
Kinderland
von
Richard Lorenz
Erscheinungsform: Originalausgabe
Erscheinungsdatum: 10.1.2014
eBook-Preis: US$ 2,99 EUR
ISBN: eBook 9783956070075
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Die Zeit kennt kein Erbarmen – so wie die Geister der Vergangenheit, die noch immer die Träume der Menschen heimsuchen. Das Jahrhundertunwetter vor dreizehn Jahren hat die Einwohner der Stadt wie eine Sintflut bestraft, doch der Weg zur Erlösung ist noch weit. Und nur die guten Seelen sind bereit, ihn zu gehen.
Die Morphin-Tabletten lassen nach, aber ich darf heute keine mehr nehmen. Das wäre leichtsinnig. Ach, was soll’s … was soll’s. Eigentlich sollte ich schon längst im Bett sein, aber wer weiß, ob ich mich morgen noch an alle Einzelheiten erinnern kann. Geschichten wollen erzählt werden, vor allem Geschichten, die wahr sind. Rücken Sie ruhig noch ein wenig näher, ich beiße ja nicht. Ich nicht …
Die Kinder von 1986 sind erwachsen geworden, doch die Schrecken jener Allerheiligennacht sind unvergessen. Knapp dreizehn Jahre später braut sich über der kleinen Stadt in Bayern erneut ein Sturm zusammen, ein Geistergewitter aus Erinnerungen und Entsetzen. Die Kinder von damals wissen nicht, was geschehen wird, doch sie ahnen, dass ihre Zeit nun gekommen ist. Mit tapferen Herzen machen sie sich auf den Weg ins Kinderland. Dorthin, wo die Lebenden die Antworten begraben haben, nach denen die Toten so unerbittlich verlangen.
»Sommerwolken« ist der dritte Teil der Mystery Serial Novel Kinderland – sie kommen!
Details
- Titel
- Kinderland
- Untertitel
- Dritter Teil: Sommerwolken
- Autor
- Richard Lorenz
- Erscheinungsform
- Originalausgabe ISBN (eBook): 9783956070075
- Dateigröße
- 702 KB
- Preis (Ebook)
- US$ 2,99
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Sommerwolken
Ich hörte sie singen, dort draußen. In jenem Herbst des Jahrhundertunwetters 1986. Stimmen und Schreie und eine Menge toter Menschen.
Ich ging zu einigen Beerdigungen. Der lehmige Boden eingesunken, die Särge aufgereiht. Ich meide Begräbnisse. Nicht so wie die alten Weiber, die sich keines entgehen lassen. Sie wissen schon, jene Art von alten Damen, die man schon von weitem riechen kann. Sie riechen nach Mottenkugeln und einem Hauch von Weihrauch. Nach Verfall und kranker Vorfreude auf das Paradies. Einem Paradies, das es nicht gibt. Nicht hier, und schon gar nicht dort. Das haben mir die Geister verraten.
Während der Priester eine seiner Reden hielt (wie gewohnt ein wenig angetrunken), ging ich ein Stück weg von der offenen Grube und sah mich um. Ich holte meine Kamera aus der Manteltasche, Gott weiß, warum ich sie eingesteckt hatte. Zum Glück hat es niemand bemerkt, denn dann würde ich heute nicht vor meinem Haus sitzen, sondern in der geschlossenen Abteilung. Und ich glaube nicht, dass Sie sich dann meine Geschichte anhören würden, oder?
Ich ging hinter die letzten Reihen der Grabsteine (die blutroten Buchstaben darauf begannen zu verblassen) und blickte durch den Sucher der Kamera. Sie saßen auf dem Dach der Leichenhalle wie stumme Krähen auf einer Telefonleitung. Einige sprangen von Grabstein zu Grabstein, oder vielmehr schwebten sie, als würden sie an unsichtbaren Fäden gezogen. Leichenblasse Mondkinder, unzählige.
Damals dachte ich mir, dass das wohl der Preis dafür war. Dafür, dass wir die Kinder dort oben vergessen hatten. 1973. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es nur wegen des Grabhügels so gekommen ist. Vielmehr denke ich, dass die Kinder im Murr-Haus nur der berühmte letzte Tropfen waren, die das Fass zum Überlaufen brachten. Natürlich spreche ich von der Sache mit dem Kinderland.
Ein Sprichwort sagt: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Und so war es dann auch.
