenfalls nichts anderes mehr bringen. Entweder sie aß das, was er ihr brachte, oder sie bekam nichts! So einfach war das!
Finster schaute er zu ihr auf, als sie aschgrau an ihm vorbeikletterte und in den hinteren Teil der Höhle verschwand. Dort war es kalt und schadenfroh beobachtete er, wie sie sich in eine Decke hüllte. Seine Laune besserte sich, als ein angenehmer Bratenduft die Höhle erfüllte. Vorsichtig stach er in das weiße Fleisch und trennte einen Flügel ab. Dann bot er den knusprigen Braten seinem Freund an.
Dankbar nahm Jean das Fleisch entgegen und biss mit Appetit hinein. „Mhh, schmeckt wirklich sehr gut!“
Lächelnd schnitt sich Nata-He-Yukan ein weiteres Stück ab, dann drehte er sich zu der Frau um und biss herausfordernd in den Schenkel. Saft tropfte ihm über das Kinn und einige Fasern des Fleisches fielen ihm aus dem Mund.
„Mhhh, siehst du, Ungehorsame-Frau! Siehst du, wie es mir schmeckt!“ Angeekelt vermied sie den unappetitlichen Anblick, fühlte wieder dieses Würgen in sich aufsteigen.
Die Männer lachten belustigt und aßen die ganze Gans auf, glücklich darüber, sich endlich mal wieder den Magen so richtig vollschlagen zu können.
Tötet-die-Crow war schlecht vor Hunger, aber nichts konnte sie überzeugen, etwas von diesem Federvieh zu essen.
Wie gern würde sie selbst jagen gehen, aber der Krieger hatte ihren Bogen versteckt und würde ihn ihr ganz sicher nicht geben.
Am nächsten Tag ging der Krieger demonstrativ nicht zur Jagd, denn er hatte ja noch die andere Gans.
Wieder sah Tötet-die-Crow einem Tag des Hungerns entgegen, und sie fühlte sich schlapp und elend.
Das Gespräch der Männer plätscherte dahin, aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Der Weiße sprach mit einem lustigen Akzent, selbst sie hätte die Worte besser nachsprechen können, aber sie sagte nichts, deutete mit keiner Geste an, dass sie genauso lernte wie Jean. Beim Holzsammeln fand sie schließlich einige verschimmelte Nüsse und ausgehungert stopfte sie sich das Wenige in den Mund, fühlte eine angenehme Schwere in ihrem Magen.
In der Höhle briet die nächste Gans und der entfiederte Leib hatte Ähnlichkeit mit einem kleinen Kind, das man über dem Feuer röstete. Mit zusammengebissenen Zähnen sank sie auf ihrem Lager zusammen, drehte sich weg, damit sie nicht sehen musste, wie das unappetitliche Essen zwischen den Zähnen der Männer verschwand.
Sie döste ein wenig, träumte von ihrem Onkel, sah, wie er die Arme ausbreitete, um sie in Empfang zu nehmen.
Schweißgebadet wachte sie auf, geschockt von der Realität des Traumes. Ihr Herz raste, als sie über die Bedeutung nachdachte. War auch ihr Onkel zu den Geistern gegangen? So wie ihr Bruder? Oder war es nur der Hunger, der ihr hier einen Streich spielte? Verstört setzte sie sich auf, bemerkte kurz, dass das grässliche Essen verschwunden war.
Nata-He-Yukan beachtete sie nicht, doch Jean zwinkerte ihr freundlich zu. Er schnitzte gerade an einer Schale, und bewundernd deutete Nata-He-Yukan auf die scharfe Klinge. „Eine gute Waffe! Wir tauschen?“
Prüfend hielt Jean die Klinge gegen das Feuer, dann meinte er zögernd: „Tauschen? Was gibst du mir?“
Unentschlossen zuckte Nata-He-Yukan mit den Schultern. Viel hatte er wirklich nicht. „Vielleicht ein Pferd? Oder ein Kriegshemd? Was möchtest du?“
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des jungen Weißen. „Ein Pferd, he? Non!“ Dann deutete er unmissverständlich auf das Blackfeetmädchen.
Der Weiße wollte die Frau! Die bedeutete ihm wirklich nichts, war höchstens lästig! Nachdenklich blickte er zwischen ihr und dem wertvollen Messer hin und her.
„Eine Nacht! Du gibst mir das Mädchen für eine Nacht!“, bat Jean.
Nata-He-Yukans Augen wurden rund vor Überraschung. Dieser Weiße musste es bitter nötig haben!
Er hätte sie ihm als Freund längst angeboten, wenn er das gewusst hätte. Schließlich war sie nur eine Gefangene.
Aber warum sollte er nicht das Messer für ihre Dienste nehmen? Geschmeidig stand er auf und ging zu ihr hinüber. Er öffnete die Riemen ihres Kleides und zerrte sie hoch, sodass das Kleid zu Boden rutschte.
Dann zog er sie zu dem Weißen, damit sie das Messer bezahlte. „Hier! Es ist üblich, dass ein Mann großzügig ist! Du hast keine Frau, also nimm meine!“
Hilflos nahm Tötet-die-Crow die Worte des Kriegers zur Kenntnis, nicht einmal wütend über das, was er hier tat. Wusste er nicht, wie schlecht es ihr ging?
„Uh! Danke, mon ami!“, murmelte Jean auf Französisch, strich sich verlegen die Haare nach hinten, dann bat er mit einem kurzen Nicken, dass Nata-He-Yukan solange draußen wartete.
Glücklich nahm der Indianer das Messer und verschwand aus der Höhle. Endlich war die Frau einmal nützlich für ihn!
Tötet-die-Crow wäre am liebsten im Boden versunken. Sie verstand es als weitere Demütigung, als Zeichen ihrer Unterwerfung, als Zeichen, wie wertlos sie für ihn war.
Er überließ sie einfach diesem Mondmann, diesem Fremden, wie es sein Recht war und wie er es schon längst hätte tun können. Unter anderen Umständen hätte es ihr vielleicht sogar Spaß gemacht, aber sie war nicht gefragt worden.
Gierig drückte sie der weiße Mann auf ihr Lager und öffnete seine Hose, dann tastete er nach ihren Brüsten. Sie schmerzten ungewohnt und bittend schob sie ihre Hände auf Jeans Brust, versuchte ihn etwas wegzudrücken. Sein Mund presste sich auf ihre Lippen und sie fühlte wie seine Zunge in sie vordrang.
„Wie ein Bodenschleicher!“, dachte sie entsetzt und die Intimität nahm ihr den Atem.
„Ah, ma chérie!“, stöhnte Jean und ließ seine Hände über ihren Körper wandern. Sie war das Messer wert! Oder war es nur Freundschaft? So ganz klar waren Jean die Gewohnheiten der Indianer immer noch nicht!
Tötet-die-Crow hörte dunkel, wie sein Fleisch auf das ihre klatschte, es war unwirklich und weit entfernt, aber es tat weh. Schwindel erfasste sie, ein seltsames Pfeifen dröhnte in ihren Ohren, dann wurde sie ohnmächtig.
Jean hatte die Augen geschlossen und gab sich ganz dem Gefühl hin, das er solange nicht mehr gehabt hatte. Oft hatte er in seinem jungen Leben ohnehin noch nicht die Möglichkeit gehabt bei einer Frau zu liegen. Einmal, vor endloser Zeit in einem Freudenhaus in St. Louis, ja, damals …!
Dann merkte er, dass etwas nicht stimmte und schüttelte sanft ihren Kopf. „He, du!“
Ratlos zog er sich zurück, dann rief er ein wenig ängstlich nach Nata-He-Yukan: „Ich habe nichts getan, wirklich!“
Der Indianer warf einen nachlässigen Blick auf die Frau. „Sie hat zu wenig gegessen! Störrische-Frau! Morgen geht es ihr wieder gut!“
Zweifelnd deutete Jean auf das ohnmächtige Mädchen: „Vielleicht gibst du dem Mädchen etwas anderes zu essen?“
Nata-He-Yukan zuckte nur die Schultern, ohne eine Antwort zu geben. Schließlich war sie nur eine Gefangene.
Fröstelnd wachte Tötet-die-Crow am nächsten Morgen auf. Sie hatte Fieber und fühlte sich elend. Nata-He-Yukan war längst weg und auch der weiße Mann rumorte bereits vor dem Eingang. Nur mit Mühe krabbelte sie aus der Höhle und erhob sich schwankend.
Sogleich hielt Jean sie fest. „Mädchen, Mädchen! Du bist ja ganz heiß!“, murmelte er bestürzt.
Die Frau stützte sich ab, dann schien der Schwindel zu vergehen und sie ging einige Schritte unter einen Baum, um sich zu erleichtern. Dann half ihr Jean in die Höhle zurück. Zitternd vor Kälte wickelte sie sich in eine Decke und suchte die Wärme des Feuers.
Jean brachte ihr eine Schale mit Wasser und durstig trank sie es in langen Zügen. Sie fühlte überhaupt nichts, wehrte sich auch nicht gegen die Anwesenheit des Mannes. Sollten sie doch mit ihr tun, was ihnen beliebte.
Dieses Mal kam Nata-He-Yukan gut gelaunt mit einem Stachelschwein zurück. Stolz warf er seine langen Haare nach hinten und deutete auf seine Beute. In Zeichensprache wandte er sich freundlich an das Mädchen: „Du-sehen! Kein-Fisch, kein-Bär, kein Vogel! Heute-dein-Bauch-voll!“
Ihre Augen wurden rund vor Überraschung, als er versuchte nett zu sein. Dann hatte sie sich wieder im Griff und blieb regungslos am Feuer sitzen, ohnehin zu schwach, um sich zu erheben.
Jean entschuldigte sie: „Deine Frau hat Fieber!“
Seufzend beugte sich Nata-He-Yukan über das Stachelschwein, aber dann lachte er sie an. „Ich-kochen-für-dich, gut?“
Sie nickte gnädig und plötzlich lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie brauchte Kraft, um mit den beiden fertig zu werden.
Die Umgebung der Höhle verwandelte sich in eine Sumpflandschaft. Alles war durchweicht, als der Schnee schmolz und der Boden taute. Dafür wurde es merklich wärmer und alle genossen die warmen Sonnenstrahlen. Erste lila und gelbe Blüten schossen aus dem Boden und ein sanftes Grün an den Zweigen ließ die Blätter erahnen.
Dem Mädchen ging es besser, trotzdem versuchte es, die Männer von sich fern zu halten. Sie wollte nicht der Spielball für beide sein, aber immer wieder überließ Nata-He-Yukan sie dem Weißen, zeigte damit seine Großzügigkeit.
Tötet-die-Crow fand sich damit ab, sie hätte es sowieso nicht ändern können, die Männer vielleicht nur zu Brutalitäten gereizt, wenn sie sich gewehrt hätte. Der Geschlechtsakt an sich machte ihr nichts aus, es war nur Nata-He-Yukans demütigende Art, die sie in Rage versetzte. Aber je williger sie sich verhielt, umso eher konnte sie die beiden von sich fernhalten, wenn es ihr schlecht ging. Dann schob sie bittend ihre Hände auf seine Brust und schüttelte den Kopf.
