
Eine launische Frucht namens Hoffnung
von
Gret Weyden
Seiten: (ca.) 252
Erscheinungsform: Originalausgabe
Erscheinungsdatum: 31.10.2013
ISBN: eBook 9783942822756
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

»Also greifst du beherzt zum elektrischen Dosenöffner und atmest tief durch. Langsam hebt sich der Deckel, und dann kommt’s – oder eben nicht: keine Ananas! Nur Saft. Aus, Ende, das war’s! Was bleibt, ist die Erkenntnis, wertvolle Zeit mit einer ananaslosen Beziehung vergeudet zu haben. Und du nimmst dir selbst das Versprechen ab: nie wieder Dose, nur noch Frischobst!«
In Sibille Frischs Vorstellung vom Beziehungsparadies hängen keine sündigen Äpfelchen am Baum der Erkenntnis, sondern reizvoll verpackte Ananasdosen. Doch die (ent-)halten leider nur selten das, was sie versprechen: leckere Frucht. In der Regel bleibt es bei Saft, und irgendwann ist sogar der verbraucht.
Da die Zeiten biblischen Alterns längst vorbei sind, sieht sich Bille angesichts ihrer fünfunddreißig Jahre mit der Frage konfrontiert: Wartest du noch oder heiratest du schon? Im aktuellen Angebot wäre da ihr »Dauerfreund« Matthias. Beamter, beziehungserprobt, einwandfreie Gene – ein solides Schnäppchen. Oder vielleicht der längst bereute Fehlkauf? Der ordentlich verkorkste Heiratsantrag lässt eher Letzteres vermuten.
Während Bille vor dem Regal des Lebens unentschlossen am Verlobungsringfingernagel kaut, fällt ihr unverhofft der Traummann vor die Füße. Klare Sache: Frischobst gefunden, Dose entsorgt, »Ja, ich will!«? Nix da! Denn die Umstände machen aus dieser vermeintlich perfekten Liebe einen Sündenfall, und auf den folgt bekanntlich die Vertreibung aus dem göttlichen Obstgarten.
Der Weg zum Traualtar führt Bille einmal quer durch die Hölle. Eine bittersüße Tortur, auf die sie liebend gerne verzichtet hätte.
»Eine launische Frucht namens Hoffnung« ist ein Roman für hoffnungslose Romantiker und hoffnungsvolle Realisten.
Details
- Titel
- Eine launische Frucht namens Hoffnung
- Autor
- Gret Weyden
- Seiten
- 252
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Preis (eBook)
- 5,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783942822756
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
1
Ich klingel. Obwohl ich einen Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern habe. Ich klingel aus Prinzip. Weil ich ein Vorbild sein muss. Für meine Eltern. Denn die haben auch einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Für absolute Notfälle. Aber an diese Absprache halten sie sich nicht. Was ärgerlich ist und störend. Und peinlich, weil, stellen wir uns mal vor, man vertraut darauf, dass die Erzeuger den Schlüssel nur für Im-Urlaub-Blumengießen-Briefkastenleeren-Stadtwerkereinlassen oder Tür-zu-Schlüssel-drin-Notfälle verwenden, und dann – Überraschung! – stehen die doch einfach mal so in der Tür, wenn man gerade was macht, was Eltern nicht mitkriegen sollen. Also so was wie Weihnachtsgeschenke verpacken oder Bikinizone enthaaren. Oder eben das, woran immer alle zuerst denken: Sex. Genau dann, wenn einer dieser raren Tage ist, ich in Stimmung, er in Stimmung, beide frei und absolut freizügig, geht mit hundertprozentiger Sicherheit die Tür auf, und ein fröhliches Mama-Rufen im Stil von »Hallo, Schatz, du, ich hab dir ein Kilo sizilianische Orangen vom Markt mitgebracht, die magst du doch so gerne« kippt einen Kübel Eiswasser über die knisternden Funken der Leidenschaft. Keine schöne Erfahrung. Versprochen. Vorsicht also, wem man seine Schlüssel aushändigt. Ich kriege meine dummerweise nicht mehr zurück, ohne einen Eklat zu provozieren.
Ich stehe nach wie vor vor der Tür meiner Eltern und klingel nun zum dritten Mal. Endlich macht mein Vater auf.
»Warum klingelst du? Nimm doch den Schlüssel! Du hast doch einen!«, raunzt er mich an und dreht sich um. Immerhin: Die Tür hat er nicht wieder zugemacht, um mich zum Einsatz des Schlüssels zu nötigen ...
Schon klar, es ist nicht an mir (immer noch Kind, egal, wie alt ich bin) meine Eltern zu erziehen, aber ein »Hallo, schön dich zu sehen, komm doch rein« hätte ich alles in allem netter gefunden als diesen Hinweis. Mir liegt außerdem ein »Weil ich eure Privatsphäre respektiere, Gast in eurem Haus bin und mich freuen würde, wenn ihr eine ähnliche Sensibilität an den Tag legen würdet, wenn ihr mich besucht« auf den Lippen, aber das lasse ich lieber, um diesen eigentlich so sonnigen Morgen nicht schon in den ersten Minuten zu ruinieren.
Mutter schießt aus der Küche und umarmt mich derart inniglich, als sei ich die verlorene Tochter, heimgekehrt nach jahrelanger Geiselhaft in einer brutalen Diktatur. Was schon ein wenig skurril ist, da wir uns gerade mal achtundvierzig Stunden nicht gesehen haben. Aber gut. Mich würde interessieren, wie meine Mutter mich behandeln würde, wenn ich tatsächlich aus dem Gulag heimkehrte ...
»Sibille, da bist du ja endlich. Schuhe ausziehen, Hände waschen, ich bin fast fertig.«
Ende der Illusion, dass mein Auftauchen sie in besinnungslose Freude versetzt haben könnte.
»Mama, ich bin ...«
»Mir ist egal, wie alt du bist, die Straßen werden nicht sauberer, die Menschen nicht gesünder, also ...«
Ihr Blick wandert vorwurfsvoll zu meinen Füßen und wird dort bleiben, bis ich ihren Wünschen nachgekommen bin.
Ich habe meine komplette Jugend versucht, mich gegen diese charmante Begrüßung und andere mütterliche Übergriffe zu wehren. Vergeblich. Nicht zuletzt, weil ich meine Mutter dann doch zu lieb habe, um ihr wirklich in aller Klarheit zu sagen, wie ich das finde. Und mich endlich von ihr und ihrer Dreckphobie, die irgendwie auf mich übergegangen ist, zu emanzipieren. Ich habe mal gelesen, dass man genauso lange braucht, sich von einer Sucht zu befreien, wie man süchtig war. Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, aber irgendein Datum muss ich mir ja setzen, um endlich erwachsen zu werden. Wenn ich also exakt die Zeit, die ich mit meinen Eltern zusammengelebt habe, nicht mehr mit ihnen zusammenlebe, sollte ich noch mal einen ernsthaften Versuch machen. Das wäre dann mit achtunddreißig. Noch drei Jahre. Die Zeit läuft, Mama.
Zum Glück werde ich nicht nur von Mutters Hygienewahn in Empfang genommen, sondern auch von dem verlockenden Duft nach frischem Brot, sonst wäre ich wohl sofort wieder umgedreht. Brot macht Mama zu besonderen Anlässen nämlich selbst. Dass ich ein besonderer Anlass bin, versöhnt mich fast schon wieder mit der Begrüßung.
Ich gehe also gut gelaunt ins kombinierte Wohn-Esszimmer. Der Tisch biegt sich unter dem, was meine Mutter als Minimalausstattung für Samstagsfrühstücke betrachtet. Ich bin von den Ei-Variationen, den sieben Sorten Marmelade, dem noch immer dampfenden Brot und dem goldigen Schimmer der Landbutter, die Mutter auf dem Bauernmarkt kauft, weil sie so schmeckt wie »früher«, derart abgelenkt, dass ich die drohende Gefahr nicht spüre.
»Und, wie geht’s im Geschäft?«, will mein Vater wissen. Mehr aus Routine, weniger aus echtem Interesse.
Ich setze mich zu ihm an den Tisch und schnappe mir eine Scheibe Brot. Großartig, noch warm. Butter drauf. Und dann Marmelade.
»Gut. Sommergrippe ...«
»Und sonst?«
»Gut.«
Erdbeer-Banane. Lecker.
»Aha. Dann hat er endlich ...«
Ich schlucke. Nicht nur, weil mein Mund voll ist. »Nein.«
Das können nur meine Eltern: Fragen nach dem beruflichen Fortkommen derart offensichtlich als Anlauf nutzen, um mit beiden Beinen ins private Fettnäpfchen zu springen.
»Aber er wird doch?«
»Du, frag ihn doch einfach.«
Mein Vater ist immun gegen Ironie, aber ich versuche es immer wieder. Mit dem immer gleichen Ergebnis.
»Meinst du wirklich? Ich könnte da schon mal ein bisschen ... so von Mann zu Mann.«
»Papa, das war ein Scherz.«
»War nicht lustig.«
Worum es bei dieser ausgesprochen sinnvollen Unterhaltung geht? Um meinen Freund Matthias, der gerade – nie hätte ich gedacht, dass ich ihn darum beneiden würde – mit seiner Handballmannschaft auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel ist. »Deinen Dauerfreund« nennen ihn meine Eltern. In der Beurteilung seiner Persönlichkeit schwanken sie zwischen Hoffnung – irgendwann muss er sich ja mal zu dem alles entscheidenden Schritt durchringen und unsere Beziehung »legalisieren« – und Ablehnung, denn wer es nach drei Jahren nicht geregelt bekommt, Fakten zu schaffen, der ist schlicht nicht der Mann, den sich meine Eltern (beides ausgewiesene Macher) für ihre Tochter wünschen. Diese locker-leichte Unterhaltung über mein Leben wäre sicher noch weitergegangen, hätte meine Mutter nicht in diesem Moment einen markerschütternden Schrei von sich gegeben. Mein Vater und ich starren meine Mutter an, während die, leichenblass, die hinterste Seite unseres Lokalblattes fixiert. Besagte Seite, die man durchaus als eine Art Hobby meiner Eltern bezeichnen könnte.
Die beiden haben die morbide Angewohnheit, sich gegenseitig Todesanzeigen vorzulesen. Dabei geht es nicht nur darum, sich auf dem Laufenden zu halten, wer noch unter uns ist, nein, sie berechnen auch noch bei jeder Anzeige, die wahlweise gefaltete Hände, in die Ewigkeit flatternde Schmetterlinge oder einfach nur dezente Balkenformationen zu bieten hat, wie alt dieser (»Nur drei Jahre älter als ich!«) oder wie jung jener (»Der hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich!«) die Bühne des Lebens verlassen musste. Die Einschätzung, wer zu jung oder gerade richtig abberufen wurde, ist übrigens nicht objektivierbar, sondern hat sehr viel mit der aktuellen Tagesform des Lesers zu tun.
An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Mamas Sechzigster unmittelbar bevorsteht. Und der ist schon was ganz Besonderes für die beiden, quasi ein gutes Zwischenergebnis auf dem Weg in die Ewigkeit. Die Sechzig – das beweist jedenfalls ihre akribisch geführte Statistik des Todes – schafft noch lange nicht jeder. Wahrscheinlich ist es eine Art Tribut an ihre bisher gelieferte Lebensleistung, dass ich überhaupt die Frühstückseinladung meiner Mutter angenommen habe. Anders kann ich es mir eigentlich nicht erklären, dass ich heute wider besseren Wissens hier am Tisch sitze und mir dieses Theater antue.
»Laura Kortmann«, haucht Mutter und fügt, als würde das alles erklären, hinzu: »geborene Nägele.« Betonung auf »geborene«.
»Die war in meiner Stufe. Was ist mit der?«
Mutter, tonlos: »Sie ist tot.«
Vaters dezent mit Heidelbeermarmelade verschmiertes Kinn klappt nach unten.
Ich versuche, die Situation zu entschärfen: »Sie war nur ein Jahr bei mir in der Stufe, dann ist sie auf die Realschule. Ich weiß nicht mal mehr, wie sie ausgesehen hat.«
»›Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot. Tot ist nur der, der vergessen wird‹«, zitiert meine Mutter mit Grabesstimme. Sie ist nicht zu bremsen, jetzt wechselt ihr Ton allerdings von betroffen zu vorwurfsvoll: »›Wir sind sehr traurig: Erik mit Lea, Mia und Tom‹. Sie hinterlässt drei Kinder! Drei!«
»Ja, und? Soll ich jetzt zur Beerdigung gehen, nur, weil wir ein Jahr lang in derselben Stufe waren, und sie drei Kinder hat, deren Namen alle drei Buchstaben haben, was – zugegeben – eine ansprechende Symmetrie darstellt?«
Mein Vater lässt bedeutungsvoll das Messer sinken. »Deine Mutter meint es nur gut. Wir machen uns Sorgen um dich, Sibille, große Sorgen.«
Erneut riskiere ich einen Scherz, obwohl ich eigentlich wissen müsste, dass mich dieser Versuch nirgendwohin bringen wird: »Das müsst ihr nicht, ich glaube nicht, dass noch mehr Leute aus meiner Stufe sterben, wir sind alles in allem ein sehr gesunder Jahrgang. Ich kann das beurteilen, ich habe Informationen aus erster Hand.«
Meine Eltern verstehen leider keinen Spaß. Und natürlich ist es in diesem kritischen Moment der Unterhaltung völlig ausgeschlossen, die Nahrungsaufnahme einfach so fortzusetzen, will man nicht komplett pietätslos erscheinen.
»Du weißt genau, wie wir das meinen, es geht darum, was man zurücklässt, wenn man eines Tages ...«
Meine Mutter kann nicht weiterreden, allein der Gedanke an den Tod der eigenen Tochter, möglichst noch vor ihrem eigenen, schnürte ihr die Kehle zu.
»Wir ... Wir wollen doch nur dein Bestes, Sibille. Der Mensch soll nicht alleine bleiben.«
Wenn noch einer behauptet, nur mein Bestes zu wollen, laufe ich Amok.
»Mama!«
»Aber das ist doch so! Drei kleine Kinder!«
»Man darf also erst sterben, wenn man sich durch die Geburt von Kindern dafür qualifiziert hat?«
Mutter wird dramatisch: »›Tot ist nur der, der vergessen wird‹, und du ... Kind, du wirst auch nicht jünger.«
»Mama!«
»Ich sage doch nur, was du ganz genau weißt, Sibille. Wie lange willst du denn noch warten? Wir mögen Matthias ...«
»Er hat sehr viele gute Seiten.«
»Aber du musst auch sehen, was am Ende dabei heraus kommt«, relativiert Mutter Vaters Einwurf.
Ich bin irritiert. Raten meine Eltern mir ernsthaft dazu, Matthias für eine unsichere, vielleicht einsame Zukunft zu verlassen, nur, weil »mein Dauerfreund« nicht mit einem Antrag um die Ecke biegt?
»Er ist wohl eher ein zurückhaltender Typ Mann. Vielleicht braucht er einen deutlicheren Hinweis.«
Nein, Irrtum, nix verlassen! Sie wollen nur, dass ich höchst persönlich dafür sorge, nicht einsam und allein zu sterben.
»Das müssen wir schon Matthias überlassen. Ich kann ihm doch nicht sagen ›Hey, voran junger Mann, ich möchte geheiratet werden‹«
»Und warum nicht?« Vater hat noch mehr zu bieten: »Nach außen tut ihr jungen Frauen immer so emanzipiert, aber dann, wenn’s drauf ankommt ...«
Tief Luft holen. Keine Argumente mehr bringen, es wäre vergebliche Liebesmüh. Mein einziger Gedanke ist »Flucht«. Sofort.
