
Wehe uns, wenn Chaca kommt
von
Luke Sinclair
Seiten: (ca.) 86
Erscheinungsform: Originalausgabe
Erscheinungsdatum: 22.9.2014
ISBN: eBook 9783956071102
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Chaca! Ein Satan In Menschengestalt! Halb Apache, halb Mexikaner, verbreitete dieser Bastard Angst und Schrecken, wo immer er mit seiner wilden Horde über die mexikanischen Ortschaften herfiel. Frauen und Kinder bekreuzigten sich vor dem Schlafengehen und beteten, dass sie vor Chaca bewahrt blieben.
»Wehe uns, wenn Chaca kommt!« lief der Angstschrei durch die Reihen der Mexikaner.
Und als Limes Fargo diesen Angstschrei vernahm, da konnte er nicht achtlos weiterreiten.
»Hilf uns, Gringo …!«
Und Lemis Fargo nahm den Kampf für die Verzweifelten auf.
Details
- Titel
- Wehe uns, wenn Chaca kommt
- Untertitel
- Luke Sinclair Western, Band 10
- Autor
- Luke Sinclair
- Seiten
- 86
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Preis (eBook)
- 1,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956071102
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Luke Sinclair
Wehe uns, wenn Chaca kommt!
Ein Gringo kämpft für die Verzweifelten
Chaca! Ein Satan In Menschengestalt! Halb Apache, halb Mexikaner, verbreitete dieser Bastard Angst und Schrecken, wo immer er mit seiner wilden Horde über die mexikanischen Ortschaften herfiel. Frauen und Kinder bekreuzigten sich vor dem Schlafengehen und beteten, dass sie vor Chaca bewahrt blieben.
»Wehe uns, wenn Chaca kommt!« lief der Angstschrei durch die Reihen der Mexikaner.
Und als Limes Fargo diesen Angstschrei vernahm, da konnte er nicht achtlos weiterreiten.
»Hilf uns, Gringo …!«
Und Lemis Fargo nahm den Kampf für die Verzweifelten auf.
Er hielt vorsichtig sein Pferd an, rollte die Zigarette zwischen den trockenen Lippen und kniff die Augen gegen den aufsteigenden Rauch zusammen. Es war verdächtig still in dem Hohlweg zwischen den rissigen Felsschroffen. Verfilztes Buschwerk aus Mesquite und Sage machten den Weg unübersichtlich und gefährlich. Jetzt, da er das Pferd angehalten hatte, war die Stille noch bedrückender. Das Tier spielte nervös mit den Ohren.
Ein kollerndes Pfeifen irgendwo in den Büschen ließ ihn fast zusammenzucken. Von der anderen Seite kam die Antwort.
Limes Fargo öffnete die Lippen und ließ die Zigarette achtlos herunterfallen. Jeder Nerv in seinem Körper spannte sich. Er drängte das Pferd hart an den Fels und zog behutsam das Gewehr aus dem Sattelschuh. Es war heiß und windstill, und er spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren quoll. Seine Blicke glitten wachsam umher, bereit, jede noch so kleine Bewegung einzufangen.
Wieder erklang jenes Zwitschern zweimal kurz hintereinander. Es war ganz in der Nähe.
Limes Fargo dachte an die Fährte, die bereits zweimal an diesem Tage seinen Weg gekreuzt hatte. Die Fährte zweier Reiter.
Es war kein Zufall, daran zweifelte er jetzt nicht mehr. Sie mussten ihn den ganzen Tag über beobachtet haben. In dem offenen Gelände hatten sie sich nicht an ihn herangewagt. Aber hier musste er auf der Hut sein.
Er hätte diesen Bergen ausweichen können, aber er hatte früh im Leben gelernt, dass man Gefahren dieser Art nicht beseitigen konnte, indem man ihnen aus dem Weg ging. Die Burschen wären ihm vermutlich weiter gefolgt, um ihn in der Nacht zu überraschen.
Das Gewehr in seinen Händen ruckte plötzlich hoch. Das Schnappen des Schlosses klang ungewöhnlich laut, als er die Waffe blitzschnell repetierte. Zwischen den Felsen hatte er eine undeutliche Bewegung wahrgenommen. Aber dann blies er erleichtert die Luft aus. Ein Präriehuhn huschte von einer Felszacke zur anderen und ließ ein kollerndes Pfeifen hören. Von irgendwo kam die Antwort.
Fargo lächelte schwach und legte das Gewehr quer über den Sattel. Dann drückte er die großen Sporen kaum merklich gegen das Fell des Pferdes und nahm mit der Linken die Zügel auf.»Na los, mein Alter. Ich glaube, wir sind zu nervös.«
In den Jahren des Umherstreifens hatte er es sich angewöhnt, zu seinem Pferd zu sprechen. Viele Männer, die allein waren, taten das.
Der Rehbraune setzte sich in Bewegung. Er machte genau drei Schritte, bis der Schuss durch den engen Hohlweg donnerte. Die Kugel erwischte Fargo an der Schulter und riss ihn vom Pferd. Hart schlug er auf dem steinigen Boden auf und verlor sein Gewehr. Der Rehbraune wieherte schrill und rannte davon. Fargo wusste nicht, ob es Staub oder Nebel war, was plötzlich seine Sicht verschleierte. Irgendwo war das näher kommende Stampfen von Pferdehufen. Schüsse peitschten hell und scharf. Eine dumpfe Apathie drohte nach ihm zu greifen, aber der stechende Schmerz in seiner Schulter hielt ihn bei Sinnen. Ein eiserner Wille hämmerte ihm ein, nicht aufzugeben. Neben seinem Gesicht spritzte eine kleine Fontäne rötlichen Staubes hoch, und er hörte das hässliche Surren, des breitgeschlagenen Bleigeschosses. Trotz der Schmerzen, die sich durch seinen Körper fraßen, rollte er sich auf den Rücken und riss den Revolver aus dem Holster. Ein lautes Wiehern klang auf, gefolgt von einem heiseren Röhren. Fargo feuerte auf die dunkle Gestalt, die schemenhaft durch den Nebel geisterte. Ein großer Hut, flatternde Haare, eine verzierte Jacke mit Bändern und Schnüren. Das alles wirbelte vor ihm hoch, wurde zu einem zuckenden Knäuel, das wie von einer Riesenfaust über die Kruppe des Pferdes und in den brodelnden Staub gefegt wurde.
Fargos halbwache Sinne registrierten einen zweiten Reiter. Ein Pferd war plötzlich dicht vor Fargo, es stampfte und rollte mit den Augen. Fargo erkannte den Reiter, der dem verängstigten Pferd brutal seinen Willen aufzwang. Das Tier wollte immer wieder ausbrechen, aber der Mexikaner riss erbarmungslos an den Zügeln. Fargo bemerkte den Revolver in der Faust des Mannes und hob die eigene Waffe. Er sah das Mündungsfeuer in der staubgeschwängerten Luft aufzucken. Ein Hammerschlag schien seinen Oberschenkel zu treffen, und ein heißer, stechender Schmerz raste durch sein Bein. Im Zusammenzucken riss er den Stecher seiner Waffe durch und jagte mit zusammengebissenen Zähnen Schuss auf Schuss hinaus.