Seltsamerweise akzeptierte Nata-He-Yukan ihre Verweigerung, nahm hin, dass sie manchmal einfach nicht wollte. Eigentlich schlief sie wesentlich lieber mit dem Weißen, denn er war sanft und zärtlich zu ihr, behandelte sie nicht in der demütigenden Weise wie Nata-He-Yukan.
Nata-He-Yukan kehrte nun regelmäßig mit reichlicher Jagdbeute zurück. Auch die Tiere waren nach dem langen Winter geschwächt und waren eine leichte Zielscheibe für ihn.
Viel Fleisch war nicht dran, nur die Raubtiere schlugen sich die Bäuche an dem Überangebot voll. Selbst Büffel, die schwankend das vermoderte Gras fraßen und keine Kraft mehr hatten, sich gegen die Wölfe zu wehren, gehörten zu ihrer Beute.
Widerstandslos beugte sich das Mädchen über die vielen Felle und Nata-He-Yukans Misstrauen ließ nach. Ohne es sich einzugestehen, brachte er stets Beute mit, die auch sie aß. Ihre großen dunklen Augen gefielen ihm und auch ihr Körper wurde weiblicher, seitdem sie mehr aß. Ohne das Mädchen wäre es im nächsten Winter ganz schön einsam!
Fast fürchtete er den Frühling und Sommer, denn da wäre es leichter für sie, einen Fluchtversuch zu wagen. Konnte er sie denn ständig fesseln? Er musste jagen, wie sollte er dann auf sie aufpassen? Solange Jean bei ihnen war, konnte dieser auf die Frau achten. Aber wenn der Weiße wieder fort ging?
Dann wäre er wieder allein mit diesem stillen Weib, das ihn feindselig anstarrte und auf ihre Chance wartete!
Ohne Zweifel würde sie einen Fluchtversuch wagen! Fast fürchtete er den Tag, an dem Jean ihn verlassen würde.
Mit ihm waren inzwischen richtige Gespräche möglich und er staunte, wie schnell der Weiße seine Sprache lernte.
„Womit handelst du?“, deutete Nata-He-Yukan auf die Bündel, die immer noch unberührt in einer Ecke lagen.
„Nun, hier in den Bergen fange ich Biber, Füchse und Hermelin, die ich dann im Frühjahr tausche. Ich bekomme Dollars für sie!“
„Dollars?“
„Ja, Geld!“
„Was ist Geld?“
„Tss!“, pfiff Jean leise durch die Zähne und überlegte.
„Also, ich fange Biber, die tausche ich dann für etwas, was ich brauche! Aber bei den Weißen, kann ich sie auch gegen Geld tauschen. Dieses Geld hat einen bestimmten Wert. Dann kann ich mir später etwas tauschen, das ich brauche!“
„Warum tauschst du es nicht gleich?“
Jean grunzte leicht: „Manchmal ist es besser, wenn man Geld hat!“
„Wieso? Entweder ich tausche, weil ich etwas brauche oder ich tausche nicht!“, wunderte sich Nata-He-Yukan.
„Ja, schon! Aber Geld ist viel kleiner. Manchmal bekomme ich das, was ich möchte, nicht dort, wo ich die Biber tausche. Dann nehme ich Geld, damit ich mir woanders etwas kaufen kann.“
„Wie sieht Geld aus?“
Eifrig kramte Jean einige Münzen aus seiner Jacke und zeigte sie Nata-He-Yukan.
„Die sind schön! Man könnte sich Schmuck daraus machen.“
„Quatsch! Mit diesen Münzen kannst du ein Messer tauschen!“
„So viel?“, staunte Nata-He-Yukan.
„Aber ja!“
„Jagst du deshalb hier? Um diese Münzen zu bekommen?“
„Ja, aber ich tausche auch mit den Indianern. Weißt du, mein Vater war bereits ein Trapper und ich habe es von ihm gelernt.“
„Dein Vater war schon vor dir hier?“
Jean grinste amüsiert: „Ja, er heißt Jean Baptiste Trudeaux, aber jetzt überlässt er das Jagen und Handeln mir!“
„Baptiste?“, fragte der Indianer verblüfft und seine Augen wurden rund.
„Han, Jean Baptiste Trudeaux!“
Unsicher schielte Nata-He-Yukan auf den Franzosen, nun vollkommen verunsichert. „An der Mündung des Schlechten-Flusses handelten wir mit einem Mann, der so hieß. Vor langer Zeit, als ich noch ein Junge war!“
„Ja, mein Vater!“, bestätigte Jean amüsiert. „Ich sagte doch, dass die Lakota meine Freunde sind!“
„Ja, schon …!“
„Aber?“
Jetzt kicherte auch Nata-He-Yukan. „Nun du bist wirklich mein Freund! Du bist der Sohn von Baptiste! Wan, mein Herz ist froh, dass ich dich nicht getötet habe!“
Jean lachte dröhnend: „Ich auch!“
„Wie geht es deinem Vater?“
„Oh, gut, hoffe ich!“
„Warum kommt er nicht mehr zu uns, um zu handeln?“
„Ach, er wird langsam alt! Jetzt überlässt er das Handeln jüngeren Männern!“
Verständnisvoll nickte Nata-He-Yukan mit dem Kopf, dann fiel ihm etwas anderes ein. „Dein Vater kam nie allein zu uns, sondern mit anderen Männern! Wie kommst du hierher, so allein?“
Jean machte eine abfällige Handbewegung. „Mit einem Pferd, aber es wurde von einer Klapperschlange gebissen und ist gestorben!“
„Hunhunhe! Wie kommst du dann zurück zu deinem Volk?“
Nachdenklich wackelte Jean mit seinem Kopf. „Ich weiß nicht! Vielleicht suche ich ein Dorf der Crow!“
Nata-He-Yukan lachte herzhaft und fast ein wenig beleidigt fragte Jean ihn nach dem Grund seiner Heiterkeit.
Nata-He-Yukan deutete mit einer weiten Handbewegung auf die Bündel von Jean. „Wan, dann wird von deinen Tauschwaren nicht mehr viel übrig bleiben!“
Jean grunzte empört: „Das sagst du nur, weil die Crow deine Feinde sind!“
„Stimmt, die Psa sind meine Feinde und ich töte sie! Aber wenn du gern lebensmüde bist, gebe ich dir ein Pony, und dann kannst du zu ihnen reiten!“
„Wirklich?“
„Aber ja!“
Vogelmädchen
Dann kam eines Morgens die Zeit des Abschieds. Jean wollte endlich weiter, hatte genug Zeit in dieser Höhle verplempert. Nur durch die gelegentlichen Nächte mit dem stillen Mädchen war ihm die Zeit etwas versüßt worden, außerdem hatte er ziemlich gut Lakota gelernt, eine Sache, die ihm als Händler durchaus nützen konnte. Gepackt lagen seine Bündel neben dem Eingang, und dankbar nahm er Nata-He-Yukan in die Arme. „Mon ami!“, murmelte er mit belegter Stimme, „Pilámaya!“ Danke!
„Pass auf, dass die Crow und Blackfeet dich nicht skalpieren!“, warnte ihn Nata-He-Yukan.
Mit einem süffisanten Grinsen drückte er ihm die Zügel seines Crowponys in die Hand.
„Du weißt doch, alle Indianer sind meine Freunde!“, lachte Jean und packte voller Begeisterung seine Bündel über den Sattel des Pferdes. Schwungvoll zog er sich hoch, erst dann staunte er über die Machart des indianischen Sattels. „Sag mal! Ist das ein Crowpony?“
Wiehernd vor Lachen schlug sich Nata-He-Yukan auf die Schenkel. „Ja! Aber deine Worte werden dich sicherlich schützen!“
„Ha, ha, sehr witzig!“, entgegnete Jean weniger freundlich.
„Vielleicht gehst du doch lieber zu Fuß?“
„Non, non! Zu spät! Die Crow werden mir schon nichts tun! Ich werde einfach sagen, dass ich dieses Pony von einem dreckigen Lakota eingetauscht habe!“
Grinsend nahm Jean das Gewehr in die Hände und wandte sich talabwärts.
Nata-He-Yukan schüttelte ungläubig den Kopf. „Wo gehst du überhaupt hin?“
„Überall und nirgends!“, schallte es zurück.
Ausdruckslos stand Tötet-die-Crow neben dem Eingang der Höhle und blickte Jean hinterher. Sie hatte nichts gegen diesen Weißen, fand ihn sogar ganz nett mit seinem maisfarbenen Haar und der hellen Haut, außerdem war er sanft zu ihr gewesen. Sie lächelte, als er seine rote Mütze aufsetzte und ihr einen Kuss zuwarf. Seltsam, dieses Küssen, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Jetzt musste sie ihn nicht mehr töten, denn er war weg! Längst war es die Zeit des Vielregenmonds und sie konnte Pläne für ihre Flucht schmieden.
Stille kehrte in die Höhle ein, denn ohne Jean hatte Nata-He-Yukan niemanden mehr, mit dem er reden konnte. Wortlos hockte die Frau in ihrer Ecke, bearbeitete die Felle oder beäugte ihn mit ihren großen Augen.
„Wie eine Spinne, die auf Beute lauert!“, dachte er frustriert und hatte nicht einmal Unrecht. Er vermisste die Gesellschaft des lustigen Weißen und ihm graute schon jetzt vor dem nächsten Winter. Manchmal ärgerte er die Frau, indem er mit Absicht Jagdbeute mitbrachte, die sie nicht mochte.
Dann legte sie ihre Hände in den Schoß und senkte bockig den Kopf. Winyan-o‘hanschitscha! Andererseits ärgerte er sich, dass er sich zu einem so kindischen Verhalten herabließ.
Sie rächte sich, indem sie einfach während des Kochens bereits die besten Stücke des Fleisches aß oder einige Brocken versteckte, damit sie etwas hatte, wenn er wieder Geflügel oder Fisch brachte. Es war ein Kleinkrieg zwischen den beiden, der nie nachließ, ebenso wenig wie ihre Gedanken an Flucht.
Ihr Körper wurde rundlicher und kräftiger, sie fühlte, dass nach dem langen Winter die Kraft zurückkehrte und lauerte auf eine günstige Gelegenheit.
Nachts pflockte er sie nach wie vor an, vereitelte somit die Möglichkeit, ihn im Schlaf zu töten und so hoffte sie auf eine andere Chance.
Diese kam bald durch seine Bequemlichkeit. Das Gelände war wenig dazu geeignet, lange Streifzüge mit dem Pferd zu machen, so brach er meistens zu Fuß auf, um in dem unwegsamen Gebirge zu jagen. Dann hatte er es satt, die schwere Beute über weite Strecken zu tragen und nahm sie mit. So konnte sie vor Ort den Hirsch oder das Schaf zerlegen und für ihn die schwere Last tragen. Wie einen Packesel belud er sie und lachte, wenn sie unter dem Gewicht strauchelte. Sie tobte vor innerer Wut, aber geduldig wartete sie auf ihre Gelegenheit.
Schnell wurde es wärmer, fast übergangslos verschwand der Kaltmacher und überließ das Feld dem Sonnenhäuptling.