Nicht mehr lange, und ich werde bei meiner Frau sein. Im Himmel oder sonst wo. Die Morphin-Tabletten lassen nach, aber ich darf heute keine mehr nehmen. Das wäre leichtsinnig. Ach, was soll’s … was soll’s. Eigentlich sollte ich schon längst im Bett sein, aber wer weiß, ob ich mich morgen noch an alle Einzelheiten erinnern kann. Geschichten wollen erzählt werden, vor allem Geschichten, die wahr sind. Rücken Sie ruhig noch ein wenig näher, ich beiße ja nicht. Ich nicht …
Das Allerheiligenmädchen lag im Koma, und die Welt drehte sich weiter. 1986. Der Winter kam über die Stadt und schließlich ein neues Jahr. Die Leute waren auf der Hut, wussten aber nicht mehr, wovor, vor wem. Drehten sich auf der Straße um, weil sie glaubten, Schritte zu hören. Schliefen schlecht, träumten nicht mehr von schönen Dingen, hofften, überhaupt nicht mehr zu träumen.
Ob danach noch Kinder verschwanden? Ich weiß es nicht. Der Pulsschlag der Stadt hatte sich verändert. Es war den Leuten eine Lehre gewesen, um es so zu sagen. Wer wollte schon zum nächsten Allerheiligen in der Leichenhalle hängen? Oder liegen? Auch wenn wir die Gespenster nicht sehen konnten, konnten wir sie doch spüren. Sie waren da. In der Einsamkeit unserer Träume, in den Herzen voller Schuld.
Noch eine kleine Wahrheit auf den Weg: Der Mensch vergisst. Oder besser: Der Mensch verdrängt die Dinge, die ihm nicht gefallen. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, je mehr Zeit verstrichen war. Damals … Wir brauchten nicht viel, und das Geld, das meine Frau verdiente, reichte für uns beide. Wir haben keine Kinder, wissen Sie? Ach, das hab ich schon erzählt? Richtig … Nun, ich übernahm den Haushalt und das Kochen. Sie können mich mitten in der Nacht aufwecken und ich zaubere ihnen einen Kartoffelauflauf – meine Frau liebte Kartoffelauflauf … Jedenfalls vergaßen die Leute die Allerheiligennacht und das, was passiert war, oder sie verdrängten es, so genau kann ich das natürlich nicht sagen. Das Jahrhundertunwetter und die Leichen, die seltsamen Geschehnisse in jenem Herbst. Aber wir alle wussten: Das Feuer war entzündet. Denn das Allerheiligenmädchen war nicht alleine gewesen bei ihrem mutigen Versuch, die Stadt, die Kinder zu retten. Sie sind alle noch hier, und sie waren natürlich auch 1999 hier. Karlas Freunde aus jener Nacht.
Erinnern Sie sich an das, was ich über die Zyklen gesagt habe? Alles wiederholt sich, alles kommt wieder. Es ist unsere Aufgabe, diese Dinge zu beeinflussen. Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die Kinder von 1986 sind erwachsen geworden. Viele von ihnen zogen weg von hier. Ich hätte dasselbe getan.
Was halten Sie von dem Gedanken, dass Menschen andere Menschen so stark beeinflussen können, dass sie sich verändern? Ich glaube daran. Wenn Sie ein Mädchen vor dem Ertrinken retten, dann verändern sich zwei Leben. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Ich glaube, das funktioniert auch mit Träumen. Jedenfalls, wenn die Träume stark und hell genug sind.
Wir werden gleich Thomas, Leonard und Magdalena begegnen. Von Karlas Bruder werden wir auch hören. Geschwisterherzen können außerordentlich stark sein. Stärker als Löwenherzen.
Wir kommen dem Wunder näher. Haben Sie noch ein wenig Geduld. Das Jahr 1999 war eine Zeit, in der man vor allem eines haben musste: Geduld.
Denn zur Erlösung ist es ein weiter Weg.
Die verlorenen Erwachsenen
Sommer 1999
Tom
Thomas Dobler, den früher alle Tom genannt hatten (heute tun das nur noch wenige, manchmal seine Frau), hatte mehrmals versucht, der dunklen Stadt und ihren noch dunkleren Träumen zu entkommen. Den alten VW-Bus mit den Rostflecken an beiden Türseiten vollgestopft mit allem, was er finden konnte, auf schmalen Straßen unterwegs, weg von dort. Aber schon im ersten Motel, ein flackerndes Werbeschild mit gebrochenen Neonröhren über dem Fenster, hatte ihn dieses Gefühl von Übelkeit eingeholt. Tom kannte es nur zu gut. Selbst auf kleinen Booten und ruhigem Wasser musste er sich nach nur wenigen Minuten übergeben. Kalkweißes, verschwitztes Gesicht, das ihn aus dem fleckigen Spiegel über dem dreckigen Waschbecken anstarrte. Noch ein paar Stunden Fahrt, und er hätte ein neues Leben erreicht. Ein Leben fernab der alten Geschichten und der alten Träume; ein neues Leben hinter den Augen, die so viel gesehen hatten. Zu viel.