Und dabei habe ich noch Hunger! Ich hätte wirklich schneller essen sollen, verdammt. Aber frisches, knuspriges Brot hin, raffinierte Marmelade her, es reicht! Ich bin fünfunddreißig, da kann man mir doch nicht ernsthaft erklären, wie ich mein (Liebes-)Leben regeln soll! Und deswegen: dramatischer Abgang, Androhung von Kontaktabbruch bei weiteren Einmischungen in meine Angelegenheiten, Rückforderung des Wohnungsschlüssels (jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an), Türenknallen. Das wäre gut.
Aber stattdessen sage ich: »Oh, Mist, mein Handy, entschuldigt bitte.«
Ich hechte in den Flur und nestel umständlich das Gerät aus meiner Tasche. Kurzer erklärender Blick zu meinen Eltern: »War auf lautlos.« Dann: »Frisch! ... Nein, das kann doch nicht ... Einmal in der Woche würde ich gerne ein paar Minuten später ... Könnt ihr das nicht ohne mich? ... Gut, ich bin in zehn Minuten da.« Dann noch ein schnelles »Tut mir leid, die haben ein Rezept für eine Creme bekommen, die extra angerührt werden muss. Das kann leider nicht warten« an meine Eltern gerichtet, und ich bin raus aus der Nummer.
Mein Beruf geht bei meinen Eltern immer vor. Vor allem als Selbständige, so der Grundsatz meines Vaters, der sein komplettes Berufsleben Beamter war, müsse man sich ranhalten, »der Markt kennt keine Gnade!«. Was keiner besser weiß als er, schon klar. Er war bis zu seiner Pensionierung Direktor an meiner alten Grundschule. Mutter hat Schneiderin gelernt, aber nach meiner Geburt nur noch für Freunde gearbeitet. Macht sie gut. Und obwohl das so ist, waren meine Puppen die einzigen in der Familie, die maßgeschneiderte Klamotten hatten. Ich habe ihr ziemlich früh und für meine Verhältnisse überraschend kompromisslos klar gemacht, dass sie mir mit selbst genähten Bundfaltenbreitcordhosen keine Freude machen konnte. Dieser frustrierende Moment in ihrer Karriere war dann sicher mit dafür verantwortlich, dass sie nie wieder so richtig als Schneiderin arbeiten wollte.
Dass ich mich mit einer Apotheke selbständig gemacht habe, finden meine Eltern gut. Krank sind die Leute immer, mit so ’ner Apotheke, da kann man richtig Geld verdienen. Und deswegen akzeptieren sie so ziemlich alles, was die Apotheke an Arbeit mit sich bringt. Wochenend- und Nachtdienste, Notfälle und andere Überraschungen, kein Problem.
Aber so weit, dass ich für den Geburtstag meiner Mutter entschuldigt wäre, geht das Verständnis für meinen Unternehmerstatus dann doch nicht.
»Und vergiss nicht: Morgen um drei!«, ermahnt sie mich.
Wie hätte ich das vergessen können? Hat meine Mutter doch in der ganzen Wohnung die Vorstufen von Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirsch und einer namenlosen Eigenkreation, die, das muss man Mutter lassen, hervorragend schmeckt, verteilt. Außerdem gibt es schon seit Wochen – sieht man für einen Moment von ihren fatalistischen Ausflügen ins Reich der einsamen Toten ab – kein anderes Thema mehr als ihren Sechzigsten. Ich müsste schon geisteskrank sein, um nicht zu kommen. Moment, liegt so was bei uns nicht in der Familie? Da muss ich doch direkt mal ...
Nein, nein, das würde nichts werden. Aber immerhin schaffe ich es, der elterlichen Hölle ohne weitere Ermahnungen und Drohungen zum Thema Fortpflanzung und Tod zu entkommen. Ich will einfach nur weg. Besser hätte ich mich natürlich mit dem eben beschriebenen dramatischen Abgang gefühlt, aber das hat sich nicht bewährt. Ich spreche da aus Erfahrung.
Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fällt, geht es mir besser. Als ich ein paar Schritte gegangen bin, schlechter. Erstens, weil ich noch immer Hunger habe, und zweitens, weil die Worte meiner Eltern ihre Wirkung dummerweise dann doch nicht verfehlt haben. Sollten sie recht haben? Ich meine, mich kann morgen ein Laster überfahren. Und was ist dann? Wer trauert um mich? Wer setzt eine Anzeige für mich in die Zeitung? Wer steht an meinem Grab? Meine Eltern, klar, und die Belegschaft der Fabrizius-Apotheke, allen voran Kitty, meine PTA und gute Freundin, die so viel weinen wird, dass sie damit mindestens fünf Kinder ausgleichen kann. Dann noch meine Freundin Else. Und mein Damenstammtisch. Und Matthias, mein Dauerfreund. Also so wenige sind das doch gar nicht. Aber irgendwie fühlt es sich trotzdem nicht ausreichend an. Prima, Mama und Papa, habt ihr toll hinbekommen!
Matthias und ich haben uns bei einem Salsa-Kurs kennengelernt. Else hatte mich überredet, mit ihr hinzugehen. In ihrem Fall wollte sie einfach mal wieder das machen, was sie vor Ankunft der Kinder eins bis drei getan hat. Und für mich hatte sie vorgesehen, einen Mann an Land zu ziehen, mit dem ich die Zeugung der Kinder eins plus X in Angriff nehmen könnte. Damals war ich zweiunddreißig, in Elses Welt steinalt, hatte sie doch in »meinem Alter« – wir sind gleich alt, um genau zu sein, sie ist drei Monate jünger – schon drei Kinder in die Welt gesetzt und war, als wir uns für den Kurs angemeldet haben, mit dem vierten schwanger. Allerdings führt Else auch ein etwas anderes Leben als ich. So verfügt sie beispielsweise über einen hervorragend verdienenden Mann, der trotz seiner gerade mal vierzig Lenze, die in Torbens Fall maximal wie dreißig aussehen, eher alte Schule ist. Er verdient das Geld, und sie kümmert sich um Haus und Kinder. Nicht, dass ich uneingeschränkt gut finde, was Else da macht. Mir persönlich wäre das schlicht zu eng und – darf ich den wortreichen Schilderungen ihres Alltags Glauben schenken – zu öde. Aber gut, »Jedem Tierchen sein Plaisierchen«, sagt man doch. Jedenfalls: Else wollte mich in diesem Tanzkurs verkuppeln. Gerne mit so etwas Flottem wie Torben. Männer, die in einen Salsa-Kurs gehen, so ihre Theorie, sind alles in allem sportlich, fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen und bereit, nette Frauen kennenzulernen.
Wir also ab in die Mosquito Bar, wo der Kurs steigen sollte. Anfänger. Klar. Wir waren zwar forsch, aber nicht größenwahnsinnig. Selbst Else, die in grauer Vorzeit mal ein paar Kurse mit ihrem Torben besucht hatte, bevor der mit seinem Sportgeschäft zum Mega-Businessman aufgestiegen und mehr unterwegs als daheim war, erklärte sich ohne Diskussionen bereit, den Anfängerkurs zu buchen. Nicht zuletzt, weil sie, wie eben schon erwähnt, ziemlich schwanger war. Außerdem seien im Anfängerkurs, das versicherte uns damals die Frau am Telefon, viele Singles unterwegs, während sich in den Fortgeschrittenenkursen schon Paare gefunden hätten. Alles klar, das war also der Kurs, in dem Else für mich mein Glück suchen wollte. Und ich? Ich war nach diversen Jahren Singledasein, denen eine schmerzhaft gescheiterte Fernbeziehung zum falschem Mann voranging, zu allen Schandtaten bereit und verhalten optimistisch.
Dummerweise waren wir nicht die Einzigen, die mit diesem weit vom Tanzen lernen entfernten Ziel zum Kurs angetreten waren. Eine beeindruckende Zahl herausgeputzter Frauen mit diesem Das-muss-heute-unbedingt-was-werden-Blick in den Augen, den ich hoffentlich nicht hatte, war in die Mosquito Bar gekommen, um Jagd auf die nur vereinzelt erschienenen männlichen Alleintänzer zu machen. Die Dame am Telefon hatte ganz offensichtlich vergessen zu erwähnen, dass diese »vielen Singles im Anfängerkurs« allesamt weiblich waren. Prima. Wir am Ende der Welt, und außer ’nem ausgesprochen knackigen Tanzlehrer, der rein rechnerisch, also wenn da ganz viel schief gegangen wäre in meiner Jugend, knapp mein Sohn hätte sein können, kein zu erobernder Mann in Sicht, dafür aber massig Konkurrentinnen. Ganz großartig.
Wobei der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollte, dass das Ende der Welt ausgesprochen malerisch war: ein kleiner See, diverse Fahnen, die der Besitzer aus Thailand herangekarrt hatte, und die nun im sanften deutschen Sommerwind wehten. Hier und da tummelten sich noch ein paar versprengte Schwimmer im See, Familien und Kinder waren längst gen Heimat verschwunden. Alles roch irgendwie nach Urlaub. Die Wände des Lokals waren mit Bambus verkleidet, und die Cocktails schön bunt und erfreulich alkoholreich, jedenfalls für diejenige von uns, die nicht gerade schwanger war. Alles in allem konnte man es hier schon aushalten. Auch wenn keine attraktiven Männer-ohne-Frauen in Sicht waren.
Wahrscheinlich war es meine entspannte Haltung – wenn keiner mit uns tanzen wollte, dann eben nicht –, die mich auf die Gewinnerstraße brachte. Eine Gewinnerstraße namens Matthias.
Matthias ist, nun ja, nicht unbedingt der »Hallo-da-bin-ich-Typ«. Die Frauen mit Partner und die Frauen, die jede Hoffnung aufgegeben hatten, noch einen zu finden und sich deswegen zu rein weiblichen Paaren zusammengetan hatten, machten schon die ersten vorsichtigen Schritte, als Matthias in die Bar kam. Ihm war es denkbar unangenehm, dass sich, kaum hatte er den Tanzbereich betreten, sofort die Frauen, die dem eigenen Geschlecht nicht ganz so offen gegenüberstanden, auf ihn stürzten.
»Hallo, einsamer Mann, du siehst aus, als könntest du es mit mehr als einer von uns aufnehmen«, gehörte zu der Kategorie Spruch, bei der selbst weniger sensible Naturen sich umgehend in ihr mentales Schneckenhaus zurückziehen und dort bleiben, bis der Spuk vorbei ist. Und genau das plante Matthias und die körperliche Flucht gleich mit dazu.
Doch dann kam ich. Also nicht absichtlich, sondern eher zufällig. Ich war nur mal kurz um die Ecke, Hände waschen, und da sah ich ihn. Das hört sich jetzt ein bisschen so an, als wären da Weichzeichner und Licht und Musik im Spiel gewesen. Ganz und gar nicht, obwohl ... da war diese Discokugel, die so schöne Lichtfleckchen wirft und Musik gab’s natürlich auch, also hatte das wohl doch etwas damit zu tun, jedenfalls: Ich kam zurück in die Bar, er sah mich, ich lächelte – weil ich das immer tue, wenn mich jemand anlächelt, es könnte ja ein Kunde sein, als Einzelhändler muss man da fast so auf der Hut sein wie ein Politiker – er jedenfalls verstand das offensichtlich als Aufforderung, machte sich von den Hyänen los und reichte mir die Hand. Dann drehte er sich zu den aufdringlichen Weibern um und sagte: »Tut mir leid, bin schon vergeben.« Ich setzte in Windeseile die Elemente »einzelner Mann, geifernde Weiber« zusammen und verstand sofort, dass er sich nicht stehenden Fußes in mich und mein strahlendes Äußeres – ich sage nur Discokugel – verliebt hatte, sondern schlicht und einfach Asyl suchte. Aber da ich schon immer dafür war, das Asylrecht zu lockern, nahm ich ihm das nicht krumm, ließ meine Hand in seiner, und wir gingen zusammen unter den todbringenden Blicken der Damen in Richtung Tanzfläche. Nur eine, die schaute ausgesprochen zufrieden: Else.
Dieser Moment unseres Kennenlernens, das war – ja, eine solche Feststellung ist hart, wenn man sie nach gut drei Jahren Beziehung macht – das Romantischste, Spontanste und Mutigste, was Matthias jemals in meiner Gegenwart und außerhalb einer Handballhalle (auf dem Platz ist er ein Tier) getan hat. Das wusste ich damals aber nicht. Ich war verliebt und folgte von diesem Moment an streng dem Ananas-in-der-Dose-Prinzip, kurz: Dem Ananas-Prinzip.
Das Ananas-Prinzip ist der Grund, warum so viele Beziehungen sich so lange hinziehen, ohne, dass irgendjemand richtig glücklich ist. Wie es dazu kommt? Wir stehen vor dem Regal des Lebens, und unser Blick fällt auf eine Ananasdose. Wir mögen Ananas. Ananas ist toll. Und in der Dose (ja, die Dose ist der Mann, und das, was er an Romantik, Kreativität, Erotik und so weiter im Angebot hat, das ist die Ananas) ist ganz sicher Ananas, denn auf der Banderole ist eine Ananas abgebildet. Es besteht also kein Zweifel, in der Dose befindet sich Ananas. Zur Sicherheit piekst du den Deckel mit einem altmodischen Dosenöffner auf, drehst die Dose auf den Kopf und fängst probehalber ein paar Tropfen mit der Zunge auf. Ist süß und schmeckt nach Ananas, muss also – der Geschmackstest beweist es – wirklich Ananas drin sein. In Stücken oder Ringen, aber Ananas ist es auf jeden Fall. Das ist der Glaube, die feste Überzeugung, an der du dich festhältst. Und dieser Glaube bringt dich über die Wochen, die Monate und Jahre, in denen du dich zunehmend häufiger fragst, ob der Kerl an deiner Seite wirklich der Richtige ist, ob da wirklich so viel Aufregung, Prickeln und Liebe drin ist, wie der Anfang es versprochen hat. Fühlt sich nicht so an, aber immer, wenn du die Dose umdrehst, ist da noch immer der zuckersüßen Saft, du bleibst also dran.
Irgendwann aber wunderst du sich, warum der Saft nicht langsam ausgetrunken ist. Warum du keine Stücke oder Ringe in der Dose herumschütteln kannst. Du willst endlich ein Stück von der Ananas essen, denn die wurde dir ja schließlich versprochen. Also greifst du beherzt zum elektrischen Dosenöffner und atmest tief durch. Langsam hebt sich der Deckel, und dann kommt’s – oder eben nicht: Keine Ananas! Nur Saft. Aus, Ende, das war’s! Wie lange auch immer du dich an der Idee festgehalten hast, dass der Kerl dir irgendwann Ananas liefert, in dem Moment, in dem du die leere Dose vor dir siehst, ist klar, dass es vorbei ist. Dass selbst der tiefste Glaube an Ananas nicht über die Wahrheit hinwegtäuschen kann: Der Typ wird nie der sein, für den du ihn am Anfang eurer Beziehung gehalten hast. Was bleibt, ist die Erkenntnis, wertvolle Zeit mit einer ananaslosen Beziehung vergeudet zu haben. Und du nimmst dir selbst das Versprechen ab: Nie wieder Dose, nur noch Frischobst!
Genauso lief und läuft das bei Matthias und mir. Nach diesem Anfang, so dachte ich mir das, würden wir eine wilde, eine romantische, eine aufregende Beziehung haben. Ich war bereit, über alles hinwegzusehen, was mich bei klarem Verstand von einer Beziehung mit Matthias Orth, damals vierunddreißig, Beamter im Einwohnermeldeamt auf dem Weg zum Verwaltungsfachwirt, abgehalten hätte. Mittlerweile ist er Leiter seiner Arbeitsgruppe, was die Sache aber alles in allem nicht besser macht. Denn seine Beförderung und der damit verbundene Zuwachs an Selbstbewusstsein machen ihn leider nicht zu dem Mann, in den ich mich damals, eingelullt von wilden Projektionen, verliebt habe. Um genau zu sein, habe ich schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass demnächst nicht nur der Glaube an die Ananas verschwindet, sondern uns auch noch der Saft ausgeht.