Überall blühten ganze Kolonien gelber Blumen und über Nacht brachen die Knospen der Blätter auf und ein helles Grün dominierte in der Natur. Elstern wippten in den Zweigen und schimpften in ihrer krächzenden Tonlage, dann kehrten die ersten Singvögel zurück und erfüllten mit ihrem Gezwitscher die Luft.
Schwitzend beugte sich Tötet-die-Crow über die vielen Felle, die er sie gerben ließ. Aus zwei weißen, feinen Schaffellen nähte sie sich ein neues Kleid, ein kürzeres, das ihr gerade bis über die Knie ging, denn in dem anderen stolperte sie ständig, wenn sie über die Felsen kletterte.
Wutentbrannt schlug der Krieger es ihr um die Ohren, denn sie hatte ihn nicht um die Häute gebeten.
Sie kugelte sich zusammen, bis seine Wut verraucht war, und zog es dann doch an, ignorierte seinen missmutigen Blick.
Eigentlich sah sie ganz hübsch darin aus, fand Nata-He-Yukan. Das helle Kleid bildete einen schönen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar, außerdem erlaubte es einen Blick auf ihre schmalen Beine. Nicht schlecht!
Er bemerkte sofort, dass es ihre Bewegungsfreiheit erhöhte, und geschickt kletterte sie bei seinen Streifzügen neben ihm her. Immer höher drang er in die Bergwelt vor, mied das Tal, denn er befürchtete dort Spuren zu hinterlassen, die seine Feinde zu seiner Höhle führen könnten.
Er hatte einen Platz entdeckt, an dem er sich bequem auf die Lauer legen konnte. Eigentlich musste er nur in Ruhe abwarten, bis die Jagdbeute an ihm vorbeikam. Mit seinem Bogen in der Hand kauerte er auf dem Felsvorsprung und deutete der Frau an, sich neben ihn zu setzen. Geduldig wartete er mit angelegtem Pfeil auf Beute und spähte auf die Hänge unter ihm.
Gelangweilt saß Tötet-die-Crow neben ihm, dachte an die schwere Last, die sie bald würde schleppen müssen. Ein kleiner Stoß mit ihrem Fuß gegen einen Stein und alle Beute wäre verschwunden! Aber sie fürchtete seinen Wutanfall und die Strafe, die dann folgen würde. Aber ein Stein!
Eine waghalsige Idee schoss durch ihren Kopf und ihre Augen tasteten über den Boden. Dort! Ein großer Stein mit scharfer Spitze! Eine ideale Waffe!
Sie rückte ein wenig näher, tat so, als wären ihre Beine eingeschlafen, was ihr sofort einen warnenden Blick des Kriegers einbrachte. Er war wachsam!
Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, aber sie wollte es versuchen, hatte vielleicht nie wieder eine solche Gelegenheit. Ihre Finger umschlossen den scharfen Stein und sie zog ein Bein an.
Der Mann vor ihr hatte sich in eine kniende Position aufgerichtet. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Beute unter ihm. Langsam spannte er den Bogen, dann, im letzten Moment, warnte ihn sein inneres Auge, spürte er die Gefahr, die hinter ihm drohte und er duckte sich instinktiv weg. Wusch!
Ein harter Schlag traf ihn am Kopf und er verlor das Gleichgewicht. Mit einem Schrei stürzte er kopfüber in die Schlucht, rollte ungebremst den steilen Hang hinunter.
Tötet-die-Crow spähte triumphierend hinter ihm her, sah zu, wie er sich mehrmals überschlug und regungslos liegen blieb. Dann stockte ihr Herz vor Entsetzen, als sie beobachtete, wie der Mann nach seinem blutenden Kopf fasste und sich benommen aufrappelte. Er lebte noch!
Seine Augen schauten nach oben, fanden die Frau auf dem Felsen, blanke Mordlust in seinem Blick. Entschlossen sammelte er seine Waffen zusammen und machte sich an den Aufstieg. Wie eine Bergziege kletterte er den Geröllhang nach oben, ließ seine Beute nicht aus den Augen. Hokahey! Er wollte töten!
Panik stieg in Tötet-die-Crow hoch und verzweifelt hetzte sie los, wusste bei ihren ersten Sätzen, dass er sie einholen würde. Ihr Schlag hatte ihn nicht tödlich getroffen und jetzt war es vorbei. Trotzdem kletterte sie in Windeseile über die Felsen, hoffte auf irgendein Wunder, ihm zu entkommen. Vielleicht fand er ihre Spuren nicht? Sie verschwand hinter dem nächsten Felsen, wechselte die Richtung und kletterte weiter in das Tal. Manchmal rutschte sie, bremste die Geschwindigkeit an Grasbüscheln, an denen sie sich festhielt.
Sie bekam Seitenstechen von der ungewohnten Bewegung und die Krämpfe nahmen ihr die Luft. Kurz setzte sie sich hin, versuchte zu Atem zu kommen, dann hetzte sie weiter, kletterte wieder über Felsen, um seiner Mordlust zu entfliehen. Ihr Atem kam stoßweise, immer wieder zwangen sie die Krämpfe sich hinzusetzen und sie wusste, dass er aufholen würde.
Vielleicht bremste ihn die Kopfverletzung? Sie hatte gesehen, dass es blutete!
In der Ferne hörte sie ein gleichmäßiges Murmeln, vielleicht ein Fluss, an dessen Ufer sie sich verstecken konnte. Wieder rannte sie los, folgte dem Geräusch, das langsam zu einem tosenden Donnern anschwoll.
Dann hielt sie entsetzt inne, als sich einige Pferdelängen unter ihr ein reißender Strom gurgelnd zwischen den Felsspalten hindurchzwängte. Ihre Augen suchten die Hänge ab, aber sie saß in der Falle! Verzweifelt versuchte sie nach oben zu klettern, drehte den Kopf, um nach ihm Ausschau zu halten.
Wie ein Puma kam er mit großen Sprüngen auf sie zu, keine Spur von einer tödlichen Verletzung. Er riss einen Pfeil aus seinem Köcher und schoss auf die fliehende Frau.
Sie presste sich an die Felsen und spürte, wie der Pfeil eine lange Schramme in ihren Rücken riss. Ihre Knie wurden weich und sie rutschte das kleine Stück, das sie geklettert war, wieder hinunter, stellte sich ihm widerstandslos entgegen. Mit einem verächtlichen Grinsen zog er seine Keule und ging auf sie zu.
Sie blickte kurz in das tosende Wasser unter sich und traf ihre Entscheidung. Sie wollte ihren Tod selbst wählen, ihm nicht die Genugtuung geben, ihr schönes Haar an seinem Gürtel zu tragen. Wie ein Vogel breitete sie die Arme aus und ließ sich nach hinten fallen. Sie war frei!
Nata-He-Yukan streckte die Hand nach ihr aus, als wollte er sie halten, dann sah er zu, wie sie fiel.
Er trat an den Abgrund, verärgert darüber, dass sie ihm so entkommen konnte, dann machte er sich an den Abstieg. Irgendwo würde sie an Land getrieben werden und dort würde er sie einholen!
Der schwere Aufprall nahm Tötet-die-Crow den Atem.
Schon wurde sie unter Wasser gezogen und von der Strömung mitgerissen. Sie knallte ungebremst gegen einen Felsen und ein scharfer Schmerz durchfuhr ihre Brust, als ihre Rippen brachen. Doch ihr Überlebenswille ließ sie kämpfen.
Ihre Arme bewegten sich wie in Trance, mühsam kam sie an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft.
Wieder wurde sie nach unten gedrückt, doch sie wehrte sich gegen das Ertrinken.
Plötzliche Panik stieg in ihr auf.
Sie wollte nicht bei den Wassermonstern sterben!
Verzweifelt suchte sie nach etwas zum Greifen, versuchte sich irgendwo festzuhalten, aber die gurgelnde Flut wollte sie nicht loslassen und entführte sie immer weiter stromabwärts. Ihre Bewegungen wurden langsamer, die Kälte des Eiswassers griff nach ihrem Herzen und entsetzliche Schmerzen quälten ihren Körper.
Dann wurde sie in seichteres Wasser getrieben und sie hatte nur noch den Wunsch, die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Körper zu spüren. Mit schwindender Kraft zog sie sich aus dem Wasser, wollte nicht den Wasserwesen ihre Leiche überlassen. Zitternd lag sie in dem warmen Flusssand, rollte sich zu einer Kugel zusammen und ergab sich den Krämpfen, die ihren Körper schüttelten, unfähig auch nur eine Bewegung zu machen. Eine Ewigkeit lag sie da, hoffte auf den gnädigen Tod, der sie von den Schmerzen erlöste.
Die Sonne und der warme Wind wärmten ihre nasse Kleidung und trockneten ihre Haare. Trotzdem war sie schweißnass, krümmte sich vor Schmerzen und die gebrochenen Rippen nahmen ihr die Luft.
Vögel zwitscherten über ihr und in der Nähe hüpfte so ein gelber Gesell und schielte mit einem Auge vorsichtig auf die zusammengekrümmte Gestalt.
„Gelbbrustvogel, bitte, bringe meine Worte zum Sonnenhäuptling! Ich bin zu schwach, um mein Totenlied zu singen!“, flüsterte sie unhörbar. Ihr ganzer Körper zitterte vor Schmerzen und ihr Mund wurde trocken.
Ein Fußtritt schleuderte sie plötzlich auf den Rücken. Ohne ein Geräusch zu machen war Nata-He-Yukan neben ihr aufgetaucht, dann droschen seine Fäuste auf sie ein.
„Winyan-o‘hanschitscha!“, schimpfte er wutentbrannt.
Die Schmerzen brandeten wie Wellen durch ihren Körper und sie schnappte mühsam nach Luft. Ihre Arme waren so schwer wie Baumstämme und sie hatte nicht mehr die Kraft ihr Gesicht zu schützen. Sie schmeckte Blut, als ihre Lippen platzten, und ein weiterer Krampf zog ihre Gedärme zusammen.
Etwas Warmes flutschte zwischen ihre Beine: das Wesen, das nie in ihrem Bauch hätte wachsen dürfen, war zum Sonnenhäuptling zurückgekehrt. Ein warmer Strom quoll zwischen ihre Beine, gleichzeitig wurde sie eiskalt, entsetzliche Schauer schüttelten sie und sie fühlte sich wie in einem Strudel nach unten gezogen. Nata-He-Yukans wütendes Gesicht drehte sich immer schneller im Kreis, seltsam verzerrt, verschwand in der Ferne, während sie in den schwarzen Abgrund driftete, der nach ihr griff.
Eine kleine Schildkröte, die sich in dem warmen Sand gesonnt hatte, krabbelte langsam davon und Nata-He-Yukan stutzte. Wurde diese Frau von seinem Traumtier beschützt?
Hätte sie nur mit einem Finger gezuckt, so hätte er ihr mitleidlos das Beil in den Kopf geschlagen. So erfüllte es ihn mit Zufriedenheit, dass sie ihm nicht entkommen war, aber was bedeutete die Schildkröte?
Mit ausgebreiteten Armen lag die Frau vor ihm, wie ein abgestürzter Vogel, ihr Gesicht und die Haare noch nass vom Wasser. Plötzlich erkannte er, dass es nicht Wasser, sondern eine dichte Schweißschicht war, die ihr Gesicht bedeckte und ihre Haare verklebte. Ihre blauen Lippen bebten im Schock, und ihm wurde klar, dass sie im Sterben lag. Das Kleid war in Brusthöhe zerfetzt und blutverschmiert, bedeckte kaum ihre gebrochenen Rippen.