Jeden Tag dachte er daran. Es hätte alles anders kommen können, wären sie zusammen auf den Grabhügel gegangen, hätten das Murr-Haus erreicht. Aber ohne Karla hatten sie keine Chance. Sie war der Magnet, der alles Unheil angezogen und somit von ihnen ferngehalten hätte. Weiß Gott, wie sie zurückgekommen waren, das Gewitter über ihren Köpfen niederbrechend. Aber sie hatten es geschafft, trotz der grellen Kinderstimmen in den Häusern, trotz der Augen, die sie anstarrten aus der Dunkelheit, trotz der schmatzenden Geräusche aus den finsteren Winkeln der Gassen. Sie waren zurückgekehrt in die Fabrikhalle, in der es immer noch nach Tabak roch. Dort hatten sie sich versteckt, bis alles vorüber war, inmitten der anderen Kinder, beschützt und doch allein. Regen, Hagelkörner und Gespensterknochen an den großen Fenstern klopfend, um Einlass flehend. Die Erinnerung daran war verschwommen, aber immer noch klar genug. Wie oft hatte er sich gewünscht, alles zu vergessen. Jeden Tag.
1986 waren viele ums Leben gekommen, die Leichenhalle auf dem Friedhof war überfüllt gewesen. Über eine Woche lang Begräbnisse, die Totenglocken läuteten jede volle Stunde, sonst Stille. Keiner sprach über die Toten, nur der Pfarrer fand die üblichen Worte des Abschieds, der Rest schwieg, wollte es hinter sich bringen, alles vergessen. Mit dem ersten Schnee verlor die Stille die Bedrohlichkeit und brachte den Menschen die ersehnte Ruhe, eine Ruhe, die in Wahrheit keine war. Aber sie half, das Leben wieder aufzunehmen und die Geister für eine Weile zu besänftigen.
Erst Anfang Februar war die Polizei in die Stadt gekommen, vier Dorfpolizisten, die vor einem Rätsel standen, einem Rätsel ohne Antwort. Massenselbstmord, hieß es schließlich, ausgelöst durch eine Massenhysterie aufgrund des schlimmen Unwetters. Ein, zwei Zeitungsmeldungen, mehr nicht. Man sprach nur noch leise darüber, in kalten Stuben und zugigen Gassen.
Natürlich hatte Tom davon erfahren, was Karla zugestoßen war. Viele Tage, an denen er vor dem Krankenhaus, später vor ihrem Elternhaus stand und hineingehen wollte. Aber er tat es nie. Damals hatte er von ihr geträumt, Träume wie ein Nachbeben, das man dumpf vibrierend in den Knochen spürt. Undeutliche, zerrissene Episoden, die er nicht verstehen und in Zusammenhang bringen konnte. Geschichten von weit weg, aus einem anderen Land, aus einem anderen Leben. Die Träume waren weniger, leiser geworden, als sein Körper und Geist erwachsen wurden. Heute war Tom siebenundzwanzig Jahre alt und träumte nicht mehr von ihr (jedenfalls konnte er sich an keinen Traum erinnern), von Karla, dem Allerheiligenmädchen, ihrem Mädchen, ihrer Königin. Manchmal hörte er, dass es ihr wieder schlechter ginge und dass sie wieder einmal im Krankenhaus sei, darin gefangen die Angst, dass Karla sterben würde. Dinge, die man auf der Straße zu hören vermochte, wenn man stehen blieb und die Worte einfing. Kein Mensch glaubte mehr daran, dass sie jemals wieder aufwachen würde. Nicht nach so langer Zeit.
Vor einigen Monaten hatte sich Tom einige Bücher ausgeliehen – Fachbücher über das apallische Syndrom, einige Angehörigenberichte und eines über Wunderheilungen (mit einer Gebetstafel auf der Rückseite). Er war im Wohnzimmer gesessen, die aufgeschlagenen Bücher auf dem Fußboden und auf seinem Schoß, und hatte geweint. So sehr, dass seine Frau von oben aus dem Schlafzimmer gerannt kam.