Ist also keine gute Idee meiner Eltern (und vor allem kein guter Zeitpunkt), auf Eheschließung zu drängen. Mit diesem Unterfangen hätten sie vielleicht vor drei Jahren Erfolg gehabt, als ich noch frisch verliebt war, aber jetzt? Nein, das wird nichts, liebe Eltern. Die Frage ist nur, wann ich Matthias mit dem drohenden Ende unserer gemeinsamen Vorratshaltung konfrontiere? Wenn dieses denn überhaupt noch als drohend und nicht schon als beschlossen bezeichnet werden sollte. Es gibt viele Umstände, die eine Trennung in unserem Alter und unserem Beziehungsstatus so unglaublich unangenehm machen. Wir wohnen seit einem Jahr zusammen. Das heißt, eine Trennung würde das sorgfältige Auseinandersortieren von Dein und Mein bedeuten und nicht nur den Austausch von Zahnbürsten und drei Garnituren Ersatzklamotten. Ich habe so etwas noch nie gemacht, aber ich stelle es mir furchtbar vor.
Matthias ahnt nicht einmal, dass ich emotional auf dem Rückzug bin. Er weiß nicht, dass er als Mann und Partner angezählt ist. Vielleicht wäre das anders, fehlende Ananas hin oder her, wenn er Fakten schaffen würde. Vielleicht würde ich ja sagen, wenn er mich endlich einmal wieder überraschen würde. Zum Beispiel mit einem Antrag, der mich so berührt wie dieser erste Moment, in dem wir uns kennengelernt haben. Vielleicht.
Ich bin, Else sieht das genau so, keine dreißig mehr, er ist, das sieht Else auch, ein guter Mann, nach einigem Zutun meinerseits in Sachen Frisur und Kleidung könnte man ihn sogar als attraktiv bezeichnen. Er war mir in all den Jahren nie untreu, hatte immer Verständnis, wenn es in der Apotheke mal wieder länger dauerte, oder ich am Wochenende Abrechnungen machen musste. Er Handball und seine Jungs, ich Arbeit und Freundinnen. Er mag meine Eltern, meine Eltern lieben ihn – trotz fehlender Entscheidungskraft. Wobei man hier einschränkend bemerken muss, dass meine Eltern so ziemlich jeden potentiellen Schwiegersohn mit offenen Armen empfangen würden.
Aber zurück zum Anfang meiner Überlegung, Matthias könnte der Mann sein, dem ich die Hand zur Ehe reiche, wenn da nicht zu viele Wenns wären, die diesem Schritt dummerweise entgegenstehen. Die Frage ist nun: Ist es an der Zeit, die Beziehung zu beenden? Und wenn ja, wann sollte ich es ihm sagen? Ich tendiere dazu, es erst zu tun, wenn Mamas Geburtstag vorüber ist. Den Sechzigsten mit lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus zu feiern, das muss dann doch nicht sein. Womit wir wieder beim Lieblingsthema meiner Eltern wären: Der Tod. Der einsame Tod, um genau zu sein. Der einsame Tod, der mir so viel Angst macht, dass er Matthias, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe, in einem ganz anderen Licht leuchten lässt.
2
»Warum bist du noch da?«
»Nicht noch. Wieder. Das Spiel ist ausgefallen. Die vom SC Daun haben alle Magen-Darm.«
In Gedanken sehe ich eine komplette Handballmannschaft im Bus, die ... Nein, das sollte ich lieber lassen.
»Das tut mir leid!«
»Ja, ist doof, aber kann man nichts machen. Gibt ’ne Wiederholung. Aber wenn ich jetzt schon mal da bin, könnten wir doch endlich zu IKEA fahren.«
Und hier ist er wieder, der Grund, warum ich – Angst vor einsamem Tod hin oder her – Matthias doch nicht heiraten kann, sollte er mich denn jemals fragen. Das wäre seine Chance gewesen! Er hätte statt »IKEA« einfach nur sagen müssen: »Weißt du was? Das ist doch richtig gut. Dann nehmen wir einfach eine Decke, holen uns auf dem Weg ein paar Kleinigkeiten bei Hassan, die gefüllten Weinblätter und die Oliven, die du so magst, schnappen uns eine Decke und legen uns an den Rhein. Na, wie klingt das für dich? Kannst du schon mal die Flasche Cremant holen, die ich gestern kalt gestellt habe?« Aber nein, IKEA! Und damit weit entfernt von den modernen Märchenbüchern, die ich lese, wenn in der Apotheke gerade mal nichts los ist.
In diesen Büchern, die alle diese lustigen, bunten Umschläge haben, da gibt es sie, diese perfekten, kreativen, spontanen Männer, die die richtigen Dinge zur richtigen Zeit sagen, und die Frauen wie mir die realen Männer, die genau das nicht können und niemals können werden, abspenstig machen. IKEA, ich fasse es nicht. Aber was soll ich machen? Romantisch in zehn Schritten funktioniert nun mal nicht. Es ist aussichtslos. Ich kann Matthias’ Haare ändern, ihn dazu bringen, T-Shirts statt fiesem Feinripp unter seinen Oberhemden zu tragen. Ja, ich kann ihn sogar dazu überreden, mal in ein Restaurant zu gehen, das nicht exakt das kocht, was seine Mutter ihm bis zu seinem Auszug aus dem elterlichen Nest vor viel zu wenigen Jahren vorgesetzt hat – all das kann ich tun, aber eine Gehirnwäsche übersteigt dann doch meine Möglichkeiten.
Also IKEA. An einem Samstag. Gleichbedeutend mit Höchststrafe. Matthias ist fest entschlossen, das Schuhschrankproblem ausgerechnet heute zu lösen, und da ich für dieses Problem hauptverantwortlich bin, kann ich noch nicht mal dagegen aufbegehren. Im Gegenteil: Ich sollte ihm dankbar sein. Die Würfel sind gefallen. Na, prima. Da bin ich meinen Eltern entkommen, und jetzt das. Eine klassische Vom-Regen-in-die-Traufe-Situation.
Wir schieben uns durch die Gänge mit Wohnbeispielen, die eine derart verspielte Architektur aus Eckchen und Winkeln verlangen, die es nur in den kühnsten Träumen von IKEA-Designern gibt, aber ganz sicher nicht in realen, deutschen Wohnschachteln. Das ist echt absurd, kein Architekt baut Wohnungen rund um PAX und Co.! Überhaupt: Wie kann man allen Ernstes einen Schrank FRIEDEN nennen, bei dessen Aufbau sicher schon tausende von Freundschaften beendet wurden und ungezählte Ehen in die Brüche gegangen sind? PAX?! Also wirklich! Aber was rege ich mich eigentlich auf? Es ist IKEA, und IKEA ist eben so. Ich kann mir übrigens durchaus vorstellen, dass der Laden in einem nicht wirklich geheimen Masterplan die Ikeaisierung der ganzen Welt vorantreibt, aber bislang – das zeigen die allerorten fehlenden Nischen und Winkelchen, die in der Ausstellung so charmant rüberkommen – ist die Sache ein wenig ins Stocken geraten. Wer hat schon in seiner Küche diese praktische kleine Ecke, in der man die Müll-Sammel-und-Sortier-Einheit WEGIST unauffällig unterbringen könnte?
Um uns herum finden sich bevorzugt junge Paare mit strahlenden Augen (aus Spaß merke ich mir immer ein Paar und beobachte, wie sich die Stimmung bis zur Kasse ändert, faszinierend) und gaaaanz viele Schwangere. Natürlich nur solche Schwangere, die permanent ihren Bauch streicheln, als müssten sie ihrer Leibesfrucht versichern, dass der ganze Stress gleich vorbei wäre – die vielen Menschen, der Geruch nach in Soße ertrunkenen Mini-Frikadellen, dem Geschubbse und Gedrängel. Selbst schuld, meine ich. Müssen die denn, sicher alle schon im Mutterschutz, ausgerechnet an einem Samstag zu IKEA fahren, um die Wickelkommode und das total praktische, aufhängbare Set aus Miniwäschekorb und Wasserbehälter zu kaufen? Könnten sie sich nicht auch an einem Montagmorgen, wenn jeder normale, nicht schwangere Erwerbstätige seinem Tagwerk nachgeht, auf die Jagd nach einer stimmungsvollen Lampe für die Stillecke machen? Nein, ich habe nichts gegen Schwangere, das wäre ja noch schöner, immerhin gebären die Damen meine zukünftigen Kunden, und wenn es keine Kinder und die dazu gehörenden Kinderkrankheiten mehr gäbe, dann hätte ich ein kleines Problem. Nein, ich habe was gegen diesen Blick. Diesen Ich-bin-ja-sooo-glücklich-Blick, und besonders fies finde ich diesen Du-armes-nicht-schwangeres-Purzelchen-Augenaufschlag. Der geht gar nicht.
Matthias weiß genau, was ich von solchen Situationen halte. Dafür kennen wir uns wirklich lange und gut genug. Deswegen drängt sich mir irgendwie der Verdacht auf, dass er diesen Ausflug genießt. Und die Schwangeren gleich mit dazu. Denn während ich abkürzen, also direkt in die Mitnahmeabteilung gehen und diese ganze schreckliche Ausstellung inklusive Kunden hinter mir lassen will, besteht er darauf, die komplette Runde zu machen, um sich »neue Ideen« für die Gestaltung unserer Wohnung zu holen. Aber sicher! Auf mich wirkt das vor allem so, als wenn er mich möglichst vielen Schwangeren aussetzen will. Zur Inspiration. Oder Provokation, von was auch immer. Welch hinterhältiger Plan! So hinterhältig, dass er mich – wäre ich nicht sein Opfer – fast schon wieder beeindruckt hätte.
Wir erreichen die Abteilung Kindermöbel. Der ultimative Treff- und Sammelpunkt für alle Eltern und Schwangere, die sich bis eben noch locker über tausende Quadratmeter Ausstellung verteilt haben. Also der ultimative Stresspunkt für Menschen, die sich gerade nicht vermehren oder dies in naher Zukunft planen. Immerhin ist das Ende nahe. Erst Kindermöbel, dann Restaurant, dann Kleinkram, dann Selbstbedienungshalle.
»Ist das nicht total niedlich?«
Ich kenne die Stimme, aber ich weigere mich, hinzusehen. Es gibt kaum etwas Unmännlicheres als Männer, die Dinge »total niedlich« finden. Ich will nicht den letzten Rest Respekt verlieren.
»Schau mal!«
Die Stimme kommt näher. Und vor meiner Nase landet ein »total niedlicher« Kuscheldrachen mit dem bezeichnenden Namen PUFFI. Innerlich sinke ich zusammen.
»Ja, sehr niedlich«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, denn ich sehe gerade, wie zwei schwangere Freundinnen zwei PUFFIS in Händen halten, damit über ihre riesigen Bäuche streichen, als wollten sie den Nachwuchs nach seiner Meinung fragen, und die PUFFIS dann, offensichtlich hat der Nachwuchs zugestimmt, in ihren riesigen gelben IKEA-Einkaufstaschen verschwinden lassen.
»Ich schenke ihn dir.«
»Ich will ihn nicht!«
Matthias starrt mich an, als hätte ich ihn ins Gesicht geschlagen. »Aber du liebst Drachen. Du musst ihn nehmen.«
Ich bin verwirrt. Spielt er auf meine Vorliebe für mittelalterliche Geschichten an, die ich alternativ zu den modernen Märchen mit den perfekten Männern lese? Von Drachen war da eher selten die Rede, warum wollte er mir also unbedingt diesen verdammten PUFFI …? In diesem Moment kann ich nicht umhin, ein wenig genauer hinzuschauen. Und da sehe ich ihn. Ach, du ...
Es sind natürlich die Damen mit den dicken Bäuchen, die sichtlich schneller schalten als ich, was PUFFI da im Maul hat. Das muss an den Hormonen liegen, die erhöhen einfach die Leitfähigkeit der Synapsen für derartige Informationen beim Anblick eines Ringes. Außerdem waren die eben auch nicht mit der Ablehnung eines Plüschtieres aus chinesischer Billigproduktion, Dioxin belastet, leicht entflammbar, und einem ausgeprägten Fluchttrieb in Richtung Selbstbedienungshalle beschäftigt, sondern sahen einfach nur folgendes Bild: Mann, kniend auf Boden, vor Frau. Sie hatten also nicht nur den hormonellen, sondern auch noch den perspektivischen Vorteil auf ihrer Seite.
»Oh, das ist ja so romantisch«, lässt sich die eine überlaut vernehmen.
Die andere ergänzt: »Wenn das meiner so gemacht hätte, ich wäre gestorben.«
Und das meint sie positiv. Dann dauert es nur noch Sekunden, bis eine Angestellte in einem blau-gelben Polohemd mit Tränen in den Augen zum Hörer greift (bestimmt auch schwanger, zwölfte Woche oder so) und – bevor ich ja oder nein sagen kann, bevor Matthias überhaupt die Gelegenheit hat, die alles entscheidende Frage zu stellen – der Lautsprecher über unseren Köpfen knackt: »IKEA gratuliert euch ganz herzlich zur Verlobung! Feiert diesen besonderen Tag in unserem Bistro mit GRAVAD LAX und einem Gläschen DRYCK LINGON! Und als kleines Geschenk bekommt das glückliche Paar noch einen Einkaufsgutschein in Höhe von fünfzig Euro! Lycka Till!«
Die Massen um uns herum reagieren euphorisiert. Strahlende IKEA-Klone (hat eigentlich irgendjemand mal untersucht, ob IKEA eine Sekte ist, und wie genau diese Free-Refill-Getränke zusammengesetzt sind?) geleiten uns zum bereits gedeckten Tisch mit Aussicht auf den zauberhaft überfüllten Parkplatz. Frage: Passiert hier so etwas öfter? Existiert eine Dienstanweisung, wie mit derartigen Ereignissen zu verfahren ist? Würde mich nicht wundern.
Matthias hat noch immer PUFFI in der Hand, PUFFI immer noch den Ring im Maul. Ein paar von denen, die am Samstag echt nichts Besseres zu tun haben, als in einem blau-gelben Kubus aus Stahl herumzuhängen – also Leute wie wir –, applaudieren sogar. Und ich bin allen irgendwie dankbar, denn so kann ich eine Antwort auf die nach wie vor nicht gestellte Frage noch ein wenig hinauszögern.
Da biegt auch schon der Store-Manager um die Ecke, schüttelt uns strahlend die Hände, nötigt uns und PUFFI, in eine offensichtlich jederzeit griffbereite Kamera zu grinsen, während er uns den Einkaufsgutschein überreicht, und dann haben wir endlich Ruhe. Oder was man halt hat, wenn man sich gerade öffentlich zum Horst gemacht hat. Matthias hatte sich das sicher anders vorgestellt. Der arme Kerl ist noch immer total überrumpelt.
»Mann, hab ich einen Hunger«, lasse ich meinen Beinaheverlobten wissen. »Der ist richtig gut, probier mal.«
Und bevor er etwas sagen kann, schiebe ich ihm ein Stück Toast mit GRAVAD LAX in den Mund. Endlich kann ich mein durch Flucht leider vor dem Eintreten der Sättigung erledigtes Frühstück doch noch zu einem befriedigenden Ende führen, so hat alles sein Gutes.