Die Gestalt auf dem Pferd krümmte sich zusammen, der Revolver fiel irgendwo in den Staub. Das Tier warf wiehernd den Kopf hoch und raste los. Sein Reiter kippte rückwärts aus dem Sattel, blieb mit einem Stiefel im Steigbügel hängen und wurde mitgeschleift. Über den Lauf seiner Waffe hinweg starrte Fargo ihm nach, bis er hinter einer Wolke brodelnden Staubes verschwand. Dann erst sank sein Kopf nach hinten, und der Revolver entfiel seiner Hand. Mit einem Male schien ihn alle Kraft zu verlassen. Eine seltsame Schwäche breitete sich in ihm aus und schien jeden Gedanken zu lähmen.
Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sein Gehirn wieder klar funktionierte. Aber es konnte nicht sehr lange gewesen sein, denn die Sonne stand noch weit über dem Horizont. Er hob den Kopf an und spürte sogleich die bohrenden Schmerzen in der linken Schulter. Das Hemd war an dieser Stelle warm und klebrig. Er biss die Zähne zusammen und stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Erneute Schmerzen im rechten Oberschenkel entlockten ihm ein schwaches Stöhnen. Er erinnerte sich, dass ihn dort eine Kugel getroffen hatte. Rasch blickte er umher. Die Pferde waren weg. Außer einem toten Mexikaner war nichts zu sehen. Der Fluch, den er auf den Lippen hatte, erstickte unter einem abermaligen Stöhnen, als er sich bewegte.
Verdammt, er lag hier wie ein angeschossenes Wild, das auf sein Ende wartet. Das rechte Hosenbein war dunkel und vom Blut getränkt. Er musste verbluten, wenn er hier liegenblieb, aber es würde auch kaum jemand kommen und ihm helfen. Wenn noch mehr von diesem Gesindel in der Nähe war, musste er die Schüsse gehört haben. Diese Männer würden kurzen Prozess mit ihm machen.
Es blieb ihm keine andere Möglichkeit, er musste versuchen, hier wegzukommen. Was hatte er schon zu verlieren? Sein Leben war ohnehin keinen verdammten Schuss Pulver mehr wert, wenn er hier liegenblieb.
Es gelang ihm, sich aufzusetzen und sich nach vorn zu beugen. Mit den Fingern tastete er das Bein ab und spürte die Ausschusswunde. Die Kugel hatte nur einen Teil des Muskels durchschlagen und einen verhältnismäßig kurzen Wundkanal hinterlassen.
Er löste das Halstuch und schlang es um den Oberschenkel. Mit den Zähnen und der rechten Hand zog er den Knoten so fest, wie es ihm seine Kräfte erlaubten, und schob den provisorischen Verband auf der Wunde zurecht. Aus der Schulterverletzung fühlte er erneut das Blut hervorbrechen. Er presste die Hand darauf und schaute sich um.
Alles war weg. Er hatte kein Wasser und keinen Proviant. Und hier gab es weit und breit keinen Ort, wo Menschen wohnten. Jedenfalls kannte er keinen solchen.
Neben ihm lag noch sein Revolver. Er lud die Trommel neu und steckte ihn ins Holster. Dann nahm er sein Gewehr und rutschte zu dem toten Mexikaner hinüber. Die Schmerzen trieben ihm die Tränen in die Augen, aber er hielt durch. Er musste es einfach, wenn er auch nur eine winzige Chance haben wollte.
Er riss dem Toten das Hemd vom Körper und schob die schmutzigen Fetzen unter seine Jacke, die er über der Brust zuknöpfte. Die Blutung an der Schulter musste eingedämmt werden, wenn er die nächsten Stunden überleben wollte. Er zog das Messer aus dem Stiefelschaft des Toten und schob es hinter seinen Gürtel. Dann lehnte er sich gegen einen Stein und überlegte, wohin er sich wenden sollte. Dort, woher er kam, war nichts als trockene, menschenleere Einöde. Er konnte es nicht einmal bis zum nächsten Wasserloch schaffen. Was ihn in anderer Richtung erwartete, war ungewiss, aber wenn es überhaupt eine Chance gab, dann konnte sie nur dort liegen.
Prüfend tastete er nach dem Stoffballen unter der Jacke. Er saß noch an derselben Stelle und drückte auf die Wunde. Wenn er Glück hatte und die Schulter nicht viel bewegte, würde der Blutverlust erträglich bleiben. Aber zuerst musste er versuchen, auf die Füße zu kommen.
Er stemmte das gesunde linke Bein auf den Boden, stützte sich auf sein Gewehr und stemmte sich hoch. Der Schmerz trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er schwankte ein wenig, aber er blieb aufrecht. Einen Moment stand er so da und presste die Zähne aufeinander. Dann humpelte er los. Er konnte das verletzte Bein bei jedem Schritt nur ganz flüchtig belasten, und jedes Mal zuckte es in seinem hageren Gesicht. Er wusste nicht, wie lange er das durchhalten konnte.
Hinter der nächsten Wegbiegung blieb er stehen. Auf einer freien Stelle wuchsen dürres Gras und trockenes, verästeltes Gebüsch. Hastig humpelte er darauf zu und ließ sich auf den Boden sinken. Mit dem Messer des Mexikaners schnitt er einen kräftigen Stock heraus, der weiter oben eine annähernd gleichmäßige Gabelung aufwies.
Es dauerte fast eine Stunde, bis er den Ast zu einer primitiven Krücke zurecht-geschnitzt hatte.
Nach kurzer Ruhepause stemmte er sich hoch und klemmte die Astgabel unter seine rechte Achselhöhle. Sein Mund war nur noch ein blasser, dünner Strich, als er sich fortzubewegen begann. Aber mit der Krücke ging es bedeutend besser, als wenn er sich weiterhin auf das Gewehr gestützt hätte.
Als es zu dunkeln begann, hatte er nicht viel mehr als zwei Meilen hinter sich gebracht. Er erreichte einen schrägen Hang, auf dem spärliches, von der Sonne verbranntes Gras wuchs. Seine Schritte waren schleppend, und er konnte sich nur noch mit äußerster Willenskraft fortbewegen. Seine große, hagere Gestalt war schmutzig und verschwitzt, seine Lippen trocken und rissig. Er wusste nicht, wo er sich befand. Aber konnte ihm das nicht egal sein? Bald würde die Nacht über ihn hereinbrechen, und am Morgen würde er vielleicht nicht mehr am Leben sein.
Mühsam humpelte er weiter. Die Schmerzen bohrten dumpf und gefräßig. Sie waren überall, und er wusste kaum noch zu sagen, wo sie ihren Ursprung hatten.
Es würde kalt werden in der Nacht, und er hatte keine Decke. Das Gewehr, das er an einem Streifen Stoff über die Schulter gehängt hatte, war ihm hinderlich, aber er konnte es nicht wegwerfen. Ein Mann ohne Gewehr war noch weniger wert als einer, der schon halb tot war.
Plötzlich hob er den Kopf und lauschte. Der Tag war zu einem winzigen Rest rötlichen Lichtes zusammengeschmolzen, das von Westen her über die Felsen schimmerte.
Limes Fargo hatte sich nicht getäuscht, er hörte es ganz deutlich; etwas bewegte sich dort, wo der Grashang nach Westen abfiel. Er konnte nicht ausmachen, was es war. Er humpelte bis in den Schatten einer Felswand und lehnte sich mit dem Rücken gegen das raue Gestein.