Karla hatte ihr Leben für das ihres Bruders gegeben, das ahnte er, spürte er. Sie war nicht gestorben, aber ihr Herz war ein anderes geworden. Versteckt, begraben und nur leise schlagend. Tom konnte sich nicht an den Namen ihres Bruders erinnern, aber manches Mal sah er ihn durch die Straßen auf seinem zu großen Fahrrad fahren, als würde er sie suchen. Von seinem Büro aus konnte Tom auf die Straßen blicken, dem langen Asphaltstreifen folgend, der sich an der Kirche teilte und zum Grünen See führte. Eine schmal werdende Asphaltzunge, wildes Gras an den Rändern, das niemand schnitt. Frostmulden, die niemand ausbesserte. Eine verlorene Straße nahe des Kinderlandes.
Schon lange hatte er den Namen nicht mehr gehört: Kinderland. Wenn er ihn leise aussprach, klang er merkwürdig fremd. Niemand betrat mehr das Kinderland, ein verwunschener Platz, ein geheimnisvoller Ort mit Fledermausflattern und Werwolfspuren. Die Bäume kahl an den obersten Stellen, die Vögel stumm auf den Zweigen, als lauschten sie dem Flüstern der ruhelosen Seelen.
Das Leben nach dem Unwetter hatte sich verändert. Die weiten Straßen schmaler, die hellen Wege dunkler. Die Bäume höher und die Gespenster darin verwegener. Die Ratten tot oder auf der Flucht in eine andere Stadt. Als Tom am Allerheiligenmorgen nach Hause gekommen war und er seine Eltern in der Küche sitzen sah, der Linoleumboden nass und aufgequollen, hatte er ihre Angst gespürt. Zum ersten Mal in seinem Leben ahnte er, dass ihre Angst mächtiger war als seine. Vor allem die seines Vaters, der seinen Sohn ansah, als würde er herausfinden müssen, ob man diesem Jungen noch trauen konnte.
Draußen Stille. Die Herzen schlugen leiser. Sie pochten ohne Hoffnung. Das Böse darin verklungen im Sturm der vergangenen Nacht.
Leonard
Vor einigen losen Geisterträumen hatte es begonnen. Daran konnte sich Leonard Bloch sehr gut erinnern, in einer späten Julinacht, schwül und drückend. Der Mondhimmel, den er von seinem Bett aus sehen konnte, war übersät von Sternen, keine einzige Wolke. Aufgewacht aus einem stummen Traum saß er im Bett und dachte nach. Zu gerne wäre er aufgestanden und hätte sich ans Fenster gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen, um Stille zu finden. Auf dem Schreibtisch lag die Packung. Er hatte sich vorgenommen, weniger zu rauchen, und an diesem Tag waren es schon beinahe zwei Schachteln gewesen. Er war aufgewacht und hatte an das Haus gedacht, in dem er nie gewesen war, das er in seinen Träumen aber oft besuchte, in der Nase der Geruch von alter ungewaschener Bettwäsche und dem Staub auf den Bücherregalen. Dieser Geruch verstärkte die Erinnerung an damals, so wie nackte Papierbögen in Entwicklerflüssigkeit lebendig werden, eingetunkt von Geisterhänden. Er hatte an das Zimmer gedacht, war die Treppe hinaufgestiegen, hatte in die dunklen Winkel und Ecken gehorcht, hatte den Garten vor Augen gehabt und das Feld dahinter. Natürlich hatte er auch an das Baumhaus gedacht.
Seit jener Nacht fragte sich Leonard, ob tatsächlich alles ausgestanden war. Stürme, die in den Wolken schliefen, Gewitter, die nur darauf warteten, sich zu entladen, sobald man eingeschlafen war. Seine Eltern waren vor sieben Jahren innerhalb weniger Monate an Krebs gestorben. Viele hier erwischte der Krebs. Er nistete sich ein in Bauchspeicheldrüsen, Därme, Mägen und auch Gehirne. Der Krebs hatte Besitz genommen von der Stadt. Viele ahnten es, wissen aber wollte es keiner.
Mit einem Blick auf die Zigarettenschachtel öffnete Leonard die Tür. Er zögerte kurz, dann verließ er das Zimmer und ging zur Treppe.
Das Haus war klein, die Wände vor dreißig Jahren zum letzten Mal tapeziert. Von draußen konnte er die Grillen zirpen hören, der magische Klang seiner Kindheit. Er sah auf seine Armbanduhr, kurz nach Mitternacht. In den Sommermonaten schlief er schlecht. Sein Arzt meinte, es würde an seinem Übergewicht liegen, aber daran glaubte er nicht. Vielmehr glaubte Leonard, dass es an der Stadt lag, an den verwinkelten Straßen, an den hohen Bäumen mit den schweren Wipfeln, aus denen in den Sommernächten Stimmen drangen. Immer und immer wieder, unaufhörlich. Erst ein kaum merkliches Flüstern, dann ein Summen und schließlich Gesänge, weit weg und doch nahe, wie der seufzende Klang von Walfischen aus der Tiefe des Meeres.