Die Heimfahrt verläuft eher anstrengend. Was zum einen daran liegt, dass ich natürlich darauf bestanden habe, den Schuhschrank zu kaufen. Ich mach doch nicht den ganzen Weg und fahre dann ohne Schrank nach Hause. Ich habe den höchsten ausgesucht, so dass das Paket vom hintersten Ende des Kofferraums bis zur Windschutzscheibe reicht und damit eine mehr als nur symbolische Trennung von Matthias und mir darstellt. Es redet sich einfach nicht gut, wenn der eine diesseits und der andere jenseits einer braunen Pappwand hockt. Außerdem habe ich, kaum haben wir den Beladevorgang beendet, meine »Ich-bin-Frau-und-stark-Songliste« meines MP3-Players gestartet. Und Matthias hat dank des Pappmonsters keine Chance, meine Musikwahl zu korrigieren. Und so fahren wir, Matthias, die Pappwand und ich, zu »Heavy Cross« und »I will survive« gen Heimat. Friedlich. Ohne weiteres Nachfragen bezüglich des Ringes, der noch immer im Maul des Viehs steckt. Dass sich dieser Zustand leider nicht beliebig lang ausdehnen lässt, bedauere ich schon während der Fahrt. Ich werde andere Methoden finden müssen, mich der drängenden, sicher demnächst gestellten Frage und der dann nicht minder drängenden Bitte um Antwort zu entziehen. Denn soweit bin ich bei der Analyse der Situation immerhin schon gekommen: Ich habe keinen Plan, ob ich Matthias heiraten will.
Der Wagen hält vor unserem Haus. Mit dem Drehen des Zündschlüssels verstummt die Beschallung.
Matthias, unnötig: »Wir sind da.«
Ich, ebenso unnötig: »Ja.«
Matthias: »Dann bauen wir den Schrank mal auf.«
Ich: »Oh, das tut mir total leid, ich kann nicht, ich hab Else versprochen ...« Eiliges Kramen in möglicherweise geleisteten Versprechen, die mich von hier wegbringen könnten. »… auf die Kinder aufzupassen. Sie und Torben müssen ...« Es wird kritisch. »... zur Paartherapie.«
Ich bin tot. Wenn Else das erfährt, bin ich tot. Und es wird ein langsamer, schmerzvoller Tod sein, wenn sie es Torben erzählt, und der sich an der Sache beteiligt. Das wäre dann mal eine ganz besondere Form der Paartherapie: Gemeinsames Töten von ehemaligen Freundinnen. Sicher sehr erfolgsversprechend.
Matthias überlegt einen Moment, dann nickt er. »Ich hatte eh das Gefühl, dass es bei den beiden schon ziemlich lange nicht mehr besonders läuft.«
»Ach, echt?« Ich bin überrascht, Matthias beobachtet das Paarleben von anderen Menschen und redet mit mir darüber? Mal sehen, welche Erkenntnisse er zu bieten hat. »Wie meinst du das?«
Matthias zögert. »Ach, nur so.«
Okay, zu früh gefreut. Hätte ja auch sein können, dass er wirklich was sagen will, über Torben und seine Nächte und Wochenenden in der Firma, über die Rollenverteilung in der Beziehung, über Kinder, über lange Ehen und deren fast schon Natur gegebenen Abnutzungserscheinungen, aber da habe ich ganz eindeutig zu hoch gesteckte Erwartungen. Immerhin, ich bin frei. Ich Babysitting, Matthias Schuhschrank.
Ich küsse ihn zum Abschied, nur kurz, aber lange genug, um ihm ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Und mich noch ein bisschen mieser zu fühlen. Dann steige ich in meinen Wagen, starte sofort und sehe im Rückspiegel, wie Matthias, der nun alleine das Vergnügen hat, sich dem Monsterkarton zu widmen, PUFFI im Kofferraum findet und mit dem Vieh winkt.
Ich beschleunige.
»Samstag bei IKEA zwischen den Kindermöbeln?!«
Else kann es nicht fassen. Ich weiß, dass Alkohol keine Lösung ist, aber ich muss zugeben, dass die Angelegenheit nach der ersten Flasche Winzersekt in meiner Erzählung schon deutlich lustiger rüberkommt. Jedenfalls, als Else ihr Glas erhebt, es an meines klirren lässt und dabei »Skål« sagt, geht es mir schon bedeutend besser. Aber die Frage, was nun zu tun ist, steht nach wie vor im Raum. Was, verdammt, soll ich tun? Selbst Matthias, nicht gerade der Handwerkerkönig, würde in absehbarer Zeit mit dem Aufbau des Schuhschranks fertig sein, und der Termin, den Else angeblich hat, nähert sich seinem gedachten Ende. Oder gibt es Marathontherapiesitzungen? Wohl eher nicht. Und dann? Was soll ich dann tun? Nach Hause gehen, Abendessen machen, Fernsehen, Schlafen. Das wäre ein Plan, aber irgendwie habe ich den dumpfen Verdacht, dass sich der nicht in die Tat umsetzen lässt.
Else geht die Sache – wie so viele Dinge in ihrem Leben – pragmatisch an.
»Er hat dir einen Antrag gemacht.«
Ich korrigiere: »Beinahe.«
»Darauf will er eine Antwort. Und das ist ja wohl verständlich. Also: Willst du ihn heiraten?« Else bleibt unbeirrt.
Mir fällt es – und das gibt mir zu denken – auch Else gegenüber nicht leicht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Will ich Matthias heiraten? Gegenfrage: Will ich die Beziehung zu Matthias beenden? Denn das wäre die logische Folge, wenn ich die erste Frage mit nein beantworte. Ich bin, ja, das meine ich ernst, verzweifelt. Und unsicher. Ananas hin oder her: Gegen ein Leben lang Ananassaft ist doch eigentlich nichts einzuwenden, oder? Oder?!
Else weiß nicht, was ich damit meine, obwohl ich ihr die Sache mit dem Ananas-Prinzip schon mindestens zehnmal erklärt habe. »Vergiss doch mal dieses komische Ding mit der Konservenbüchse, überhaupt sind diese Dosen total schädlich, ich würde die eh nicht kaufen an deiner Stelle.«
»Darum geht’s doch gar nicht. Was ich sagen will ...«
»Du als Apothekerin solltest doch eigentlich wissen, was da an Schwermetallen ...«
»Es ist nur eine Metapher.«
»Aber keine gute. Jedenfalls ökologisch gesehen. Also: Warum willst du ihn heiraten?« »Kannst du die Frage andersrum stellen? Warum will ich ihn nicht heiraten?«
»Stimmt, dich muss man immer andersrum fragen, damit du eine Antwort findest. Weißt du was? Du bist viel zu negativ, und genau das ist dein Problem. Du bist immer nur dagegen. Sei doch mal endlich für irgendwas.«
Else hat recht. Ich bin selten dafür und oft dagegen. Allein letzten Sommer: Ich war gegen Sommerurlaub am Mittelmeer, weil ich beim letzten Versuch einen Hitzschlag hatte, und in die Berge wollte ich auch nicht, weil da kein Meer ist. Wir sind dann zu Hause geblieben, war vernünftig, ich meine, ich als Selbständige, ich kann sowieso nicht einfach weg. Gut, Kitty hat das im Blick, und die kommen auch mal eine Woche ohne mich klar, aber Vertrauen (Optimismus, minutiöse Vorausplanung und telefonische Überwachung) sind gut, aber Kontrolle und persönliche Anwesenheit sind nun mal besser. Selbst wenn man diese Faktoren abzieht: Wohin ich will, was mich interessiert, neugierig macht, das kann ich in aller Regel nicht sagen. Ich lehne so ziemlich alle der aktuell existierenden Parteien ab, habe aber keine konstruktiven Vorschläge für Neugründungen. Ich finde tausend Gründe, die gegen so ziemlich jedes Hobby sprechen, das ich in den letzten Jahren zur Vervollständigung meiner Persönlichkeit in Betracht gezogen habe. Würde ich jemals eines finden, das mich wirklich fasziniert? Salsa zum Beispiel, das hätte ja durchaus was Hobbyartiges werden können, aber da es mir primär darum ging, einen Mann zu finden, was ja auch geklappt hat, habe ich die Sache nicht weiter verfolgt. Außerdem: Salsa ist nichts für mich. Zu viel Hüftschwung, für so was bin ich einfach zu mitteleuropäisch. Und für Standardtanz zu jung. Für Tango zu wenig Dramaqueen. Das ist ein Muster, das sich durch mein Leben zieht. Und jetzt bin ich eben alles in allem von einer Heirat mit Matthias nicht abschließend überzeugt, kann aber keine auch nur halbwegs akzeptable, geschweige denn, attraktive Alternative ins Feld führen. Denn das Szenario, das meine Eltern beim Frühstück skizziert haben (einsamer Tod ohne Nachkommen), nun ja, das war weder akzeptabel noch attraktiv.
Und wenn ich ihn nun doch heirate? Meine Eltern wären begeistert. Ich könnte endlich das Thema Mutterschaft angehen. Ich müsste mich nicht dauernd fragen, ob noch ein Mann um die Ecke biegt, der besser zu mir passt. Ich hätte mich endlich mal entschieden. So weit die Gründe dafür. Und die dagegen?
Else schaut mich abwartend an. Ich, gefangen in romantischen Projektionen der übelsten Sorte, bin den Tränen nahe.
»Ich weiß nicht, ob ich ihn genug liebe. Ob ich ihn so richtig, so voll und ganz ...«
Else nimmt mich in die Arme. »Liebe, was ist schon Liebe? Geigen? Rosa Wolken? Rosenblüten auf eurem Bett? Liebe ... Weißt du, ich und Torben, wir haben vier Kinder, das gemeinsam zu überleben, ist eine Form von Liebe. Dem anderen nicht ins Gesicht zu springen, wenn er seinen Zahnpastaschaum schon wieder auf den Wasserhahn gespuckt hat, ist Liebe. Und zum hundertsten Mal das Licht hinter ihm auszumachen, obwohl er es ist, der dauernd über die hohe Stromrechnung meckert und die Kinder unter Verdacht hat, das ist auch Liebe.«
Nun muss ich wirklich weinen. Ich wusste ja gar nicht, wie dringend Else diese von mir behauptete Therapie wirklich braucht! Oh, Gott, die Arme!
»Aber so eine Liebe«, presse ich unter Tränen hervor, «die will ich nicht. Ich will eine mit weichen Knien, krank sein vor Sehnsucht, mit Küssen, die ohnmächtig machen.«
Else schenkt mir Sekt nach. »Werd erwachsen, Bille, werd einfach erwachsen.«
Ich kuschel mich an sie. »Kann ich heute bei dir schlafen?«
»Und was willst du morgen machen?«
»Morgen hat Mama Geburtstag.«
»Und übermorgen?«
»Darüber denke ich übermorgen nach. Bitte, nur eine Nacht.«
Else nickt, wenn auch widerstrebend.
Ich nutze die Gunst der Stunde. »Und kannst du Matthias anrufen und ihm sagen, dass du mich noch länger brauchst?«
»Wie alt bist du?«
Jetzt muss ich wirklich heulen. »Es ist doch nur, weil ich ... Ich ... Ich muss ihm doch irgendwas sagen. Er will doch eine Antwort, wenn er fragt. Und das kann ich nicht. Noch nicht. Bitte!«
Else holt tief Luft. Dann greift sie zum Telefon.
»Hi, Matthias, Else hier. Du ... Nein, wieso, bei mir und Torben ...«
Mein bittender Blick bewirkt immerhin, dass Else nicht sofort meine Tarnung auffliegen lässt.
»Wir arbeiten dran. Und deswegen wäre es gut, wenn Bille heute bei den Kindern bleiben könnte. Torben und ich wollen uns so richtig aussprechen ... Danke, ich wusste, dass du das verstehst.«
Als Else auflegt, hat sie diesen Blick in den Augen. Der Blick, der sagt, dass ich bei ihr nichts mehr gut habe, egal, wie oft ich in den letzten und allen kommenden Jahren ihren perleningehörgängeschiebenden, fiebernden, putzmitteltrinkenden Kindern das Leben gerettet habe und es auch weiterhin tun werde. Im Gegenteil, ich habe gerade so hohe Schulden angehäuft, dass ich in den nächsten hundert Jahren jedes Wochenende zum Babysitten würde antreten müssen, um auch nur halbwegs wieder in die Nachfragerposition zu rutschen.
»Paartherapie?«
»Mir ist auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen.«
»Paartherapie!«
»Matthias hat dafür total viel Verständnis. Und er ist sehr diskret.«
»Das hoffe ich. Für dich.«
Else nimmt ihre Jacke von der Garderobe und zieht sie über.
»Wo willst du denn hin?«
»Ich hole Torben im Geschäft ab. Wir müssen doch an unserer Beziehung arbeiten. Und das können wir am allerbesten bei drei bis fünf Gängen französischem Luxusfutter mit Weinbegleitung.«
Ihr Grinsen als diabolisch zu bezeichnen, wäre nicht übertrieben.
»Wann hat man schon mal einen Babysitter, der nichts kostet, die ganze Nacht da ist und sich irgendwann allein nach Hause bringt?«
»Aber, ich ...«
»Felix wird gerade trocken, leg also besser Wechselbettwäsche raus, danke!«
Und schon ist sie verschwunden.
So hatte ich mir den Abend meiner Beinahe-Verlobung mit Aufarbeitung durch eine weibliche Vertraute nicht vorgestellt. So nicht!
3
Für Feiern von runden Geburtstagen gibt es im Hause Frisch einen erprobten und im Laufe der Jahrzehnte zur absoluten Perfektion entwickelten Ablauf: Meine Mutter backt im Vorfeld tonnenweise Kuchen für den kleinen Appetit am Nachmittag. Gegen Abend, also dann, wenn man die Kuchengabel vor ein oder zwei Minuten aus der Hand gelegt hat, weil wirklich nichts mehr geht, fährt sie dann so viele schwer verdauliche und kalorienreiche Köstlichkeiten auf, dass wir auch die Toten (Tante Clara, Tante Lise, Tante Lisbeth, Onkel Günther, Onkel Franz und diverse Freunde meiner Eltern) noch hätten mitverköstigen und die Lebenden zum Zucker- und/oder Eiweißschock hätten befördern können. Wenn alle genug gegessen haben – genug bemisst sich nicht an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, sondern nur daran, ob eine sichtbare Menge Nahrung konsumiert worden ist –, macht sich Onkel Heiner bereit, den unterhaltsamen Teil des Tages zu bestreiten. Zu diesem Zwecke hält er eine seiner gereimten Reden, die er für alle möglichen Anlässe auf Vorrat produziert hat, um dann im Ernstfall nur noch die Namen des Adressaten ändern zu müssen. Er merkt in aller Regel nicht mal, zu welch unfreiwilliger Komik so was führt, aber egal. Spätestens nach Abschluss des Abendessens steigt die Abordnung aus Westfalen auf Korn um, die Konversation wird sinnloser und gegen zwölf ist die Sache dann über die Bühne.
Am nächsten Morgen, wenn es sich nicht um einen Werktag handelt, an denen bin ich als Selbständige nämlich entschuldigt, wird aufgeräumt. Gegen zehn, wenn die Arbeiten dank meiner unter seniler Bettflucht leidenden Verwandtschaft so gut wie erledigt sind, komme ich vorbei und tue überrascht. Und nach dem Mittagessen (nur eine leichte Suppe und Kuchenreste vom Vortag zum Dessert) ist dann wieder Ruhe bis zum nächsten Runden. Ich weiß also sehr genau, was auch bei dieser Feier auf mich zukommen wird, lange bevor ich auch nur einen Fuß in die elterliche Wohnung gesetzt habe.