Es kostete ihn einige Mühe, das Winchestergewehr von der Schulter zu holen, ohne dabei die Krücke fallen zu lassen. Er hielt die Mündung der Waffe gegen einen Stein gepresst und drückte mit der einen Hand, die er zur Verfügung hatte, den Repetierhebel nach vorn. Das Geräusch klang überlaut in der Stille. Er lehnte sich schweratmend gegen den Fels und wartete, das Gewehr schussbereit in der Rechten.
Wieder vernahm er diese scharrenden Geräusche. Von einem Pferd konnten sie kaum stammen. Vielleicht bewegte sich dort jemand zu Fuß. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Lange konnte er so nicht regungslos verharren. Die Muskeln in seinem gesunden Bein verkrampften sich. Er verlagerte sein Gewicht mehr auf die Krücke, und beißende Schmerzen durchzogen sofort seine wundgescheuerte Achselhöhle, in der Schweiß und Schmutz brannten. Er stieß keuchend die Luft aus, unterdrückte dann aber jeden weiteren Laut, um sich nicht zu verraten.
Es wurde rasch dunkler, und er konnte kaum noch etwas erkennen. Dann bemerkte er eine Bewegung auf dem Kamm des Hanges und hob den Gewehrlauf. Aber er bemerkte sogleich, dass er zu schwach war für einen sicheren Schuss Er konnte die Waffe mit einer Hand nicht ruhig halten. Der stählerne Lauf schwankte hin und her und blinkte matt im letzten Rest des Lichtes. Er presste die Zähne aufeinander und versuchte, seine Erschöpfung zu überwinden.
Doch dann ließ er plötzlich das Gewehr sinken und blies langsam die Luft aus. Er schwankte leicht hin und her und suchte mit seiner Stütze neuen Halt am Boden.
Die rundliche Gestalt eines Schafes bewegte sich über den Rücken des Hanges, ein zweites folgte und dann noch ein drittes. Fargo stand gegen den Wind, so dass sie ihn nicht wittern konnten. Er rührte sich nicht und starrte auf die Tiere, die sich im dämmerigen Licht des Abends bewegten. Wo sich Schafe aufhielten, da mussten auch Menschen sein. Aber so lange er auch wartete, er konnte keinen entdecken. Hatten sich diese Tiere verirrt und waren in den Bergen verwildert? Die Fülle ihrer Pelze zeigte, dass sie längere Zeit nicht geschoren worden waren. Doch das wollte nichts beweisen.
Die Schafe zogen in einiger Entfernung langsam an ihm vorbei. Er musste ihnen folgen! Wenn er Glück hatte, dann konnte es für ihn die Rettung bedeuten.
Vorsichtig stieß er sich mit dem Rücken von der Wand ab und humpelte hinter ihnen her.
Plötzlich begannen die Schafe schneller zu laufen. Vermutlich hatten sie ihren Verfolger bemerkt oder sich vor etwas anderem erschreckt.
Limes Fargo war wie von Sinnen. Eine Art Panik erfasste ihn. Ungeachtet der Schmerzen, die ihn quälten, beschleunigte er seine Gangart, um die Tiere nicht aus den Augen zu verlieren.
Schon nach wenigen Sehritten stolperte er. Die Krücke verfing sieh in irgendwelchem Wurzelwerk, und er stürzte. Er hörte sein heiseres Stöhnen, als er auf den Boden schlug, kollerte über eine abschüssige Stelle und blieb in einer Mulde liegen, unfähig, sich noch einmal aufzurichten.
Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach und das Blut warm aus seiner Schulterwunde quoll. Er riss den Mund auf und sog die kühle Luft ein, die der Abend brachte. Aber die höllischen Schmerzen ließen nur ein flaches Atmen zu. Das Gewehr hatte er beim Sturz verloren. Auch die Krücke war jetzt nicht mehr wichtig. Bis hierher war er gekommen. Und wenn er am Morgen noch genügend Blut in den Adern hatte, dann konnte er sich erneut darüber Gedanken machen, wie er von hier wegkam. Aber im Moment war nichts in ihm als gähnende Leere. Der letzte Rest von Energie in ihm schien erloschen. Und durch all sein Elend drangen die Schmerzen mit quälender Pein.
Seine Hand tastete unter die Jacke und schob den blutgetränkten Klumpen aus Stofffetzen höher. Fest krallten sich seine Finger hinein und pressten ihn auf die Wunde. So dämmerte er in einem Zustand dahin, der an der Grenze zwischen Bewusstsein und endlosem Dunkel hin und her pendelte.
Fargo war im Lauf der Nacht mehrmals wach geworden. Jetzt war ein grauer Morgen über das Land gezogen, der mit nasser Kälte seinen ausgelaugten Körper durchdrang. Er fühlte sich, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr in den Adern. Sein erster Griff galt der verletzten Schulter. Die Stofffetzen waren auf der Wunde angetrocknet. Das war gut so. Auf diese Weise hatte er doch nicht allzu viel Blut verloren. Er schob seinen Körper in eine bessere Lage und schaute um sich. Sein rechtes Bein tat weh wie die Hölle. Er fuhr sich stöhnend mit der Hand über den Oberschenkel.
Langsam verging die Schwäche. Fargo richtete sich etwas hoch und schaute über das Land. Die Schafe waren weg, aber er gab die Hoffnung noch nicht ganz auf. Vielleicht gelang es ihm doch noch, auf Menschen zu stoßen. Oder hatte er das alles nur geträumt? Dieser Gedanke jagte einen Schauer des Erschreckens durch seinen Körper. Er griff sich mit der Hand an den Kopf, aber seine Stirn fühlte sich kalt an. Verdammt, er war doch gestern Abend bei Sinnen gewesen! Es musste ihm gelingen, ihre Fährte zu finden!
Sein Gewehr lag wenige Schritte entfernt an der Böschung, über die er am Abend hinabgestürzt war. Langsam schob er sich darauf zu, bis er es mit der Hand erreichen konnte. Seine Glieder waren noch steif und ungelenk von der Kälte der Nacht, aber die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich bereits zaghaft über die zackigen Berge am Horizont.
Er nahm das Gewehr und rutschte wieder in die Mulde hinab. Es musste schon seit einer Weile hell sein, und er wollte keine Zeit mehr verlieren, ehe die Hitze des Tages kam und ihm vielleicht den Garaus machte.
Plötzlich schrak er zusammen. Da kam jemand durch das niedrige Chapperal auf ihn zu.
Das Gewehr war noch gespannt. Er hob es hoch, ließ es aber sogleich wieder sinken und hielt den Kopf schief, so dass der Hutrand seine Augen beschattete.
Das da vor ihm war ein Mexikanerjunge von vielleicht sechs oder sieben Jahren.
Fargo ließ mit dem Daumen den Schlagbolzen der Waffe behutsam nach vorn, gleiten und wartete, bis der Junge heran war. Dieser schien etwas zu suchen. Er trug eine ausgefranste helle Leinenhose und ein angeschmutztes Hemd aus dem gleichen Stoff. Aber für ein Mexikanerkind sah er dennoch verhältnismäßig sauber aus.
Der Junge blieb kurz stehen, als er den großen Mann reglos in der Mulde hocken sah, und kam dann näher.
»Hallo, niño«, sagte Fargo und nickte leicht mit dem Kopf.
»He, du. Hast du meine Schafe gesehen?« fragte der Junge. Dann starrte er den fremden Gringo an.
»Du blutest ja. Hast du eine Schießerei mit Banditen gehabt?«
Fargo beherrschte die spanische Sprache gut genug, um den Jungen zu verstehen.
