
Nur noch ein Schritt zum Glück
von
Brigitta Heinrich
Seiten: (ca.) 274
Erscheinungsform: Neuausgabe
Erscheinungsdatum: 19.2.2014
ISBN: eBook 9783956070303
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Wer fortgeht, um zu vergessen, wird nie ankommen! Das muss auch Nico erfahren, als sie sich allein auf den Jakobsweg macht, im Gepäck die Hoffnung, die schmerzvolle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Reise ist alles andere als einfach, denn sie führt Nico zu sich selbst – einer Begegnung, die sie mehr als alles andere fürchtet.
Nico schaute während der gesamten Fahrt aus dem Fenster und sah nur Berge. Sie wusste genau, dass sie den Weg in Pamplona hatte beginnen wollen, weil es dort keine Berge mehr gab. Zumindest hatte sie das gelesen. Konnte man unter dem Wort »Berg« unterschiedliche Dinge verstehen? Möglich wäre es. Sie hatte sowieso seit Wochen das Gefühl, überhaupt nichts zu verstehen. Hier, in diesem Land, stimmte wenigstens das.
Wie soll man das Leben verstehen, wenn man vor ihm davon rennt? Dass keine Lebensgeschichte ohne Kummer und Sorgen bleibt, ist eine Wahrheit, mit der die achtunddreißigjährige Nico auf brutale Art und Weise konfrontiert wird. Völlig überstürzt setzt sie sich in den nächsten Flieger nach Spanien und will nur noch eines: weg!
Doch die erhoffte Ruhe und Einsamkeit bleiben aus, denn der Pilgerweg ist alles andere als ein ‘Pfad der Stille’ – ungewöhnliche Menschen (und Tiere!), wahrhaftige Geschichten und anhängliche Gefährten kreuzen ihren Weg, und Nico erkennt, dass das Leben sie längst verstanden hat …
»Nur noch ein Schritt zum Glück« ist ein Roman über die Last der Vergangenheit und die Kraft der Gegenwart.
Details
- Titel
- Nur noch ein Schritt zum Glück
- Autor
- Brigitta Heinrich
- Seiten
- 274
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Preis (eBook)
- 4,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783956070303
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Nur noch ein Schritt zum Glück
Um sechs Uhr hielt sie es nicht mehr aus und ging mit schlechtem Gewissen duschen. Sie hatte ihre Neigung noch nicht aufgegeben, gegenüber anderen Schlafenden rücksichtsvoll zu sein. Im Bad roch es muffig, deshalb beeilte sie sich, wusch sich aber trotzdem ausgiebig die Haare. Vielleicht würde sie so schnell nicht wieder die Gelegenheit dazu haben. Weil sie sich immer noch nicht an ihre Kurzhaarfrisur gewöhnt hatte, nahm sie viel zu viel Shampoo. Nach der Katastrophe hatte sie es nicht ertragen können, genauso wie vorher auszusehen. Eines Morgens hatte sie eine Nagelschere genommen und die Haare millimeterkurz abgeschnitten. Mittlerweile waren sie zwar schon wieder etwas nachgewachsen, standen aber immer noch aufrecht nach allen Seiten hin ab, was ihr das Aussehen eines kleinen Jungen verlieh.
Leise schlich Nico ins Zimmer zurück und packte ihren Rucksack. Da es immer noch sehr früh war, setzte sie sich vor die Balkontür und betrachtete die Blumen. Dabei schlief sie ein. Um neun Uhr wachte sie mit schrecklich schmerzendem Genick wieder auf. Dann endlich zog sie los.
Auf der Straße begegnete sie der Frau aus dem Hotel, die sie heftig umarmte und ihr einen »buen camino« wünschte. Sie hatte mittlerweile eine vage Vorstellung, was es heißen könnte. Dann zeigte sie Nico, dass sie in die falsche Richtung laufen wollte. Ich wäre wahrscheinlich in den Pyrenäen gelandet.
Unterwegs versuchte Nico einen geöffneten Lebensmittelladen zu finden. Vergeblich, es war noch zu früh. Vielleicht im nächsten Ort, dachte sie. Der Weg war gut sichtbar mit gelben Pfeilen und der Jakobsmuschel ausgeschildert. Viele Leute grüßten Nico. Sie fand das sehr merkwürdig, aber irgendwie auch beruhigend, weil sie sich dadurch nicht mehr so alleine fühlte.
Als sie Pamplona hinter sich gelassen hatte, wies der Pfeil auf eine Landstraße. Nico fand die Vorstellung, dort entlanggehen zu müssen, furchtbar. Autos jagten ihr Angst ein. Erst nachdem sie eine Weile gewandert war, bemerkte sie den Mohn und die gelben Blumen, die überall am Wegesrand wuchsen. Als sie stehen blieb, um den Mohn zu betrachten, fuhr ein Auto ganz dicht an ihr vorbei. Sie sprang vor Schreck vorwärts und stolperte, weil sie den Rucksack nicht gewohnt war. Ihr Herz hörte erst auf zu rasen, als sie mitten im Mohn am Boden lag. Eine Weile verhielt sie sich ganz still und betrachtete die ausgetrocknete Erde. Dann bekämpfte sie den Impuls, einfach nur liegen zu bleiben, und versuchte aufzustehen. Ohne Erfolg. Immer wieder rollte sie in ihre Ausgangslage zurück und fühlte sich dabei wie Kafkas Käfer. Sie musste lachen. Dabei fiel ihr auf, dass sie schon vergessen hatte, wie ihr Lachen klang.
»Zuerst auf die Knie«, ertönte eine energische Stimme über ihr.
Verblüfft gehorchte sie. Als sie kniete, kam eine Hand von oben und zog sie hoch, und Nico fand sich neben einem etwa fünfzigjährigen Riesen in Lederhosen und dicken Wollstrümpfen wieder. In der linken Hand trug er einen kräftigen Ast, der aussah, als hätte er ihn seit Monaten begleitet. Der Wanderer war unrasiert, sah aber leider nicht so aus, wie attraktive Männer mit einem Drei-Tage-Bart aussahen. Beim Friseur war er auch schon lange nicht mehr gewesen und auf dem Kopf trug er einen Filzhut mit einer Vogelfeder. Nico wusste, dass sie unhöflich war, aber sie fand ihn rundum unsympathisch. Trotzdem musste sie jetzt etwas sagen.
»Vielen Dank«, stotterte sie und war überzeugt, dass man ihr die negativen Gefühle am Gesicht ablesen konnte.
»Hier hilft man sich gegenseitig«, sagte der Riese streng. Jetzt wusste Nico, an wen er sie erinnerte: an Rübezahl. Leider fiel ihr nicht mehr ein, ob Rübezahl gut oder böse gewesen war. »Der Rucksack ist zu groß für dich«, fuhr er fort. »Und wahrscheinlich bist du eine von denen, die sich ohne Training auf den Weg machen.« Nico wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgerte, über das Duzen oder über seine unerbetenen Hinweise. Sie fühlte sich abgekanzelt wie ein kleines Mädchen. Rübezahl war böse, beschloss sie.
»Das geht Sie nichts an«, antwortete Nico.
»Hoho, hier duzt man sich. Merk dir das!« Dann lüftete er seinen Hut zum Gruß und marschierte los.

Brigitta Heinrich
Brigitta Heinrich, geboren 1955, studierte Germanistik und Geschichte, arbeitete u. a. als Antiquarin und Schlussredakteurin. Sie lebt in Frankfurt am Main und Berlin.(c) Autorenfoto: privat