Neben dieser absoluten Vorhersehbarkeit, die immerhin den Vorteil hat, dass ich ziemlich genau weiß, wann ich die Hälfte, zwei Drittel, drei Viertel dieses anstrengenden Tages hinter mich gebracht habe, bringen solche Feiern leider immer auch ein sehr ernsthaftes Problem mit sich: die Frage des Präsents. Meinen Eltern Geschenke zu machen, war noch nie einfach. Sie interessieren sich für fast nichts, was man gängigerweise verschenken kann. Sie haben keine nennenswerten Hobbys, keine Vorliebe für kostspielige Verbrauchsgüter wie Weine oder Öle oder sonst irgendwas. Gutscheine für Restaurants stoßen selten auf Gegenliebe, Möbel werden schon seit Jahren nicht mehr angeschafft, weil man sowieso nicht mehr lange genug leben würde, um sie auch wirklich abzuwohnen. Technische Geräte werden in aller Regel als Vorwurf verstanden, sich doch endlich mal wieder mit der modernen Zeit auseinanderzusetzen – nur zur Info: Wir sprechen nicht von Sachen wie Spielkonsolen oder Tablet-PCs, mein letzter Versuch war ein schnurloses Telefon mit Anrufbeantworter, das ich anschließend wieder zurück in den Laden bringen durfte. Musik ist auch ein ganz schlechtes Thema, Oper dauert zu lange, und mit diesen, ich zitiere, »neumodischen Inszenierungen, bei denen immer alle nackt sind und sonst nichts auf der Bühne ist«, konnten meine Eltern noch nie etwas anfangen. Ich habe es auch mit Konzerten versucht und mit Tonträgern jeder Form, immer unsicher, welche Musikrichtung ihnen wohl gefallen könnte. In ihren Jugendtagen waren schon ziemlich coole Bands unterwegs, aber irgendwie habe ich so den Verdacht, dass meine Eltern nicht gerade Anhänger von Janis Joplin und Co. waren. In jedem Jahr fluche ich mindestens dreimal über dieses Geschenke-Problem (Weihnachten, Geburtstag Mama, Geburtstag Papa). Wie sehr beneide ich Familien, die das Beschenken von Erwachsenen abgeschafft haben. Ich sollte, wenn das hier vorbei ist, diesen Vorschlag anbringen, das würde mein Leben so viel einfacher machen. Wenigstens in diesem einen Punkt.
Aber natürlich kann ich nicht einfach so Fakten schaffen und zu Mamas Sechzigstem mit leeren Händen auftauchen, unmöglich! Ich kann natürlich auch nichts aus der Apotheke mitbringen, obwohl das inhaltlich gepasst hätte, denn neben der Leidenschaft für Todesanzeigen gehören auch meine Eltern zu den Menschen, die gerne ausgiebig über Krankheiten sprechen. Je älter sie werden, desto länger und detailreicher werden ihre Schilderungen. Aber da ich eine Apotheke betreibe, hätten sie (und die gesamte Verwandtschaft) mir sofort Geiz unterstellt. Die sollten sich mal die Einkaufspreise von einem anständigen Blutdruckmessgerät ansehen, so was gibt’s auch nicht umsonst. Aber gut, lassen wir das, in diesem Jahr habe ich eine Lösung gefunden, die mich zwar eine Stange Geld gekostet hat, mich aber vielleicht für die kommenden Jahre entschuldigen könnte. Was dann wiederum eine prima Argumentationsgrundlage für die Abschaffung von Geschenken wäre. Ein Plan, der hoffentlich aufgeht!
Als ich am Morgen nach der Nacht bei Else unsere Wohnung betrete, ist Matthias nicht da. Sonntags geht er mit seinen Kumpels immer joggen. So auch heute. Wenn er wiederkommt, bringt er frische Brötchen mit. Wenn ich ein gemeinsames Frühstück umgehen will, muss ich mich also beeilen und wohl oder übel vor der Zeit bei meinen Eltern zur Festvorbereitung auftauchen. Es ist eben nichts perfekt im Leben.
Der Aufbau des Schuhschranks liegt offensichtlich weit über Matthias’ handwerklichen Fähigkeiten. Darauf deuten jedenfalls die in der Wohnung verteilten Einzelteile und die geöffnete Werkzeugkiste in der Küche hin. In diesem Haushalt bin ich diejenige, die Reparaturen oder Aufbauten intellektuell voranbringt; Matthias hat sich nach einigen gescheiterten Versuchen, federführender Teil des Teams zu sein, klaglos in die Rolle der helfenden Hand, der starken Arme und des breiten Rückens begeben. Ich finde das in Ordnung, traditionell kann man an anderer Stelle sein. Auch in Fragen der Körperpflege haben wir einen Rollentausch vorgenommen. Ich bin immer schon ein schneller Duscher gewesen und ein ungeschlagen fixer Anzieher. Ich habe nämlich schon als Kind kapiert, das schnell in die Gänge zu kommen zu mehr Schlaf führt. Und weil ich in aller Regel auf Make-up und aufwendige Frisuren verzichte, bin ich nun auch die Schnellste am Morgen. Ja, ich stelle die meisten Männer, so auch Matthias, in den Schatten. Auch das ist absolut in Ordnung, denn gegen einen gepflegten Mann werde ich nie auch nur den kleinsten Vorwurf erheben, auch wenn er tatsächlich hin und wieder mal einen winzigen Zahn zulegen könnte. Doch das ist ja gerade nicht mein Problem, denn er ist nicht da. Und so soll es auch bleiben.
Ich schwinge mich unter die Dusche und bin frisch gewaschen, frisiert und gekleidet, bevor Matthias auch nur die Hälfte seiner Joggingrunde hinter sich gebracht hat. Hin und wieder, das muss ich dann doch zugeben, ist es tatsächlich von Vorteil, einen derart berechenbaren Mann sein Eigen zu nennen. Womit wir wieder beim Thema wären: Matthias heiraten? Ja? Nein? Vielleicht? Die interne Diskussion wird auf später verschoben werden müssen, auch wenn mich dieses verdammte Drachenvieh, das Matthias wie zur Mahnung auf unseren Esstisch im Wohnzimmer gesetzt hat, nach wie vor mit dem Ring im Maul auffordernd anstarrt.
Warum hat er das Vieh ausgerechnet dorthin platziert? Er rechnet offensichtlich nicht damit, dass ich zu Hause frühstücke, denn er hat nicht gedeckt. Und das tut er sonst immer. Auch kann er nicht davon ausgehen, dass ich ins Wohnzimmer gehen würde, dafür gibt es keinen Grund. Einmal Schlafzimmer, Badezimmer und Abflug. Er kann nicht ahnen, dass ich meine Armbanduhr im Wohnzimmer suchen würde. Oder doch? Ist er ein so aufmerksamer Beobachter? Ist er ein – ich traue es mich kaum auszusprechen – so aufmerksamer Mann, und ich dumme Trulla bin nur zu borniert, um das zu sehen?
Ich nehme PUFFI in die Hand. Er grinst wirklich fies. Dann hole ich den Ring aus dem Maul. Meine Welt ruckelte sich wieder zurecht, denn bei genauerem Hinsehen erweist sich der Ring als ziemlich fieses Objekt. Zu viel Glitter in allen Farben des Regenbogens und in der Mitte eine Schlaufe, auf deren höchstem Punkt ein ziemlich kleiner Stein sitzt – also genau das, was ich mir nie selbst gekauft hätte. Hätte Matthias mal einen Blick ins Internet geworfen, dann wüsste er, dass ein anständiger Verlobungsring aus einem Stein und einem Ring besteht und sonst nichts! Das weiß selbst ich. Wahrscheinlich sind derartige Verlobungsringe eine Art ultimativer Liebestest: Wer bereit ist, über diese Scheußlichkeit, mit der der potentielle Ehegatte die Qualität seiner Gefühle perfekt versinnbildlicht findet, hinwegzusehen, der ist bereit für ein Leben zu zweit. Nun ja, den Test habe ich ganz eindeutig nicht bestanden. Oder diese Ringe setzen weniger auf Liebe als auf die den Blick vernebelnden Tränen der Rührung. Die gab’s in meinem Fall auch nicht. Bin ich eine Totalverlobungsversagerin in den Augen der Schmuckindustrie? Ich glaube, das bin ich wirklich, denn sonst würde ich ja nicht hier rumstehen und diesen hässlichen Ring anstarren und mir wünschen … ja, was eigentlich?
Ich muss los. Sofort! Matthias ist sicher schon auf der Zielgeraden.
Ich deponiere den Ring wieder im PUFFI-Maul, lege das Vieh auf den Tisch zurück, nehme meine Handtasche, das Geburtstagsgeschenk für Mama (wenigstens ein Problem gelöst) und verschwinde.
»Alles Gute zum Geburtstag!«
Ich umarme Mama, die schon ganz rote Wangen vor lauter Aufregung hat, obwohl die Feier noch nicht mal richtig angefangen hat.
»Danke! Komm rein, Sibille, magst du ein Glas Sekt?«
Schmierstoff der Gesellschaft. Unnötige, vorhersehbare Sätze, die erst bemerkt werden, wenn sie fehlen.
Und nun ein weiterer Klassiker, als ich ihr mein Geschenk überreiche: »Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen!«
Erstens ist das – wie ich eben in aller Ausführlichkeit dargelegt habe – eine glatte Lüge, und zweitens ist es nötig, weil ich meine Mama unmöglich sechzig werden lassen kann, ohne ihr was zu schenken. Sie hält mein für Runde-Geburtstage-Verhältnisse winziges Päckchen in der Hand, als könnte ihr das Gewichts den Inhalt verraten. Es wiegt nicht viel und ist ungefähr so groß wie ein dicker Briefumschlag.
»Aber das ist jetzt kein Opern-Abo, oder? Du weißt ja, dass ich mit diesen modernen Inszenierungen, bei denen immer alle nackt sind und sonst nichts auf der Bühne steht, gar nichts anfangen kann.«
»Könntest du mit dem Meckern warten, bis du weißt, was drin ist?«
»So war das doch gar nicht gemeint. Ich wollte doch nur sagen, dass ich ...«
»Hörte sich aber so an.«
Papa geht dazwischen. »Sibille, deine Mutter hat Geburtstag, da könntest du dich doch wenigstens ein bisschen zurückhalten.«
»Nur, weil sie Geburtstag hat, heißt das doch noch lange nicht, dass sie nicht erst mal in das Päckchen schauen kann, bevor sie ...«
»Ich schau ja schon rein.«
Es ist wirklich nicht einfach mit solchen Eltern.
Meine Mutter macht endlich die Schleife auf und entblättert vorsichtig das Geschenk. Für Geschenke an meine Eltern benutze ich nie Tesafilm, um das Papier zu verkleben, da bei uns Geschenkpapier grundsätzlich wiederverwendet wird. Aus ökologischer Sicht sicher eine gute Idee. Konsequenter wäre es natürlich, komplett aufs Verpacken zu verzichten, aber mit einer derart revolutionären Idee (ja, in Sachen Geschenkkultur sehe ich Optimierungsmöglichkeiten) werde ich mich wohl nicht durchsetzen können. Also bleibt es auch heute beim Wiederverwenden. Ich warte nur auf den Tag, an dem jemand das Papier, das er selbst irgendwann zum Einwickeln verwendet hat, zurückbekommt. Oder führt meine Mutter am Ende darüber Buch, durch wen welches Papier in ihren Besitz gelangt ist? Zuzutrauen wäre es ihr in jedem Fall.
Aber zurück zum Geschenk, das nun gänzlich ausgepackt ist.
»Ein Reiseführer. Vielen Dank, das ist ... jetzt aber schon eine ... nette Überraschung.«
Rom. Die Stadt der Liebe. Bella Vita. Dolce Vita. Auf jeden Fall ganz viel Vita für meine vom Tod nahezu besessene Mutter.
Mutter dreht und wendet das Buch hin und her. Sie weiß wohl nicht so recht, was sie damit anfangen soll. Ich schon.
»Mach doch mal auf«, schlage ich ihr vor, als sie das Buch auf den bereitstehenden Gabentisch legen will.
»Ich schaue ihn mir heute Abend in Ruhe an. So einen Reiseführer, den liest man ja nicht zwischen Tür und Angel.«
»Ich würde ihn wenigstens fix durchblättern, weil ...«
Ausgerechnet jetzt klingelt jemand an der Tür.
»Sibille, ich dank dir wirklich, aber das mit dem Buch müssen wir verschieben.«
Sie dreht sich zu meinem Vater um, der schon an der Tür steht und den Türöffner drückt. »Wer ist denn das? Ist doch noch viel zu früh.«
Das ist es in der Tat, gerade mal zehn, und unter normalen Bedingungen wäre ich auch noch nicht da.
Ich sehe Blumen im Türrahmen. Und die Blumen haben Beine, aber die sieht man nicht sofort, weil es wirklich sehr viele Blumen sind, ich schätzte so um die sechzig, das würde jedenfalls zum Anlass passen. Meine Mutter wird noch ein bisschen roter vor lauter Freude. So ein großer Strauß! Und dann noch per Bote. Sie umarmt meinen Vater, der aber weniger erfreut über ihre Reaktion zu sein scheint. Er wirkt sogar irritiert.
»Fritz, das wäre doch nicht ... So viele Blumen. Das hast du ja noch nie gemacht. Ach, ich bin ja ganz ... Und mit Karte!«
Mutter ist im Rausch, und Vater geht es immer schlechter. Ich ahne Furchtbares ...
Mutter nimmt die Blumen an sich, sie braucht beide Arme, um den riesigen Strauß zu halten, und lächelt. Der Bote erwartet offensichtlich mehr als ein Lächeln, aber da hat er bei meinen Eltern keine großen Chancen. Also strahle ich ihn an – denn mehr kann ich ihm gerade auch nicht bieten, ohne den Zorn meiner Eltern auf mich zu ziehen – und schicke ein »Vielen Dank!« hinterher.
Es wirkt.
»Schönen Geburtstag noch«, wünscht er meiner Mutter und eilt die Treppen hinunter zum nächsten Kunden.
Es muss toll sein, jeden Tag Menschen zu überraschen. Sicher nicht gut bezahlt, aber ein großartiger Job, also von wegen positive Reaktionen und so. Sollte ich mal für die Ferien in Erwägung ziehen. Zu mir kommen ja fast alle nur, wenn’s ihnen so richtig dreckig geht, das kann einen schon runterziehen. Ich überlege, ob ich meinen Beruf vielleicht nur deshalb gewählt habe, weil er so gut zur mentalen Verfassung meiner auf Tod und Verderben fixierten Eltern passt. Ein irritierender Gedanke ...
Mutter strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Es ist eindrucksvoll zu beobachten, dass das Ananas-Prinzip auch nach knapp vierzig Jahren Ehe noch gilt. Mit diesem gigantischen Strauß, bunt, lebensbejahend und dennoch sehr geschmackvoll, hätte Papa die Dose ihrer Ehe wieder randvoll mit vielversprechendem Saft füllen können. Aber nein, das Gegenteil ist der Fall, denn kaum hat Mama die Karte aufgemacht, ist der ganze Saft wieder weg. Wie ich befürchtet habe, ist dieses florale Wunderwerk nicht von Papa. Wichtige Frage: Von wem sind die Blumen dann? Sollte Mama einen Verehrer haben? Nein, dann würde sie jetzt nicht enttäuscht, sondern ein wenig verschämt schauen. Von wem also ...
»Von Daniel. Der Junge ist wirklich ein Schatz.« Mama reicht Papa die Karte. Ihr Blick ist vernichtend.
Daniel, also. Mein Cousin. Und ich dachte schon wer weiß was ...
»Ja, das war er schon immer«, merkt mein Vater an.
Eine Feststellung, die meine Mutter nicht weiter kommentiert. Stattdessen: »Haben wir genug Bier kalt gestellt?«
So kann man natürlich auch wieder zur Tagesordnung übergehen. In diesem Moment drängen sich mir dann doch gewisse Zweifel an der Beziehung meiner Eltern auf. Dabei waren die beiden für mich immer ein tolles Paar, aber ich habe sie eben auch noch nie an einem so neuralgischen Punkt ihrer Ehe erlebt. Meine Eltern sind eigentlich ein sehr harmonisches Paar, total aufeinander eingespielt. Die halten noch Händchen, wenn sie durch die Stadt gehen. Und das nach so vielen Jahren. Ich wollte immer – mit Abstrichen natürlich – eine Beziehung wie meine Eltern führen. Nun sehen die Dinge doch ein wenig anders aus. Mein Cousin schickt meiner Mutter Blumen. Schuldbewusst krame ich in meinem Gedächtnis nach Geburtstagen seiner Mutter, die ich vergessen haben könnte. Tante Martha hatte immer eine tiefe Abneigung gegen Geburtstage, die sie im Laufe der Jahre ganz sicher nicht verloren hat. Um genau zu sein, ist das Datum ihres Geburtstages eines der Familiengeheimnisse, die in etwa so gut gehütet werden wie die Original-Rezeptur von Coca Cola. Und an beiden Geheimnissen hat sich nichts geändert, so weit ich informiert bin. Ich kann mein schlechtes Gewissen also getrost wieder dort lassen, wo es hingehört: Bei Matthias.
