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Nur mir ganz allein

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, aber ein gemeinsames Hobby: Sechs Frauen gründen eine Band. Die Musik, die sie verbindet, verändert ihr Leben, und schon bald ist nichts mehr, wie es war.

»Das Klavier stand verschlossen im Wohnzimmer, die Jungs interessierten sich nicht für Musik – und ihr Mann wollte ›den Kasten‹, wie er sagte, schon verkaufen, aber dagegen hatte sie gekämpft. Der ›Kasten‹ erinnerte sie an Zeiten, in denen sie Träume hatte«.
Abgesehen vom täglichen Klavierspiel führt die verwitwete Margarete ein eintöniges Leben. Karin hingegen hat einen allzu fürsorglichen Mann an ihrer Seite. Carla kämpft sich durch den Alltag als treu sorgende Ehefrau und Mutter, während ihre alleinerziehende Schwester Gabi dem Traum vom Märchenprinzen nachjagt. Bei Elena steht die Karriere im Mittelpunkt, und die Studentin Patricia gibt sich geheimnisvoll. Sechs Frauen, die nichts verbindet. Bis auf eines: die Liebe zur Musik.
Das ungewöhnliche Sextett feiert Erfolge mit alten Revue-Liedern und erhält als Krönung ein Engagement für eine Donau-Kreuzfahrt. Auf engstem Raum lernen sich die Frauen erst richtig kennen. Fassaden bröckeln und leise Zweifel werden laut: So unterschiedliche Charaktere in einer Band, kann das gut gehen? Als die Situation eskaliert, muss jede der Frauen auf eigene Weise erfahren, wie schmerzhaft – aber auch heilsam – Aufrichtigkeit sein kann.

»Nur mir ganz allein« ist ein einfühlsam erzählter Roman über den Wunsch, dem Alltag zu entfliehen, und über die Möglichkeit, den Traum vom Glück zu leben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Lotte Kinskofer

Nur mir ganz allein

Roman

Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 2002 unter dem Titel Die Sextanten bei Reclam Verlag (Leipzig) erschienen.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © foto art, Regensburg

ISBN: 978-3-942822-65-7

Von Lotte Kinskofer ebenfalls bei hey! erschienen:

Agentur der bösen Mädchen

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Nur mir ganz allein

Völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, aber ein gemeinsames Hobby: Sechs Frauen gründen eine Band. Die Musik, die sie verbindet, verändert auch ihr Leben. Ein Roman über den Traum, dem Alltag zu entfliehen, und über die Möglichkeiten, ein Quäntchen Glück aus dem Traum in den Alltag zu retten.

1

Das Mädchen, das die Tür aufmachte, hatte ein T-Shirt an, sonst nichts. Barfuß und ohne Hose stand Julia da und starrte Gabi an. Dann drehte sie sich um und brüllte: »Mama, es ist die Tante Gabi!« Gleichzeitig fing sie an zu pinkeln und unter ihr bildete sich eine große Pfütze. Das ist meiner Tochter mit vier Jahren nicht mehr passiert, dachte Gabi. Carla kam aus der Küche, einen zweijährigen Jungen auf dem Arm, der ihr gerade die Haare mit zerkauten Keksen verschmierte. Sie wirkte genervt.

»Paul, lass das, entweder du isst den Keks oder … Und Julia, kannst du nicht aufs Klo gehen wie andere …«

»Aber ich wollte doch«, brüllte Julia zurück, »dann hat es geklingelt. Und du, du …«

Carla fuhr Julia durchs Haar und schob das Mädchen Richtung Toilette.

»Jetzt mach dich sauber und zieh dich wieder an. Und du sollst nicht immer die Hose ganz ausziehen, nur weil du musst.« Julia maulte kurz, verschwand aber, während Paul intensiv das Sweatshirt seiner Mutter mit Keksbrei bekleckerte.

Carla achtete nicht darauf. Sie sah ihre Schwester, die wie ein Storch zur Tür hereinstelzte, sehr bemüht, Julias Pfütze aus dem Weg zu gehen. Gabi trug einen schicken Hosenanzug, das lange aschblonde Haar zu einer aparten Frisur hochgesteckt – anders als Carla, die im alten Jogginganzug rumlief, die ungewaschenen Haare mit einem Gummi zusammengebunden, Mit einer schnellen Bewegung hievte Carla Paul auf den Arm ihrer Schwester und lief fort, um einen Lappen zu holen. Während sie aufwischte, setzte Paul sein Zerstörungswerk fort. »Keks«, sagte er, nahm die weichen Reste davon aus dem Mund und klebte sie Gabi auf die Brille. So weit Gabi auch den Kopf nach hinten beugte, sie entkam Paul nicht.

Amüsiert sah Carla zu.

»Paul wird mal Maurer«, verkündete sie. »Gestern hat er mit seinem Keks-Spucke-Brei die Schlüssellöcher im Haus zugepappt. Das Zeug ist angetrocknet und ich hatte zwei Stunden zu tun, um die Türen wieder sauber zu kriegen.«

Gabi verzog das Gesicht. Sie stellte ihren Neffen auf den Boden und putzte sich die Brille, doch Paul begann sofort zu brüllen. Seufzend hob Carla das Kind hoch. Sofort war Ruhe. Gabi setzte ihre Brille wieder auf und beäugte skeptisch die Szene. Sie sagte nichts, aber Carla konnte ihre Gedanken lesen.

»Jetzt komm erst mal rein. Ich hoffe, du hast Kuchen mitgebracht, ich bin nicht zum Backen gekommen.« Carla winkte mit dem Kopf in Richtung Küche.

»Wusste ich’s doch«, murmelte Gabi, als sie über den Bagger und etwa fünfzig kunterbunte Legosteine hinweg in Richtung Küche stakste.

»Es ist Vollwertkuchen«, verkündete sie.

Julia kam inzwischen vollständig bekleidet wieder herein. Sie sah auf den Kuchen, den Gabi gerade auspackte.

»Iih«, schrie sie, »der ist scheißebraun, den möchte ich nicht.« Dann war sie wieder weg. Gabi sah Carla verunsichert an. Die lenkte ab.

»Mach schon mal Kaffee und deck den Tisch. Ich lege den Kleinen hin. Der hatte noch keinen Mittagsschlaf. Wenn wir Glück haben …«

Carla war schon zur Tür hinaus.

Gabi sah sich in der völlig chaotischen Küche um. Sie nahm die mit Ketchup verschmierten Kinderteller vom Tisch und räumte sie in die Spülmaschine, wischte den Tisch ab, suchte zwei saubere Tassen, setzte Kaffee auf und drapierte ihren mitgebrachten Kuchen ordentlich auf einen Teller. Immer wieder knirschte es unter ihren Füßen, und sie bereute es, sich nach der Schule nicht umgezogen zu haben.

Carla kam zurück und grinste. »Glück«, sagte sie, »sogar sehr viel Glück. Paul ist eingeschlafen und Julia hockt in ihrem Zimmer und hört Kassetten. Der Nachmittag ist gerettet.«

»Muss das immer so sein?«

Carla zuckte die Schultern.

»Ich kenne keinen Haushalt mit Kindern, wo es anders ist. Sie machen Lärm, sie machen Schmutz, sie versuchen, ihren Willen durchzusetzen.«

»Mit Jana war das nicht so.«

Carlas Augen wurden schmal, ihr Gesichtsausdruck war ernst. »Du hast doch deine Tochter kaum gesehen. Sie hat fast die ganze Woche bei unseren Eltern verbracht. Du hast dich bloß abends und am Wochenende um sie gekümmert.«

Gabi sah ihre Schwester wütend an.

»Ich hatte keine andere Wahl. Ohne Mann, der ordentlich verdient, so wie bei dir. Das war eine harte Zeit – allein mit Kind, und es ist immer noch hart. Aber so …« – Gabi warf einen angeekelten Blick auf den Herd und die Spüle – »… so hat es bei mir niemals ausgesehen.«

Carla wollte aufbrausen, doch dann zuckte sie nur die Schultern und holte die Kaffeekanne. Gabi nutzte diesen Augenblick, um den Stuhl kurz mit einem Tuch abzuwischen, bevor sie sich darauf setzte. Carla schenkte ein und ließ sich mit einem ächzenden Ton auf den Stuhl fallen.

»Erzähl mir etwas von der Welt da draußen«, forderte sie ihre Schwester auf. »Sag mir einfach, was da so passiert, was geboten ist, womit sich die Menschen beschäftigen, wenn sie nicht den ganzen Tag Kinder hüten und Wäsche waschen.«

Gabi überlegte, ob sie noch mal auf das Thema ›Der richtige Umgang mit kleinen Kindern‹ zu sprechen kommen sollte, dann aber ließ sie es.

»Ich bereite gerade das Schulkonzert vor. Wir spielen Albinoni und Vivaldi – und vielleicht trete ich auch selbst auf, als Solistin, mit Haydn.«

Carla rührte in ihrer Tasse und versuchte einen müden Augenaufschlag.

»Mögen die Kids so was überhaupt?«

»Warum sollte ihnen das keinen Spaß machen, mir hat das immer gefallen.«

Carla nickte. Sie konnte sich erinnern. Die ältere Schwester hatte schon immer zwei Ziele: möglichst schön Geige zu spielen und einen Mann zu finden. Ersteres war ihr gelungen, Letzteres schien sich zu einer Lebensaufgabe auszuwachsen. Die perfekte Gabi, in diesem Punkt versagte ihre Planung kläglich. Das Kind kam während des Studiums. Unbeirrt setzte sie ihre Ausbildung fort, ließ das Kind bei ihren Eltern und der damals erst fünfzehn Jahre alten Schwester Carla, die sich nur ungern um die kleine Jana kümmerte. Wer der Vater war, verriet Gabi niemandem, nicht einmal ihrer Schwester. In den folgenden Jahren schleppte sie viele Männer an, aber es wurde nie etwas Ernstes daraus. Keiner hielt Gabis Ansprüchen stand.

Plötzlich wechselte Gabi das Thema.

»Am Sonntag mache ich eine Bergtour – mit einem Bekannten.«

Carla lachte, es klang ein bisschen boshaft.

»Du und Berg? Du gehst doch keine zwei Meter zu Fuß, wenn sich das anders machen lässt.«

Beleidigt rührte Gabi in ihrem Kaffee. Sie war nie so sportlich gewesen wie Carla, sie hatte nicht ihre Größe, ihren ausholenden dynamischen Schritt, sie war kleiner und zierlich, aber auch zäh. Und außerdem –

»Man wird sich doch noch verändern dürfen. Neues entdecken und ausprobieren …«

Carla hörte schon nicht mehr zu. Von oben kamen Geräusche, als ob Julia aus ihrem Zimmer Kleinholz machte. Carla wartete auf einen markerschütternden Schrei, aber nachdem nichts kam, beschloss sie, auch nicht nachzusehen. Nur hier sitzen und Kaffee trinken, mehr wollte sie im Moment nicht vom Leben.

Aus dem Nachbarhaus klang gedämpft Klaviermusik. Die Nachbarin hatte mit dem Üben begonnen. Carla seufzte. Es würde keine zehn Minuten dauern und Paul war wach. Aber in einem Reihenhaus konnte man der Nachbarin wohl kaum verbieten, nachmittags um drei Klavier zu spielen.

Gabi horchte kurz auf.

»Wer spielt da?« Carla nahm sich ein zweites Stück Kuchen. »Die Nachbarin ist eine große Musikliebhaberin. Sie spielt täglich drei Stunden – mindestens.«

Gabi lauschte.

»Toll.«

Carla verzog das Gesicht.

»Mag schon sein, aber die Kinder finden das nicht.«

Wie auf Kommando begann Paul zu brüllen. Carla stand auf, ging hinauf und kam mit dem Kind auf dem Arm zurück. Paul hörte sofort zu weinen auf, als er den Kuchen sah. Er saß auf Carlas Schoß und zerkleinerte die Reste. Erschöpft sieht sie aus und ein bisschen frustriert, dachte Gabi und legte, während Paul die Brösel in seinen Mund stopfte, den Arm um ihre Schwester.

»Vermisst du die Musik nicht manchmal?«, fragte sie leise. »Du und dein Saxophon …«

»Ich hab doch sowieso keine Zeit – und außerdem, alleine üben ist langweilig.«

Gabi nickte.

»Deshalb sucht man sich jemanden, der ein anderes Instrument spielt. Frag doch mal deine Nachbarin.«

Carla sah überrascht auf. Was für eine Idee! Sie hatte immer so gerne gespielt, wollte mal Orchestermusikerin werden … Aber sie hatte sich anders entschieden, erst gegen die Musik und für ein BWL-Studium, dann für Kinder und Familie, Lautes Gebrüll aus dem ersten Stock unterbrach das Gespräch. Carla setzte Paul auf Gabis Schoß, und schon war sie zur Tür hinaus. Als sie mit einer heulenden Julia herunterkam, saß Paul am Boden und aß Staubflusen. Gabi klopfte sich gerade ihre Hose ab.

»Ich muss gehen«, sagte sie. »Und du mach mal was für dich.«

»Wenn du mir heute Abend die Kinder abnimmst …«, konterte Carla. Gabi schüttelte bedauernd den Kopf.