»Ja«, sagte er, »ich kann es wohl nicht verheimlichen.«
Der Junge hielt den Kopf schief.
»Die haben dich aber ganz schön fertiggemacht.«
»Es waren mindestens zwanzig«, schnitt Fargo auf. Der Kleine sah ihn ungläubig staunend an.
»Und du hast sie alle erwischt?«
Fargo machte ein säuerliches Gesicht.
»Nicht alle, ein paar haben sich davongemacht.«
»Wie viel hast du denn erwischt?«
»Du willst es aber genau wissen«, stöhnte Fargo. »Na mindestens fünfzehn.«
Der Junge riss die Augen auf.
»Au, fein«, stieß er hervor, »das muss ich Mama erzählen, sie wird sich mächtig darüber freuen. Vielleicht war Chaca auch dabei.«
Limes Fargo schaute auf die geballten Fäuste des Kleinen und hatte ein schlechtes Gewissen dabei.
»Wohnst du hier in der Nähe?«
Der Mexikanerjunge nickte und deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Eine Stunde, wenn man nicht allzu sehr trödelt.«
Also mindestens zwei, dachte Fargo, und wies mit dem Kopf nach der Seite.
»Deine Schafe sind in diese Richtung gelaufen.«
Der Kleine machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich werde sie später holen. Jetzt muss ich dich erst nach Hause bringen.« Er deutete auf Fargos blutigen Verband am Bein. »Mama wird das schon wieder in Ordnung bringen. Sie kennt sich aus. Als Benito Juarez früher gegen die Soldaten gekämpft hat, da hat sie als Enfermera geholfen. Sie hat mir oft davon erzählt. Sie war eine gute Krankenschwester.«
»Du bist wohl sehr stolz auf deine Mutter?«
»Natürlich. Du wirst schon sehen, dass ich nicht übertrieben habe.« Er winkte mit der Hand. »Kommst du?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Fargo etwas kleinlaut, »aber ich werde bestimmt sehr trödeln.«
»Ach, das macht nichts, wir haben ja Zeit.«
Der Junge schien für sein Alter recht aufgeweckt zu sein. Fargo überlegte, ob er ihn Hilfe holen lassen oder gleich mitgehen sollte. Aber er entschied sich für das letztere. Er wollte es jedenfalls probieren, solange er noch konnte. Er hängte sich das Gewehr um, nahm seine Krücke und stemmte sich ächzend in die Höhe.
»Tut es sehr weh?«
Fargo blinzelte in die Sonne.
»Ich werde es schon aushalten.«
Der Junge nickte einige Male, zog dann die Lippe hoch und zeigte mit dem Finger auf eine Zahnlücke im Mund.
»Als Mama diesen Zahn herausgemacht hat, da hat es auch mächtig weh getan. Aber sie hat gesagt, ich sei jetzt ein Mann, weil ich es ausgehalten habe.«
Fargo musste trotz der Schmerzen lächeln.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte er.
»Pedro«, antwortete der Junge, »und du?«
»Ich heiße Limes. Limes Fargo.«
»Bist du ein Pistolero?«
»Nein. Wie kommst du darauf?«
Pedro zuckte mit den Schultern.
»Ach, nur so.«
Fargo hatte Mühe, dem Jungen zu folgen, der keinerlei Rücksicht auf seinen Zustand zu nehmen schien. Einmal drehte er sich um und blieb stehen.
»Hältst du es noch aus?« fragte er.
Fargo nickte nur und presste die rissigen Lippen aufeinander. Dicke Schweißtropfen perlten auf seinem Gesicht, obwohl es noch nicht allzu warm war.
Nach ungefähr einer halben Stunde machten sie Halt. Fargo ließ sich stöhnend auf den Boden sinken. Er war erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Hand tastete nach der Schulter. Die Wunde war zum Glück noch nicht wieder aufgebrochen. Dafür sickerte am Oberschenkel frisches Blut durch den schmutzigen Stoff. Fargos Atem ging kurz und stoßweise. Heftige Schmerzen zogen durch sein Bein. Er legte den linken Arm auf seinem Schoss zurecht, um die Schulter soweit wie möglich zu entlasten. Pedro hatte ihm eine Zeitlang zugesehen, aber er sagte nichts. Fargo schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder aufbrachen. Sie kamen nur langsam voran, und die Sonne begann glühend herab zu sengen. Fargos Bewegungen wurden immer müder und unkontrollierter. Zweimal ruhten sie noch aus, aber er nahm es nur noch mit halbem Bewusstsein wahr. Das einzige, was er noch deutlich spürte, waren die unaufhörlichen Schmerzen, die ihn fast zum Wahnsinn trieben.
Das letzte Stück des Weges schleppte er sich nur noch in völliger Apathie dahin. Pedro hatte ihn mehrmals etwas gefragt, aber keine Antwort mehr erhalten.
Irgendwann, nach einer endlosen Quälerei, erreichten sie endlich ihr Ziel.
»Madre, Madre!« rief Pedro. Die laute Stimme des Jungen drang durch den Nebel, der Fargos Gehirn umwogte. Er kämpfte gegen den Schwindel an und hob langsam den Kopf.
Das Haus war aus rohen Steinen erbaut. An der Vorderfront zog sich eine mit Gras bedeckte Ramada entlang, die das Haus und besonders die Tür vor der grellen Sonne schützte. Seitlich am Haus befand sich ein kleiner Stall und daneben ein Korral aus bröckligem Adobelehm, in dem einige Schafe standen. Hühner liefen überall herum, und der leichte Wind raschelte im Laub der beiden Cottonwoods, die seitlich vor dem Haus standen und einen kümmerlichen Schatten auf den Brunnen warfen.
Eine Frau erschien in der Tür und trat dann in die helle Sonne hinaus. Fargo konnte sie nicht genau erkennen. Die Nebel vor seinen Augen ließen sich nicht ganz vertreiben.
»Zwanzig Bandoleros haben ihn überfallen«, schrie Pedro, »und er hat fünfzehn getötet!«
Die Frau blieb stehen und schaute herüber. Sie sah einen großen, hageren Amerikaner, mit einem eingefallenen, stoppelbärtigen Gesicht und tiefliegenden, fiebrig glänzenden Augen. Schmutz, Blut und die primitive Krücke, mit deren Hilfe er sich noch mühevoll aufrecht hielt, gaben seiner Erscheinung ein ziemlich elendes Aussehen.
»Komm zu mir, Pedro«, rief sie den Jungen.
Fargo blieb schwankend stehen.
»Tag, Ma'am«, brachte er über seine aufgeplatzten Lippen. Die Frau musterte ihn mit einem Blick, gepaart aus Furcht und Mitleid.
»Ich wollte …« Fargos Stimme versagte. Er machte noch einen Schritt, war aber zu erschöpft, um dieser Gewichtsverlagerung standhalten zu können. Er knickte ein und versuchte, sich mit letzter Kraft an der Krücke zu halten. Die Frau sprang schnell hinzu, aber sie konnte den schweren Körper des großen Amerikaners nicht halten. Lang schlug er auf den Boden.
»Dios mio«, flüsterte sie bestürzt und schaute zu den gewaltigen Massiven der Berge hin, als fürchte sie, jemand könne sie von dort aus beobachten. Dann wandte sie sich entschlossen an den Jungen.
»Pedro, wir müssen ihn ins Haus bringen.«
Gemeinsam schleiften sie die große Gestalt durch den Staub bis unter die Ramada und von dort durch die offene Tür ins Haus.