Dann sah er das viele Blut, das zwischen ihren Beinen hervorquoll, und hob vorsichtig das feuchte Kleid, um nach der Verletzung zu sehen. Fassungslos schaute er auf das mehr als handtellergroße Geschöpf, das einst sein Kind hätte werden sollen. Er wusste, was ein Fötus war, hatte so etwas schon oft bei seiner Jagdbeute gesehen, aber jetzt stieg ein namenloses Entsetzen in ihm auf.
Unkontrolliert übergab er sich, rutschte weg von dem Anblick der verletzten Frau. Hunhunhe! Was hatte er getan?
Immer wieder erbrach er sich, bis seine Augen tränten und seine Rippen schmerzten.
Nur langsam bekam er sich in den Griff, kniete erschöpft über dem Wasser, um sich sein Gesicht zu waschen.
Sie hatte ihn besiegt!
Diese Frau hatte ihn besiegt, war viel stärker, als er es je sein würde! Er konnte vielleicht ihren Körper bezwingen, aber niemals ihren Geist.
Er hatte gesehen, wie sie die Arme wie die Schwingen eines Vogels ausgebreitet hatte, sich in den Abgrund fallen ließ, um frei zu sein. Wie einen gefangenen Vogel hatte er sie den ganzen Winter gefesselt und in die Höhle gesperrt, aber niemals hätte er ihren Geist besiegen können.
Sie war ein Vogelmädchen, deshalb aß sie auch kein Geflügel, denn sie war mit ihnen verbunden, hatte die gleiche Seele wie ihre gefiederten Freunde.
Zintkala-win, Vogelmädchen!
Wie gelähmt hockte er sich zu ihr, betrachte ihren geschundenen Körper und überlegte, was er nun tun sollte. Vorsichtig tastete er nach ihrem Herzen und fühlte das flatternde Schlagen in ihrer Brust. Sie lebte noch! Seine Augen wanderten über ihren Körper und fanden die vielen Verletzungen. Eine klaffende Wunde an ihrem Oberschenkel, gebrochene Rippen und er wusste, dass sein Pfeil sie am Rücken verletzt hatte. Dann starrte er auf das Blut zwischen ihren Beinen und wusste instinktiv, dass sie sterben würde, wenn es nicht aufhörte. Aber ausgerechnet hier konnte er überhaupt nicht helfen!
Vorsichtig schnitt er mit seinem Messer das zerrissene Kleid auf und wickelte die Fehlgeburt in einen Teil des Fetzens. Er hatte keine Angst mehr, dass ihn das Blut schwächen könnte, denn er war ohnehin besiegt. Ohne Hemmungen wusch er sie sauber, legte ein Stück Leder als Binde zwischen ihre Beine.
Dann hob er das Bündel mit dem Fötus hoch und bettete es in eine Astgabel. Schluchzend brach er darunter zusammen und dachte an das kleine Wesen. Er hätte sich darauf gefreut!
Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Vielleicht kehrte es eines Tages in ihren Leib zurück, wenn es wusste, dass es willkommen war?
Er hob seine Arme und zum ersten Mal seit langer Zeit betete er wieder: „Wakan-tanka, zu dir schicke ich meine Stimme!
Höre auf mein Flehen und habe Mitleid mit mir!
Sage dem Kind, dass es mir willkommen war!
Ich werde ihm ein guter Vater sein!“
Wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht, aber er schämte sich ihrer nicht. Es waren Tränen um dieses Kind, das nicht leben durfte, und er gab sich selbst die Schuld. Er hatte diese Frau fast in den Tod getrieben und nun würde er dafür büßen.
Vorsichtig nahm er die Frau auf seine Arme und machte sich auf den Rückweg. Hier konnte er sich nicht um sie kümmern, denn er hatte nichts dabei, außer seinen Bogen.
Er begann den Aufstieg zu seinem Tal, kletterte die steile Uferböschung hinauf, doch bereits nach einem Pfeilschuss keuchte er vor Anstrengung. Mit jedem Schritt wurde sie schwerer und er hatte das Gefühl, dass seine Arme gleich abfallen würden. Völlig überanstrengt biss er die Zähne zusammen und stolperte mit seiner Last weiter. Es war ein weiter Weg bis zu seiner Höhle und mehr als einmal wünschte er sich sein Pferd herbei. Immer wieder horchte er auf ihren Atem, hatte Angst, dass sie in seinen Armen sterben würde. Seine Knie knickten ein und schwer atmend ließ er sich niedersinken, um ein wenig auszuruhen. So ging das nicht weiter! Vorsichtig legte er die Frau über seine Schulter, wohl wissend, dass er ihr damit weitere Schmerzen zufügte, aber er konnte es nicht ändern.
Stolpernd kämpfte er sich bergauf, wie in Trance setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er endlich schnaufend sein Tal erreichte. Schweißgebadet hob er seine Last in die Höhle und bettete sie sanft auf ihr Lager. Ihr Atem war so flach, dass er kaum zu spüren war, und er tastete nach ihrem Hals, um zu fühlen, ob sie überhaupt noch lebte. Ein unregelmäßiges Pulsieren beruhigte ihn ein wenig und er lehnte sich erschöpft zurück.
Es schien ihm eine Ewigkeit her, dass sie am Morgen aufgebrochen waren, um zu jagen. Müde massierte er seine steifen Muskeln, dann beugte er sich über ihre Wunden. Die Binde zwischen ihren Beinen war mit dunkelroten Batzen durchtränkt, frisches Blut, wie er unschwer erkannte.
Aus einem Fell schnitt er eine neue Binde für sie. Dann kümmerte er sich um die anderen Wunden, legte einen festen Verband um ihre Rippen und säuberte die Verletzungen am Oberschenkel und Rücken. Ihre Zähne klapperten vor Kälte und so schob er heiße Steine unter das warme Bärenfell, versuchte sie so gut wie möglich zu wärmen. Aber es war eine innere Kälte, die sie erschauern ließ, der hohe Blutverlust, der sie schwächte.
Täglich wechselte er ihre Binden, flößte ihr heiße Suppe ein und streichelte ihre verschwitzten Haare. „Zintkala-win!“, flüsterte er, hoffte, dass sie wenigstens einmal ihre Augen öffnete, damit er sich entschuldigen konnte.
Die Zeit verging, Tage und Nächte, an denen er neben ihrem Lager wachte und betete.
Nur selten verließ er die Höhle, eigentlich nur, wenn er wieder etwas zu essen brauchte. Die Felle lagen unbearbeitet in der Nähe, während Fliegenschwärme auf den Fleischresten saßen und ganze Völker von Ameisen sich auf die Fettreste stürzten. Streng achtete er darauf, ihr nur Hirschfleisch anzubieten. Niemals wieder würde er ihren Geist mit Vogelfleisch beleidigen!
Draußen wurde es heiß! Alles blühte in bunten Farben und mit dem Knospenmond kamen die Jäger der feindlichen Stämme. Die bewaldeten Bighornberge versprachen Schatten und gute Jagdbeute. Es war eher unwahrscheinlich, dass in diesem riesigen Gebiet jemand die Höhle fand, aber die Pferde würden ihn verraten. So brachte Nata-He-Yukan die beiden Pferde tiefer in das Tal und versuchte so von seiner Spur abzulenken.
Misstrauisch beäugten ihn die Ponys, wenn er nach ihnen suchte. Sie verwilderten zusehends.
Manchmal ritt er sie, streichelte ihre Hälse, damit sie nicht endgültig davon liefen. Andererseits waren sie inzwischen so scheu, dass sie auch niemanden sonst an sich heranlassen würden. Sie bildeten eine kleine Herde, fraßen das saftige Gras und hatten eigentlich keinen Grund, das Tal zu verlassen.
Zufrieden sah Nata-He-Yukan ihnen zu, dann kletterte er wieder zurück in seine kleine Welt, um nach der Frau zu sehen.
Irgendwie schien es ihr allmählich besser zu gehen. Die Blutungen hatten nachgelassen und das Fieber war gesunken. Er wertete das als gutes Zeichen, wartete geduldig darauf, dass sie endlich aufwachte.
Tötet-die-Crow fühlte seine Anwesenheit, noch ehe sie ihre Augen öffnete. Alles war schwer und es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie die Muskeln fand, die ihre Augenlider bewegten.
Warum lebte sie noch?
Warum hatte er sie nicht getötet? Oder würde er sie jetzt töten? Sie hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit verstrichen war und wo sie sich befand. Es fühlte sich weich an und nicht nach dem Sand des Flusses. Wo war sie überhaupt?
Es kostete sie alle Kraft, doch dann blinzelte sie und blickte apathisch in sein Gesicht.
Er strahlte sie an, sichtlich erleichtert, dass sie endlich erwachte. Warum lachte er? Seine Hände streichelten sanft über ihr Gesicht. „Zintkala-win! Zintkala-win!“
Es klang fast wie ein Gebet. Wer war sie? Warum nannte er sie so? Dann huschte ihr Blick überrascht umher und sie merkte, dass sie wieder in der Höhle war. Wie war sie hierher gekommen? War alles nur ein Traum? Aber dann waren da die Schmerzen in ihrer Brust und eine seltsame Leere in ihrem Bauch. Sie schloss die Augen, als die Erinnerung sie einholte.
Ihr Geist war froh, dass sie sein Kind nicht mehr trug, aber ihr Körper sehnte sich danach zurück.
Aber nicht so, nicht als Schande, nicht als Gefangene, befahl sie sich selbst. Ihr Kopf wurde angehoben und eine Schale an ihre Lippen gesetzt. Unwillig öffnete sie ihre Augen, versuchte zu sehen, was er ihr gab.
„Hirsch!“, lächelte er freundlich und erstaunt spürte sie die zerstampften Fasern in ihrem Mund, zerstampft, damit sie leichter schlucken konnte. Sie musste lange im Schattenland gewesen sein! Wieder war sie seine Gefangene. Warum tötete er sie nicht einfach, sondern machte sich die Mühe, sie gesund zu pflegen?
Versuchsweise zog sie ihre Arme an, aber sie waren frei. Nun, im Moment stellte sie auch keine große Gefahr dar!
„Zintkala-win!“, hörte sie seine Stimme, aber es kostete sie alle Mühe, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
Er hatte die Bewegung ihrer Arme gesehen und lächelnd beugte er sich zu ihr. „Zintkala-win! Du bist frei!“
Frei! Wie meinte er das?
Aber er führte seine Handgelenke zusammen und riss sie mit einem Ruck auseinander, klar ersichtlich die Geste für Freiheit. Sie war frei!
Nicht mehr seine Gefangene? Aber warum? Sie hatte doch versucht ihn zu töten! Sie war zu müde, um weiter darüber nachzudenken, aber in ihrer Seele schrie es wie ein Donnerhall.
Frei!
Ihre Augen wurden feucht vor Freude, dann fielen sie zu und ihr Körper überließ sich dem Schlaf, den er für seine Genesung brauchte.