Er hat sich nicht gemeldet. Nun könnte man meinen, dass er das aus Rücksicht auf meine Gefühle tut, aber vermutlich ist wohl eher gekränkter Stolz der Grund. Und das kann ich – man muss sich nur mal vorstellen, die Rollen wären umgekehrt verteilt – durchaus nachvollziehen. Aber ändern kann ich daran vorerst nichts, denn eine Entscheidung habe ich trotz ausführlichen Nachdenkens und eines intensiven, wenn auch recht kurz gehaltenen Frauengespräches mit Else, noch immer nicht getroffen. Ist das nicht schon die Entscheidung? Dass ich keine treffe, kein klares, erfreutes »Ja, ich will« in die Welt werfe? Das muss Matthias doch eigentlich erkennen. Kann man sich durch Unterlassung aus solchen Nummern rausmogeln? Fragen über Fragen, die mich vom Geschehen in meinem Elternhaus ablenken. Obwohl, dahin sollte ich fix gedanklich zurückkehren, denn noch immer liegt da dieser Reiseführer ungeöffnet herum ...
»Mama, mach doch bitte endlich mal das Buch auf.«
»Aber ich hab’s doch schon ausgepackt. Wirklich eine tolle Idee, so ein Reiseführer. Vielen Dank, Schatz!«
»Mama!«
»Du, ich hab jetzt echt keine Zeit. Ich muss noch so viel machen. Ich leg ihn hier hin, und wenn ich Zeit hab, dann schau ich rein.«
»Aber ...«
Ach, egal. Was soll ich gegen dieses geballte Desinteresse ausrichten? Außerdem ist meine Mutter ganz eindeutig nicht mehr in der Stimmung, mein Geschenk gebührend zu würdigen, nach diesem floralen GAU. Hätte ich Daniel gar nicht zugetraut. Wo ist er jetzt eigentlich? Die Frage ist bei meinem Cousin nicht ganz unberechtigt. Seit seinem Studienabschluss landet er alle paar Jahre woanders. Er ist Ingenieur bei einem Chemieriesen. China ist mein letzter Stand, aber das kann durchaus längst überholt sein, so schnell, wie Daniel versetzt wird. Bei dem Tempo wundert es keinen in der Verwandtschaft, dass Daniel trotz seines hohen Alters – er ist zwei Jahre älter als ich – noch nicht mit Frau und Kindern gesegnet ist. Oder man macht ihm, dem Mann, dem quasi unbegrenzt Zeugungsfähigen, einfach nicht so einen Stress wie mir. Gott sei gedankt weiß noch niemand etwas von PUFFI und dem Ring.
Mutter wirbelt durch die Wohnung. Man könnte meinen, dass sie nach tagelanger Vorbereitung nur noch die Tür öffnen und ihre Gäste begrüßen müsste, aber dem ist leider nicht so. Mutter findet immer Dinge, die nicht nur dringend erledigt werden müssen, sondern sie in tiefe Verzweiflung stürzen: zu wenig Geschirr, weil sie es sträflich lang vernachlässigt hatte, die fälligen Nachkäufe zu machen, und nur eine Kaffeemaschine im Haus, aber zehn kaffeedurstige Erwachsene im Anmarsch. Das Drama ist praktisch vorprogrammiert.
»Kind, kannst du nicht schnell nach Hause fahren und eure holen?«
Nach Hause, zu Matthias, der mittlerweile frisch geduscht beim Frühstück sitzen müsste? »Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Mama.«
»Hier geht’s nicht um gute Ideen, sondern um eine Kaffeemaschine.«
»Aber du magst den Kaffee bei uns doch gar nicht.«
»Das liegt nicht an der Maschine, das liegt an den Bohnen.«
»Aber letzte Woche ...«
Mutters Blick bringt mich zum Schweigen. Die Diskussion ist weder erwünscht, noch deutet sich an, dass sie in irgendeiner Weise zielführend ist.
»Ich ruf Marianne an, dass sie ihre Maschine mitbringt, zufrieden? Da will man einmal ein wenig Hilfe, und dann das!«
Oha, Mutter ist auf der Palme. Und ich fühle mich schuldig. Und kann ihr noch nicht einmal sagen, warum ich mich so merkwürdig aufführe, weil meine Mutter dann – dürstend nach Enkelkindern und Romantik – sicher nicht der neutrale Ratgeber wäre, den ich in dieser Situation brauche. Außerdem würde das den Fokus der Feier leicht bis mittelschwer verschieben; eine dramatisch gescheiterte Verlobung schlüge definitiv einen sechzigsten Geburtstag in der Welt meiner Verwandtschaft, das ist mal sicher.
Wie lange werde ich mich wohl bei meinen Eltern verstecken können? Oder anders gefragt: Wann wird Matthias hier auftauchen und seiner potentiellen Schwiegermutter in spe die herzlichsten Glückwünsche nebst Deutsch-Italienisch-Wörterbuch übermitteln? Wir dachten, dass unsere Geschenke korrespondieren sollten, auch wenn er sich nicht an der Reise beteiligt hat. Ja, eine Reise! Logisch, oder? Ich verschenke doch keinen schnöden Reiseführer! Da ist natürlich ein Gutschein für eine Woche Rom mit allem, was dazugehört, drin. Aber Mama macht ja das verdammte Buch nicht auf! Und in Matthias’ Buch liegt ein VHS-Kurs-Gutschein für »Italienisch für Anfänger«. Seinem Präsent wird es wohl auch nicht besser gehen als meinem.
Schon bin ich im Gedankenkarussell wieder da angekommen, wo ich bei Else fast schon ausgestiegen war: Ablehnung Heiratsantrag, gleichbedeutend mit Ende Beziehung. Wenn meine Eltern das erfahren, weiß ich, wessen Todesanzeige die nächste sein könnte. Aber deswegen einen Mann heiraten, bei dessen Anblick ich keine weichen Knie habe? Hatte ich eigentlich jemals weiche Knie im Zusammenhang mit Matthias? Eine berechtigte Frage. Daran sollte ich mich doch – gesetzt den Fall, es hat diese weichen Knie gegeben – bestens erinnern können. So lange ist das doch eigentlich noch nicht her ...
Es klingelt wieder an der Tür. Eigentlich sollte mich das nicht nervös machen in Anbetracht der Tatsache, dass Mutter heute mindestens noch fünfmal mit hochrotem Kopf und diesem leicht hektischen Blick zur Tür stürmen und sie öffnen wird, um Menschen mit Tränen der Rührung in den Augen zu umarmen und Geschenke entgegenzunehmen, die doch gar nicht nötig gewesen wären. Ich habe also keinen Grund, hektisch oder aufgeregt zu sein, wenn es an der Tür meiner Eltern klingelt – ich bin es aber trotzdem, wegen Matthias. Aber das kann ich unmöglich erklären, also muss ich mich wohl oder übel zusammenreißen. Zugegeben, keine meiner leichtesten Übungen.
Entwarnung! Es sind Marianne, ihre Kaffeemaschine und ein Geschenk. Marianne ist Mamas Freundin. Sie waren zusammen in der weiterführenden Schule. Sie kennen sich jetzt also über vierzig Jahre. Länger, als ich überhaupt auf der Welt bin. Unvorstellbar. Obwohl, Else und ich kennen uns jetzt auch schon knapp zwanzig Jahre, wir sind auf einem guten Weg. Denn das, was Mama und Marianne haben, finde ich – alles in allem – schon ziemlich toll. Die beiden waren all die Jahre echte Freundinnen. Deswegen sagt meine Mutter wohl auch nicht, dass es nicht nötig gewesen sei, ihr etwas zu schenken, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen bringt Marianne immer Sachen mit, die man sich wirklich gewünscht hat. Sogar bei mir hat sie das immer prima im Griff. Und mit der Kaffeemaschine schafft sie es sogar, meine aufgescheuchte Mutter zu beruhigen. Bis – war ja klar – Mariannes Blick auf den gigantischen Blumenstrauß fällt.
»Der ist wunderschön, da hat sich Fritz aber richtig in Unkosten gestürzt. Haste gut gemacht! Lenchen wird ja nur einmal sechzig, was?«
Ich wundere mich, dass mein Vater diesen erneuten Tiefschlag stehend wegsteckt.
»Der ist nicht von Fritz«, erklärt Mama in deutlich abgekühltem Ton.
Marianne schaltet sofort. Ihr Blick kann einem Angst machen. Ich an Papas Stelle wäre vor Scham im Boden versunken. Er tut mir richtig leid.
Die Klingel geht erneut. Erlösung.
Es ist Daniel. Mein Blumen schenkender Cousin. Mama stößt einen Freudenschrei aus, nimmt ihn in den Arm und drückt ihn fest an sich, so, als habe sie ihn ganz besonders vermisst und gehofft, dass er an diesem besonderen Tag überraschend auftauchen würde.
»Daniel! Das ist ja eine Überraschung! Erst die Blumen, und dann du! Wie geht’s dir denn, meine Junge? Ich hab dich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Komm rein!«
Aha, der muss nicht mal die Schuhe ausziehen und sich die Hände waschen, interessant.
»Ich dachte mir, ich mach erst mal gut Wetter, ich bin ja nicht eingeladen ...«
»Du bist immer eingeladen, das weißt du doch! Ach, das ist ja so schön, dich zu sehen!«
Und schon wird Daniel erneut ans vor Liebe überfließende Mutterherz gedrückt.
Alles klar: »Willste was gelten, mach dich selten«. Das hat Daniel bis zur Perfektion entwickelt. Direkt nach der Uni war er erst zwei Jahre in Belgien, dann fünf in den USA und dann noch mal drei in China. Der ist echt rumgekommen, und jetzt ist er hier, ausgerechnet heute. Warum eigentlich? Die Blumen, das ist mal sicher, die hätte er sich sparen können. Ein so weit gereister Gast, der braucht nichts mitzubringen, auch so eine Frisch’sche Regel. Wäre außerdem besser für Papa gewesen.
Die beiden schütteln sich kernig-männlich die Hand. Dann bin ich mit der Begrüßung dran.
»Hi, Daniel, nette Überraschung!«
»Ich hatte schon Angst, hier steht alles voll mit Blumen.«
Blick zu Papa, der sich nur noch schwer beherrschen kann.
»Nee, eher nicht. Kommt noch.«
Wohl eher nicht. Ich kann mir ausrechnen, dass die Verwandtschaft mit praktischen Topfpflanzen, die »ein bisschen halten« aufwartet und nicht mit diesem Schnittblumenzeug, das gerade mal eine Woche schafft. Praktisch muss es sein, oberstes Gebot. Ich darf gar nicht daran denken, mit welch praktischem Präsent Papa heute noch aufwarten wird ...
Ich erinnere mich mit Schrecken an die diversen Geschenke, mit denen Papa Mama überrascht hat. Wir sprechen auch in seinem Fall von den Klassikern, die ihr die Hausarbeit erleichtern sollen, die aber ungefähr so romantisch sind wie eine Fahrt mit dem Stadtbus vom Bahnhof zur Uniklinik. Mama hat sich allerdings revanchiert. Auf ihre Weise. Ich erinnere mich lebhaft an einen Schlafanzug, den sie Papa gleich dreimal hintereinander zu Weihnachten geschenkt hat. Er hat irgendwie jedes Mal versäumt, ihn überhaupt auszupacken, und schwupps lag das Teil im nächsten Jahr wieder unterm Baum. Ohne, dass Papa es gemerkt hat. Das war das wirklich Überraschende an der Aktion. Da fällt mir ein: Das könnte die Lösung für den Reiseführer sein. Ich packe ihn unauffällig wieder ein und lege ihn beim Siebzigsten erneut auf den Gabentisch. Problem gelöst.
Aber zurück zu Daniel. Gut sieht er aus, ich hab ihn ja schon ziemlich lange nicht mehr gesehen. Damals war er gerade mit der Uni fertig, hatte halblange Haare, immer eine Mütze auf, Baggyhosen und Holzfällerhemden an. Stand ihm gut, aber jetzt sieht er auch gut aus, irgendwie erwachsen. Er ist, wie gesagt, zwei Jahre älter als ich. Sieht man ihm aber nicht an. Was im Umkehrschluss heißen könnte, dass ich zwei Jahre älter aussehe, als ich es bin, und das ist nun wirklich nicht der Fall. Ich denke, ich sollte mich mit mir selbst darauf einigen, dass Daniel und ich einfach zu den glücklichen Menschen gehören, denen ewige Jugend beschert wurde. Oder so was Ähnliches. Jedenfalls freue ich mich sehr, ihn zu sehen. Und Mutter erst!
Daniel hat kaum einen Fuß in die Wohnung gesetzt, da drückt ihm Mama auch schon ein Glas Sekt in die Hand.
»Du bist doch nicht extra für meinen Geburtstag aus ... Wo hast du noch mal zuletzt gewohnt?«
»Shanghai.«
»Nein, wirklich, ich dachte, es wäre ... Ach, dann bist du wieder umgezogen?«
»Ist schon ein bisschen her. Ich hab Bille doch eine Mail mit der neuen Adresse geschickt.«
Das muss ich dann wohl irgendwie verpasst haben, sollten wir nicht vertiefen.
Nächste Frage, halb Interesse, halb Abwehr des problematischen Themenfeldes: »Dann bist du jetzt also wieder so richtig in Deutschland?«
»Ich bin sogar im Mutterschiff gelandet. Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich wieder in Mainz wohnen würde, aber unverhofft ... Jetzt bin ich schon ein paar Tage hier und finde, die Stadt hat sich echt gemacht.«
Oha, kapitaler Fehler! Zuzugeben, schon länger als zwei Stunden die Landesgrenze, schlimmer noch, die Stadtgrenze überschritten zu haben und sich nicht bei meinen Eltern gemeldet zu haben, ist fast schon Verrat an der Familie! Daniel, Daniel, du kannst doch nicht alles vergessen haben!
Mutter, nun leicht angesäuert: »Ach. So.«
Eiliges Einschreiten meinerseits: »Aber Mama, wenn du gewusst hättest, dass Daniel hier ist, dann wäre das doch keine Überraschung gewesen, oder?«
Ganz böser Blick: »Ach, du wusstest es?«
Mutter! Das kann doch jetzt wohl echt nicht ... Wie kommt sie darauf?
»Nein. Ich bin auch überrascht. Echt.«
Ich schaue schnell zu Daniel. »Wo wohnst du?«
»Ich hab da dieses total nette Hotel am Bahnhof gebucht. Ist komplett renoviert. Die haben da sogar ...«
»Hotel? Kommt gar nicht in Frage. Da ziehst du sofort aus. Wir haben doch Platz! Du musst doch nicht im Hotel wohnen, wenn du Familie hast. Du gehst direkt los und holst deine Sachen, aber flott!«
Mutter nimmt Daniel das Glas aus der Hand, bevor er auch nur einen Schluck trinken konnte. Und auch mein Glas verschwindet durch mütterlichen Eingriff. Widerstand zwecklos.
»Aber, ich ...«
»Sibille, du fährst ihn.«
»Aber ich dachte ...«
»Und beeilt euch. Wir wollen nicht ohne euch mit dem Essen anfangen. Ich bezieh schon mal das Bett.«
»Aber du hast doch Geburtstag!«
Anstelle einer Antwort wirft Mutter Daniel einen Blick zu, der keine Widerrede duldet. Ein Blick wie ein Befehl.