Nach einer Weile kam die Frau zurück und hob die Krücke und das Gewehr auf, um beides ins Haus zu tragen. Sie stellte die Krücke an die Wand und legte das Gewehr auf eine Kommode. Dabei fiel ihr Blick auf eine rechteckige Messingplatte, die in den Schaft der Waffe eingelassen war. Sie wischte mit der Hand den Staub weg, und die eingravierten Worte wurden deutlich lesbar.
SIEGER IM WETTSCHIESSEN DODGE CITY, LIMES FARGO, stand dort. Ihre Hand glitt fast ehrfürchtig über die kalte Waffe. Es war eine Winchester Modell 73. Langsam wanderte ihr Blick zu dem bewusstlosen Mann auf dem Bett im hinteren Raum. Limes Fargo hatte vor kurzem jenseits der Grenze drei Männer erschossen. Sie hatte davon, gehört. Aber sie musste ihm helfen, er war ohne sie verloren.
Ihr Blick kehrte zu dem Gewehr zurück, auf dem noch immer ihre Hand ruhte. Vielleicht würde dieser Mann eine Wendung in ihr Leben bringen.
»Pedro, hol Wasser, mein Junge!« rief sie, und wandte sich dem Bett zu, auf dem der Fremde lag und tief und regelmäßig atmete.
Die letzten Stunden, bevor Fargo wieder erwachte, hatte er fest und ruhig geschlafen, ein Zeichen dafür, dass das Fieber zurückging. Es war sehr warm. Fargo spürte weiche kühle Hände auf seinem heißen Gesicht Jemand wischte zart mit einem Tuch über seine Stirn. Zögernd hob K die Lider Zuerst blendete ihn das helle Tageslicht, aber dann formte sich ein Bild vor seinen Augen.
Was er sah, verwirrte ihn einen Moment. Schwarzes Haar umrahmte locker ein ovales Gesicht mit großen, dunklen Augen. Es dauerte Sekunden, bis er sich über die Bedeutung seiner Umgebung klar wurde. Diese Frau hatte ihm geholfen, als er gefallen war. So viel wusste er noch. Dann musste da noch ein kleiner Junge sein.
Fargo hob den Kopf etwas an und ließ seine Blicke durch den Raum wandern. Die Einrichtung war einfach und zweckmäßig. Dann schaute er wieder die Frau an, die auf dem Rand des Bettes saß und ihn beobachtete. Sie war Mexikanerin und hatte ein hübsches Gesicht. Wahrscheinlich handelte es sich um Pedros Mutter.
»Ich habe Ihnen viel Mühe gemacht«, sagte Fargo auf Spanisch.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Sie brauchten Hilfe. Übrigens verstehe ich Ihre Muttersprache recht gut, Sie brauchen also nicht Spanisch zu reden.«
Fargo fühlte sich recht schwach. Das Interesse für seine Umwelt war demzufolge noch entsprechend gering. Seine Hand tastete nach der Schulter und er spürte einen festen, ordentlichen Verband.
»Wer hat die Kugel herausgeholt« fragte er langsam.
»Ich. Das war vor zwei Tagen.«
»Habe ich so lange gebraucht, um …?« fragte Fargo bestürzt. Sie nickte.
»Sie waren sehr schwach und hatten eine Menge Blut verloren. Jetzt, müssen Sie unbedingt etwas essen, damit Sie wieder zu Kräften kommen.«
Sie ging hinaus, und Fargo hörte sie eine Zeitlang mit Töpfen hantieren und mit Pedro sprechen. Er schloss wieder die Augen und bemühte sich nachzudenken Zwei Tage waren vergangen, zwei Tage und zwei Nächte hatte er hier in diesem Bett gelegen. Und wo hatte sie geschlafen? Zum ersten Mal beschäftigten sich seine Gedanken mit dieser Frau. Weshalb lebte sie hier in dieser Einöde?
Er öffnete die Augen, als er sie wieder hereinkommen hörte. Sie brachte gebratenes Huhn und Maistortillas. Sie half ihm, sich aufzurichten, und stellte das Tablett auf die Decke.
»Vielen Dank, Ma'am«, murmelte Fargo und langte nach dem Huhn. Weshalb tat diese Frau das alles für ihn?
»Leben Sie mit dem Jungen allein hier?« fragte er.
»Nein«, antwortete sie schnell. Fargo hob den Kopf. Es klang so, als fürchtete sie sich vor irgendetwas. »Nein …, mein Mann ist geschäftlich nach Durango gereist. Ich erwarte ihn jeden Tag zurück.«
Sie beobachtete den Mann im Bett, um zu ergründen, wie er ihre Worte aufnahm. Dieser Fremde aß wie ein Mann, der lange Zeit fern jeder Zivilisation gelebt hatte. Seine Bewegungen waren unkompliziert und nur auf den Zweck abgestimmt, den sie erfüllen sollten. Er schien sich, im Gegensatz zu den meisten Menschen, keinerlei Gedanken darüber zu machen, wie sein Gebaren auf andere wirken mochte.
»Ich heiße Rafaela Summers.«
Fargo nickte mit vollem Munde. Dann hob er plötzlich interessiert den Kopf und hielt mit Kauen inne.
»Summers?« fragte er.
»Mein Mann ist Amerikaner.«
Fargo aß weiter. Dann sagte er: »Ich bin …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach sie ihn. »Ich habe es auf dem Gewehr gelesen.«
Es war irgendeine Spannung zwischen ihnen.
»Ich habe diesen Namen schon früher einmal gehört«, sagte Rafaela. Ihre dunklen Augen glitzerten in dem Licht, das durchs Fenster hereinfiel. Fargo schaute sie fragend an.
»Sie haben vor kurzem jenseits der Grenze drei Männer erschossen.«
»Das stimmt«, sagte er ruhig.
»Sind Sie deshalb nach Mexiko gekommen?«
»Nein. Ich werde da drüben nicht gesucht, falls Sie das meinen.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Fargo verzehrte sein Essen und betrachtete ihre schlanke Gestalt. Sie stand etwas unschlüssig neben der Tür.
»Ich werde versuchen, aufzustehen«, sagte Fargo. »Ich möchte Ihnen keine unnötige Mühe bereiten.«
»Nein«, wandte sie hastig ein. »Sie bleiben im Bett. Sie sind noch viel zu schwach.«
Fargo wollte noch etwas sagen, aber sie war nach diesen Worten schnell hinausgegangen.
Rafaela Summers lehnte sich einen Moment gegen die Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte. Sie spürte, wie ihr Herz schlug. Eine eigenartige Erregung ergriff sie bei dem Gedanken, dass dieser Mann bald das Bett verlassen und hier herumlaufen würde. Noch würden ihm seine Wunden zu schaffen machen, aber dann, wenn sie zu heilen begannen und er noch immer hier war …?!
Was für ein Mensch war er überhaupt?
Pedro hockte in der offenen Tür und drehte sich um, als er hinter sich keine Schritte mehr vernahm.
»Glaubst du, dass Chaca wirklich tot ist?« fragte er.
Rafaela kam mit müden Schritten durch den Raum und schaute zu den Bergen hin. Ihre Augen waren dumpf und ohne Glanz.
»Nein, Pedro, sicher nicht.«
Der Junge blickte zu ihr hoch, sein rundes Gesicht war sehr ernst.