»Tut mir leid. Ich muss noch arbeiten. Unterricht vorbereiten.«

Carla spürte den Ärger in sich hochsteigen, aber sie wollte keinen Krach.

»Mit wem gehst du in die Berge?«

Sofort hellte sich Gabis Gesicht auf.

»Du, stell dir vor, ich habe einen Mann kennen gelernt. Pass auf: Ich habe eine Reifenpanne, bleibe stehen, da steigt sofort einer aus dem Auto und hilft mir. Ein ganz netter Mann. Er hat mich zum Essen eingeladen …«

Carla wusste sofort, was los war: Gabi hatte wieder mal eine Kontaktanzeige aufgegeben und klapperte jetzt die einzelnen Typen ab. Und um es nicht zugeben zu müssen, erfand sie himmlisch romantische Geschichten. Gabis Tochter Jana hatte das herausgefunden und ihr erzählt. Gabi hatte keine Ahnung, dass Jana und Carla dieses Geheimnis kannten.

»Dann wünsche ich dir einen schönen Tag«, kürzte Carla die Erzählung ab. Im Gehen meinte Gabi: »Wegen der Kinder: Frag doch Jana. Die passt gerne auf.«

2

Margarete hörte das Schreien des Kleinen. Wahrscheinlich hatte sie den Jungen aufgeweckt mit ihrem Klavierspiel. Nun ja, Beethoven konnte man nicht nur piano spielen. Sie hätte mit stilleren Sachen anfangen sollen, aber ihr war heute so nach Wut und Leidenschaft.

Erst vor wenigen Wochen hatte sie wieder mit dem Üben angefangen.

Sie hatte Zeit. Ein bisschen Haushalt und Garten, gelegentlich Schwimmen, mehr war nicht. Nach dem Tod ihres Mannes hatten sich alle Freunde zurückgezogen, die beiden Jungs lebten in einer anderen Stadt – was blieb da noch? Das Klavierspiel konnte ihr wenigstens keiner nehmen. Hatte sie sich das nicht immer gewünscht, Zeit zum Üben zu haben? Erst trieben ihr die Eltern den Traum aus, Klavierlehrerin zu werden. Dann wurde sie Sekretärin, heiratete einen Abteilungsleiter, der Karriere machte, bekam zwei Söhne. Das Klavier stand verschlossen im Wohnzimmer, die Jungs interessierten sich nicht für Musik – und ihr Mann wollte »den Kasten«, wie er sagte, schon verkaufen, aber dagegen hatte sie gekämpft. Der ›Kasten‹ erinnerte sie an Zeiten, in denen sie Träume hatte.

Jetzt hatte sie eine Frau kennen gelernt, die Cello spielte, auch viel allein war, Zeit hatte. Sie musizierten gemeinsam. Karin war zwar deutlich schwächer auf ihrem Instrument, aber es machte Spaß, einmal pro Woche zusammen zu spielen. Dennoch: War das ihr Leben? Margarete war so froh gewesen, als die Kinder selbstständig wurden, sie dachte an ein paar schöne Jahre mit ihrem Mann. Aber es war anders gekommen. Und da sie sich nie um einen eigenen Freundeskreis, um Hobbys, um ihre Interessen gekümmert hatte, stand sie allein da. Sie hatte den wohl temperierten Gleichklang der letzten Ehejahre als angenehm empfunden, große Leidenschaften waren nicht ihre Sache. Doch hätte sie nicht gedacht, dass sie Richard so sehr vermissen würde. Über Nacht, so ihr Eindruck, war sie eine alte Frau geworden. Goss das Grab und hatte Angst allein im Haus, wollte aber nicht in eine kleine Wohnung umziehen, weil sie die gewohnte Atmosphäre, die Erinnerungen, die Vertrautheit nicht missen mochte.

Mit Anfang sechzig ist man noch jung, meinten die beiden Damen, die sie beim Schwimmen kennen gelernt hatte, und machten Vorschläge: Kino, Theater, Ausflüge, Reisen, mehr Sport – aber das war nichts für Margarete. Sie fühlte sich allein zu unsicher und wollte nicht immer andere Damen bitten, gemeinsam mit ihr etwas zu unternehmen.

Wahrscheinlich war es nicht so klug gewesen, immer in Richards Windschatten durchs Leben zu segeln. Aber nun war es zu spät.

Margarete spielte seit einigen Minuten nicht mehr. Sie saß auf dem Klavierhocker und dachte nach. Sie horchte. Drüben im Nachbarhaus ein Rums, ein Schrei, die beruhigende Stimme der Mutter, nachlassendes Weinen. Sie kannte das alles und hätte nie gedacht, dass sie es einmal vermissen würde.

3

»Warte mal, Elena, Paul möchte dir etwas sagen.« Paul wollte gar nichts sagen, er wollte nur den Hörer halten. Er starrte auf die obere Muschel, aus der eine menschliche Stimme kam.

»Hallo Paul«, rief Elena am anderen Ende der Leitung. »Hallo, hallo.« Blöd, mit einem Kind zu telefonieren, das keinen Ton von sich gibt. Man kommt sich vor wie ein Idiot, wenn man andauernd »Hallo« schreit, dachte Elena.

Sie rief immer noch »Hallo«, als sie von Carla unterbrochen wurde.

»Ich bin’s wieder, du kannst normal reden.«

Elena musste lachen.

»Schade, dass aus unserem Kino-Abend nichts wird.«

»Tut mir wirklich leid«, meinte Carla. »Aber Julia hat völlig überraschend Fieber und Ohrenschmerzen gekriegt.«

»Und Peter?«, fragte Elena nach.

»Peter muss zurzeit länger arbeiten.«

»Was ist mit Jana?«

»Versteh mich bitte nicht falsch, aber … ich will eine Fünfzehnjährige nicht mit zwei kleinen Kindern allein lassen, von denen eines krank ist.«

»Soll ich vorbeikommen? Quatschen statt Kino.«

Carla zögerte kurz, dann räusperte sie sich.

»War schön. Aber stell dich drauf ein, dass ich mich recht viel um Julia kümmern muss. Ich weiß nicht, ob die so schnell einschläft.«

Elena schwieg enttäuscht.

»Vielleicht klappt’s nächste Woche«, tröstete Carla.

Elena versuchte, die Situation mit einem Scherz aufzulockern. »Freust du dich schon auf die Zeit, wenn Julia und Paul volljährig sind?«

Carla lachte. »Manchmal ja. Trotzdem: Ein Leben ohne die beiden kann ich mir nicht vorstellen.«

Das ist nicht die Carla, die ich kenne, dachte Elena und starrte auf den Bildschirm ihres Computers. Sie waren seit fast zwanzig Jahren befreundet. Kennen gelernt hatten sie sich in der Big Band des Gymnasiums und auf Anhieb verstanden. Zwei Mädchen, die Klarinette und Saxophon spielten, waren eine Ausnahme. Von den Jungs in der Band wurden sie mit Gejohle und Gepfeife empfangen. Natürlich auch umworben. Damals konnten sie es sich aussuchen, mit wem sie ausgehen wollten. Schüchtern waren sie beide nicht.

Elena wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie sah die Schriften durch. Welche Schrift für ein Briefpapier, das zu einem seriösen Banker wie Carlas Mann passte? Ein Gefälligkeitsauftrag. Natürlich würde sie nichts daran verdienen. Schließlich war sie mit seiner Frau befreundet. Mit Peter selbst nicht, darauf legte sie Wert. Weil sie mit Individuen befreundet sein wollte, nicht mit »Minigruppen«, wie sie die Paare und Kleinfamilien um sich herum heimlich nannte. Dunkelrot, das war nichts für Peter. Blau – war das zu kühl oder gerade richtig? Einen Stich ins Grün? Eigentlich wollte sie mit Carla darüber reden, aber das hatte sie vergessen – das Gespräch mit dem kleinen Paul hatte sie aus dem Konzept gebracht.

Die beiden Kinder beeinflussten nicht nur Carlas Leben, sondern auch ihre Freundschaft. Es gab kaum noch Möglichkeiten, sich zu zweit zu treffen. Gingen sie wirklich einmal ins Kino, schlief Carla häufig schon bei der Werbung ein. Elenas Probleme galten nichts mehr, sie verschwanden hinter den Geschichten, die Carla zum Besten gab, hinter einem Berg von Windeln und Spielzeug.

Carla hatte sich verändert. War sie selbst stehen geblieben? Elena schaltete den Computer aus und warf noch kurz einen Blick auf den Katalog des Reiseveranstalters, der auf dem Schreibtisch lag. Sie sollte ihn bis übermorgen fertig haben. Und da bastelte sie am Briefpapier von Peter, den sie ohnehin nicht so besonders mochte? Gleich morgen früh würde sie an dem Katalog Weiterarbeiten.

Sie stand auf und zog sich um. Heute war kein Abend zum Alleinsein. Sie brauchte Ablenkung, zu sehr hatte sie sich auf einen netten Abend mit Carla eingestellt. Sie rief Ludwig an, aber wieder ging er nicht ans Telefon. Sie hatte es schon mehrmals versucht in der letzten Stunde, ohne Erfolg. Sie würde trotzdem zu ihm fahren.

Ludwig sah nicht ganz nüchtern aus, als er öffnete. Er begrüßte Elena mit einem Kuss, es wirkte aber nicht so, als ob dies der Beginn eines leidenschaftlichen Abends war.

»Ich dachte schon, dass du das bist«, sagte er unbekümmert, als sie von ihren Bemühungen erzählte, ihn telefonisch zu erreichen.

»Arbeitest du so viel, dass du nicht einmal mehr ans Telefon gehst?«

»War heute ein produktiver Tag. Ich hab ein ganzes Kapitel für den Sardinien-Reiseführer geschrieben. Stimmungsbild. Aber den Kleinkram hab ich immer noch nicht zusammen. Lokale, Hotels, Preise, Verkehrsverbindungen – dabei ändert sich das doch sowieso ständig.«

»Aber die Touristen interessiert’s, wo man nett isst und preiswert übernachten kann.«

»Die Touristen«, knurrte Ludwig, »alles müssen sie schon von zu Hause aus geregelt haben. Sitzen noch mit ihrem Hintern auf dem Wohnzimmersessel und wollen schon wissen, wo sie am dritten Dienstag im August auf Sardinien ihren Espresso schlürfen.«

Elena schwieg leicht beleidigt. Ludwig spielte mit dieser Bemerkung auf ihren Hang zur Planung an. Ein wohlmeinender Mensch hätte auch sagen können, sie hätte Organisationstalent. Aber Ludwig sprach meistens vom Perfektionswahn.

»Außerdem«, nahm Ludwig den Faden wieder auf, »bin ich Journalist und kein Reiseverkehrsfachmann. Ich schreibe kreative Texte, die Lust machen auf Leben, und kein Verzeichnis der besten oder billigsten Unterkünfte.«

Elena atmete tief durch. Sie hatte sich den Abend netter vorgestellt. Aber warum nur? Die meisten waren so. Doch immer wieder trieb sie eine tiefe Sehnsucht hierher und manchmal kamen diese Abende und Nächte mit Ludwig ihren Wünschen ganz nahe. Dann ging sie nach Hause und hörte einige Wochen nichts von ihm, weil er sein eigenes Leben und seine Freiheit brauchte. War sie zu anspruchsvoll? Oder lief hier etwas schief?

»Du könntest mal wieder für mich arbeiten.«

Ludwig hob sein Weinglas und trank es mit einem Zug aus: »Werbung ist nichts für mich. Da mach ich lieber Reiseführer. Der Wein da«, er goss sein Glas wieder voll, »der ist die richtige Einstimmung auf die Insel. Bald geht’s los. Sardinien, drei Wochen mindestens.«

Elena war enttäuscht. Ludwigs Texte für Broschüren, wenn er sie dann mal endlich schrieb, waren gut, und sie konnte ihn zahlen, ohne ihm das Gefühl zu geben, er lebe von ihrem Geld. Es reichte ja, dass er sich von seiner Ex-Frau noch aushalten ließ – und alles nur unter dem Vorwand, ein kreativer Mensch wie er könne nicht immer über Geld nachdenken.

Sollte sie wieder gehen? Ludwig wirkte nicht so, als ob er ihre Gegenwart genießen würde. Und sie, genoss sie das Beisammensein? Dieses Herumhocken und Trinken? Ein Gespräch würde wohl auch nicht mehr zustande kommen. Dazu war Ludwig eindeutig zu blau, er stierte schon seit einigen Minuten nur noch vor sich hin.

Elena stand auf. »Ich geh dann besser.«

Ludwig schreckte hoch.

»Aber Elena. Der Abend hat doch gerade erst angefangen. Und ein andermal arbeite ich bestimmt wieder gern für dich, aber jetzt …«

Elena sah ihn skeptisch an.

»Schließlich«, schob Ludwig nach und lächelte verschwörerisch, »haben wir uns doch kennen gelernt, als du einen Autor gesucht hast.«

Ludwig war aufgestanden, er stellte sich Elena in den Weg. Er nahm sie in den Arm, sie spürte seinen Atem, diese Mischung aus Wein und Zigaretten, unwahrscheinlich, dass er heute schon etwas anderes zu sich genommen hatte. Komisch, dass sie das anmachte. Sie trank selten Alkohol und rauchte nur manchmal aus Geselligkeit.