Nata-He-Yukan lehnte sich erfreut zurück. Er hatte die richtigen Worte gefunden und gesehen, wie die Hoffnung in ihren Augen aufleuchtete. Jetzt würde sie kämpfen! Nun würde sie den Tod besiegen! Aufatmend legte er sich auf sein Lager und schlief zum ersten Mal tief und fest, ohne die Angst, dass sie am Morgen vielleicht tot war. Vielleicht wäre er eines Tages tot, wenn sich ihr Messer in sein Herz bohrte, aber das war ihm gleichgültig. Er hatte gesagt, dass sie frei wäre und das meinte er mit aller Konsequenz. Niemals wieder würde er sie fesseln, ihre Seele in der Höhle einsperren.
Tötet-die-Crow verschlief einen weiteren Tag, aber es war Schlaf, keine Ohnmacht. Dann öffnete sie ihre Augen, weil sie fühlte, dass er ihre Binde zwischen den Beinen wechselte. Oh! Es war ihr peinlich, aber an seinen ruhigen Bewegungen erkannte sie, dass er dies schon oft gemacht hatte. Vorsichtig lugte sie an ihrem Körper herunter, spürte ihre eingebundenen Rippen und einen Verband an ihrem Oberschenkel. Dann sah sie seine freundlichen Augen. Was hatte ihn so verändert?
„Zintkala-win! Hast du Hunger?“
Zintkala-win! Dieser Name gefiel ihr besser als Winyan-o‘hanschitscha, er gab ihr Macht.
„Zintkala-win? Warum?“, flüsterte sie leise.
Er lächelte und erklärte in Zeichensprache: Dein-Geist-ist-wie-Vogel! Ich-kann-ihn-nicht-besiegen!
Sprachlos starrte sie ihn an, erkannte mit einem Mal, dass sie ihn besiegt hatte! Nicht als Krieger, sondern als Frau!
Kranichfrau!
Wie seltsam fremd klang ihr früherer Name. War das die Verbindung zu ihrem früheren Leben?
Kranichfrau! Zintkala-win!
Was hatte das zu bedeuten? War es nun doch ihr Schicksal, als Frau zu leben?
„Folge meinem Weg!“, hatte ihr Bruder befohlen, doch welchem Weg war ihr Bruder gefolgt, welche Visionen hatte er gehabt? Vielleicht hatte sie die Vision missverstanden?
Aber der Bogen hatte eine deutliche Sprache gesprochen, ihr befohlen zu kämpfen und ihren Bruder zu rächen. Ein Bogen war eindeutig eine Waffe! Das war kein Missverständnis.
„Du-Hunger?“, fragten seine Hände, als ob sie kein Wort von dem verstand, was er sagte. Es ärgerte sie ein wenig, dass er sie für so dumm hielt und schüttelte den Kopf. „Ich stinke!“, sagte sie unvermittelt in seiner Sprache.
Staunend hielte er inne, dann legte er den Kopf schief und prüfte, wie viel sie tatsächlich verstand: „Wan, möchtest du in dem Bach baden?“
Sie würde überall baden, wenn sie nur den Schmutz von ihrem Körper bekam! Vorsichtig nickte sie, wusste nicht, wie viel sie sich zumuten konnte. „Ja, im Bach!“, murmelte sie deutlich in seiner Sprache.
Seine Augen blitzten. So ein Miststück! Lernte die ganze Zeit zu reden wie ein wahrer Mensch! Sanft nahm er sie in seine Arme und trug sie aus der Höhle. Überrascht blinzelte sie in die Sonne, fühlte die Wärme auf ihrer Haut. Wie lange hatte sie denn in der Höhle gelegen, ohnmächtig und hilflos? Wie lange hatte dieser Mann sie gepflegt?
Ohne Hemmungen wickelte er sie aus der Decke und rieb ihren Körper mit Yukkaseife ein. Dann spritzte er sie schwallweise mit dem kalten Wasser ab. Fröstelnd fuhr sie zusammen, aber sie genoss den sauberen Duft.
„Soll ich deine Haare waschen?“, lachte er sie an.
Sie fühlte an der klebrigen, verfilzten Masse und seufzte angewidert: „Vielleicht nimmst du lieber dein scharfes Messer und schneidest sie ab?“
Ein dunkles Lachen stieg in ihm auf, und er protestierte leise: „Aber nein, deine Haare sind wunderschön! Ich werde sie schon sauber bekommen!“
Dann legte er sie mit den Rücken in das Gras, hielt ihren Kopf in die Strömung und rieb die Seife in ihre Haare. Dreimal wusch er sie, dann setzte er sie wieder auf und begann mit seinem Kamm ihre Haare zu entwirren.
Zitternd vor Müdigkeit ließ sie es über sich ergehen, dann flocht er ihre Haare in dicke Zöpfe. „So werden sie nicht wieder so schnell schmutzig!“, meinte er zufrieden.
Sie war längst eingeschlafen, als er sie in die Höhle trug und auf ihr Lager legte.
Sichtlich beruhigt betrachtete Nata-He-Yukan das schlafende Mädchen, deckte es zu und griff nach seinen Waffen. Er wollte nach den Pferden sehen und so wandte er sich talabwärts. Ein Pfiff lockte das Pony heran, während das andere in sicherer Distanz blieb. Mit einem Lächeln legte er dem Pferd die Zügel an, schwang sich auf dessen Rücken und trabte in nördlicher Richtung über die Wiese. Er musste hin und wieder die Gegend erkunden, um zu sehen, ob vielleicht Feinde in der Nähe waren oder eine Gefahr für seine Höhle bestand.
Außerdem gehörte er zu einem Reitervolk, war es gewohnt, mit dem Pferd zu jagen. Langsam nervte es ihn, immer zu Fuß unterwegs zu sein. „Ich bin schon wie die Shoshone!“, dachte er verächtlich.
„Irgendwann grabe ich genauso nach Wurzeln wie sie!“
Prüfend wanderte sein Blick über die Ebene, aber die Gegend war menschenleer. Wahrscheinlich jagten die Crow die Büffel und kehrten erst zur Herbstjagd zurück. Gut so!
Zufrieden zog er sein Pony in den Schatten des Waldes, atmete tief den Duft nach Kiefern ein. Langsam trottete er dahin und ließ seinen Blick schweifen, aber seine Gedanken waren bei dem Mädchen in seiner Höhle. Was würde sie tun, wenn es ihr besser ging? Sein Herz klopfte unregelmäßig, als er an sie dachte und er wunderte sich über seine Gefühle. Unwirsch wischte er sie beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Umgebung.
Da! Ein Hirsch!
Lautlos glitt er vom Rücken seines Ponys und pirschte sich an das Tier heran. Von dieser Beute konnten sie längere Zeit leben!
Sein Pfeil traf den Hirsch ins Blatt. Schwankend stakste er noch einige Schritte, dann brach er zusammen. Sein Pferd tänzelte nervös, als er den schweren Hirsch auf dessen Rücken zog, schnaubte bei dem Blutgeruch, der ihm in die Nüstern stieg.
„He, he, du bist wohl nichts mehr gewohnt!“, lachte Nata-He-Yukan.
Dabei war dieses Crowpony ein gutes Pferd, gut ausgebildet, wahrscheinlich ein Büffelläufer!
Gut gelaunt machte er sich auf den Rückweg, ritt direkt vor die Höhle und ließ die schwere Jagdbeute fallen. Dann brachte er das Pony zu dem anderen zurück.
Vor seiner Höhle musterte er angewidert die Fellberge, in denen sich das Ungeziefer sammelte. Wenn er sie je gebrauchen wollte, musste er etwas dagegen tun. Sie waren steif und schwer, stanken in der Sonne und lockten Fliegen an.
Außerdem wiesen sie jedem Feind deutlich den Weg zu seiner Höhle. Hier waren zu viele Spuren!
Deutlich war zu sehen, dass hier jemand lebte.
Es war nicht zu ändern, aber jeder, der hier zufällig vorbeikam, würde über die vielen Spuren stolpern und jeder, der hier vorbeikam, war sein Feind.
Missmutig nahm er die Felle und legte sie in den nahen Bach, damit sie wieder geschmeidig wurden.
Dann zerlegte er den Hirsch, hängte die Fleischstreifen zum Trocknen in die Sonne, damit er endlich wieder Vorräte hatte. Mit dem Herzen des Tieres in seiner Hand glitt er in die Höhle und setzte sich an die erkaltete Feuerstelle.
Immer noch lag das Mädchen bewegungslos auf ihrem Lager und für einen Augenblick dachte er, dass sie gestorben wäre.
Hastig tastete er nach ihrem Herzen, fühlte erleichtert das regelmäßige Schlagen in ihrer Brust.
Erschrocken riss sie ihre Augen auf, fühlte seine Hand auf ihren Herzen und fuhr hoch.
Beschwichtigend drückte er sie wieder auf ihr Lager und lächelte. „Du hast lange geschlafen! Hast du Hunger?“
Energisch zog sie die Decke über ihren Körper, was ihn schon wieder zum Lachen reizte. „Du brauchst ein neues Kleid!“
Mühsam drückte sie sich in eine sitzende Stellung, stöhnte leise, als ihre Rippen schmerzten, dann tastete sie über die lange Narbe an ihrem Oberschenkel. Die sah böse aus!
Mit gemischten Gefühlen verfolgte sie, wie der Krieger sich über das erloschene Feuer beugte und wieder entfachte. Sie fühlte sich seltsam leer, ausgebrannt, vermisste das Gefühl, das die Schwangerschaft in ihr erzeugt hatte. Verärgert biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte kein Kind, schon überhaupt nicht von diesem Lakota, aber ihr Körper sehnte sich danach. Stille Tränen liefen über ihr Gesicht, die sie nicht unterdrücken konnte, obwohl sie es versuchte.
Besorgt beugte sich Nata-He-Yukan zu ihr, strich ihr sanft über das Gesicht, ratlos über ihre Traurigkeit. „Was ist? Hast du Schmerzen?“
Sie hasste seine Sanftmütigkeit! Konnte er sie nicht einfach ignorieren? Sie in ihrem Schmerz allein lassen?
Warum weinte sie eigentlich?
Wie sollte sie ihn töten, wenn er nett war? Schließlich war er ihr Feind! Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, während unaufhörlich die Tränen über ihr Gesicht flossen. Schluchzend schob sie ihn weg, wollte keinen Trost, wollte seine Hände nicht auf
ihrem Gesicht.
Unsicher wich er zurück, betroffen von den Tränen, die sie das erste Mal weinte. Ohne, dass er es verhindern konnte, stiegen ihm ebenso die Tränen in die Augen. Sie weinte um dieses Kind!
Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Niemals hätte er zugelassen, dass dieser Weiße sie berührte, wenn er es gewusst hätte!
„Ich habe das Kind bestattet“, erklärte er leise. Er konnte die Tränen nicht mehr halten.
Fassungslos starrte sie ihn an.
Zum ersten Mal zeigte dieser verwegene Krieger wahre Gefühle und eine ausgesprochene Verletzbarkeit. Er trauerte um dieses Kind! Sie wischte den Gedanken weg, aber irgendwie beruhigte sie die Gewissheit, dass er es bestattet hatte, und sie nickte dankbar.
„Eines Tages sind wir bereit für ein Kind, dann wird Wakan-tanka es zurückschicken“, flüsterte er mit belegter Stimme. Nichts war von seiner sonstigen Arroganz geblieben.