»Dann wird er bald wieder hierherkommen.«
»Ja, vielleicht.« Rafaelas Gedanken waren weit weg.
»Wird Señor Fargo wieder gesund?« fragte Pedro.
Rafaela schien aus ihren Gedanken zu schrecken. Verstört schaute sie den Jungen an, als sie dessen Gedanken erriet. Sie hatte auch schon daran gedacht, aber es war sinnlos. Niemand konnte gegen Chaca etwas ausrichten.
»Ja, er wird gesund werden.«
»Er hat fünfzehn Bandidos erschossen«, sagte der Junge begeistert, »er wird Chaca töten, wenn er hierherkommt.«
Rafaela antwortete nicht. Sie schaute wieder zu den Bergen hin, die sich drohend in den Himmel hoben. Alles Unheil schien aus diesen Bergen zu kommen.
Pedro erhob sich.
»Ich werde schon dafür sorgen, dass Chaca erfährt, dass er hier ist. Dann wird er kommen.«
»Das wirst du nicht tun!« Sie riss den Jungen hart am Arm und schrie ihn an: »Sie dürfen ihn nicht finden, verstehst du …!« Sie stockte, als sie Pedros entsetztes Gesicht sah, und strich ihm beruhigend über den Kopf. »Vielleicht wird er uns helfen, aber zuerst muss er gesund werden.«
Sie drückte den Jungen an sich und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Es war keine Traurigkeit, aber sie spürte plötzlich eine eigenartige Gelöstheit in sich, die sie schon gar nicht mehr gekannt hatte …
Limes Fargo verbrachte einige weitere Tage in diesem Bett. Seine Wunden begannen zu heilen, und zugleich wuchs seine Ungeduld. Rafaela ließ sich nur hin und wieder sehen und wich jeder Unterhaltung mit ihm aus. Fargo spürte deutlich, dass sie etwas bedrückte. Vielleicht war es die Tatsache, dass ihr Mann noch immer nicht zurückgekehrt war. Den Jungen hatte Fargo nur einmal gesehen, und das nur ganz kurz.
Als Rafaela ihm das nächste Mal zu essen brachte, hielt er ihre Hand fest.
»Weshalb weichen Sie mir eigentlich aus?« wollte er wissen.
Rafaela zog langsam, aber bestimmt ihre Hand weg.
»Ich tue alles für Sie, was nötig ist.«
»Schön«, Fargo wurde ungeduldig, »aber es wird Zeit, dass ich endlich aufstehe.«
»Es wäre besser, Sie würden noch im Bett bleiben. Wenn Ihre Wunden wieder aufbrechen …«
Fargo merkte, wie sie unter seinem Blick unsicher wurde. Irgendetwas schien es da zu geben, was diese Frau immer wieder hinauszuschieben versuchte.
Wovor hatte sie Angst?
»Ich werde mich schon vorsehen«, sagte er bestimmt.
»Das allein ist es nicht.« Rafaela ging zum Fenster und schaute hinaus.
»Ja?« sagte Fargo. »Ich höre.«
»Es ist nicht gut, wenn Sie da draußen herumlaufen«, sagte sie gegen das Fenster gewandt.
Fargos Schweigen wirkte fordernder als jede Frage. Rafaela drehte sich mit einem Ruck um.
»Sie haben zwei von Chacas Männern erschossen«, stieß sie hervor.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie haben im Fieber gesprochen. Er wird vielleicht schon die ganze Gegend nach Ihnen abgesucht haben. Das Beste, was Ihnen passieren kann, ist, dass er Sie für tot hält. Aber wenn er Sie hier findet, dann …« Sie verstummte und drehte sich schnell wieder um, damit er den Ausdruck ihres Gesichtes nicht sehen konnte.
»Wer ist Chaca?«
»Ein Satan.«
»Darunter kann ich mir nichts vorstellen«, sagte Fargo unbeeindruckt. »Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Er ist ein Halbblut, halb Apache, halb Mexikaner. Der einzige Wesenszug, den man ihm mit Bestimmtheit nachsagen kann, ist Grausamkeit. Er beherrscht mit seiner Bande das ganze nördliche Sonora. Und diese Bande besteht aus Mexikanern, Mischlingen und abtrünnigen Rothäuten aller Stämme.«
Sie hatte sich ihm wieder zugewandt. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was sie dachte. »So, jetzt wissen Sie, woran Sie sind, Señor Fargo. Wenn Sie dieses Haus wieder verlassen, dann müssen Sie vollkommen auf den Beinen sein.«
Fargo schwieg einen Moment betroffen. Er hatte nicht gewusst, dass sich diese Frau seinetwegen in eine solche Gefahr begeben hatte.
»Und Sie?« brachte er schließlich hervor. »Weshalb sind Sie dann noch hier?« Einen winzigen Moment lang schien sie zu zögern, doch dann sagte sie: »Bisher hat er uns in Ruhe gelassen. Es gibt bei uns nicht viel zu holen.«
Danach ging sie hinaus, und es schien Fargo, als wollte sie damit weiteren Fragen aus dem Wege gehen. Er wartete, bis ihre Schritte jenseits der Tür verklungen waren, und schlug dann die Decke zur Seite. Der Verband an seinem Oberschenkel saß gut und fest. Aber die verletzten Muskeln schmerzten, als er sie beanspruchte. Trotzdem setzte er sich auf den Rand des Bettes und erhob sich vorsichtig.
Als er sich anzog, merkte er, wie wenig er sich bewegen konnte, ohne neue Schmerzen herauszufordern. Schließlich hatte er es geschafft und wischte sich mit dem Ärmel den perlenden Schweiß von der Stirn.
Sogar sein Revolver war da. Er schlang den Gurt um die Hüfte und zog die große Schnalle fest. Dann trat er durch die Tür und durchquerte das Zimmer, das als Wohnraum diente. Dort gewahrte er einen kleinen Alkoven, in dem wohl die Frau und der Junge während der letzten Nächte geschlafen hatten. Der Raum war sehr einfach, barg aber eine gewisse häusliche Behaglichkeit in sich, die ihm besonders auffiel. Er hatte sich in den letzten Jahren selten in Häusern aufgehalten, in denen Frauen lebten, die bemüht waren, ihren Männern ein Heim zu gestalten. Die Frauen, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte, waren nicht von dieser Sorte.
Fargo blieb stehen, hielt sich an der Tür fest und blinzelte in die grelle Sonne. Der Wind trieb kleine Staubteufel über das ebene Land vor den Bergen. Die trockenen Blätter der Cottonwoods bewegten sich und erzeugten jenes feine Rascheln, das für diese Bäume charakteristisch ist. Ein paar staubige Hühner liefen herum. Vom Korral her blökte ein Schaf. Von Rafaela Summers und dem Jungen war nichts zu sehen. Fargo trat durch die Tür und humpelte zum Brunnen. Umständlich zog er den Eimer herauf, schöpfte mit der hohlen Hand Wasser und warf es sich ins Gesicht.
Die kleine Mauer des Brunnens war an einer Stelle bereits eingefallen und nicht mehr ausgebessert. Das musste schon seit geraumer Zeit so sein, denn es war Sand hineingerieselt, der das Wasserloch bereits verflacht hatte. Es hätte längst neu ausgeschachtet werden müssen. Fargo begriff nicht, weshalb ein Mann, der hier lebte, das nicht tat.