Ludwig küsste sie, Elena hatte ihr Ziel erreicht. Warum musste sie immer mit Liebesentzug drohen? Konnten sie nicht wie Erwachsene …?

Aber das war jetzt egal. Sie fühlte sich wohl in seinen Armen, doch Ludwig ließ sie gleich wieder los. Er nahm einen Schluck Wein und lächelte.

»Willst du nicht mitfahren nach Sardinien, das müsste sich doch machen lassen.«

Elena strahlte.

»Wann denn konkret?«

Ludwig sah nicht so aus, als wollte er konkret werden. Er streckte sich.

»Nicht heute. Ich muss dringend schlafen. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan.«

Er schwankte leicht, als er in Richtung Schlafzimmer ging und drehte sich noch einmal kurz um.

»Na, was ist? Kommst du nicht mit?«

Elena lächelte. Es gab charmantere Methoden, einen anderen Menschen für eine gemeinsame Nacht zu gewinnen, aber es war eben nicht seine Art, große Worte zu machen. Sie ging noch kurz ins Bad, und als sie ins Schlafzimmer kam, lag Ludwig angezogen auf dem Bett. Er war eingeschlafen. Elena zog ihm Schuhe und Hose aus und deckte ihn zu. Morgen würde sie mit ihm über seine Trinkgewohnheiten reden müssen. Vorsichtig natürlich, er war da empfindlich.

4

Gabi saß allein am Frühstückstisch. Ihre Tochter Jana hatte bei einer Freundin übernachtet. Gabi war das sehr recht – einerseits. Denn es war schwer, mit Kind ein Privatleben aufzubauen, einen Mann kennen zu lernen. Andererseits, das Mädchen ging neuerdings sehr häufig eigene Wege. Fühlte Jana sich vernachlässigt? Sollte sie mehr mit ihrer Tochter unternehmen?

Außerdem: Wie viele Kinder gab es, die jedes Wochenende oder jedes zweite Wochenende beim Vater verbrachten, hin und her gerissen zwischen sich streitenden Eltern – oder zumindest zwischen Eltern, die sich nicht mehr liebten, die oft schon eine neue Familie gegründet hatten.

Versonnen nagte Gabi an ihrem Croissant. Das hatte sie ihrer Tochter erspart. Mitten im Studium hatte sie das Kind bekommen, mit einundzwanzig. Niemandem hatte sie gesagt, wer der Vater war, auch der Mann selbst wusste von nichts. Was ging es ihn an? Er war schon verheiratet, er hätte sich niemals für sie und das Kind scheiden lassen. Sie wollte kein Geld von ihm, dafür aber auch nicht die Tochter mit ihm teilen. Es war ihr Kind – und sie war stolz darauf, es allein zu schaffen. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass es so hart werden würde. Arbeit und Kind, da war für nichts anderes mehr Platz – und das auf Jahre hinaus. Aber nun war die schlimmste Zeit vorbei, und Gabi hatte es sich in den Kopf gesetzt: nicht mehr alleine bleiben.

Wie würde der sein, den sie morgen treffen wollte? Sein Brief hatte ihr gefallen und das Foto – so weit ein Foto aussagekräftig war – zeigte einen gut aussehenden Mann. Am Telefon war er nicht sehr gesprächig gewesen. Aber was will man schon mit einer Frau reden, die man nicht kennt, aber kennen lernen will. Es war immer wieder peinlich, eine Anzeige aufzugeben und sich mit einigen Männern zu treffen. Es war für Gabi, als klebte sie sich einen Zettel an die Stirn: »Ich suche einen Mann.« Aber wenn sie ehrlich war – das war auch ihr Anliegen. Gabi räumte den Tisch ab und ging ins Wohnzimmer, um Geige zu spielen. Wenigstens einmal pro Woche wollte sie noch intensiv üben, nicht alles verlernen, nicht provinziell werden, nur weil sie in einer Kleinstadt lebte. Wie oft wünschte sie sich wieder zurück nach München, wo sie studiert hatte. Die Oper, die Konzerte, einfach mal eine Ausstellung ansehen, so nach der Arbeit, im Vorbeigehen. Aber es war notwendig gewesen nach dem Studium, wieder in die Nähe der Eltern zu ziehen. Schließlich brauchte sie deren Hilfe wegen Jana. Gabi blätterte in ihren Noten. Das Schulorchester spielte Haydn, sie würde den Solopart übernehmen. Wenigstens eine kleine Herausforderung. Aber wer hörte, wie sie spielte? Die Kollegen? War das wichtig? Woher nahm sie die Kraft, immer noch zu üben? Sie würde nie wieder so gut sein wie damals. Und für wen tat sie das alles? Sie hatte weder Mann noch Freunde. Die vielen Abende allein oder mit Jana zu Hause – irgendwie hatte sie es verlernt, unter die Leute zu gehen. »Dir sind doch alle zu primitiv«, hatte Carla mal im Streit zu ihr gesagt. »Du hältst dich doch für ganz was Besonderes, sonst hättest du Freunde.« Später hatte sie sich dafür entschuldigt, aber getroffen hatte es Gabi trotzdem.

Zugegeben, sie hatte nie viel Freude an diesen Besuchen auf dem Kinderspielplatz gehabt. Die Kleinen schaukelten, gruben im Sand, kletterten herum, die Frauen saßen auf der Bank und unterhielten sich. Die Themen waren nicht nach Gabis Geschmack. Kochen und Haushalt, Windeln und Wäsche, hatten die Mütter denn nichts anderes im Kopf? Die eine oder andere redete auch davon, dass sie bald wieder zu arbeiten anfangen wollte. Aber bei den meisten Frauen kam das zweite Kind, bevor sie überhaupt einen klaren Gedanken in diese Richtung fassten. Sie hingegen hatte ihr Studium abgeschlossen, dann die Stelle hier an der Schule bekommen. Nein, sie wollte nicht zu Hause bleiben, sie wollte nicht vereinsamen. Aber allein war sie dennoch geblieben.

Irgendetwas musste passieren. Und zwar bald.

5

Carla stand vor Margaretes Haustür. Es war ein günstiger Zeitpunkt, die Nachbarin zu besuchen. Peter spielte mit den Kindern – also wann, wenn nicht jetzt? Seit drei Monaten wohnten sie nun hier, bis auf ein paar höfliche Worte hatte Carla mit dieser Nachbarin nie gesprochen. Margarete öffnete die Tür und sah sie erstaunt, aber doch freundlich an.

»Frau Winkelmann«, sagte Margarete, »schön, Sie zu sehen. Kann ich Ihnen helfen?«

Carla lächelte vorsichtig. Helfersyndrom, dachte sie, die Nachbarin hat ein Helfersyndrom. Blöder Gedanke. Kaum wurde sie freundlich empfangen, schon hatte sie was auszusetzen. »Ich hätte Sie gern kurz gesprochen.«

Margarete machte die Tür weit auf und lächelte warmherzig. »Kommen Sie herein.«

Sie fragt gar nicht, was ich will, überlegte Carla, als sie eintrat. »Ich hole nur noch schnell eine Tasse«, rief Margarete und verschwand in der Küche.

Carla sah sich unauffällig um. Es war klar, dass hier einmal mehrere Menschen gelebt hatten. Viel Platz für die Garderobe im Flur, daneben ein großes Schuhregal. Sie lugte ins Wohnzimmer. Bilder, die schon lange dort hingen – man hätte sie nicht entfernen können, ohne weiße Flecken zu hinterlassen. Die Couchgarnitur bot für mindestens acht Leute Platz, am Esstisch standen vier Stühle – und auch die Schrankwand war bestückt mit Dingen, die kaum von der Nachbarin sein konnten: ein paar Pfeifen, Comics, Bildbände über Fußballweltmeisterschaften und Olympische Spiele. Und dann das Klavier. Wie vor fünfundzwanzig Jahren bei uns zu Hause, dachte Carla. Carla stand noch unschlüssig in der Tür zum Wohnzimmer. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Nachbarin bereits Besuch hatte. Carla sah sie nur von hinten, eine nicht ganz zierliche Frau mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren, etwas älter als sie, in Hose und Bluse, beides sah teuer und sterbenslangweilig aus. Sie stand vornübergebeugt, öffnete gerade ihren Cellokasten, nahm das Instrument heraus und richtete sich leise ächzend auf.

Karin hörte ein Geräusch und drehte sich unsicher um. Statt Margarete stand eine fremde Frau in der Tür, jung, schlank, sportlich, die Haare lässig zusammengebunden, mit einem leicht ironischen Blick, fand Karin. Wie lange die sie wohl schon beobachtete? Karin war misstrauisch, wollte es aber nicht zeigen. Sie setzte ein Lächeln auf.

Carla nahm ihre Unsicherheit wahr und empfand sich als taktlos. Man beobachtete andere nicht so neugierig. Aber dieses falsche Lächeln ging ihr sofort gegen den Strich. Schweigend sahen sich die Frauen an. Carla hielt es nicht mehr aus, ging entschlossen auf Karin zu, streckte ihre Hand aus: »Ich bin Carla Winkelmann, die Nachbarin von Frau Weichert.«

Karin gab ihr die Hand. »Mein Name ist Karin Sandner.«

»Sie spielen Cello?«

Ihre Frage kam Carla sofort überflüssig vor – denn schließlich stand das Instrument da. Karin nickte.

»Frau Weichert und ich üben gelegentlich miteinander.«

»Ja«, ergänzte Margarete, die gerade hereinkam. »Ich habe so lange jemanden gesucht, der mit mir Hausmusik macht.«

»Aber ich habe Sie beide noch nie zusammen gehört.« Margarete stellte die Tasse auf den Tisch, wo bereits für zwei Leute gedeckt war.

»Wir haben auch noch nicht oft geprobt. Die ersten Versuche haben Sie wohl versäumt.«

Margarete machte eine einladende Geste, Karin setzte sich, Carla blieb unsicher stehen.

»Ich wollte Sie nicht vom Üben abhalten …«

»Aber das macht doch nichts!« Margaretes Tonfall war überschwänglich. »Wir können auch erst Kaffee trinken und dann üben. Sonst machen wir das umgekehrt.«

Margarete schenkte ein, reichte den Teller mit Gebäck herum und blickte dabei verstohlen auf Carla. Warum war sie so unvermutet vorbeigekommen? Carla wusste nicht, wie anfangen. »Ich hab nicht gewusst, dass Sie jemanden haben, mit dem Sie Musik machen, Frau Weichert.«

Carla sah unsicher auf Karin. Die wurde nervös. Was hatte sie mit der ganzen Sache zu tun?

»Ich höre Sie immer Klavier spielen, richtig schwere Stücke, toll.«

Margarete lächelte geschmeichelt. Sie spürte, dass das Lob ernst gemeint war.

»Wie Sie spielen, weiß ich ja nicht«, ergänzte Carla schnell und sah auf Karin, die skeptisch dreinsah. »Ich will mich jetzt hier nicht einmischen oder was durcheinander bringen …«, fing Carla noch einmal an.

»Schießen Sie los«, rief Margarete.

»Wissen Sie«, setzte Carla neu an, »ich habe Saxophon gelernt, aber kaum noch gespielt, seit Julia vor vier Jahren zur Welt kam. Ich wollte mal Musiklehrerin werden … Jetzt sitze ich zu Hause mit den Kindern und … Ich wollte Sie fragen …«, Carla holte noch einmal tief Luft, »… ob ich nicht mal mitspielen könnte. Zu zweit mit Ihnen, Frau Weichert, oder auch zu dritt, wenn das geht.«

Die beiden anderen Frauen sagten zunächst nichts. Carla hörte die Wanduhr ticken in diesem Familienmuseum. Karin nahm sich ein Gebäckstück. Ihr war unbehaglich. Sie hatte in Margarete endlich einmal jemanden kennen gelernt, mit dem sie musizieren und vor allem plaudern konnte, ein Mensch, der zu ihr passte: gepflegt, zurückhaltend, freundlich, höflich. Und jetzt kam diese forsche Frau daher, die bestimmt sehr gut Saxophon spielte, und wollte ihr den Rang ablaufen.

Margarete spürte, was in Karin vorging – und das machte ihr Angst. Wie würde Karin reagieren, wenn sie jetzt ›Ja‹ sagte? Wäre sie beleidigt? Aber Lust hatte sie schon, Klavier und Saxophon, das klang bestimmt auch hübsch. Und Klavier, Saxophon und Cello?

»Saxophon?« Karin sah skeptisch aus.

»Altsaxophon«, erklärte Carla. »Ich werde Sie nicht übertönen, glauben Sie mir. Man kann auch Blasinstrumente sehr lyrisch spielen.«

Karin schwieg.

»Das müsste man mal versuchen«, sagte Margarete, »vielleicht passt das zusammen. Und eine etwas andere Klangfarbe, das kann doch sehr schön werden, meinen Sie nicht auch, Karin?« Geschickt, wie Frau Weichert die andere Frau einband, fand Carla anerkennend. Zwar eierte sie noch ein bisschen rum, aber es war klar, dass sie große Lust hatte. Wäre günstiger gewesen, mit der Nachbarin alleine zu reden, ohne das Cello. »Ich würde auch wieder üben, glauben Sie mir, ich war gar nicht schlecht«, bekräftigte Carla.