Ich hake Daniel unter und verhindere so, dass er einen weiteren Beitrag dazu leistet, den Tag vor der Zeit zu einem totalen Fiasko werden zu lassen.
Mein Auto ist eine Art Multifunktionsraum. An guten Tagen, also wenn ich dem Gefährt ein paar Stunden bei Menschen, die es wirklich lieben, gegönnt habe (da gibt es so einen Service: waschen, saugen, entmüllen und entstauben für gerade mal zwanzig Euro, ich bin ein Fan), kann man es guten Gewissens als rollendes Wohnzimmer bezeichnen. Nette, freundliche Farben im Innenraum, wechselnde, aber immer unaufdringlich duftende Luftverbesserer und dank MP3-Player jederzeit verfügbare Lieblingsmusik – was will man mehr? Dummerweise liegt die letzte Wellnessbehandlung vom Töff ein paar Wochen, könnten auch schon Monate sein, zurück, und der Innenraum, wahlweise als Lager, Transporter, Biotonne verwendet, ist vom Wohnzimmer so weit entfernt wie Daniel von eigenen, selbständigen Entscheidungen, was die Wahl seines Wohnortes betrifft, solange er sich im Einzugsbereich meiner Eltern aufhält.
Daniel ist höflich. Als er in meinen Wagen einsteigt (oder besser sich hineinklappt, so ein Mini ist eben nicht jedermanns Sache), scheint er gar nicht zu bemerken, dass seine Füße auf Generationen von Verpackungen stehen. Ich danke ihm herzlich dafür und fahre ganz langsam, um ihm ein wenig Zeit zu geben, sich mit dem Unabwendbaren abzufinden.
»Du brauchst ’ne Wohnung.«
»Ach, echt? Wär ich nie drauf gekommen.«
»Sofort.«
»Kann ich nicht ein paar Tage bei dir wohnen? Das würde Tante Lene akzeptieren.«
Bei mir. Naheliegende Idee. Das Problem ist nur, dass ich selber gerade nicht bei mir wohnen mag, weil PUFFI noch nicht Leine gezogen hat. Und wie soll ich Matthias erklären, dass ich zwar nicht auf seinen nach wie vor irgendwie doch im Raum stehenden Antrag antworte, dafür aber Daniel bei uns einquartiere, quasi als lebende Antragsbarriere? Aber das wiederum kann ich nicht einfach so Daniel erzählen, weil ich ihn nicht – jedenfalls nicht ohne Vorbereitung – in mein schneckenförmiges Gebäude des Wahnsinns hineinziehen will. Außerdem will ich mich nicht komplett zum Affen machen. Ich meine, wie stehe ich denn da, wenn ich Daniel erzähle, welche Art von Antrag (Antragsversuch, okay) ein Mann für angemessen hält, um mich dazu zu bringen, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen? Je schlimmer der Antrag, desto dümmer steh ich da, würde ich sagen. Also: lügen.
Ich lüge nicht gerne, weil ich schlecht darin bin. Ich verheddere mich in Widersprüche, lasse Informationen aus dem Mund purzeln, die besser drin geblieben wären und schaffe es trotz artistischer Verbalverrenkungen nicht, sie wieder zurückzuholen oder sie zumindest abzumildern. Alles schon versucht, chancenlos. Trotzdem muss ich jetzt irgendwas sagen, was Daniel von der Idee abbringt, bei mir wohnen zu wollen, ohne ihn mit den Abgründen meines Liebeslebens zu konfrontieren. Wie wäre es mit einer Renovierung? So falsch ist das doch gar nicht, wir richten uns gerade praktisch neu ein. Der Schuhschrank befindet sich mitten im Aufbau – so eine Aktion, die nimmt die ganze Wohnung in Beschlag, und das nennt man dann doch wohl Renovierung, oder?
»Geht leider nicht, wir renovieren.«
»Echt? Du hast doch geschrieben, dass der Vormieter streichen musste.«
»Möbel, wir haben neue Möbel. Sieht schlimm aus, kennste ja, IKEA.«
Ich muss nicht mehr sagen, das I-Argument steht eindeutig für Chaos und Verwüstung, das zieht immer, auch bei einem, der jahrelang am anderen Ende der Welt gelebt hat, denn selbst in China gibt es ihn mittlerweile, den freundlichen, blau-gelben Geschmacksdiktator.
»Und wenn du bei deinem Vater ...«
Ich ernte einen Blick von Daniel, der besagt, dass das keine Spitzenidee ist. »Außerdem ist er sowieso nicht da.«
»Aha.«
Wir sind vor dem Hotel angekommen. Daniel steigt aus.
»Ich pack schnell.«
»Ja, tu das.« Und dann schiebe ich ein »Tut mir leid« hinterher.
Ich komme mir vor, als würde ich ihn zu einer langen Haftstrafe ins Zuchthaus kutschieren.
Während Daniel seine Sachen holt, räume ich meinen Wagen auf.
Zwei Koffer. Daniels Leben befindet sich tatsächlich in zwei Koffern, die er ohne jedes Problem in meinen Mini packt.
Wir fahren los.
Mit Schrecken erinnere ich mich an den Umzug vor zwei Jahren: Matthias, ich, Möbelpacker, schlechte Stimmung. Ich habe den Packern so viel Trinkgeld gegeben, dass ich mir sicher war, sie würden sofort alles vergessen, was ich ihnen angetan habe – wie ein Kind, dem man nach der Spritze Gummibärchen gibt. Hat aber leider nicht funktioniert.
»Ist das alles?«
»Ja. Wieso?«
»Wo ist der Rest? Möbel, Bücher, Lampen, Geschirr ... du hast doch nicht jahrelang aus dem Koffer gelebt, oder?«
»Weitgehend. Ich bin dauernd umgezogen. Leichtes Gepäck macht dich beweglich. Bücher habe ich auf dem Rechner, Musik auch und natürlich Fotos.«
Er hält das hoch, was bei ihm CD-Regal, Bibliothek und Fotoalben in einem ist. Beeindruckend. In einem winzigen Scheibchen ist all das drin, was man so braucht. Wiegt nix, passt überall rein, perfekt. Interne Notiz: Muss ich haben. Ergänzung: Aber nur, wenn ich es auch wirklich nutze.
»Man braucht nicht viel. Und wenn es schnell gehen muss: Drei Handgriffe und ich bin wieder weg.«
»Drei Handgriffe ...«
In Gedanken verteile ich mein Hab und Gut auf die Drei-Handgriffe-Kategorie und die Zu-viel-Abteilung. Ich bin, selbst wenn ich dieses Wunderding als Speicherort einkalkuliere, dafür einfach nicht gemacht. Verdammt! Dann wäre das mit mir und Matthias wenigstens kein logistisches Problem: Drei Handgriffe und ich wäre weg. Wenn ich es denn wollte ... aber so einfach ist es nun wirklich nicht.
»Hast du keine Freundin? Oder ist die auch hier irgendwo im Koffer versteckt?«
Daniel ist mein Cousin, da darf man direkte Fragen dieser Art stellen.
»Ist vorbei. Ich war mit einer Kollegin zusammen. Sie ist jetzt in den USA.«
»Wie lange wart ihr zusammen?«
»Fünf Jahre.«
Das kann doch wohl nicht ... die trennen sich einfach so nach fünf Jahren? Und ich eiere hier rum wegen lächerlichen sechsunddreißig Monaten.
»Und, traurig?«
»Sie hatte einfach einen anderen Plan. Kann man nichts machen.«
Anderer Plan? Gutes Argument, nicht persönlich, einfach nur sachlich. Nüchtern. Dumm nur: Ich habe keinen anderen Plan.
»Ich wollte langsam ruhiger werden, nicht mehr aus zwei Koffern und drei Taschen leben, irgendwo bleiben, heiraten, Kinder haben ...«
Tief Luft holen, denke ich, ich werde nun erfahren, was ein Mann fühlt, der verlassen wurde. Das ist ein wichtiger, ein besonderer Moment, der mir sicher helfen wird, mit Matthias den richtigen Weg zu finden. Ich achte besonders genau auf Daniels Worte.
»Aber sie war noch nicht so weit, meinte, dass sie noch nicht da angekommen sei, wo sie hinwolle.«
Ich muss mich kurz sammeln. Diese verrückte Karrieretussi hat »noch mehr Karriere« einem tollen, sensiblen, attraktiven Mann wie Daniel vorgezogen? Ich fasse es nicht!
»Und wie geht’s dir damit?«
»Keine Ahnung. Das Leben geht weiter. Ich bin hier, ziehe bei deinen Eltern ein und warte auf meine Traumfrau.«
Dieses Lächeln! Wie kann er im Angesicht des drohenden Wahnsinns so lächeln? Das muss die Trauer sein, der Mann ist total traumatisiert, weil ihn diese Jobschlampe verlassen hat!
»Das muss ziemlich schlimm gewesen sein für dich.«
»Im ersten Moment ja, aber dann hab ich mir gesagt, dass es besser so ist. Stell dir vor, sie hätte ja gesagt, und dann, ein paar Wochen später, wäre ihr eingefallen, dass sie das eigentlich alles nicht will. Nee, nee, ich komm klar.«
Ob Matthias das auch so im Griff hätte? Und mal von ihm abgesehen: Ich habe dummerweise schon alles, was ich beruflich wollte. Oder ich muss doch endlich die Stadt-Apotheke dazu kaufen, um den Grundstein für ein Imperium zu legen (und mich endgültig in den finanziellen Ruin zu begeben). Dann kann ich Matthias auch sagen, dass ich noch nicht bereit bin. Noch nicht ist toll, weil ich dann noch ein bisschen länger darüber nachdenken kann, und wenn mir dann alle Apotheken auf der ganzen Welt gehören, dann ... Stopp, Bremse, ganz falsche Fährte! Matthias weiß, dass ich das nicht will. So gut kennen wir uns dann doch. Nein, ich werde das anders angehen müssen, irgendwie erwachsener. Reifer. Guter Plan. Ich arbeite noch an der Umsetzung, aber vorher werde ich Daniel helfen, seine Drei-Handgriffe ins Gästezimmer meiner Eltern zu schaffen. Das ist das Mindeste, was ich für ihn in dieser Situation tun kann.
4
Hier habe ich mal gewohnt. Verändert hat sich in meinem alten Zimmer so gut wie nichts. Links und rechts der Tür stehen noch immer die beiden Schränke (IKEA, was sonst?), darüber ein Brett, das bringt Stauraum, und davor Vorhänge. Vorhänge! Ja, das war damals ganz wichtig, denn wenn man konventionelle Schranktüren eingebaut hätte, dann wären die wahlweise nicht aufgegangen, oder man hätte das Bett quer oder mitten in den Raum stellen müssen. Wenn die Vorhänge wenigstens irgendwann einmal durch was Zeitgenössisches, oder besser noch was Neutrales, ersetzt worden wären, aber nein, es sind noch genau die, die damals in den 1980ern so unglaublich hipp waren, also irgendwas mit einem schockierend frechen geometrischen Muster auf blassgelbem Grund. Optimale Platznutzung ist ein echtes Thema im Haushalt meiner Eltern. Es ist ja nicht so, dass sie unbedingt in dieser Wohnung hätten bleiben müssen. Mein Vater war immerhin Direktor einer Grundschule, Krösus waren wir nicht, aber ein bisschen was Größeres wäre sicher drin gewesen. Aber das wollten meine Eltern nicht, weil alles so praktisch war, vor allem die drei Minuten Fußweg zur Schule – die fand ich übrigens auch toll.
Daniel sagt nichts. Er stellt seine beiden Koffer vor dem praktischen Schlafsofa ab, das meine Eltern mir im Zuge der Umgestaltung des Kinderzimmers zu einem Jugendzimmer (was immer man darunter damals verstanden hat) zugebilligt haben, und sieht sich lächelnd um. Der Mann muss Drogen nehmen oder er gehört seit seiner Zeit in Fernost irgendeiner friedliebenden Sekte an, das würde dann auch seine gemäßigte Reaktion auf diese Gehaltsscheckzicke erklären.
Daniel sieht sich um. »Hier hat sich ja gar nichts verändert.«
Das würde ich jetzt nicht unbedingt als Kompliment werten. Außer für IKEA und seine langlebigen Produkte vielleicht. Ich bin nur froh, dass ich nicht mehr hier wohne, sonst wäre das der ultimative Schlag ins Gesicht: Ich, Daniel, bin zwar zehn Jahre nicht mehr hier gewesen, aber es sieht alles noch genauso aus wie damals, als du, liebe Bille, jung, blöd und abhängig warst. Charmant.
Daniel lässt sich aufs Bett fallen, drückt sein Gesicht ins Kissen und holt tief Luft. Dann strahlt er meine Mutter an, die sich eben zu uns gesellt hat, und sagt: »Das riecht wie zu Hause.«
»Siehst du, mein Junge, genau das hab ich mir gedacht. Hotel, das gibt’s doch nicht.«
Daniel ist wirklich ein Schatz. Endlich freut sich jemand über Mamas Fürsorgewahn.
Es klingelt. Ich zucke zusammen. Daniel sieht mich irritiert an.
»Was ist los?«
»Ach, nichts, ich geh mal besser in die Küche, mal sehen, ob ich da noch was ...«
Und schon bin ich aus dem Zimmer. Kein Zweifel: Das muss Matthias sein. Matthias ist immer pünktlich. Und außerdem ist er ja quasi Familie, da kommt man früher, um zu helfen, wenn noch was zu machen ist. Matthias ist so, er macht – diesbezüglich – die richtigen Dinge.
Es ist Matthias.
Er sieht mich an. »Da bist du ja!«
Bevor ich etwas sagen kann, stürmt meine Mutter auf den leicht irritierten Gratulanten zu. Matthias weiß, was zu tun ist.
»Alles Gute zum Geburtstag, liebe Marlene!«
Niemand nennt Mama Marlene, und ich habe noch immer nicht herausgefunden, ob sie das bei Matthias gut, weil anders findet, oder ob sie sich einfach nur alt fühlt. Lenchen könnte auch fünf sein, aber Marlene, die ist definitiv sechzig.
Matthias umarmt meine Mutter, was Mama immer sehr genießt, denn einen so stattlichen Kerl hat sie sonst selten im Arm. Mein Vater ist eher der Typ agiler Winzling, der mit den Jahren nicht gerade in die Höhe gewachsen ist. Auch nicht in die Breite, was ihn von vielen seiner Altersgenossen unterscheidet, aber wie gesagt, von stattlich im Matthias-Sinne ist mein Erzeuger verdammt weit entfernt.
Mutter hält sich noch immer an Matthias fest. Ich gebe zu, auch ich war von diesem Gefühl der Geborgenheit von Anfang an beeindruckt. Breite Schultern, an die man sich lehnen kann, starke Arme, die einen festhalten … ein gutes Gefühl. Wirklich. An dieser Stelle möchte ich auch mal was Gutes über Matthias sagen. Ich muss das auch tun, weil ich mich sonst selbst fragen würde, wie ich es drei Jahre mit ihm ausgehalten habe. So lange mit einem langweiligen, berechenbaren, peinlichen Antiromantiker zusammenzusein, ganz ehrlich, das fällt immer auch auf einen selbst zurück. Ich hätte ja gehen können. Hätte mir einen suchen können, der besser zu mir passt. Ich könnte es jetzt noch tun, denke ich und schaue dabei Matthias an, von dem meine Mutter sich noch immer alles, alles Gute für das neue Lebensjahr wünschen lässt. Schließlich gibt er ihr ein Päckchen.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen!«
Ha, ha, Mutter, das glaubst du doch selber nicht.
»Aber unbedingt. Ich wünsche dir ganz, ganz viel Spaß damit.«
Test: Packt sie aus, packt sie nicht aus? Familie, die kann man ja behandeln wie Rotz am Ärmel, die bleibt eh, egal, was man sich da so alles leistet. Aber beim potentiellen Schwiegersohn, den man nicht einfach so vor den Kopf stoßen kann, da sieht sie Sache schon anders aus.