Aufmerksam schaute er sich um. Das Haus war solide und stabil gebaut, aber auch dort zeigten sich bereits Spuren beginnender Verwahrlosung. Hier und da waren Steine aus der Mauer herausgebrochen und nicht wieder erneuert worden. Die Ramada neigte sich auf einer Seite etwas herab, weil einer der Stützpfeiler nachgegeben hatte. Das alles waren Dinge, die ein Mann, der ein solches Haus gebaut hatte, unbedingt beseitigen würde.
Er erreichte gerade das Haus, als Rafaela mit einem kleinen Eimer voll Milch aus dem Stall kam. Sie stellte ihn auf die Bank unter dem Fenster und strich sieh eine Strähne ihres lockeren schwarzen Haares aus dem Gesicht. Sie blickte den großen, hageren Amerikaner an. Er bewegte sich schon recht gut, nur das leichte Zucken in seinem kantigen Gesicht zeugte von seinen Schmerzen.
Fargo versuchte zu lächeln und deutete auf Pedro, der fast unausgesetzt auf seinen Revolver starrte.
»Er will unbedingt einen Pistolero in mir sehen.«
»Ich möchte nur wissen, ob er es mit Chaca aufnehmen kann«, verteidigte sich der Junge in seiner kindlichen Naivität.
»Sei still, Pedro!« sagte Rafaela streng.
Fargo beobachtete ihr Gesicht. Die Worte des Jungen schienen ihr peinlich zu sein, aber Fargo sah keinen Grund dafür. Er beobachtete ihre schlanke Gestalt, während sie mit den Töpfen hantierte. Ihre Bewegungen waren von einer gewissen Leichtigkeit, von angeborener Grazie, die man nicht erlernen konnte. Unter ihrer Schürze bauschte sich etwas Hartes, das Fargos geübter Blick als Revolver identifizierte.
»Sie sollten sich möglichst wenig da draußen sehen lassen«, sagte Rafaela. »Die Bandidos könnten das Haus beobachten.«
Fargo ließ sich am Tisch nieder.
»Das werden sie nur aus größerer Entfernung, und da könnten sie mich für Ihren Mann halten.«
Einen Moment starrte Rafaela ihn an. Dann ertrug sie seinen forschenden Blick nicht länger und wandte sich rasch dem Herd zu, wo sie das Essen bereitete. Pedro blickte zwischen ihnen hin und her. Er hat die gleichen großen Augen wie seine Mutter, dachte Fargo. Und es waren schöne Augen.
»Haben Sie ein Pferd?«
Rafaela wandte sich nicht um.
»Wir brauchen dieses Pferd. Außerdem können Sie jetzt noch nicht reiten.«
Fargo legte die Hände auf den Tisch.
»Hören Sie, Ma'am, ich möchte Sie nicht in etwas hineinziehen, was ausschließlich meine Sache ist.«
Rafaela hielt in ihrer Tätigkeit inne. Mit erhobenem Kopf stand sie am Herd, drehte sich aber nicht um.
»Wir brauchen dieses Pferd.«
»Ich werde es Ihnen bezahlen.«
»Und wenn ich es Ihnen dennoch nicht freiwillig gebe?«
Fargo erhob sich. Er wusste, was sie jetzt zu hören erwartete.
»Ich habe noch nie ein Pferd gestohlen«, sagte er.
»Wer könnte Sie daran hindern, es diesmal zu tun?«
Fargo wurde aus ihr nicht ganz klug. Sie hielt ihn offenbar für einen üblen Burschen, und doch wollte sie, dass er blieb.
»Vielleicht Sie mit Ihrem Revolver«, sagte er. Als er sich ihr näherte, fuhr sie plötzlich herum. Die Waffe in ihrer Hand zeigte direkt auf seine Brust. Es war ein uraltes Colt-Navy-Modell mit verkürztem Lauf.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«
»Den haben Sie wohl von Ihrem Großvater?« fragte Fargo unbeeindruckt. Aber er sah ihren Augen an, dass sie die Fassung verloren hatte. Wenn er jetzt einen Fehler machte, dann würde sie abdrücken.
Eine Weile blieb er ruhig stehen und sagte gar nichts. Er wartete, bis sie sich etwas beruhigte und über ihr Handeln nachdachte.
Schließlich fragte er: »Wovor haben Sie Angst? Vor den Banditen, vor mir oder vor dem Alleinsein?«
Sie ließ die Hand mit dem Revolver sinken und schwieg. Fargo trat noch näher an sie heran, nahm ihr die Waffe aus der Hand und legte sie auf den Rand des Herdes. Schluchzend fiel ihr Kopf gegen seine Schulter. So standen sie eine Weile. Dann wischte sie sich die Tränen von den Wangen und wandte sich wortlos wieder dem Herd zu.
Fargo nahm seinen Platz am Tisch wieder ein. Er stellte keine Fragen, und Rafaela gab ihm keine Erklärungen. Es war besser, wenn er diesen Zwischenfall überging. Er hatte kein Recht, weiter in sie zu dringen.
Am Abend saß er auf der hölzernen Bank unter der Ramada und rauchte. Die Luft war lau und windstill. Sogar das Rascheln der Cottonwoods war verstummt.
Rafaela hatte noch im Haus zu tun gehabt. Jetzt stand sie in der Tür und schaute auf die Gestalt des fremden Mannes, der eigentlich kein Fremder mehr war, obwohl sie so gut wie nichts von ihm wusste. Aber sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann dort, dessen Gestalt fast mit der ungewissen Dämmerung dieses Abends verschmolz, alles über sie wusste. Der wissende Blick seiner grauen Augen, mit dem er sie zuweilen angesehen hatte, gab ihr jedes Mal das Gefühl, als könne er bis in ihr Innerstes schauen und ihre geheimsten Gedanken erraten.
Der Junge schlief bereits, und draußen war es sehr still. Es war einer jener Abende, die eine besondere Stimmung in sich bergen, und an die man sich noch nach langer Zeit erinnert, ohne recht zu wissen warum.
Rafaela ging mit leisen Schritten hinaus. Dennoch musste er sie gehört haben. Sie bemerkte, wie sich seine Gestalt für einen kurzen Moment kaum merklich spannte, aber er wandte nicht den Kopf. Auch dann nicht, als sie sich neben ihn auf die Bank setzte.
»Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, sagte sie.
Auch jetzt bewegte Fargo sich nicht. Es schien, als gäbe es nichts, was diesen Mann überraschen konnte.
»Ich habe mir so etwas gedacht«, sagte er nur. »Kein anständiger Mann lässt seine Frau und seinen Sohn in einem solchen Land allein.«
Rafaela lehnte sich sacht mit dem Rücken gegen die Wand. »Pedro wird Ihnen erzählt haben, dass Chaca manchmal hierherkommt.«
Fargo wandte ihr jetzt sein Gesicht zu.
»Sie brauchen mir das nicht zu erzählen. Jeder lebt so, wie er es für richtig hält.« Er hatte kein Interesse an ihrer Geschichte, denn er wusste, welche Macht Gefühle haben konnten. Und er wollte seine Gefühle nicht mit ihrem Schicksal in Verbindung bringen. Er wollte weiterreiten und alles, was hier geschehen war, wieder vergessen.