Margarete merkte, dass Karin von dem Besuch nicht angetan war, aber sie wollte Carla gerne dabeihaben. Die Nachbarin sah so nett und so lebhaft aus, das wäre auf jeden Fall ein Gewinn für sie, mit dieser Frau mehr zu tun zu haben. So viel Egoismus würde wohl noch erlaubt sein.

»Ich habe hier noch jede Menge alter Noten.« Sie stand auf, öffnete eine Schranktür, nahm eine Kiste heraus und wühlte darin herum.

»Sie müssen nicht gleich etwas heraussuchen«, sagte Carla einschränkend. »Und sich nicht sofort entscheiden. Reden Sie beide doch erst mal drüber und dann …«

Margarete hörte gar nicht auf sie. Sie fischte Noten heraus: »Da – das ist für Geige, Cello und Klavier, ganz leicht, von Telemann. Geht das auch mit Saxophon statt Geige?«

Carla warf einen Blick auf die Noten und zuckte die Schultern. »Ich kann’s probieren.«

»Ich weiß nicht, zu dritt ist bestimmt noch schwieriger als zu zweit …«, meinte Karin zögerlich.

»Wir sind alle etwas aus der Übung«, unterbrach Margarete sie. »Das wird schon. Zusammen spielen macht viel mehr Spaß, das haben wir beide gesehen, nicht wahr, Karin?«

Karin wagte nicht mehr zu widersprechen. Und Carla wunderte sich über diese energische Stellungnahme ihrer Nachbarin. Margarete dachte sogar noch weiter. »Was machen Sie dann mit Ihren Kindern, Carla – ich darf Sie doch Carla nennen, oder?« Carla nickte überrascht.

»Ich bin Margarete«, fuhr die Nachbarin fort. »Ist das möglich, dass Sie gelegentlich die Kinder einen Nachmittag abgeben?«

Just in diesem Moment ging im Nachbarhaus ein Gezeter los. »Ich muss wieder rüber.« Carla nahm die Noten, eilte zur Tür und winkte noch einmal. »Jetzt weiß ich endlich mal, wie das bei Ihnen klingt, was bei uns abläuft. Das ist ja schauderhaft.«

Als sie die Haustür aufsperrte, war es still. Im Wohnzimmer saß Julia und malte, Peter hatte Paul auf dem Arm und erzählte ihm eine Geschichte.

»Du bist schon da?« Peter war erstaunt.

»Ich habe Paul schreien hören.«

Peter grinste.

»Er hat sich gestoßen. Aber stell dir vor, sein Vater war da, hat ihn aufgehoben, verarztet und getröstet.«

Carla zuckte zusammen. Die Ironie traf sie. Manchmal führe ich mich auf wie eine Glucke, dachte sie.

6

Seit einer halben Stunde lief Elena durch den Park. Wie sollte das mit Ludwig weitergehen? Er hatte sie am nächsten Morgen mehr oder minder vor die Tür gesetzt, weil er seine Ruhe brauchte. Aus Frust hatte sie den ganzen Tag an dem Katalog für einen Reiseveranstalter gearbeitet. Arbeit aus Enttäuschung, das war ungesund.

Sie lief, weil es die unkomplizierteste und einfachste Möglichkeit war, körperlich müde zu werden. Wenn sie ihre Knochen spürte, wenn die Muskeln zogen, dann ging für kurze Zeit der Gedanke an Ludwig weg – und sie hatte das Gefühl, etwas für sich getan zu haben.

Sie kam ins Schwitzen und lief langsamer, die echten Profis hetzten nicht. Wenn sie so sehr nach Luft schnappte, war sie auch zu schnell. Das stand in jedem Jogger-Handbuch. Aber immer musste sie übertreiben. Schnell zum Erfolg, schnell zum Ziel, schnell alles erledigen, Geduld war wirklich nicht ihre Stärke.

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, den Tag mit Ludwig zu verbringen. Aber daraus wurde nichts. Es war auch zu blöd sich immer auf ihn einzustellen, auf seine Anrufe zu warten, ihn zu besuchen, obwohl er sich nicht meldete, sich seinen Launen anzupassen.

Langsam trabte Elena zurück zu ihrer Wohnung. Es ging ihr besser. Diesen Idioten wollte sie für heute mal vergessen. Was dachte der, mit wem er es zu tun hatte? Sollte sie sich wirklich alles bieten lassen? Elena wollte sich nur auf sich konzentrieren – wenigstens an diesem einen Tag. Sie könnte alles tun, niemand schränkte sie ein. Eigentlich war Elena nach einem ausgiebigen Bad zumute. Doch sie hatte Angst, dass sich danach das heulende Elend einstellen könnte. Lieber nicht zur Ruhe kommen, nicht nachdenken. Während des Duschens ging Elena die Dinge durch, die sie schon immer mal machen wollte und die sie doch meist aufschob.

Nach München fahren, durch die Stadt bummeln, ins Museum, ins Kino? Einfach ein paar Stunden spazieren gehen? Ein Buch lesen? Freunde besuchen? In Ruhe eine Oper anhören? Oder selbst Musik machen? Wie lange hatte sie das schon nicht mehr getan. Ob jemand anrufen würde? Sicher nicht, am Sonntag klingelte fast nie das Telefon. Carla und andere Freundinnen versanken in ihren Familien, meldeten sich erst wieder, wenn ihnen ab Montag der Alltag die Luft abdrückte. Einfach faul eine DVD reinziehen? Wozu hatte sie Lust?

Elena stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, föhnte ihre Haare. Widerspenstig waren sie, rot, lockig und unzähmbar, vor einigen hundert Jahren hätte man mich als Hexe verbrannt. Elena gab es auf. Eine Frisur würde aus diesen Haaren nie werden. Sie begann mit dem Eincremen: Dünnhäutige Menschen brauchen viel Schutz, dachte sie.

Die ganze Woche wünschte sie sich, Zeit für sich zu haben. Heute hatte sie Zeit. Sie konnte ihren freien Tag so richtig genießen. Mit Unbehagen erinnerte sie sich aber an den vergangenen Sonntag. Zuerst war es so schön gewesen, mit einem Buch auf dem Sofa zu liegen, mal zu lesen, mal zu schlafen, und irgendwann am Nachmittag aufzuwachen. Dann kroch die Einsamkeit hoch, dann wurde ihr deutlich, dass sie noch einige Stunden mit sich zubringen musste – und meistens fehlte ihr dann schon die Energie, das Ruder herumzureißen und doch noch auszugehen. Müde von der Woche, in Gedanken bei einem Mann, der sich kaum für sie interessierte, allein. Die Folge war: der große Jammer.

So weit sollte es heute nicht kommen. Schnell zog sich Elena an und verließ die Wohnung. Was auch immer sie machen würde – auf keinen Fall durfte sie zu Hause bleiben. Der Sonntag musste gestaltet werden, auf Biegen und Brechen. Durchorganisiert, in Etappen eingeteilt, die keine Trübsal aufkommen ließen. Blue Sunday – nicht mit ihr.

7

»Endlich mal wieder Zeit für die Kinder«, sagte Peter, als er um neun Uhr zum Frühstück kam. Carla hatte schon längst gefrühstückt – mit eben diesen Kindern, die seit sechs Uhr Lärm gemacht hatten. Julia baute im Wohnzimmer einen Turm aus Klötzchen, ziemlich hoch schon und leider ein beliebtes Ziel für Paul.

»Ui«, meinte Paul, »Turm« und fasste danach, zog ein Klötzchen unten heraus, der Turm fiel in sich zusammen. Einzelne Bausteine verirrten sich im Raum, schlugen gegen das Regal, gegen den Fernseher. Julia fing an zu weinen, vor Enttäuschung und Empörung. Paul schrie, eines der Klötzchen hatte ihn getroffen. Er schrie aber noch viel mehr, als Julia ihn schubste und er hinfiel. Julia begann, die Teile aufzuheben und damit um sich zu werfen.

Peter sah aus der Essecke leicht verärgert auf die Kinder. »Könnt ihr nicht still spielen wie andere Kinder auch?«

Carla lächelte. Kinder und still? Sie ging hin und nahm Paul auf den Arm.

»Du gehst jetzt mit mir die Schwimmsachen einpacken und Julia kann ihren Turm noch mal aufbauen.«

»Will aber nicht«, schrie Paul und strampelte mit Armen und Beinen.

»Will aber nicht«, schrie auch Julia und schlug verärgert mit dem Fuß gegen ein Klötzchen. Paul hatte keine Chance. Carla ignorierte sein Strampeln und Schreien und trug ihn einfach hinaus. Sie warf einen Blick auf Peter: »Kümmerst du dich bitte um Julia?«

Peter nickte, nahm seine Kaffeetasse und stand auf.

»Komm Julia, wir bauen den Turm wieder auf.«

»Lass lieber deine Tasse auf dem Tisch stehen – da fällt sie wenigstens nicht um«, sagte Carla noch, bevor sie zur Tür hinaus verschwand, während Pauls Schreien in ein klägliches Wimmern überging. Peter verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn seine Frau sich als Expertin aufspielte. Konnte ja sein, dass sie einiges besser wusste, sie hatte den ganzen Tag mit den Kindern zu tun. Aber es gab Sachen, die konnte man so oder so erledigen. Und er machte es eben anders als sie.

Es dauerte eine Stunde, bis sie endlich ins Schwimmbad gehen konnten. Carla setzte noch eine Maschine Wäsche auf, Peter räumte die Spülmaschine ein, inzwischen packte Paul den Rucksack mit den Schwimmsachen wieder aus, Julia verpetzte ihn, Peter räumte ihn wieder ein. Dann wickelte er Paul, ermahnte Julia noch einmal, auf die Toilette zu gehen. Die wollte nicht. Peter setzte sie einfach drauf. Das wiederum sah Carla nicht gerne, die gerade mit einem Korb trockener Wäsche aus dem Keller kam. »Wenn sie nicht muss, dann zwing sie nicht«, mischte sie sich ein. Peter beschloss, ihre Bemerkung zu ignorieren. Er wollte einfach einen schönen, unkomplizierten Sonntag mit seiner Familie verbringen.

»Papa macht das immer«, maulte Julia und machte damit alles nur noch schlimmer.

»Sie muss es selbst spüren und wollen«, meinte Carla, aber Peter schwieg, zog Julia an, nahm den Rucksack und zeigte zur Tür.

»Wir gehen.«

Carla zwängte Paul in wärmere Kleidung. Nach dem Hallenbad gab es immer die schönsten Erkältungen, jetzt im Spätsommer konnte es schon verdammt kühl werden. Julia wollte ihre Mütze nicht mitnehmen.

»Doch.« Carla drückte ihr wild entschlossen die Wollmütze auf den Kopf.

»Wenn ich nicht muss, dann zwing mich nicht«, zitierte Julia altklug ihre Mutter und Peter lächelte. Die Kleine schlug Carla mit ihren eigenen Waffen. Das gefiel ihm. Schlaues Mädchen. »Keine Diskussion. Mütze muss sein«, sagte Carla.

»Du legst dich jetzt hin«, sagte Carla zu Paul, nachdem sie, vom Schwimmen zurückgekehrt, alle ihre Tiefkühlpizza gegessen hatten.

»Du auch«, antwortete Paul – und Carla fand diese Idee gut. Sie ging mit Paul die Treppe hinauf, las ihm etwas vor, kuschelte sich mit ihm ins Bett – und innerhalb weniger Minuten waren sie beide eingeschlafen. Peter saß unten und machte mit Julia ein Spiel. Er ärgerte sich. Hätte er doch den Part übernommen, Paul ins Bett zu bringen. Er könnte auch Schlaf gebrauchen. Doch dann bemerkte er mit einem Blick auf die Uhr, dass es höchste Zeit war.

»Komm, Julia, wir spielen später weiter«, schlug Peter vor, ging zum Sofa und schaltete den Fernseher ein. Das Rennen hatte schon begonnen. Peter stellte den Ton leise, Carla und Paul mussten ja nicht unbedingt vom Lärm der heulenden Motoren wach werden. Zumal Carla für Formel 1 wirklich gar nichts übrig hatte. Julia auch nicht.

»Langweilig«, sagte sie.

Peter holte die Legosteine heraus und begann, mit Julia etwas zu bauen, immer mit einem Blick zum Bildschirm. Als das Mädchen abgelenkt war, streckte er sich auf dem Sofa aus und seufzte wohlig. So stellte er sich Erholung vor. Julia hörte auf zu spielen und setzte sich zu ihm. Kurz darauf schlief sie ein. War das ein Klingeln? Carla hob den Kopf und sah verschlafen um sich. Sie musste sich erst orientieren. Wer klingelte da mitten in der Nacht? Sie sah Paul angezogen neben sich liegen. Ah, Mittagsschlaf. Natürlich war sie sofort mit eingepennt. Es klingelte wieder. Warum machte Peter nicht auf? Carla stand auf, strich sich den Pullover glatt und lief die Treppe hinunter.

Aus dem Wohnzimmer hörte sie Motorengeräusche. Sie verdrehte die Augen. Peter konnte es einfach nicht lassen. Carla öffnete und sah überrascht auf Elena.

»Ich war in der Gegend und …«

Solche Floskeln sehen Elena überhaupt nicht ähnlich, dachte Carla. Warum windet sie sich so in ihrer Ausrede?