Oh nein! Sie wollte nicht mehr schwanger werden! Nicht als Gefangene, nicht als Frau, überhaupt nicht! Was war nur ihre Bestimmung? Sie machte eine hilflose Handbewegung, weil sie nicht weiter darüber reden wollte. „Ich glaube, ich habe ein wenig Hunger!“
Er gluckste vor Erleichterung. Bei Hunger konnte er immerhin helfen. „Ich habe Hirschfleisch! Soll ich es kochen?“
Ein wenig hysterisch kicherte sie mit: „Ja, bitte! Dann wird es bestimmt besser!“
Geschickt schnitt er das Fleisch in schmale Streifen und röstete sie über dem Feuer. Im Nu waren sie zart-rosa und er hielt ihr einen Streifen unter die Nase. „Siehst du! Schon fertig!“
Vorsichtig knabberte sie daran, pustete, als sie sich fast die Zunge verbrannte. Wieder dieses dunkle Lachen, kein Auslachen, sondern die Freude, dass es ihr besser ging.
Was hatte ihn so verändert?
„Warum hast du mich nicht getötet?“, fragte sie unvermittelt.
Er schluckte und blickte sie nachdenklich an. „Ich hätte besser aufpassen müssen.“
Sie verstand ihn offensichtlich nicht.
Erklärend fügte er in Zeichensprache hinzu: „Ich-nicht-vorsichtig, drehen-dir-Rücken-zu.“
Sie schnalzte herausfordernd mit der Zunge: „Ich wollte dich töten! Warum also hast du mich nicht getötet?“
Mit einem Grinsen fasste er sich an den Kopf. „Du hast mir eine ganz schöne Beule verpasst! Aber du musstest es versuchen. Jetzt ist es nicht mehr nötig, denn du bist frei!“
„Frei?“
„Ja, frei! Du kannst gehen, wohin du willst.
„Auch zurück zu den Blackfeet?“
„Wenn du willst“, meinte er ruhig.
„Und wenn ich morgen gehe?“, provozierte sie ihn.
Er reichte ihr ein weiteres Stück Fleisch, dann senkte er seinen Blick. „Du kannst auch morgen gehen, aber ich würde warten, bis deine Wunden geheilt sind.“
Sie schnaufte unwillig, aber er hatte natürlich Recht.
„Wenn du gehst, gebe ich dir ein Pferd“, meinte er großzügig.
„Mein Pferd!“, betonte sie. „Und ich möchte meine Waffen!“
Dieses freche Ding! Aufgebracht sprang Nata-He-Yukan hoch und verließ die Höhle. Dann kehrte er mit ihrem Bogen in den Händen zurück. „Hier!“
Ihre Augen blitzten ihn an und kurz erkannte er in ihnen die Absicht, dass sie ihn töten wollte. Nun gut!
Er wich ein Stück zurück und deutete auf seine Brust. „Hier ist mein Herz, warum schießt du jetzt nicht?“
Als ob sie in der Lage wäre den Bogen zu spannen! Aber dann erkannte sie, dass er so weit nicht dachte, dass er es jetzt beenden wollte. Ruhig legte sie den Bogen auf die Seite. „Ich werde nicht schießen! Ich bin frei!“
Er nickte ernst. „Und du änderst deine Meinung nicht? Schleichst dich nicht nachts mit dem Messer an mich heran?“
Sie schnaubte verächtlich. „Nein, du kannst ganz ruhig schlafen!“
„Dann ist das also klar zwischen uns? Du tötest mich nicht und ich töte dich nicht?“
Langsam wurde sie böse, böse, dass er sie zwang ihr Wort zu geben, eigentlich hatte sie jetzt doch große Lust ihn zu erschießen.
„Ja“, flüsterte sie leise.
„Hecetu!“, besiegelte er ihren Vertrag.
Dieses Blackfeetmädchen ging über seinen Verstand!
Fast bereute er es, ihr den Bogen gegeben zu haben! Konnte er ihr vertrauen? Doch dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht. Eben noch hatte er ihr sein Herz angeboten, hätte widerstandslos dem Tod in die Augen gesehen, und jetzt machte er sich Sorgen über ihre Zuverlässigkeit. Seine Gefühle gingen mit ihm durch. Vielleicht sollte er eine Schwitzhüttenzeremonie machen, damit er wieder bei klarem Verstand war!
Misstrauisch beäugte er das Mädchen, setzte sich erhobenen Hauptes wieder auf seinen Platz. Irgendwie hatte er doch Angst, dass sie gehen könnte. Er hatte sich an ihre schnippische Art gewöhnt.
„Vielleicht bleibst du noch eine Weile?“, meinte er versöhnlich.
„Ich! Warum?“
Nachlässig zuckte er mit seinen Schultern. „Na, es ist gefährlich so allein zu reiten! Es ist ein weiter Weg bis zu deinem Volk!“
„Ich komme schon klar!“
Manchmal kam sie ihm vor wie ein bissiger kleiner Hund! Wortlos bot er ihr einen weiteren Streifen Fleisch an.
Es dauerte, aber schließlich erholte sich ihr Körper zusehends, und nachts befiel ihn manchmal ein nervöses Kribbeln, wenn sie neben ihm schlief. Doch er fesselte sie nicht mehr, verließ sich auf das Wort, das sie ihm gegeben hatte. Noch war sie nicht in der Lage, schwere Arbeiten zu erledigen, aber sie sammelte Beeren, während er die schweren Häute sauber kratzte. Wenn sie ihn verließ, musste er das sowieso wieder erledigen. Vielleicht sollte er sich dann eine neue Gefangene rauben? Empört verwarf er diesen Gedanken. Keine Frau war diesen Ärger wert! Lieber machte er selbst alle Arbeiten!
Vor seiner Höhle trocknete bereits das erste Fleisch für den Winter, denn noch einmal wollte er nicht so unvorbereitet sein.
Zintkala-win nähte ihm einfache Rohhauttaschen, in denen er das getrocknete Fleisch verstaute. Sie half ihm auch bei der Zubereitung von Wasna und jetzt wusste er, was er im vergangenen Herbst falsch gemacht hatte. Zu wenig Fett und zu viele feuchte Beeren!
Manchmal gingen sie auch gemeinsam in den Wald.
Sie sammelte Beeren und er folgte den Hirschen oder Antilopen. Eigentlich waren sie eine gute Gemeinschaft. Jeder arbeitete, was nötig war und er bedauerte, dass sie bald gehen würde. Sie würde lediglich den Crow in die Hände laufen! Schade!
Abends lehnte er sich gemütlich zurück und schlug die Beine übereinander. Wieder sah er die knabenhafte Gestalt vor sich, die er damals gefunden hatte. Jetzt wirkte sie viel eher wie eine Frau. „Warum hast du Knabenkleider getragen?“, fragte er unvermittelt.
Zintkala-win knetete nervös ihre Finger. Ihre Vision! Sollte sie ihm davon erzählen?
Sie hatte vollständig versagt!
„Die Crow hatten meinen Bruder getötet und ich war sehr traurig!“, begann sie stockend. Ihr Blick wanderte in die Ferne und er wartete höflich, bis sie weiter sprach.
„Also ging ich in die Einsamkeit, suchte nach einem Weg, um damit fertig zu werden.“
Hunhunhe! Aufmerksam hörte Nata-He-Yukan zu, senkte den Blick auf seine Fußspitzen, um sie nicht mit seiner Neugier zu beleidigen.
Seufzend erinnerte sie sich an die Vision. „Mein Bruder erschien mir im Traum. Er gab mir den Namen „Tötet-die-Crow“ und befahl mir seinem Weg zu folgen. Also kleidete ich mich wie ein Mann und zog mit den anderen Kriegern, um ihn zu rächen.“
Nata-He-Yukans Gedanken wirbelten durcheinander. Ein Mann! Er hatte einen Mann gezwungen wie eine Frau zu leben!
Sie war keine entlaufene Gefangene gewesen, sondern ein Krieger! Haun! Niemals hätte er sie auf diese Weise zwingen dürfen! Vielleicht töten, aber nicht als Frau demütigen!
Voller Schrecken erinnerte er sich an den Fötus, an ihre gebrochenen Rippen und ihm schwindelte vor seiner eigenen Brutalität. Wieso war dann das Kind in ihrem Leib gewachsen? Heiser vor Entsetzen murmelte er: „Das war eine starke Vision.“
„Ja, aber ich habe versagt!“, meinte sie traurig.
„Aber du hast gekämpft! Du wurdest schwer verletzt!“
„Ja, trotzdem habe ich versagt. Ich lebe wie eine Frau.“
Nachdenklich schaute Nata-He-Yukan auf das Mädchen, das sich ohne zu zögern in den Tod gestürzt hatte. Sie war eine Kämpferin. Sie hatte nicht versagt.
Energisch kniete er sich vor sie hin und fasste tröstend nach ihren Händen. „Nein, du hast nicht versagt! Du hast deinen Bruder gerächt! Deine Aufgabe ist erfüllt!“
Ihre Lippen zitterten. „Aber was ist mit meiner Vision, als Krieger zu leben?“
„Vielleicht hast du die Botschaft missverstanden?“
„Wie meinst du das?“
Lächelnd deutete er auf ihren Bauch. „Wakan-tanka würde niemals ein Kind in deinen Bauch wachsen lassen, wenn es deine Bestimmung wäre als Mann zu leben.“
Fassungslos starrte Zintkala-win ihn an, schöpfte plötzlich Hoffnung aus seinen Worten.
Auch ihr Onkel hatte diese Zweifel geäußert!
„Ich habe es verloren“, meinte sie zögernd.
Er zuckte sichtlich zusammen. „Ja, weil wir beide noch nicht bereit waren für diese Verantwortung. Vielleicht hat dich Wakan-tanka deshalb hierher geführt? Vielleicht war es deine Bestimmung auf mich zu treffen?“
Und vielleicht war es seine Bestimmung gewesen, hierher zu gehen, dachte er gleichzeitig.
„Und du?“, sprach sie seine Gedanken laut aus.
Widerstrebend setzte er sich wieder auf seinen Platz. Er wollte nicht darüber reden, aber sie hatte ein Recht darauf nun auch etwas über ihn zu erfahren.
„Ich wurde verbannt!“ Jetzt war es heraus und sie wusste von seiner Schande.
„Verbannt?“ Ihre Augen wurden groß.
„Ja! Man beschuldigte mich einen anderen Mann bei der Büffeljagd im Stich gelassen zu haben.“
„Und? Hast du es getan?“
Er schüttelte heftig seinen Kopf, wies die Frage weit von sich. „Nein, ich vergewisserte mich, dass ein anderer Mann ihm helfen würde, ehe ich weiterjagte.“
„Wie konnte er dann sterben?“
„Die anderen behaupteten, dass der Krieger nicht helfen konnte, weil sein Pferd von einem Büffel aufgespießt worden war. Aber das war eine Lüge! Ich habe gesehen, dass sein Pferd unverletzt war!“
„Also hat er dir eine Falle gestellt?“
„Ja, aber ich verstehe nicht warum.“
„Dieser Mann muss voller Hass auf dich gewesen sein!“
„Jetzt bin ich voller Hass auf ihn. Wenn ich zurückkehre, werde ich ihn töten!“
Seine Augen waren schwarz vor Wut, als er an die Demütigung dachte.