»Ich möchte aber davon sprechen«, sagte Rafaela schlicht. »Sie können das natürlich nicht verstehen. Sie sind viel unterwegs und treffen fremde Leute. In Ihrem Leben gibt es keine Langeweile.« Ihre Stimme wurde erregter, und sie stand auf. »Aber ich hänge hier fest. Niemand kommt vorbei, der mit mir reden möchte. Ich kann nichts weiter tun als warten, bis Chaca vielleicht doch noch über uns herfällt. Ich will Ihnen sagen, warum er uns bisher verschont hat. Er hofft, dass ich eines Tages freiwillig seine Geliebte werde. Bis jetzt habe ich ihn hinhalten können. Aber wie lange noch …?«
Rafaela drehte sich um und ging weg. Fargo zog an seiner Zigarette und blickte ihr nach. Undeutlich sah er ihre schlanke Gestalt in der weißen Bluse neben dem Brunnen unter den Cottonwoods stehen.
Verdammt, was ging es ihn an? Aber schließlich hatte sie ihm geholfen. Vielleicht wäre er jetzt tot, wenn sie nicht gewesen wäre. Diese Frau begann ihn zu verwirren.
Langsam erhob er sich und folgte ihr zu den Cottonwoods. Nach der Ruhe schmerzten seine Wunden bei den plötzlichen Bewegungen wieder. Dicht hinter ihr blieb er stehen. Er roch den Duft ihres Haares und sagte eine Weile nichts. Dann trat er an den Brunnen und setzte sich auf die niedrige Mauer »Sie hätten längst von hier weggehen können.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, aber der dunkle Teint ihrer Haut machte es kaum erkennbar.
»Glauben Sie, Chaca würde mich jemals von hier weggehen lassen? Ich könnte mich davonschleichen, wenn ich wollte. Aber er würde es bemerken und mich wieder zurückholen.«
»Haben Sie es schon versucht?«
Sie lachte kurz und freudlos.
»Allein mit einem kleinen Jungen?« Rafaela lehnte sich gegen den rauen Stamm und legte den Kopf nach hinten. »Anfangs hat Chaca mir sehr geholfen, als es mir schlecht ging. Aber er hat es nicht umsonst getan, er wollte mich haben. Und Chaca nimmt sich, was er haben will. Er ist wie ein Tier, unbeherrscht und roh, und wenn man ihn reizt, verliert er jede Kontrolle über sich. Von Zeit zu Zeit kommt er zu mir. Ich habe ihn noch niemals kommen hören. Irgendwann sitzt er abends in der Hütte. Er ist einfach da und wartet, bis ich ausgezogen bin. Er sagt kein Wort dabei und starrt mich nur an mit glitzernden, unheimlichen Augen. Und ich wage kaum zu atmen, wenn er mich so ansieht. Das erste Mal habe ich mich gewehrt, aber es hat keinen Sinn, sich gegen Chaca zu wehren. Ich hasse ihn, und doch fasziniert er mich. Chaca liebt mich, wenn in seinem Wesen überhaupt ein solches Gefühl Platz hat, aber er tut es auf seine Weise, so, wie ein streunender Wolf seine Gefährtin liebt.«
Sie löste sich vom Stamm des Baumes und blieb einen Moment vor ihm stehen.
»Jetzt wissen Sie, wie ich hier überlebe. Buenas noches, Señor Fargo.«
Limes Fargo sagte kein Wort. Er starrte ihrer biegsamen Gestalt nach, die sich mit geschmeidigen Bewegungen entfernte, bis der helle Klecks ihrer Bluse sich schließlich in der Dunkelheit unter der Ramada auflöste.
Es gab einen Punkt, in dem er Chaca verstehen konnte. Aber er spürte plötzlich einen brennenden Hass gegen dieses Halbblut in sich wachsen. Vielleicht hatte Rafaela diesen Hass in ihm nur anfachen wollen, um ihn hierzubehalten, bis Chaca wieder auftauchte.
Jedenfalls wusste Limes Fargo plötzlich, was er tun würde, wenn Chaca wiederkam …
Die Tage reihten sich aneinander, und Fargos Wunden verheilten allmählich. Aber immer noch hemmten Schmerzen seine Bewegungen. Weder Rafaela noch er hatten wieder etwas von der Unterredung an jenem Abend erwähnt. Die Frau machte ihm das Leben hier so angenehm wie möglich, und er spürte, dass es langsam an der Zeit war, weiterzureiten.
Fargo holte sein Gewehr – das war alles, was er hatte – und war schon abmarschbereit. So schnell ging das. Rafaela betrat gerade das Haus und sah das Gewehr in seiner Hand. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, zeigte deutlich, dass sie genau wusste, was er vorhatte.
»Könnten Sie mir das Pferd wenigstens leihen?« fragte Fargo. »Ich besorge mir irgendwo ein anderes und bringe es dann zurück.«
Rafaela betrachtete ihn schweigend mit einem langen, abschätzenden Blick.
»Sie möchten, dass ich bleibe, bis Chaca kommt, und ihn töte«, sagte Fargo. »Eigentlich bin ich Ihnen das wohl schuldig.«
Langsam schüttelte die Frau den Kopf. Eine seltsame Melancholie lag in ihren sanften, dunklen Augen.
»Ich möchte nicht, dass Sie Chaca töten. Wenn es Ihnen wirklich gelänge, würden die anderen aus seiner Bande über uns herfallen. Wir haben nur eine Chance, der Junge und ich: Wir müssen versuchen, die Gegend zu verlassen.«
Fargo sagte nichts. Er selbst könnte es wohl schaffen, er musste es, weil ihm keine andere Wahl blieb. Aber mit der Frau und dem Jungen war es ein verdammt riskantes, wenn nicht gar aussichtsloses Unternehmen.
Rafaela verschwand für einen Moment und kam mit einem kleinen Kästchen wieder. Sie stellte es auf den Tisch und öffnete den Deckel. Fargo sah Goldmünzen schimmern. Rafaela drehte das Kästchen um und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es waren ungefähr zwei Hände voll Golddollars und mexikanischer Münzen.
»Es stammt noch aus dem Nachlass meines Mannes«, sagte sie.
»Wir haben es niemals angerührt, sondern für einen Notfall aufgehoben.« Sie schaute Fargo ins Gesicht. »Würden Sie uns dafür über die Grenze bringen?«
»Sie haben plötzlich ein großes Vertrauen zu mir.«
Rafaela zuckte mit den schmalen Schultern.
»Was bleibt mir sonst wohl übrig?«
»Haben Sie Verwandte dort irgendwo?« fragte er.
»Nein.«
Fargo trat an die Tür und schaute hinaus. Pedro lief hinter den gackernden Hühnern her.

Luke Sinclair
1940 wurde ich in Halle/Saale geboren und wuchs in derselben Stadt auf.1961 wechselte ich in die Bundesrepublik über. Einige Jahre später absolvierte ich bei der Studiengemeinschaft Kamprath in Darmstadt ein zweijähriges Fernstudium >Technik der Erzählkunst<. Danach schrieb ich meine ersten Western für Zauberkreis Verlag und BEWIN Verlag (letzterer für Leihbüchereien) und war dann über nahezu drei Jahrzehnte nebenberuflich als Romanautor für Kelter- und Bastei Verlag tätig.
Da ich mich nun seit einiger Zeit im Ruhestand befinde, habe ich mich größeren Projekten zugewandt. Mein erster gebundener Roman erschien 2008 unter dem Titel: „Roter Bruder Abel“ im WJK Verlag, Hilden. Ein historischer Roman, der sich mit der Eroberung und Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents befasst.
Ein weiterer Roman mit dem Titel: „Wer weiß schon, wann die Stunde schlägt“ erschien 2010.