Elena musterte Carla: »Hab ich dich geweckt? Das tut mir leid.«

Carla trat zur Seite und winkte Elena herein.

»Macht nichts, wollte sowieso aufstehen.«

Elena horchte.

»Stör ich? Peter guckt offenbar gerade Formel 1.«

»Komm rein. Wir können auch …«

Carla überlegte. Wo konnten sie hingehen? Doch nicht ins Schlafzimmer oder in eines der Kinderzimmer und schon gar nicht nach oben in Peters Büro. Elena sah Carla aufmerksam an, dann lachte sie.

»Du hast noch den Abdruck vom Kopfkissen auf der Backe!« Carla grinste.

»Komm, wir gehen in die Küche und ich mach uns Kaffee. Dann wird sich auch mein Gesicht wieder entfalten.«

Carla warf noch kurz einen Blick ins Wohnzimmer. Dort ging das Rennen gerade in die letzten Runden, aber weder Peter noch Julia bekamen das mit. Beide lagen friedlich eingeschlafen auf dem Sofa. Carla überlegte kurz, ob sie den Fernseher ausschalten sollte, das Motorengeräusch nervte sie, aber dann überlegte sie es sich anders. Die beiden wachten bestimmt auf, wenn die Lärmkulisse weg war. Und jetzt wollte sie erst mal Kaffee trinken.

»Ich weiß, dass Sonntag euer Familientag ist. Aber dann war ich grade in der Gegend …«

»Das sagtest du schon«, unterbrach Carla sie. Komisch ist es trotzdem, dachte Carla, irgendwas stimmt hier doch nicht. Ob Elena Kummer hatte? Wenn sie schnell machten, konnten sie noch ein paar Takte reden, bevor eines der Kinder aufwachte.

»Viel zu tun?«

Elena nickte und rührte in ihrer Kaffeetasse.

»Sehr viel. Leider lauter Sachen, die wenig Spaß machen. Nicht kreativ, viel Kleinmist.«

»Bringt aber hoffentlich Geld«, meinte Carla.

»Das schon. Aber ich wollte eigentlich nur noch Aufträge annehmen, die mir gefallen.«

»Ein paar Kompromisse müssen überall sein.«

Elena schüttelte den Kopf.

»Ich finde, ich mache zu viele Kompromisse. Ich nehme Aufträge an, die mich langweilen, verdiene damit Geld. Aber so viel brauche ich gar nicht. Ich muss nur für mich sorgen – aber die Existenzangst …«

»Ohne Kinder würde unser Geld auch reichen«, brummte Carla. Elena sah sie verärgert an.

»Dass Kinder kosten, hast du vorher gewusst.«

Warum ist sie so aggressiv? Carla beobachtete die Freundin aus den Augenwinkeln. Wenn ich ihr jetzt so richtig die Meinung sage, dann gibt’s Krach. Ich übergeh ihre schlechte Laune einfach und tu so, als wäre nichts.

Ich kann nicht hierher kommen und rumkrakeelen, überlegte Elena. Will mir eine Sonntagsdepression vom Leib halten, dann setz ich mich her und behaupte, die Leute mit Kindern sind selber schuld, wenn sie kein Geld haben, dafür haben sie Kinder. Dabei denk ich so was doch gar nicht. Peinlich, wie schnell das so aussieht, als wär man ein Kinderfeind.

»Wir wollten noch was ausmachen für nächste Woche«, sagte Elena. Carla zuckte die Schultern.

»Ich weiß es noch nicht, ich muss erst mit Peter reden.«

»Der kann doch auch mal früher von der Arbeit nach Hause kommen.«

In Carla stieg der Ärger hoch.

»Ich will das selbst erst mit Peter abklären.«

»Aber es muss doch möglich sein …«

»Elena bitte, das ist meine Sache.«

»Es ist auch meine. Merkst du nicht, dass wir kaum noch Zeit für unsere Freundschaft haben, seit du Familie und Kinder hast?«

Carla kannte das Thema.

»Ich würd manchmal auch gern einfach aufspringen und was unternehmen. Aber es geht nicht. Lass mich das planen.« Peter kam herein. Er rieb sich die Augen, dann lächelte er den beiden Frauen zu, die sich gar nicht so freundlich musterten.

»Hallo, Elena. Ist dir daheim die Decke auf den Kopf gefallen?« Das war die Bemerkung, die Elena noch brauchte.

»Nein, danke, ich langweile mich nicht allein. Ich kann sehr gut mit mir – und ich brauche niemanden, der meinem Leben einen Sinn gibt.«

Elena stand auf, ging hinaus und knallte die Haustür hinter sich zu. Peter sah irritiert zu seiner Frau.

»Was hab ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?« Carla zuckte die Schultern.

»Egal was du gesagt hättest, sie hätte sich auf jeden Fall aufgeregt.«

8

Der Mann war ein Bergfreund. Das merkte Gabi gleich, als sie ihr Auto auf dem Parkplatz abstellte. Carla hatte einmal gesagt, auf dem Berg lerne man die Leute kennen. Da müsse man sich nach dem Schwächsten richten, kameradschaftlich sein. Bergwandern förderte also die soziale Kompetenz. Gabi lächelte – dieser Reiner würde heute genug Gelegenheit haben, seine soziale Kompetenz zu beweisen. Er musste sich nach einer sehr schwachen Begleiterin richten. Schließlich war der einzige Sport, den sie betrieb, das Geigenspiel. Anstrengender als viele dachten, aber Bergsteigen forderte den Körper sicher mehr.

Sie hatte sich diesen Reiner nicht so groß vorgestellt, aber ansonsten sah er dem Foto, das er ihr geschickt hatte, sehr ähnlich: schlank, die Haare modisch kurz, eine leichte randlose Brille. Dazu aber diese Bundhose, diese professionell wirkenden Bergschuhe, das karierte Hemd, der Rucksack – wie passte das alles zusammen?

Noch ist es Zeit zu gehen, dachte Gabi, die mit einer leichten Sommerhose, T-Shirt und Turnschuhen gekommen war. Die Haare hochgebunden, das Make-up dezent.

Reiner schaute sich suchend nach ihr um und schrak zusammen, als sie ihn ansprach. Er hat bestimmt gedacht, ich sei größer, überlegte Gabi. Erste Erwartungen also schon enttäuscht. Er gab ihr die Hand.

»Reiner. Schön, dass Sie gekommen sind.«

Er sah irritiert auf Gabis Outfit, das ihm offenbar nicht professionell genug war.

»Keine Bergschuhe?«

»Ich dachte, wir gehen nur eine gute Stunde.«

Reiner runzelte die Stirn. Ihm war klar, dass diese Frau von Bergtouren keine Ahnung hatte. Ohne ordentliches Schuhwerk, keine Regenausrüstung, kein Proviant. Mit ihr würde die Tour, die er ausgesucht hatte, nicht so schnell zu machen sein. »Sie wollen wirklich da hinauf?«

Gabi nickte und strahlte Reiner begeistert an.

»Aber klar! Deshalb sind wir doch hier. Und heute ist fantastische Fernsicht. Haben sie eben im Radio gesagt.«

Reiner sah Gabi prüfend an. Vielleicht war sie trainierter als er meinte.

»Sie sind Musiklehrerin, haben Sie geschrieben«, fing Reiner sehr zielgerichtet die Unterhaltung an. »Und geben auch noch Geigenunterricht. Stell ich mir schwer vor.«

Gabi liebte es, wenn Männer sich für sie und ihren Beruf interessierten. Es gab so viele Typen, die nur von sich erzählten, die letzten Heldentaten im Büro ausbreiteten, ihre Freizeit als eine Aneinanderreihung von abenteuerlichen und spannenden Ereignissen schilderten.

»Ich wollte schon als Kind Geige lernen. Aber leider musste ich, wie so viele, mit Blockflöte anfangen. Erst mit acht Jahren haben mir meine Eltern erlaubt …«

Reiner hörte nicht sehr genau zu. Er merkte bereits nach den ersten zwanzig Schritten, dass sie den Gipfel wohl erst in drei Stunden erreichen würden.

Gabi ging schon die Luft aus. Sie war bei der Schilderung ihres Lebenslaufes erst beim zweiten Semester angekommen, da spürte sie, dass sie mit ihren Ressourcen sparsamer umgehen musste. Sie kürzte die weitere Erzählung radikal ab und landete bei ihrer jetzigen Stelle als Lehrerin.

»Noch andere Hobbys außer der Musik?«

Gabi schwieg, blieb stehen und atmete tief durch.

Reiner drosselte sein Tempo. Er war nun sicher, dass Gabis Ausruf am Telefon »Ich liebe Bergwandern!« eine glatte Lüge gewesen war, aber er fand sie sehr attraktiv und nett.

»Ich brauche immer ein paar hundert Meter, bis ich meinen eigenen Schrittrhythmus habe«, sagte er auf einmal und ging noch etwas langsamer. »Ich möchte gerne schnell zum Gipfel, aber dann bleibt mir doch die Puste weg und ich muss das Tempo einschlagen, das ich auch ein bis zwei Stunden durchhalten kann. Denn es bringt gar nichts, hundert Meter schnell zu gehen und dann wieder zehn Minuten verschnaufen müssen, oder?«

Gabi war Reiner sehr dankbar für diese Belehrung, die er so schön verkleidet hatte.

»Erzählen Sie doch mal von sich«, schlug Gabi vor, bevor sie endgültig verstummte und sich nur noch mit Gehen und Atmen befasste.

»Da gibt’s nicht mehr zu sagen, als ich Ihnen schon geschrieben habe. Ich bin Ingenieur bei einer Autofirma. Ich mach das gern.«

»Und in der Freizeit?«

»Sport. Ansonsten: Ich hätte gern Familie. Frau und Kinder, ein Haus auf dem Land, füreinander da sein, sich wohl fühlen …«

Gabi ächzte leise, was zum Teil an der Anstrengung, zum Teil aber auch an Reiners Vorstellungen lag. So stellte sie sich ihre Zukunft nicht vor. Ob Reiner vielleicht ein konservativer Knochen war? Der Brief hatte ganz anders geklungen, herzlich und offen. Und auch jetzt hatte sie einen guten Eindruck von ihm.

Guter Eindruck! Wie das klang! So etwas hatten ihre Eltern immer gesagt, leider nur selten von Gabis Freunden. Aber von Peter, Carlas Mann, hatten sie immer einen guten Eindruck gehabt. Der konnte auf alle Fälle eine Familie ernähren. Sehnsüchtig sah Reiner nach dem Gipfel. Ihm war langweilig. So langsam gehen, das war er nicht gewöhnt. Unterhalten konnte man sich auch nicht, denn er hörte, wie Gabi nach Luft rang. Sie konnte nichts sagen – und er war kein großer Redner. Ein anderer Mann würde plaudern, sich ins rechte Licht rücken, von ihrer Schweigsamkeit profitieren und sich selbst darstellen. Das war nicht seine Art. Er wusste jetzt schon nicht mehr, was er sagen sollte.

Gabi hielt tapfer durch. Als sie nach drei Stunden den Gipfel erreichten, war sie zwar völlig kaputt, aber sie hatte es geschafft. Stolz blickte sie ins Tal, so hoch war sie gekommen!

Reiner sah auf Gabi. Zäh war sie, das musste man ihr lassen. Sie hatte sich bei den etwas schwierigeren Stellen nicht von ihm helfen lassen, sie wollte es alleine schaffen, ihn offenbar beeindrucken. Dabei boten diese Schotterfelder die Möglichkeit, sich näher zu kommen. Wenn man sich erst einmal an der Hand gefasst hat, dann lässt man auch so leicht nicht wieder los. Na ja, vielleicht beim Rückweg.

Wie kaputt sie wirklich war, das merkte Gabi erst, als sie im Lokal saßen. Die Füße schmerzten und sie war sicher, dass sie keinen Schritt mehr gehen konnte. Bestimmt hatte sie Blasen. Das T-Shirt war durchgeschwitzt, und als sie kurz zur Toilette ging, musste sie feststellen, dass ihr Make-up sich aufgelöst hatte, ihr Gesicht war rot. Sie kühlte es und ging zurück an den Tisch, vielmehr humpelte sie.

»Ich glaube, es ist besser, ich fahre mit der Seilbahn ins Tal.« Gabi sah die grenzenlose Enttäuschung in Reiners Gesicht. »Du musst nicht mitkommen«, beeilte sie sich zu sagen und merkte gar nicht, dass sie zum ›du‹ gewechselt war.

»Aber ich bin völlig kaputt. Ich werde dann gleich heimfahren. Und fürs nächste Mal kaufe ich mir echte Bergschuhe.«

Es wird wohl kein nächstes Mal geben, dachte Reiner, und Gabi dachte genauso. Doch das konnte sie jetzt nicht sagen. Er machte nichts falsch, sie hatte nur so ein Gefühl, er sei nicht der Richtige. Trotzdem sprach sie eine Gegeneinladung aus. »Ich schlage vor, wir gehen demnächst mal zusammen ins Konzert. Das ist dann mehr so mein Terrain.«

»Wie du meinst«, sagte Reiner. »Aber ich fahre auf alle Fälle mit dir ins Tal. Ich lass dich doch jetzt nicht allein.«

»Nein, vielen Dank – du sollst wenigstens abwärts so gehen können, wie du das gewöhnt bist. Nicht immer Rücksicht nehmen müssen.«

Reiner ließ sich überzeugen. Er sah, dass mit Gabi heute nicht mehr viel anzufangen war. Er hatte gehofft, sie würden auch den Abend gemeinsam verbringen, wenn alles gut lief – aber danach sah es jetzt nicht aus. Es war wohl klüger, die Einladung ins Konzert anzunehmen und es für heute dabei zu belassen.