Sie wich vor seinem Zorn zurück und diese unbewusste Bewegung brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte. Seine Augen glitten über die anmutige Gestalt des Mädchens. Warum hatte Wakan-tanka sie ihm geschickt? Bisher wollte er die Verantwortung für eine Frau nicht, aber hier war sie ihm geradezu aufgedrängt worden. Durfte er sie einfach in ihr Verderben ziehen lassen? Wenn sie sich allein auf den Weg machte, wäre es ihr sicherer Tod!
Nur, wie sollte er sie aufhalten? In einigen Tagen wäre sie kräftig genug, um zu reiten.
„Was schaust du mich so an?“
Verlegen wandte er den Blick von ihr ab. „Nichts! Morgen sehe ich nach den Pferden.“
„Gut, dann bringe doch meins gleich mit!“, meinte sie herausfordernd.
Er verdrehte ungläubig die Augen. Dieses Biest gab einfach nicht auf! „Was, dieses dreibeinige Maultier nennst du Pferd?“, stichelte er zurück.
„Dann gib mir doch dein Crowpferd!“, entgegnete Zintkala-win frech.
„Wenn du soweit bist, werde ich dir dein Pferd bringen.“
„Und wer bestimmt, wann ich soweit bin?“, funkelte sie ihn an. Lässig beugte er sich vor und tippte an ihre Rippen.
Stöhnend sank sie auf die Seite und er grinste: „Du!“
Es gab ihm einen Stich, wieso lag ihm plötzlich so viel an dem Mädchen?
Irritiert machte er sich am nächsten Tag auf den Weg ins Tal, versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Gedankenverloren beobachtete er die Ponys, sogar ein Fohlen sprang inzwischen umher und er bewunderte die hohen Beine. Es würde mal ein gutes Rennpferd geben! Er befreite die beiden Ponys von allem Zaumzeug, sodass es aussah, als wären es Wildpferde.
Dann lief er im Dauerlauf zu seiner Höhle zurück. Ein kleiner Weg war entstanden, wo sie immer die Höhle verließen und zurückkehrten, aber er konnte es nicht ändern.
Erst zu Beginn des Winters, wenn die Jagdzüge aufhörten, würde er hier wieder sicher sein. Es war ein weites Land und so hoch war die Wahrscheinlichkeit nicht, dass Jäger sich hierher verirrten.
So verbrachte er die Tage mit Jagen, trocknete das Fleisch in der Frühlingshitze und ließ die Frau wieder die Felle gerben. Manchmal half er ihr auch dabei, denn das Spannen des Leders war anstrengend. Auf einer Haut trockneten indessen Beeren in der Sonne, bereit zerstampft zu werden für das Wasna. Schwitzend kauerte das Mädchen über einem flachen Stein und zerstampfte bereits das getrocknete Fleisch. Ihre Rippen heilten langsam und die Muskeln bauten sich wieder auf. Noch hatte sie nicht davon gesprochen, wann sie gehen wollte, und er genoss ihre Anwesenheit. Sie war so ausgeglichen, fast sanft. Er staunte darüber, welche Veränderung in ihr vorgegangen war, wie die Freiheit sie verändert hatte.
Warum blieb sie nicht bei ihm? Er hatte Angst vor der Einsamkeit! „Morgen gehe ich in die Berge, um Bighornschafe zu jagen. Kommst du mit?“, fragte er harmlos.
Sie lächelte herausfordernd. „Aber nicht, um die Beute zu tragen! Ich möchte auch jagen!“
Staunend legte er den Kopf schief. Eine Frau, die jagen wollte? Aber sie lebten unter außergewöhnlichen Umständen, und so war eine klare Rollenteilung, wie sie sonst üblich war, nicht möglich. Er spürte ihre Begeisterung und überlegte im Stillen.
Warum nicht? Niemand würde es sehen!
„Na schön!“, willigte er schließlich ein. „Mal sehen, ob du mit deinem Bogen überhaupt etwas triffst! Wahrscheinlich verscheuchst du alles Wild und wir jagen überhaupt nichts mehr!“
„Oh, du!“, lachte sie glücklich.
Verschwunden war der Ausdruck der lauernden Spinne. Stattdessen fand er ihre Augen ausdrucksvoll und schön.
Gemeinsam durchstreiften sie am nächsten Tag die Bergwelt und sie hüpfte neben ihm her. Immer noch steckte der übermütige Junge in ihr, wenn sie mit ihrem Bogen bewaffnet neben ihm herschlich. Sie war eine Kriegerin. Daher kam ihr Selbstbewusstsein.
Wie würden die anderen lachen, wenn er mit seiner Frau jagte oder die Felle bearbeitete!
Aber auch bei den Blackfeet war das vermutlich ungewöhnlich.
Zielsicher erlegte Zintkala-win eine kleine Ziege und er runzelte verblüfft die Stirn.
War sie doch ein Junge? Sollte er sie lieber wie einen kleinen Bruder behandeln? Er versuchte es mit einer harmlosen Frage: „Die Blackfeet müssen ein kriegerisches Volk sein, wenn schon ihre Mädchen so gut schießen!“
Sie lachte hell. „Mein Bruder hat mich oft zur Jagd mitgenommen.“
So! Ihr Bruder! Also hatte sie bereits vor ihrer Vision mit dem Bogen geschossen.
Er verzog spöttisch die Lippen: „Hattest du da auch schon Knabengewänder an?“
„Aber nein!“, wehrte sie ab.
So! Sie war also als Mädchen erzogen worden. Das bewies ihm aber auch ihre Geschicklichkeit im Gerben.
War ihre Vision erfüllt? Er beschloss, sie aufmerksam zu beobachten und herauszufinden, ob sie nun ein Krieger oder eine Frau war!
Zintkala-win dagegen war glücklich. Wie einst mit ihrem Bruder jagte sie an der Seite dieses Mannes, nur dass Nata-He-Yukan eindeutig nicht ihr Bruder war! Das wurde ihr schlagartig bewusst, als er sich geschmeidig vor ihr bewegte. Sie fand ihn als Mann attraktiv, nicht als Bruder! Er war jung, mit einem ebenmäßigen Gesicht und vollen Lippen. Seine zuvorkommende Art gefiel ihr, die Freundschaft, die plötzlich entstanden war. Sie genoss die Freiheit, die sie mit ihm hatte und schob den Gedanken, ihn zu verlassen in den Hintergrund. Bald!
Wie selbstverständlich half ihr der Mann bei den schweren Arbeiten, zerteilte das Fleisch und gerbte mit ihr die Felle. Verschwunden war die herablassende Art, mit der er sie gezwungen hatte diese Dinge zu tun. Sie war frei!
Aber Nata-He-Yukan hatte letztendlich keine andere Wahl! Er half ihr, weil keine anderen Frauen da waren. Außerdem lernte er so Dinge, die er bald wieder allein machen würde. Unter ihren geschickten Händen entstanden wunderschöne Häute, nicht mit Rissen und Flecken wie bei ihm. Nur neue Leggins nähte sie ihm nicht.
„Bei den Blackfeet machen das die Männer selbst!“, erklärte sie einfach. Sie hatte keinerlei Veranlassung, das nun zu ändern.
Also setzte er sich zu ihr und begann ziemlich ungeschickt sich Beinkleider zuzuschneiden.
Himmel! Ehe er schneiden konnte, hatte sie ihm das Messer entwunden und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was soll das werden?“
„Leggins!“, meinte er unschuldig.
„Es sieht eher aus wie eine Satteldecke!“
Sein Gelächter hallte durch die Höhle, und glucksend flehte er um Hilfe: „Bitte, ich bin ein Lakota! Bei uns machen das unsere Schwestern!“
„Na schön! Stell dich hin!“
Sie kniete vor ihm und passte ihm die Leggins an seinen kräftigen Schenkeln an. Hier unterschied er sich eindeutig von ihr, stellte sie fest, als sie an ihre schlanken Beine dachte. Er kicherte, als ihre Hände ihn kitzelten. „Halt still!“, befahl sie streng.
„Ich hätte jetzt zu etwas ganz anderem Lust!“, bemerkte er anzüglich.
„Nun weißt du, warum Blackfeetfrauen so etwas nicht machen! Es bringt die Männer auf dumme Gedanken!“
„Na und!“, meinte er mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen.
Sie sah seinen Blick und senkte plötzlich scheu die Augen. Vielleicht wäre es besser, bald zu gehen! Warum war sie nicht schon längst gegangen? Ihre Verletzungen waren verheilt und sie war frei.
Nata-He-Yukan schluckte schwer. Sie hatte die Augen gesenkt wie eine Frau, wie ein schüchternes Mädchen! Und er begehrte sie! Sein Herz schlug unregelmäßig, als er daran dachte, dass sie gehen könnte. Vielleicht konnte er sie an sich binden?
Aber als was? Wenn sie nicht wie eine Frau fühlte, dann könnte er sie als Bruder adoptieren. Sollte er sie einfach fragen? Er brauchte endlich die Gewissheit, als was er sie behandeln sollte!
Energisch legte er die Leggins beiseite und kniete sich zu ihr hin. „Zintkala-win! Ich möchte, dass du meine Frau wirst!“
Völlig überrascht blickte sie ihn an. „Deine Frau?“
Er nickte völlig ernst. „Ja, meine Frau!“
Sie kicherte ein wenig hysterisch, konnte es kaum glauben.
„Aber ich bereite dir doch nur Ärger!“
„Großen Ärger!“, bestätigte er mit einem Zwinkern.
„Immer versuche ich dich zu töten!“
Er lachte rau. „Stimmt, jede Nacht raubst du mein Herz!“
Konnte es sein, dass dieser Mann sie liebte? Oder hatte er nur Angst vor der Einsamkeit?
„Warum sagst du das gerade jetzt?“, forschte sie.
Er seufzte tief. „Weil ich nicht möchte, dass du gehst!“
Ihre Hände sanken in ihren Schoß und sie senkte den Kopf. Also doch! Aber auch sie hatte unter der Einsamkeit gelitten! Deshalb wollte sie zurück zu ihrem Volk. Würde Nata-He-Yukan sie begleiten, wenn sie erst seine Frau wäre? Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und wieder dachte sie an ihre Bestimmung.
Durfte sie überhaupt seine Frau werden?
Verunsichert zog Nata-He-Yukan seine Hand weg und biss sich auf die Lippen, versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Denk darüber nach! Höre, was dein Herz sagt! So lange kannst du mir ja diese Leggins nähen, damit die Krähen nicht darüber lachen, wenn ich Satteldecken trage.“
Sie lachte herzhaft und hob wieder die Augen, sah in ihm plötzlich nur den jungen Mann, der ihr gerade seine Liebe erklärt hatte. Niemals wieder würde er sie zu irgendetwas zwingen.
„Ich denke darüber nach“, erklärte sie einfach und die Sonne ging in seinem Gesicht auf. Sie war eine Frau! Kein Mann!