Der Wunsch eine Zigarette zu rauchen, das beruhigende Zischen eines Feuerzeugs zu hören war stärker geworden. Seit damals, seit der Allerheiligennacht vor dreizehn Jahren, rauchte Leonard. Eine Zeit lang hatte er versucht, auf eine leichtere Sorte umzusteigen. Schon nach zwei Tagen hatte er es aber wieder aufgegeben. Er erinnerte sich an die Murr-Zigaretten, die sein Vater geraucht hatte. Nicht viele, vielleicht drei, vier Stück am Tag. Er sah die Packungen immer noch in den Schubladen herumliegen, der Kometenschweif darauf, die rote Schrift unvergessen. Manchmal trug sein Vater die Schachtel mit einem Briefchen Streichhölzer in der linken Brusttasche seines Hemdes, so dass der Komentenschweif durch den Stoff zu sehen war. Darunter aber, in seinem Herzen, leuchtete kein Komet, soviel stand fest. Während der Sarg in die feuchte, modrige Erde hinabgefahren war, hatte sich Leonard gefragt, wer dieser Mann gewesen war. Viel wusste er nicht über ihn. Eigentlich so gut wie nichts. An Sonntagen war er manchmal im Vorgarten gestanden und hatte in die Ferne geblickt, die Arme herabhängend, die schwieligen Hände zu Fäusten geballt. Zweierlei Stimmen trug sein Vater in sich: Eine Stimme war leise, sie klang so, wie wenn man mit einem kranken Hund spricht, den man ins Auto lockt, um ihn dann am Waldrand zu erschlagen. Gütig, leise und bedacht. Kein falsches Wort, kein falscher Ton. Laut und hässlich aber war die andere, die wirkliche Stimme. Sie drang aus dem Schlafzimmer seiner Eltern, nachts, wenn sein Vater glaubte, der Junge würde schlafen. Wenn er seine Frau bestrafte, dafür, dass sie einen Idioten zur Welt gebracht hatte.
Als Kind war das Leben, Leonards Leben, merkwürdig gewesen. Die anderen Kinder hielten ihn für bescheuert, eine Zeit lang ging er sogar auf eine Sonderschule. Er war langsamer gewesen, in allem. Er hatte viel Zeit und Ruhe gebraucht, um die Welt um ihn herum zu verstehen. Aber im Oktober 1986 hatte sich alles geändert, jedenfalls für ihn. Seit damals wusste er, dass er nicht bescheuert war, dass er etwas gut konnte, besser als die anderen. Er konnte Dinge sehen, die anderen verborgen blieben. Die Welt um ihn herum war auf einmal klar geworden, der Nebel war verschwunden, und Leonard verstand.
Die Treppe führte in den Keller. Zwei kleine Räume, feucht und kalt. Eine Neonröhre summte, das Licht darin flackerte. Leonard ließ sie immer brennen, einmal im Jahr tauschte er die Röhre aus, bevor sie kaputt gehen konnte. In einem Raum stapelten sich Dinge, unnötiger Kram, den er jedoch nicht wegwerfen wollte. Zwei alte Schreibmaschinen, ein Fahrrad, drei Lampen. Der andere Raum war so gut wie leer. Eigentlich gab es dort nur einen Schreibtisch, einen alten Stuhl und die blauen Müllsäcke. Leonard setzte sich und schloss die Augen. Es gab nur wenige Tage, an denen er nicht hierher kam, hierher kommen musste. Es gab Nächte, an denen er vier-, fünfmal nach unten ging.
Denn Karla war hier.
Leonard dachte oft an sie. Fragte sich, wie sie wohl aussehen mochte. Ob ihre Haare immer noch wie das Gold der Herbstsonne glänzten. Natürlich hatte er gehört, dass sie sehr krank war. Wachkoma nannte man das. Tag und Nacht schlafen, bis man stirbt und ewig schläft.
Leonard zog die oberste Schreibtischschublade heraus, entnahm eine Packung Camel, ein Feuerzeug und einen Aschenbecher. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Durch den Kellerschacht konnte er einen Hund bellen hören. Die Bilder des Hauses wurden immer klarer, so als wäre er dort aufgewacht und nicht in seinem. Dann tat er das, was er jedes Mal tat. Mit der Zigarette im Mundwinkel öffnete er die unterste Schublade, und das Mondlicht fiel auf deren Inhalt.