Sehr ruhig und sehr still glitt die Gondel ins Tal. Allmählich ging es Gabi wieder besser. Geige üben, das würde heute trotzdem nicht mehr möglich sein.

Als Jana heimkam, döste Gabi auf dem Sofa vor sich hin. Die hatte doch ein Date, überlegte Jana. Warum war sie schon da? Aber auch Gabi war erstaunt. Warum war Jana nicht länger bei ihrer Freundin Ute geblieben?

»War’s schön?« Jana zuckte nur die Schultern. »Na ja.«

»Was ist denn passiert?«

Jana setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete Gabi, die sich seufzend von einer Seite auf die andere drehte. »Wir haben uns gekracht. Ute wollte sich noch mit irgendwelchen Typen vor dem Kino treffen. Sie hat da was ausgemacht. Aber mir nichts gesagt.«

»Vielleicht wären die Jungs ganz nett gewesen.«

»Nee, danke. Reicht ja, dass du auf der Suche bist.«

Peng, das saß. Gabi wusste zwar, dass Jana ihre Bemühungen, einen Mann kennen zu lernen, mit Argwohn beobachtete, aber …

»Ich habe ein Recht auf ein Privatleben«, protestierte sie sofort, fast automatisch.

»Jaaaaa«, kam es von Jana. »Ich weiß: Du musst dein Leben nicht allein verbringen, nur weil du eine Tochter hast.«

»So hab ich es gar nicht gemeint.«

»Das hast du.«

»Ich freu mich doch, dass ich dich habe.«

»Deshalb war ich auch jahrelang bei Oma und Opa.«

Gabi wurde sauer. Was konnte sie dafür, dass sich Jana mit ihrer Freundin gestritten hatte?

»Wenn ich mein Studium nicht abgeschlossen hätte, dann müssten wir jetzt von Sozialhilfe leben.«

»Danke, dass du für mich studiert hast.«

Jana schnappte sich ihre Tasche und wollte in ihr Zimmer gehen.

»Ich würde heute noch gerne was mit dir unternehmen«, leitete Gabi die Versöhnung ein, »aber ich war Bergwandern und bin völlig am Ende.«

Jana grinste. Ihre Mutter und Bergwandern. Sie hatte sich gleich gedacht, dass das schief gehen musste.

»Grins nicht so frech.«

Jana ging in ihr Zimmer. Sie musste sich eingestehen, dass der Anblick der völlig niedergestreckten Mutter sie aufgeheitert hatte.

9

Carla ließ die Spucke aus dem Saxophon auf den Teppichboden tropfen. Margarete sah missbilligend drein. Karin war froh, dass es nicht ihr Teppich war.

»Ich bin gleich wieder so weit.«

Carla sah entschuldigend auf, dann blies sie.

Die Töne klangen ein bisschen gepresst, von leicht und locker keine Spur. Carla seufzte. Sie hatte zwar in der vergangenen Woche jeden Tag geübt, aber so schnell kamen die Routine und der schöne Ton doch nicht. Karin wedelte nervös mit ihrem Bogen durch die Luft und zupfte die Saiten ihres Cellos. Die würde ihr so schnell nicht den Rang ablaufen. Trotzdem: Es war wirklich schöner, wenn noch ein Instrument dabei war. Aber musste es ausgerechnet dieses Saxophon sein? Geige oder Flöte, das wäre doch etwas feinsinniger gewesen. Vielleicht merkte diese Carla selbst, dass sie eine Fehlbesetzung war.

Nach einer halben Stunde mit leichten klassischen Stücken ging Carla die Luft aus. »Tut mir leid. Mehr schaffe ich nicht.« Karin spielte ein paar Töne, wenn auch nur, um zu zeigen, dass sie noch lange Zeit durchhalten könnte. Margarete aber klappte fröhlich den Deckel ihres Klaviers zu. »Das macht doch nichts, Carla. Wir kommen jetzt zum gemütlichen Teil.« Margarete war extra zum Friseur gegangen vor dieser Probe, hatte nun kastanienbraunes statt ergrautem Haar, die Dauerwelle mit Kämmchen hochgesteckt, damit die beiden Damen ihre Ohrringe – das letzte Geschenk von Richard – gebührend bewundern konnten. Karin hatte Margaretes Veränderung wohl bemerkt, sagte aber nichts. Sie fand Margarete etwas eitel für ihr Alter. Sie schätzte mehr die unauffällig-gepflegte Art, an sich selbst und an anderen. Was sie gar nicht mochte, war diese Sweatshirt-Leggins-Bekleidung, mit der diese Carla hier aufgetaucht war.

Margarete hantierte in der Küche und summte leise vor sich hin. Die Aussicht auf häufigere Besuche, dieses gemeinsame Musizieren, das gab ihrem Leben wieder eine Richtung.

Carla sah argwöhnisch zu Karin hinüber, die ihr Cello wegpackte.

»Ich spüre, dass Sie mich nicht mögen«, sagte Carla leise, so dass Margarete in der Küche es nicht hören konnte.

Karin drehte sich überrascht um.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Carla lächelte: »Das ist leicht zu merken. Sehen Sie, ich will nur Musik machen. Wenn es gar nicht klappt, dann gehe ich wieder.«

»Es ist schön, noch ein Instrument dabeizuhaben«, wand sich Karin aus der für sie unerträglichen Situation.

»Nicht wahr, Karin? Carla ist ein echter Gewinn für unsere Hausmusik.«

Margarete kam herein und stellte das Tablett auf den Tisch. Karin nickte zögerlich, Carla grinste vor sich hin. Margarete strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich denke fast, wir könnten noch ein richtig schönes Melodieinstrument gebrauchen.«

Karin erschrak, aber Carla nutzte die Chance.

»Meine Schwester spielt hervorragend Geige. Und dann kenn ich noch eine Klarinette.«

Karin fuhr nach Hause und parkte in der Doppelgarage. Heinz konnte es nicht ausstehen, wenn sie das Auto vor der Haustüre stehen ließ. Sie nahm das Cello vom Rücksitz ihres Kleinwagens, trug es ins Haus und räumte es in ihr Hobbyzimmer. So nannte sie den Raum, den sie einmal als Kinderzimmer vorgesehen hatte. Heute würde sie nicht mehr üben. Wer weiß, wie lange ich da noch mitmache, dachte sie. Alles hatte sich geändert.

Sie ging in die Küche und machte Tee. Jetzt wollte diese Carla ihre Schwester und noch jemanden mitbringen. Karin war nicht einmal gefragt worden. Ob diese Schwester auch so ruppig war? Margarete schien das zu gefallen. War sie der alten Frau nicht Gesellschaft genug?

Mit der Teekanne ging sie ins Wohnzimmer. Sie wollte es sich gemütlich machen und etwas abschalten. Gleich begann die erste Vorabendserie im Fernsehen: »Genieße das Leben«. Gestern hatte sich eine Frau ihres Alters in einen jungen Mann verliebt. Sie wollte keinesfalls versäumen, wie es nun weiterging.

Karin erschrak, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Die Tür ging auf, Karin schaltete den Fernseher aus. Natürlich tat sie nichts Verbotenes, aber sie wollte dennoch nicht von Heinz beim Faulenzen erwischt werden. Schließlich kam er von der Arbeit.

»Karin, ich bin’s«, rief Heinz schon in der Tür.

Karin reagierte prompt auf das tägliche Ritual: »Ich bin hier« – wo auch immer ›hier‹ sein mochte.

Karin ging ihrem Mann entgegen, er küsste sie auf die Wange. Sie nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn auf.

»Ich habe nicht so früh mit dir gerechnet.«

»Nicht nur das. Ich muss auch nicht mehr weg. Mein Herrenabend fällt aus, der Richter ist krank, und zu zweit können Gregor und ich nicht Skat spielen.«

Karin lächelte.

»Und weißt du was?«, fügte Heinz hinzu. »Ich war sogar zu faul zum Einkaufen. Ich lasse uns etwas vom Italiener kommen.« Karin überlegte, wie die Geschichte mit der Frau und dem jungen Mann in der Serie wohl weiterging und ob sie Heinz sagen sollte, dass sie die Folge noch zu Ende sehen wollte.

Heinz ging hinauf und zog sich um. Fünf Minuten würde das dauern, dachte Karin, schaltete doch noch schnell den Fernseher ein und machte den Ton ganz leise. Der junge Mann küsste die Frau und schwor, dass er an den jungen Dingern überhaupt nichts finden könne. Karin mochte es nicht recht glauben, aber es gefiel ihr. Heinz kam herunter, Karin schaltete den Fernseher aus und räumte ihr Teegeschirr weg. Heinz rief beim Italiener an und gab die Bestellung auf. Dann ging er in den Keller und holte »eine schöne Flasche Wein«, wie er das nannte.

Als sie beim Essen saßen, erzählte Heinz von seinen derzeitigen Fällen.

»Schwierig«, zog der Staatsanwalt am Ende seiner Ausführungen Bilanz, »sehr schwierig. Die Menschen verlangen immer mehr vom Staat, aber sie sind nicht bereit, etwas dafür zu geben. Sie sind nicht einmal bereit, sich an Recht und Ordnung zu halten. Der Egoismus greift immer mehr um sich.«

Karin schwieg.

»Und was hast du heute so erlebt? Warst du bei der Frau mit dem Klavier?«

»Wir spielen jetzt zu dritt, eine junge Nachbarin ist noch dabei. Aber ich weiß nicht, ob mir das recht ist.«

»Warum nicht?«

»Ich glaube, mit Margarete allein war es schöner.«

»Dann sag es. Du musst selbst deine Interessen vertreten. Sonst tut es niemand für dich, vor allem«, fügte Heinz scherzhaft hinzu, »wenn ich nicht dabei bin.«

Karin lächelte säuerlich. Sie mochte es nicht, wenn Heinz sich als ihr Beschützer aufspielte. Aber andererseits – sie überließ ihm ja auch alle unbequemen Dinge.

Heinz hatte damals sehr liebevoll reagiert, als sich zeigte, dass sie keine Kinder bekamen. Als er sah, wie sehr Karin unter der ungewollten Kinderlosigkeit litt, übernahm er den Part dessen, dem das gar nichts ausmacht, obwohl er sich eigentlich immer Kinder gewünscht hatte. Hauptsache, er konnte sein Leben mit Karin verbringen. Das sagte er ihr immer wieder. So lange, bis sie es glaubte. Sie saßen im Wohnzimmer, lasen oder unterhielten sich, hörten Musik, spielten Schach. Karin war sich nicht ganz sicher. War das nun gemütlich oder war es langweilig?

10

»Heute Ausgang.« Elena lächelte, als Carla völlig hektisch in die Kneipe gestürzt kam, ihren Mantel in die Ecke feuerte und gleich ein Bier bestellte.

»Freier Abend«, stöhnte Carla, »endlich mal wieder ein windelfreier Abend.«

Elena nickte.

»Riecht auch besser, so ein Bier«, feixte sie und die beiden stießen an.

»Peter war vielleicht sauer«, erzählte Carla, ohne auch nur auf Elenas Worte zu achten.

»Geht mindestens einmal die Woche mit seinen Kollegen aus, aber wenn ich alle Jubeljahre einen freien Abend will, dann …«

»Ich dachte, er ist so verständnisvoll und ein richtiger Familienmensch.«

»Stimmt ja auch«, bestätigte Carla. »Aber er hat einfach im Moment viel am Hals. Und er versteht nicht, dass ich den Abend nicht lieber mit ihm verbringe.«

Elena horchte auf. »Hat er das öfter?«

»Hör dir mal die Argumentation an: Er kann auf die Kinder nicht aufpassen, weil er noch arbeiten muss. Also brauch ich einen Babysitter, wenn ich mit dir ausgehen will. Dann kommt Jana und passt auf. Da sagt Peter, wenn wir uns schon von seinem Gehalt – das sagt er so und das meint er ernst – einen Babysitter leisten, dann könnten wir uns auch gemeinsam einen schönen Abend machen. Aber du willst unbedingt mit deiner Freundin ausgehen und nicht mit mir.«

»Männliche Logik«, grinste Elena.

»Na, das Problem hast du jedenfalls nicht«, bemerkte Carla und blätterte in der Speisekarte ohne zu sehen, wie Elena zusammenzuckte.

»Du kriegst dein Leben allein in den Griff. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir von irgendjemandem Vorschriften machen lässt.«

Elena starrte vor sich hin und dachte an Ludwig. Sie hatte ihrer besten Freundin bisher nicht einmal erzählt, dass es diesen Mann gab, der mit ihr Katz und Maus spielte. Was würde Carla sagen, wenn sie hörte, dass Elena den größten Teil ihrer freien Zeit damit verbrachte, an so einen Mann zu denken? Elena beschloss, mit Carla zu reden. Vielleicht würde ihr das helfen, ein bisschen mehr Klarheit zu bekommen. Es ging ihr ohnehin schon lange auf die Nerven, dass Carla sie auf einen Sockel stellte, ihr Leben als wunderbar, erfüllt und problemlos betrachtete und nicht sah, dass auch sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Sie holte tief Luft – aber es war schon zu spät. Carla wechselte gerade das Thema.