Kleine-Krähe
(Little-Bighorn Berge und Pulver-Fluss)
In den nächsten Tagen begleitete Zintkala-win ihn zur Jagd, aber mit den Gedanken war sie weit weg. Sie fühlte sich von Nata-He-Yukan beobachtet und wusste, dass er auf eine Antwort wartete. Wie sehr wünschte sie, dass sie mit ihrem Onkel über ihre Vision sprechen konnte. Hatte sie ihre Bestimmung erfüllt? Sie hatte gekämpft und ihren Bruder gerächt! Durfte sie nun wieder als Frau leben? Sie atmete tief ein und horchte auf ihre Gefühle. Wollte sie ein Mann sein? Oder fühlte sie doch wie eine Frau? Heimlich beobachtete sie Nata-He-Yukan, bewunderte, wie gewandt und geschickt er war.
Sie war seine Gefangene gewesen, wusste wie es war, wenn er sie berührte, und plötzlich sehnte sie sich nach seiner Nähe. Auch sie litt unter der Einsamkeit, vermisste ihre Familie und ihre Freunde. Sollte sie einfach gehen? Oder war es wirklich ihr Schicksal, diesem Mann begegnet zu sein? Wie würde es sein, wenn Nata-He-Yukan sie zur Frau nahm? Nicht als Gefangene, sondern sanft und zärtlich?
Nata-He-Yukan plagten ähnliche Gefühle. Er ahnte, dass sie über ihn nachdachte, und sehnte sich nach ihr.
Abgesehen davon, dass er sich sowieso für unwiderstehlich hielt. Vielleicht sollte er einen weiteren Versuch wagen, einen guten Zeitpunkt abwarten und ihre Antwort fordern?
Er hatte dieses gegenseitige Abtasten satt! Entweder sie kehrte zu ihrem Volk zurück oder wurde seine Frau! Er wurde ausgesprochen gereizt und übellaunig, was sich allerdings nur darin zeigte, dass er ihr aus dem Weg ging und kaum noch mit ihr sprach.
Er hatte ihr einmal sein Herz geöffnet, ein zweites Mal ließ das sein Stolz nicht zu. Eine angespannte Stille lag zwischen ihnen. Es war kein Werben um eine Braut, sondern eher das Lauern auf Beute. Sollte er sich eine Flöte schnitzen und tatsächlich um sie werben? Verunsichert dachte er darüber nach. Wie warb man um eine Frau, mit der man bereits zusammenlebte? In seinem Dorf würde er eine Gefangene einfach zu seiner Frau erklären, wenn sie ihm gefiel, aber hier? Schließlich hatte er ihr die Freiheit geschenkt!
Die Situation überforderte ihn und so ging er ihr aus dem Weg, schaute lieber regelmäßig bei seinen Pferden vorbei.
Gedankenverloren saß er einfach nur auf einem Felsen und sah dem Fohlen zu, wie es mit steifen Sprüngen um seine Mutter sprang. Das Fohlen erinnerte ihn an Zintkala-win. Bockig und frech. Fast wie ein Junge, aber dennoch eine Frau!
War es eine Eigenart der Blackfeet, dass sie so rebellische Frauen hatten oder lag es an ihrer Vision? Zintkala-win war kein Mann. Aber sie hatte sicherlich das Herz eines Kriegers. Seine Augen funkelten, als er sich eingestehen musste, dass genau das ihm gefiel! Aber was würde sein Volk dazu sagen? Es gab auch bei den Lakota solche Kriegerfrauen, aber die heirateten keine Männer! Verrückt! Wakan! Etwas Geheimnisvolles! Aber es reizte ihn.
Seine Aufmerksamkeit war ganz woanders, deshalb traf es ihn wie ein Schock, als er plötzlich einen fremden Mann erspähte, der sich langsam mit einem Lasso auf die Pferde zubewegte!
Ein Shoshone!
Dieser Wurzelsammler wollte die Ponys stehlen!
Sofort tauchte Nata-He-Yukan in die Schatten der Felsen und zog seinen Bogen vom Rücken. Gedanken schossen durch seinen Kopf. Zintkala-win! Hatten die Shoshone seine Höhle entdeckt? Der Rauch würde sie verraten! Der Trampelpfad! Das abgefressene Gras!
Sein Herz wurde kalt, als er sich langsam an den Feind heranschlich. Niemand stahl seine Pferde!
Mit keinem Gedanken dachte er daran, dass der Mann seine Pferde vielleicht für Wildpferde hielt.
Sein Kriegsruf schallte als Echo durch das Tal und in einer fließenden Bewegung riss der Feind seinen Tomahawk aus dem Gürtel. Ohne Bedauern schoss Nata-He-Yukan dem Mann einen Pfeil in die Brust, dann wirbelte er herum, als eine weitere Gestalt durch die Büsche flüchtete. Es waren zwei! Oder waren hier noch mehr Feinde? Hatten sie vielleicht schon die Höhle erreicht? Er hetzte hinterher, und sein Pfeil streckte den zweiten Mann zu Boden. Ein kleines Kind schrie vor Entsetzen und ihm rutschte das Herz tiefer. Er hatte eine wehrlose Frau getötet! Voller Bedauern trat er an sie heran, tastete beschämt nach dem Sack mit Wurzeln, die sie ausgegraben hatte.
Eine kleine Familie, nur auf Nahrungssuche, genauso wie er. Sie trug nur einen kurzen Rock und so hatte er natürlich angenommen einen weiteren Krieger vor sich zu haben. Keine Lakotafrau würde auf diese Weise ihre Brüste zeigen!
Der kleine Junge hatte sich aufgesetzt und heulte Rotz und Wasser, seine Faust steckte im Mund und schluchzend starrte er auf den fremden Mann.
Unentschlossen musterte Nata-He-Yukan das Kind, das vielleicht gerade alt genug war, dass es laufen konnte. Er legte die beiden Shoshone nebeneinander und bedeckte sie mit Zweigen, dann hob er den kleinen Kerl hoch.
Das Brüllen wurde lauter, steigerte sich zu einem hysterischen Schreien. „Still!“, sagte er drohend.
„Sei still!“
Dieses schreiende Bündel würde sämtliche Crow auf ihn aufmerksam machen. Jetzt weinte das Kind richtig, dicke Tränen liefen ihm vor Schreck über das Gesicht und Nata-He-Yukan überlegte, was er damit tun sollte. Vielleicht freute sich Zintkala-win über den Kleinen? Er ließ ihn ein wenig in seinen Armen hopsen und drückte ihm ein Stück Trockenfleisch in die Hand. Hungrig schob das Kind es in den Mund und begann daran zu lutschen. Das war doch schon besser!
Dann machte er sich auf den Rückweg, sicherte vorsichtig die Umgebung, um zu überprüfen, ob noch andere Shoshone in der Nähe waren.
Mit dem Kind auf dem Arm bückte er sich in die Höhle und drückte es der überraschten Frau in die Arme.
„Wo hast du das Kind her?“
„Shoshone haben versucht die Pferde zu rauben! Ich habe sie getötet“, erklärte er so beiläufig wie möglich.
„Auch seine Mutter?“ Ihre Augen wurden vor Entsetzen groß.
„Ich habe nicht gesehen, dass sie eine Frau war!“, erklärte er gereizt. Was dachte sie denn? Dass er absichtlich eine Frau tötete?
„Aber …!“
Er ließ sie nicht aussprechen, machte eine wütende Handbewegung. „Zintkala-win! Die Shoshone sind meine Feinde! Ich töte sie! Weil sie sonst uns töten!“
Er wollte ihre vorwurfsvollen Augen nicht mehr sehen. Das Kind brüllte wieder und drohend zeigte er mit den Lippen auf den kleinen Jungen. „Gewöhne ihm das ab! Er wird die Höhle ver-
raten!“
Sachte schaukelte Zintkala-win das Kind in ihren Armen, bis es sich beruhigt hatte, geschockt über Nata-He-Yukans Gefühlskälte.
„Was wird nun aus ihm?“, wagte sie zu fragen.
„Nichts! Er wird hier bleiben, denn ich habe seine Eltern getötet. Entweder ich töte ihn oder ich bin für ihn verantwortlich!“
Wütend nagte er an seiner Unterlippe, denn das Kind war eine weitere Belastung, aber er konnte es nicht mehr ändern.
„Du würdest …?“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und beschämt ging er zu ihr.
„Nein! Nein! Das würde ich nicht! Aber hier ist nicht die richtige Umgebung für ein Kind. Ich habe einfach Angst. Gewöhne ihm das Weinen ab. Es ist gefährlich!“
Sie nickte erleichtert und drückte den Jungen an sich, wunderte sich kurz, dass er Hemmungen hatte ein Kind zu töten. Sie hatte ihn brutaler, kriegerischer eingeschätzt, aber dann hätte er sie längst in einem unbeherrschten Moment getötet.
Flink huschte sie aus der Höhle, setzte den Jungen an den Bach und wusch ihm das schmutzige Gesicht.
Nata-He-Yukan griff nach seinen Waffen, dann machte er sich besorgt auf den Weg, um die nähere Umgebung zu erkunden. Wo zwei Shoshone nach Wurzeln und Beeren suchten, da waren bestimmt noch mehr. Kurz blinzelte er in den Himmel, an dem der Adler seine Kreise drehte. „Bruder, warne mich, wenn Feinde sich der Höhle nähern!“
Am Abend kehrte er halbwegs beruhigt zurück.
Nichts hatte seine Aufmerksamkeit erregt, auch der Adler saß wieder in seinem Horst auf dem Felsen. Der kleine Junge lag auf einem Fell und schlief mit leicht geöffnetem Mund.
Was sollte er nur mit einem Kind?
Zintkala-win dagegen blühte auf in der Sorge um den kleinen Kerl, sammelte Moos für seine Windeln und nähte ihm ein einfaches Hemd. Tapsig wackelte er durch die Höhle, fiel über den unebenen Boden und rappelte sich auf. „Ist er nicht niedlich?“, strahlte sie ihn an.
Nata-He-Yukan wand sich etwas. Eigentlich fühlte er sich noch zu jung, um die Verantwortung für ein fremdes Kind zu übernehmen, vor allen Dingen hier! Sie mussten hier weg!
Zumindest über den Sommer. Zu viele Spuren wiesen allen den Weg zu der Höhle. Die Verantwortung für die beiden drückte seine Stimmung, aber er sah ihr glückliches Gesicht, und lächelte freundlich. Der Kleine war wirklich niedlich.
„Wie wollen wir ihn nennen?“, fragte sie ihn.

Kerstin Groeper
Kerstin Groeper, als Tochter des Schriftstellers Klaus Gröper in Berlin geboren, lebte einige Zeit in Kanada. In Kontakt mit nordamerikanischen Indianern entdeckte sie ihre Liebe zur indianischen Kultur. Kerstin Groeper spricht Lakota, die Sprache der Teton-Sioux und führt regelmäßig Vorträge und Seminare über Sprache, Kultur und Spiritualität der Lakota-Indianer durch. Die studierte Sozialpädagogin arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitschriften und schreibt heute Artikel zum Thema Indianer, u.a. für das renommierte Magazin für Amerikanistik. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Sohn in der Nähe von München. Zwei erwachsene Kinder sind bereits ausgezogen.Bei hey! sind bereits Kerstin Groepers Geschichten "Die Feder folgt dem Wind" und "Kranichfrau" erschienen. Weitere Romane sind in Vorbereitung.