»Du, da fällt mir was ein. Ich hab dir doch erzählt, dass ich mit meiner Nachbarin zusammen Musik machen will. Und wir haben jetzt ein paar Sachen ausprobiert, ich mit dem Saxophon, dann noch ein Cello und Klavier …«

»Komische Mischung.«

Elena schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung, weil sie nun doch nicht über Ludwig sprechen konnte.

»Und da dachte ich«, Carla strahlte jetzt über das ganze Gesicht, »du könntest auch mitspielen mit deiner Klarinette.« Wie sich das wohl anhört, überlegte Elena und winkte der Bedienung, um das Essen zu bestellen.

»Mit Gabi habe ich schon geredet«, erzählte Carla weiter, ohne zu sehen, wie Elena die Stirn runzelte. Sie konnte Carlas neunmalkluge Schwester nicht ausstehen.

»Gabi könnte die Leitung übernehmen. Die versteht wenigstens was von Musik.«

Elena suchte nach einer Ausrede.

»Ich habe seit Jahren nicht mehr gespielt.«

»Aber du kannst es«, bekräftigte Carla ihre Idee. »Und ich würde mich so freuen. Schau, ein Ensemble nur aus Frauen, das hat es hier noch nicht gegeben. Wir müssen auch nicht unbedingt Klassik spielen, und mit dir wären wir ein Spitzen-Team, du, das stell ich mir schön vor, wenn …«

Elena lächelte, sagte aber nichts mehr. Carla unterbrach sich selbst: »Ich quatsche dich tot. Tut mir leid, aber außer ›Vorsicht, Paul‹ und ›Julia, nein, das geht nicht‹ habe ich heute noch nicht viel gesagt.«

»Schon okay. Ein andermal erzähl ich wieder was.«

»Jetzt gleich«, forderte Carla, aber Elena schüttelte nur den Kopf.

»Ich bin nicht in Stimmung.«

»Siehst du, das habe ich gleich gemerkt«, nickte Carla. »Und nur deshalb habe ich so viel geredet.«

Elena lächelte melancholisch. Wenn selbst Carla nicht mehr merkte, dass sie was auf dem Herzen hatte, wer sollte es dann noch mitbekommen?

»Übrigens: Wir proben am Mittwoch – und erwarte nicht zu viel. Wir stehen noch am Anfang.«

11

Das musste Gabi auch erfahren: Diese Hausmusik stand wirklich erst am Anfang. Jede sah nur in ihre Noten, keine hörte auf die andere. Sie war froh, dass Elena erst später kommen konnte. Denn erstens mochte sie die beste Freundin ihrer Schwester nicht besonders, vor allem aber hatte sie genug zu tun, Karin, Margarete und Carla anzuleiten – und dabei selbst noch zu spielen.

Aber es gefiel ihr trotzdem. Sie fand Margarete auf Anhieb sympathisch, und auch mit Karin kam sie aus, jedenfalls besser als ihre Schwester. Carla und Karin, das war eine schwierige Kombination. Carla hatte Spaß am Musizieren, spielte engagiert, wenn auch nicht immer richtig, redete dazwischen. Karin war da sorgfältiger, stur sah sie auf ihre Blätter, zählte manchmal laut.

Carla hatte Gabi vorbereitet, davon geredet, dass sie viel lieber alte Schlager als dieses klassische Zeug spielen wollte. Gabi hingegen war nicht so sicher, ob das in ihrem Sinne war. Sie suchte die Herausforderung mit ihrer Geige, sie mochte nicht irgendwelche abgedroschenen Melodien nachspielen. Dennoch hatte sie in einem Musikantiquariat nach passenden Noten gesucht und war fündig geworden – für alle Fälle hatte sie einige Lieder schon arrangiert und das Material mitgebracht. Nachdem sie gehört hatte, was Carla, Margarete und Karin aus dem Telemann-Trio machten, wusste sie, dass sie lieber alte Schlager passabel als Mozart und Bach miserabel spielen wollte.

»Wir sollten es doch mit den alten Schlagern versuchen«, sagte sie deshalb und warf einen verzweifelten Blick auf Carla, die sich bestätigt sah und angesichts des Fiaskos grinste.

»Ich habe da auch etwas mitgebracht.«

Karin verzog unwillig das Gesicht, aber Margarete war begeistert. Margarete wäre auch begeistert, wenn wir ›Hänschen klein‹ spielen würden, dachte Carla. Sie will einfach spielen und mit anderen Leuten zusammen sein. Gabi teilte die Noten aus, als es draußen klingelte. Margarete sprang auf und lief hinaus.

»Das ist Elena. Sie spielt Klarinette.« Carlas Vorstellung war kurz und schmerzlos. Elena sah sich skeptisch um. Sie hatte schon einiges von Carla gehört, aber alles hier bestätigte nur ihre schlimmsten Befürchtungen. Da war diese betuliche Alte, die sie freundlich anlächelte, dann diese Hausfrau mit dem Mann aus besseren Kreisen, und Gabi. Aber um mit Carla zu spielen, war es diese Geschichte schon wert. Ob wirklich Musik rauskäme, da war sie nicht sicher. Zunächst einmal war sie die Neue und wahrscheinlich auch die Schlechteste in dieser Band. Jahrelang hatte sie ihre Klarinette nicht mehr angerührt und die paar Stunden, die sie jetzt geübt hatte, würden sicher nicht ausreichen, um heute einen guten Eindruck zu machen.

Carla aber hatte vorgesorgt. Sie hatte Gabi gebeten, die Schlager so zu arrangieren, dass die Klarinetten- und Saxophonstimmen nicht schwierig waren. Gabi war das nur recht, denn die Soli wollte sie ohnehin am liebsten selbst übernehmen. Da wusste sie wenigstens, was dabei rauskam.

Karin hatte den Verdacht, dass hier eine kleine Verschwörung im Gange war. Wie hatte das alles gleich noch mal angefangen? Wollte sie nicht mit dieser feinen älteren Dame zusammen Musik machen, schöne, alte Musik? Mochte sie wirklich mit dieser abgehetzten jungen Hausfrau von nebenan und dieser Freundin spielen? Aber sie hatte ihrem Mann versprochen, dass sie nun einmal etwas für sich alleine machte, ganz ohne ihn, jetzt wollte sie nicht gleich aufgeben.

Gabi fühlte sich wohl in ihrer neuen Rolle als Chefin des Ensembles. Endlich jemand, der auf sie achtete. In der Schule hörte sowieso kaum jemand in der Musikstunde zu, aber hier bemühten sich die Frauen wenigstens, ihre Anregungen umzusetzen. »In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee.« Gabi spielte die Melodie, Elena und Carla schmachteten sich mit ihren Instrumenten an, bis Carla vor Lachen aufhören musste.

Elena setzte kurz ihre Klarinette ab.

»Ich bin nicht mehr in Form«, entschuldigte sie sich, aber auch Margarete hatte längst genug.

»Es reicht doch für heute.«

Das fand Gabi nun keineswegs. Es hieß ja Probe und dementsprechend sollten sie doch intensiv arbeiten. Aber Carla machte ihr ein Zeichen – sie musste ohnehin dringend weg. »Jana kann nur bis fünf Uhr aufpassen«, flüsterte sie ihrer Schwester zu.

»Wieso denn das?«

Gabi runzelte die Stirn. Was sollte ihre Tochter noch vorhaben? Warum wusste sie nichts davon? Margarete hatte sich inzwischen in die Küche zurückgezogen, Carla und Elena putzten ihre Instrumente, Karin verstaute ihr Cello. Gabi spielte noch leise vor sich hin, doch dann packte sie ebenfalls ein. Als Margarete mit Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer kam, winkten allerdings die meisten ab.

»Ich muss zu meinen Kindern«, entschuldigte sich Carla.

»Ich muss noch arbeiten«, sagte Elena und Gabi schloss sich an. Margarete war enttäuscht, Karin hingegen triumphierte. Wenigstens beim Kaffee würde es so sein wie in den letzten Wochen.

12

Ludwig hatte gekocht – und er war nüchtern. Selten hatte Elena ihn so heiter erlebt. Er deckte den Tisch, nein, sie durfte ihm auf keinen Fall helfen. Gekocht war übertrieben. Er hatte offenbar ein Delikatessengeschäft geplündert. Mit einem lauten Plop ließ er den Korken aus der Champagnerflasche knallen, füllte zwei Gläser und strahlte Elena an.

»Seit einem halben Jahr sind wir nun ein Paar. Ja, ja, das habe ich mir gemerkt. Ich weiß, du hast es mit mir nicht immer leicht. Aber ich danke dir für dein Verständnis und deine Hilfe – ohne dich wäre ich ein Nichts. Auf uns beide.«

Elena war gerührt. Es würde doch noch alles schön werden. Da hieß es immer, Menschen änderten sich nicht.

Er hat sich verändert, dachte Carla, die gerade die Kinder ins Bett gebracht hatte. Peter wollte noch ein paar Unterlagen durcharbeiten.

»So geht das nicht weiter«, sagte sie, als er mit einem Aktenordner unter dem Arm auf dem Flur an ihr vorbeiging. »Du tust fast nichts mehr im Haus, du machst kaum noch was mit den Kindern.«

»Ich mach doch sowieso alles falsch mit Julia und Paul. Also lass ich es – du kannst es besser.«

Mist, dachte Carla, gut gekontert.

»Okay, ich misch mich nicht mehr ein. Und wenn du die Kinder nimmst, kann ich endlich mal was Eigenes machen.«

»Weißt du denn schon, was?«

Carla fühlte sich in die Ecke gedrängt.

»Irgendwas, Hauptsache was anderes.«

Peter lächelte süffisant. Carla hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

»Weißt du eigentlich, was ich hier für einen Stress habe?«

»Frag doch mich mal, was in der Arbeit los ist!«

»Das ist jetzt echt unfair!«

»Wenn du weißt, was du willst, dann kannst du mir vielleicht auch sagen, wie ich dir helfen kann.«

Peter packte seine Sachen und lief die Treppe hinauf ins Büro. Den krieg ich heute nicht mehr zu Gesicht, überlegte Carla. Er hat sich verändert, er ist nicht mehr derselbe.

Er ist immer noch derselbe, dachte Karin. Heinz saß auf dem Sofa und betrachtete durch die Lupe seine Briefmarken. Das muss doch langweilig sein mit diesen kleinen bunten Bildchen. Aber seit mehr als zehn Jahren tut er nichts anderes in seiner Freizeit. Heinz blickte kurz auf. Ihr ist langweilig, dachte er, sie braucht etwas Ansprache.

»Warst du nicht heute bei deiner Freundin zum Musizieren?« Karin nickte.

»Und?« Heinz senkte den Kopf wieder, um seine wundervolle Neuerwerbung zu betrachten. »Macht’s noch Spaß?«

Karin zuckte die Schultern.

»Ich weiß nicht recht. Wir sind jetzt zu fünft.«

»So, so«, murmelte Heinz und schlug eine neue Seite in seinem Album auf. »Sind sie alle so nett wie diese Rentnerin da?«

»Sie sind sehr unterschiedlich«, sagte Karin ausweichend. »Und wir machen jetzt auch andere Musik. Alte Schlager und so.«

Heinz blickte überrascht auf und runzelte die Stirn.

»Schlager? Gefällt dir das denn überhaupt?«

Das gefällt mir, dachte Elena. Ein schönes Essen, ein gemütlicher Abend, vielleicht noch eine gemeinsame Nacht. Aber morgen musste sie früh raus – Arbeitsfrühstück mit einem Kunden.

»Was denkst du?«

Ludwig sah sie aufmerksam an. Elena schreckte hoch.

»Ach nichts. Höchstens, wie schön es hier ist.«

»Es wird noch viel schöner.«

Ludwig nahm sie in den Arm und Elena seufzte. Sie hatte noch so viele Fragen, zum Beispiel, woher er das Geld für dieses luxuriöse Abendessen hatte. Ein neuer lukrativer Auftrag? Ging sie das überhaupt etwas an? Hatte sie zu wenig Vertrauen? Warum konnte sie nicht einfach nur genießen?

Wie er es genoss, seine Briefmarken zu betrachten. Wie er im Katalog blätterte. Jetzt sah er sie liebevoll an. Liebevoll und aufmerksam war er immer gewesen, das war er heute noch. Er fragte nach ihrer Hausmusik, er beriet sie, wenn sie Probleme oder Fragen hatte. Und er war zuverlässig. Das konnten nicht alle Frauen von ihren Männern sagen. Wenn Margarete klagte, ihre Söhne meldeten sich nie, war sie froh, keine Kinder zu haben. Das wollte sie nicht erleben. Was war sie damals unglücklich gewesen, als der Arzt sagte, sie würde nie Kinder bekommen. Aber vielleicht hatte es doch einen Sinn gehabt. Man muss nicht alles im Leben haben, dachte sie, manches kann man sich wirklich ersparen.

»Ich bin müde, ich gehe ins Bett.« Sie stand auf. Heinz blickte hoch. Er lächelte sie freundlich an.

»Ich komme gleich nach«, nickte er.

Karin ging nach oben. Würde das jetzt immer so weitergehen, für alle Zeiten?

Das geht so nicht weiter. Carla klapperte heftig mit dem Geschirr in der Küche. Ich will arbeiten gehen, ich will hier nicht versauern. Bloß weil er Karriere macht. Stellt mich dar, als wär ich die letzte Glucke. Soll mir erst mal mehr helfen, dann fällt mir vielleicht auch ein, was ich machen könnte. Er hat gewusst, dass ich arbeiten will. Haushalt ist nichts für mich. Ich kenne diese Geschichten doch, knurrte sie vor sich hin. Erst sollen die Frauen zu Hause bleiben, dort verblöden sie vollkommen und dann kommt der Kerl mit einer Geliebten an und sagt, du bist doch keine Gesprächspartnerin mehr für mich, du hast doch nur noch Kochen und Putzen im Kopf. Das würde ihr nicht passieren. Sie machte schwungvoll auf dem Absatz kehrt und ließ vor Schreck die Teller fallen. In der Küchentür stand Peter und grinste sie an.

»Du bist süß, wenn du wütend bist.«

Er nahm sie in den Arm. Carla spürte noch ihren Ärger, aber … es könnte auch nett werden. Doch da warf Paul seine Sirene an und heulte erbärmlich durch die Nacht. »Die Teller waren zu laut«, meinte Peter.

Carla spürte die Wut wieder aufsteigen. Peter aber grinste immer noch.

»Soll ich die Scherben aufkehren oder den Kleinen beruhigen?«

Alltag essen Liebe auf, dachte er, als er dann zum zehnten Mal Pauls Spieluhr aufzog. War das nicht mal ein Filmtitel gewesen?

13

Margarete war in banger Erwartung ihrer neuen Freundinnen. Die Proben machten ihr Spaß. Die alten Schlager gefielen ihr. Sie erinnerten sie an ihre Jugend, an die ersten Jahre mit ihrem Mann, an die Zeit, wo sie regelmäßig zum Tanzen gingen. Es war eine schöne Zeit gewesen. Er hatte noch um sie geworben, er war aufmerksam und galant gewesen. Ihr erster fester Freund, sie war sicher gewesen, dass sie nie mehr einen Mann so attraktiv finden würde wie Richard. Sie war zu Hause geblieben, um sich um die beiden Söhne zu kümmern, Karsten und Florian. Als die Jungs auszogen, wollten sie reisen, etwas vom Leben haben. Aber es war anders gekommen. Schnell schob Margarete den Gedanken daran wieder weg. Es war so aufregend, einmal pro Woche das Haus voller Menschen zu haben, die alle ihre Geschichten, ihre Ideen, auch ihre Probleme mitbrachten. Schon am Tag vorher backte sie Kuchen, freute sich auf das Treffen. Dieser Nachmittag war lebendiger als alle anderen, noch Tage nachher konnte sie davon zehren, alleine weiterproben, sich auf den nächsten Termin freuen.

»Ich habe ein paar neue Arrangements geschrieben«, begann Gabi die Probe und verteilte die Noten. »Es gibt nichts für eine so seltsame Instrumentierung. Aber es lässt sich machen.« Gabi war stolz auf ihre Arbeit. Jeder der Frauen gab sie ein paar Hinweise, als sie die Blätter auf das Pult stellte.

»Margarete, Sie haben hier einen sehr wichtigen Part. Beim Tango kommt es noch mehr als sonst darauf an, den Rhythmus zu halten. Das Temperament sollte sich schon in ihren Akkorden vermitteln.«

Margarete lächelte still vor sich hin. Temperament, ach ja. »Und Sie, Karin«, redete Gabi weiter, »werden Margarete dabei unterstützen. Sie haben ein paar sehr schöne Kantilenen drin. Die sollten Schmelz haben, Romantik, Schmerz, aber eben auch dieses Temperament, von dem ich gesprochen habe.« Karin sah Gabi mit großen Augen an und nickte. Gabi wusste wenigstens, wovon sie sprach, schließlich war sie Musiklehrerin. Carla und Elena aber traute sie nicht über den Weg. Wie sich die beiden wieder amüsierten. Lachten die etwa über sie? Das kann was werden. Elena konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: Margarete und Karin für das Temperament verantwortlich. Wir sollten dann besser langsame Walzer spielen. Elena warf einen Blick zu Carla und wusste, dass die Freundin genauso dachte. Schön, wenn einen jemand ohne Worte versteht, überlegte Carla. Elena hatte heute einen freien Tag eingelegt und war vormittags mit Carla Shopping gegangen. Julia im Kindergarten, Paul bei einem Freund – diese Freiheit musste Carla nutzen. Endlich einmal hatten sie sich wieder so verstanden wie früher. Witze, die nur sie lustig fanden, Anspielungen, die nur sie kapieren konnten. Nein, keine tiefsinnigen Gespräche, einfach nur Blödsinn und Spaß. Natürlich war da auch das verhaltene Temperament von Margarete und Karin Thema gewesen, als sie über ihr Ensemble so richtig ablästerten.

Aber sie sollten sich täuschen. Margarete gab ihren Akkorden auf dem Klavier das richtige Maß an Unglück und Leidenschaft, Karin spielte herzzerreißend. Gabi war begeistert: »Darauf können wir mit den Melodie-Instrumenten so richtig aufbauen. Aber es wäre schön, wenn sich Saxophon und Klarinette nicht so sehr vordrängen würden – mehr Gefühl, weniger Lautstärke.«

Patsch, das hatte gesessen.

Karin warf einen Blick auf Margarete, wollte mit ihr diesen Moment der Schadenfreude teilen, aber Margarete malte mit dem Bleistift ein paar Kringel in ihre Noten und achtete nicht auf das, was Gabi mit den anderen besprach. Karin lächelte still vor sich hin. Sie konnte mithalten.

Nach zwei Stunden intensiver Probe schüttelte Margarete den Kopf.

»Ich kann nicht mehr«, verkündete sie. »Vier neue Stücke und die alten dazu – das ist eine Menge Arbeit bis nächste Woche.«

Gabi hätte noch stundenlang weitermachen können, aber sie sah, dass Karin nach dieser Bemerkung sofort ihren Cellobogen entspannte und aufstand. Die Probe war beendet, bevor sie dazu etwas gesagt hatte. Um wenigstens noch den Anschein zu erwecken, dass sie die Zügel in der Hand hielt, sagte sie schnell: »Dann bis nächste Woche – es weiß ja jede, was sie zu üben hat.«

Margarete klappte den Klavierdeckel zu, stand auf und verschwand in der Küche. Während die anderen ihre Instrumente einpackten, kochte sie Kaffee.

»Wer muss gleich gehen?«, rief sie, aber sie bekam keine Antwort. »Habt ihr denn alle noch Zeit?«

»Also, ich schon«, rief Carla zurück und Elena schloss sich an: »Ich auch.«

Karin war erstaunt. Noch nie hatten sie alle zusammen nach der Probe Kaffee getrunken – wollte sie da wirklich dabei sein? Vermutlich würden die beiden Freundinnen den Ton angeben, das Gespräch bestimmen. Das passte ihr nicht. Sie ging in die Küche, um Margarete zu helfen.

»Ich finde das herrlich, dass ihr heute alle bleibt«, strahlte Margarete, als sie mit dem Geschirr zurückkam und den Tisch im Wohnzimmer deckte. »Endlich einmal haben wir Zeit, es uns so richtig gemütlich zu machen. Es ist schlimm, dass ihr jungen Frauen so viel am Hals habt. Immer diese Hetze.« Karin kam nun auch aus der Küche und während Margarete noch Tassen und Teller verteilte, stellte sie den Kuchen und das Gebäck auf den Tisch.

Als es klingelte, sah Margarete erstaunt hoch. Wer sollte das sein? Kopfschüttelnd ging sie zur Tür und stieß einen Freudenschrei aus: »Patricia – wie schön!«

»Hat Margarete ’ne Tochter?«, fragte Elena und Karin schüttelte den Kopf.

»Zwei erwachsene Söhne.«

Überglücklich sah Margarete aus, als sie mit einer jungen Frau wieder ins Wohnzimmer kam.

»Das ist Patricia. Sie war mal mit Florian befreundet. Und das sind meine Freundinnen: Gabi, Karin, Elena und Carla.« Patricia behielt die Hände in den Hosentaschen, sah von einer zur anderen und kaute bedächtig ihren Kaugummi.

»Ich will dein Kaffeekränzchen nicht stören, Margarete. Ich wollte nur mal vorbeischauen. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen.«

»Aber du störst doch nicht. Setz dich, ich hole nur noch schnell ein Gedeck.«

Patricia setzte sich tatsächlich. Sie sah offen auf die vier schweigenden Frauen, die sie mehr oder minder interessiert, freundschaftlich oder feindselig musterten.

Seltsam, dachte Elena. Margarete und diese junge Frau? Sie beobachtete Patricia genauso neugierig wie alle anderen am Tisch. Das kurze, blond gefärbte Haar, die Kleidung, die so sehr nach Siebzigerjahre aussah und doch wieder topmodisch war. Orange- und Brauntöne, dieses Moosgrün, diese Schlaghosen, die engen Tops, die Plateauschuhe – Elena hatte nur noch die späten Ausläufer dieser grauenhaften Mode mitbekommen, als sie mit acht Jahren versuchte, auf den Clogs ihrer Mutter zu balancieren. Trotzdem: Patricia trug ihr Outfit mit dem Selbstbewusstsein, das man brauchte, wenn man nicht aussehen wollte wie alle anderen. Auch Carla fand die junge Frau interessant und sympathisch, wie sie da saß und mit einem feinen Lächeln Margaretes Redestrom und die neugierigen Blicke der anderen Frauen über sich ergehen ließ. Gabi musterte Patricia verhalten-skeptisch. Es war keine Frau, die sie näher kennen lernen wollte. Typen dieser Art, nur ein paar Jahre jünger, konnte sie täglich massenweise in der Schule sehen. Dieses spätpubertäre Gehabe ging ihr schon bei ihren Schülerinnen auf die Nerven. Die war doch bestimmt über zwanzig – und immer noch so … Diese hohen Absätze – dabei war Patricia selbst schon mindestens einsachtzig. Karin hingegen hoffte, dass dies alles bald vorübergehen möge. Denn Margarete unterhielt sich fast ausschließlich mit Patricia, so glücklich war sie über deren Erscheinen.

»Studium ist okay«, meinte Patricia auf Margaretes Nachfrage. »Hab jetzt gewechselt. Von Sinologie zu Germanistik.«

»Die deutsche Literatur liegt dir wohl mehr?«

Patricia zog eine Grimasse bei Margaretes Frage.

»Vor allem versteh ich sie. In Sinologie müsste ich erst mal eine dieser abartig heftigen Sprachen lernen. Deutsch kann ich schon.«

Patricia stand auf.

»Ich muss dann«, sagte sie und warf noch einmal einen ironischen Blick auf die Frauen: »Wollte nicht stören. Ihr habt euch bestimmt viel zu sagen.«

»Aber Patricia!«

Margarete stand ebenfalls auf. Patricia guckte gerade irritiert auf die Noten, die noch auf dem Klavier lagen. Sie warf einen fragenden Blick auf Margarete. »Du machst Musik?«

»Aber deshalb sind wir doch alle da«, rief Margarete aus. »Habe ich das gar nicht erwähnt?« Sie bekam keine Antwort. Patricia ging zum Klavier, sah sich die Noten genauer an und begann dann zu singen:

In einer kleinen Konditorei

Da saßen wir zwei

Bei Kuchen und Tee.

Du sprachst kein Wort, kein einziges Wort

Und wusstest sofort,

Dass ich dich versteh.

Donnerwetter, dachte Gabi. Die hat aber eine schöne Stimme. Dunkel und rund, kräftig, aber mit einem Schmelz darin, nicht so tief wie Zarah Leander, aber ein voller, weicher Ton, um den sie sie wirklich beneidete. Gabi war keine begnadete Sängerin – leider. Ein Manko für eine Musiklehrerin.

»Das ist nicht ganz der Text, der dasteht«, warf Karin zögerlich ein.

Patricia lachte: »Passt aber auch.«

»Das ist wundervoll, Patricia«, freute sich Margarete und klappte sofort den Deckel ihres Klaviers wieder hoch. »Komm, weiter.«

Und das elektrische Klavier, das klimpert leise,

Eine Weise von Liebe und Glück.

Das steht auch nicht da, dachte Karin. Die anderen Frauen sahen sich fragend an. Hatte nicht Gabi schon einmal angeregt, dass eine von ihnen singen sollte? Margarete sah Gabi strahlend an.

»Nun – das ist die Stimme, die uns fehlt. Sollen wir noch mal die Instrumente auspacken?«

Karin stand sofort auf.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuauflage
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822657
DOI
10.3239/9783942822657
Dateigröße
1.5 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (August)
Schlagworte
Musik Band Frauenband Freundschaft Lebensweg Suche nach dem Glück Freundinnen Lebensentwurf
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Titel: Nur mir ganz allein
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