Spannung! Mama hält Matthias’ Päckchen in der Hand.
»Kannst es ruhig aufmachen, ich will doch wissen, ob es dir gefällt«, sagt Matthias und zwinkert mir zu.
Mama zögert, dann fällt ihr Blick auf mich, und sie legt das Geschenk zur Seite.
»Bestimmt gefällt es mir, da bin ich mir ganz sicher. Ich mach das dann lieber in Ruhe auf, zusammen mit den anderen. Sibille, gibst du bitte Matthias ein Glas? Wir wollen doch anstoßen. Und Daniel braucht auch noch ein frisches Glas Sekt. Daniel?«
Daniel. Wo ist er? Hat er noch immer den Kopf im Kissen und inhaliert Kindheitserinnerungen? Nein, Daniel steht schon die ganze Zeit direkt neben mir, und ich habe das nicht bemerkt.
»Dein Freund?«
»Genau der. Wir wohnen zusammen und bauen gerade Möbel auf. Du erinnerst dich?«
»Ja, da war was.« Daniel flüstert fast.
Matthias, der noch damit beschäftigt ist, seine potentielle Schwiegermutter in spe über den bisherigen, hoffentlich sehr erfreulichen Ablauf ihres Ehrentages zu befragen, merkt nichts von unserem Gespräch.
»Der ist verdammt groß. Stehst du auf so was?«
»Meine Mutter tut’s auf jeden Fall. Ich bin da noch ein wenig hin- und hergerissen. Wir reden gerade über eine Beinverkürzung. Er ist nicht total abgeneigt.«
Bin ich froh, dass mir diese Antwort eingefallen ist. Daniel ist nämlich eher kurz. Also schon größer als ich, aber für einen Mann eher klein. Nennen wir es Durchschnitt. Er hat seine Energie, so sagt das mein Vater immer, eben nicht ins Längenwachstum, sondern in sein Gehirn investiert.
»Sibille?«
Mutter. Sekt. Gläser.
»Moment, bin sofort ...«
Ich kenne die Küche. Ich weiß, wo alles steht. Außerdem vermute ich, dass Mama die Gläser schon auf einem Tablett bereitgestellt hat. Ich sehe aber keins. Also doch Schrank. Ich will gerade nachsehen, da greift Matthias über meinen Kopf, öffnet die Schranktür und holt diverse Sektgläser raus.
»Reichen vier?«
»Bis der Rest auftaucht schon. Hol lieber alle raus.«
Apropos Rest: Wo ist die Sektflasche, die eben noch da war, bevor ich Daniel ins Hotel gefahren habe? Die können Mama, Papa und Marianne doch unmöglich ... Obwohl, möglich ist alles.
Ich flüchte zum Kühlschrank. Flasche. Korken. Wieder Hände, die nicht meine sind. Diesmal Daniels.
»Männerarbeit.«
Bevor ich ihm versichern kann, dass ich durchaus in der Lage bin, diese Flasche zu öffnen, hat er sie schon in der Hand und geht zu Matthias, der mittlerweile alle Sektgläser, die der Haushalt Frisch bereit hält, auf ein Tablett gestellt hat. Er denkt eben mit.
»Daniel.«
»Matthias.«
Plopp. Und ein Schrei. Matthias. Getroffen. Geht zu Boden.
Das kann jetzt echt nicht wahr sein! Daniel hat Matthias doch tatsächlich den Korken ins ... Nein, das Auge ist nicht getroffen, gut. Nur der Wangenknochen.
Ich baue mich vor Matthias auf. »Lass mal sehen.« Dann rufe ich meiner Mutter zu: »Kühlkompresse. Mama, ich brauch die Kühlkompresse.«
Mutter eilt zum Gefrierschrank und bringt mir das kalte Wabbelkissen. Sie ist völlig aufgelöst: Ausgerechnet an ihrem Sechzigsten wird ihr Vielleicht-Schwiegersohn von einem Mitglied der Familie schwer verletzt! Mein Vater steht am Telefon, bereit, alle notwendigen Anrufe zu tätigen. Bevor ich die Kühlkompresse auf Matthias’ Gesicht lege, schaue ich es mir noch mal in Ruhe an. Das wird ein schlimmer blauer Fleck werden, aber gebrochen ist nichts. Jochbein ist okay, Augenhöhle in Ordnung, aber zum Arzt gehen sollte er am Montag besser doch noch.
Daniel steht da wie festgefroren. Die Flasche noch immer in der Hand, und der Sekt tropft auf den Boden.
Matthias mustert Daniel. »Deine Hose ist nass.«
Daniel schaut an sich herunter. »Stimmt.«
Matthias ist echt hart im Nehmen, der grinst sogar schon wieder.
»Hätte wohl besser ich aufmachen sollen, was? Über mir ist nur die Decke. Und Gott.«
»Tut mir echt leid, ich dachte ...«
Ja, was dachte sich Daniel wohl, als er gegen die elementaren Regeln des Sektflasche-Aufmachens verstoßen hat?
»Tut es sehr weh?«
»Geht.«
Matthias steht auf und hält die Kühlkompresse fest gegen sein Gesicht gepresst. Kritisch betrachtet er die Bescherung im deutlich zu niedrig aufgehängten Flurspiegel.
»Nicht schlimmer als nach dem Meisterschaftsspiel.«
Daniel, der ein total schlechtes Gewissen hat, zeigt sich interessiert: »Fußball?«
»Nee, Handball.«
»Wer hat gewonnen?«
»Wir«, grinst Matthias ihn an. »Hättest mal die anderen sehen sollen, kein Spaß.«
Matthias sieht fast so aus, als würde es ihm gefallen, derart gezeichnet aus einer nicht geschlagenen Schlacht zu kommen. Gilt unter Kerlen wohl als schick, wenn man grün und blau ist. Farben der Saison ...
Aber wenigstens ist er Daniel nicht böse. »Alles okay, ich lebe noch. In ein paar Wochen sieht man nichts mehr. Aber einen Sekt hätte ich jetzt trotzdem gerne.«
»Kommt sofort.«
Daniel scheint es mehr als recht zu sein, eine Aufgabe zu haben.
»Wenn einer fragt, dann sage ich einfach, ich hätte mich für dich geschlagen«, sagt Matthias und sieht mich an.
Matthias. Getroffen, aber nicht einen Zentimeter wankend. Männlich. Groß. Stark. Souverän.
»Daniel ist mein Cousin«, ist das Einzige, was mir in dem Moment einfällt.
»Wäre ich nie drauf gekommen.«
Ich bin verwirrt. Der Schlag gegen den Kopf hat Matthias zu einem ungewohnt lockeren, ja, man könnte sagen, eloquenten Mann gemacht. Hätte ich das gewusst, hätte ich das mit dem Sektkorken schon viel früher gemacht. Vor dem Antrag auf jeden Fall, wer weiß, wie der dann gelaufen wäre.
Daniel hat die Gläser auf den Schreck hin bis zum Rand gefüllt.
»Okay, neuer Versuch: Daniel.«
»Matthias. Sibilles Ver...«
»Verloren geglaubter Freund. Genau. Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich war kurz davor, ein Suchkommando loszuschicken!«
Während ich rede, ziehe ich Matthias dahin, wo wir ein wenig ungestörter sein können. In der eher überschaubaren Behausung meiner Eltern ist das leider nur auf dem Balkon halbwegs gewährleistet. Ich muss ordentlich ziehen, damit Matthias mir folgt.
»Was ist los? Ich wollte doch gerade ...«
»Wegen gestern.«
»Ja?«
»Da müssen wir noch mal drüber reden. Allein. Mama hat doch Geburtstag, wenn meine Eltern erfahren, dass du ...«
»Du hast es ihnen nicht gesagt?«
Winden. Ausgang suchen. »Was sollte ich ihnen denn sagen? Dass ich in dem ganzen Samstags-bei-IKEA-Gewühle die möglicherweise gestellte Frage nur erahnen konnte und deswegen mit der Antwort, die ich hätte brüllen müssen, gewartet habe?«
»Aber ich dachte ... Ich ... Ich hab wirklich gefragt.«
»Hast du nicht.«
»Hab ich nicht?«
»Nein.«
»Unmöglich, ich war mir absolut sicher ...«
»Dann hätte ich dir ja wohl eine Antwort gegeben.«
»Wenn das so ist, könnte ich doch am besten gleich jetzt ...«
Keine gute Idee, gar keine gute Idee. Winziger Balkon. Matthias geht in die Knie, Sekt noch in der Hand, ich in mittelschwerer Panik. Wenn meine Eltern uns hier so sehen!
»Tante Hedwig! Huhuh!«
Nie habe ich mich mehr gefreut, ihr zerfurchtes Antlitz unter der praktischen Kurzhaarfrisur zu sichten, niemals zuvor war ihre ansonsten modisch bedenkliche Kombination aus überlangem Blazer und Bundfaltenhose ein erfreulicherer Anblick als heute.
Matthias schießt neben mir in die Höhe und winkt nun ebenfalls nach unten.
»Du, wir verschieben das, passt gerade nicht so gut«, flüstere ich ihm zu.
»Aber kannst du mir nicht einfach sagen, ob du ...«
Ich kann sehr vernichtend schauen, wenn es sein muss. Und heute muss es sein. Nicht gefragt zu werden, ist das eine, aber mit einem »kannst du nicht einfach sagen, ob du willst oder nicht?« in die Ehe getrieben zu werden, also echt! Irgendwann ist mal gut.
Wir gehen wieder rein. Kaum haben wir die Balkontür hinter uns geschlossen, klingelt es, und Tante Hedwig keucht gefühlte dreißig Minuten später nach oben, beladen mit Präsenten und ihrem ganz persönlichen Survival-Rucksack, der alles enthält, was hygienefanatische Frauen jenseits der Fünfzig im Großstadtdschungel brauchen. Ich sage nur: Papiertoilettenbrillen!
In diesen Momenten frage ich mich, ob diese Art von Wahnsinn einfach irgendwann da ist, oder ob sich Wahnsinn schrittweise, so von Jahr zu Jahr, steigert. Früher, also sehr viel früher, da muss doch auch Tante Hedwig jung und wild oder wenigstens normal gewesen sein. Vielleicht hatte sie sogar lange Haare. Frage eins: Wann fangen Frauen an so zu werden wie Tante Hedwig? Und Frage zwei: Werden alle Frauen irgendwann wie Tante Hedwig?
Das sind doch berechtigte Fragen ...
Nehmen wir mal diese Sendungen mit den Schlagerzombies, die guckt doch keiner unter hundert, der noch halbwegs bei klarem Verstand ist. Also müsste sich dieses Sendeformat eigentlich, rein demografisch betrachtet, längst erledigt haben oder wenigstens in absehbarer Zeit Geschichte sein. Aber es gibt sie immer noch. Das heißt, es müssen neue Unterhundertjährige in die Schunkel- und Gauditruppe nachrücken. Und die brauchen dann wohl auch Survival-Rucksäcke. Ich betrachte Mama, die zehn Jahre jünger ist als Tante Hedwig und frage mich, ob sie schon an der Schwelle zum Schunkeln mit Rucksack steht, jetzt, da sie sechzig ist. Und ob ich da auch irgendwann mal hinkomme. Ob es sich bei dieser Entwicklung vom vernunftbegabten (nun ja, das ist ein dehnbarer Begriff) zum willen- und geschmacklosen Senior um eine Art genetische Prädisposition handelt, der wir uns alle stellen müssen, wenn wir ein bestimmtes Alter erreichen. Die Frage ist auch: Gibt es eine Chance, diesem Schicksal zu entkommen?
Matthias unterbricht meine Gedanken. »Ich muss mit dir reden.«
»Ich weiß. Aber du siehst doch, dass das gerade total schlecht ist.«
»Ich komme mir vor wie der letzte Idiot.«
Verstehe ich. Gut sogar. Ich mir übrigens auch, aber weder das eine noch das andere kann ich Matthias jetzt sagen, denn sonst ist es sehr wahrscheinlich, dass Mutter traumatische Erinnerungen von ihrem Sechzigsten mit ins Grab nimmt.
»Matthias, versuch bitte, dich halbwegs normal zu benehmen. Du weißt doch genau, was hier sonst los ist.«
»Ja, weiß ich: Deine Mutter wird sagen, dass unsere Verlobung das schönste Geschenk ist, das wir ihr machen konnten.«
Nein! Nicht das V-Wort, verdammt. Meine Mutter hat so eine Art Sensor, der derartige Formulierungen aus einem Stimmengewirr aus fünfhundert Metern Entfernung heraushört. Ähnliche Reizworte sind »schwanger«, »tot« und »Diät«, in diesen Fällen schaltet Mutter sofort auf Empfang. Was vor allem eines bedeutet: Matthias hat recht, genau das würde Mutter sagen. Aber dann würde sie die anderen Geschenke gar nicht mehr aufmachen, weil sie das schönste ja schon bekommen hat. Ganz prima. Ich sage nur Reiseführer ...
Während Matthias und ich die Modalitäten unserer möglichen Verlobung diskutieren, grinsen wir die ganze Zeit wie blöde und tun so, als würden wir Tante Hedwigs bildreicher Schilderung ihrer Anreise interessiert folgen. Wenn die wüssten.
»Noch Sekt?«
Der gute Daniel kommt genau im richtigen Moment. Matthias und ich halten ihm unsere Gläser hin: Einmal volltanken, bitte!
Daniel tut uns den Gefallen und schenkt kräftig nach.
»Wer kommt denn noch alles?«
»Deine Mutter müsste eigentlich auch auftauchen. Hast du sie noch nicht gesprochen?«
»Nee, weißt ja, wie sie ist.«
Weiß ich in der Tat: Wenn es einen Archetypen des gealterten weiblichen Egoisten gibt, dann ist das Tante Martha, wobei ich sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr Tante und eigentlich auch nicht mehr Martha genannt habe. Sogar für Daniel ist sie Marty. Und das klingt so, wie Marty ist: immer jung, immer schön, immer straff. Und immer knusperbraun, was vor allem daran liegt, dass sie die meiste Zeit des Jahres, also immer dann, wenn sie sich nicht gerade bei ihrem Ex-Mann, meinem Onkel Max, unters Messer legt, auf Mallorca in ihrer Finca lebt.
Nachdem ich nun die beiden Extrempole weiblichen Alterns präsentiert und bekrittelt habe, könnte man mir berechtigterweise vorwerfen, dass ich immer was zu meckern habe. Tanten wie Rucksack-Hedwig sind mir zu omahaft, Implantat-Martys zu überspannt (im Wortsinne, nach ihrem letzten Lifting hatten wir alle berechtigte Sorgen, dass die Haut – oder das, was davon noch übrig war – der Belastung nicht mehr lange würde Stand halten können). Das ist korrekt. Ich habe noch keine Frau gefunden, die mir mit leuchtendem Beispiel ins Alter vorangeht. Ganz ehrlich: Ich suche für meinen eigenen Alterungsprozess, der natürlich erst in etwa fünfzig Jahren einsetzen wird, nach wie vor noch einen gesunden Mittelweg. Ein Vorbild für würdiges Altern wäre nicht schlecht. Meine Tanten sind es mit Sicherheit nicht.
»Wer ist Marty?«
Von Marty hatte ich Matthias nie erzählt. Schon komisch, dabei habe ich sonst so gut wie nichts ausgelassen, was ihn familientechnisch irgendwie schockieren könnte. Ich wollte ihn nicht – nur für den Fall, dass er an eine Verehelichung denken könnte (damals habe ich mir dieses ganze Hochzeits- und Antragsding total romantisch vorgestellt) – uninformiert und blind vor Liebe einen solchen Schritt machen lassen. Dass ich ausgerechnet vergessen habe, Marty zu erwähnen, ist faszinierend.
»Die erste Frau von Onkel Max. Daniels Mutter.«
»Ach, Max war schon mal verheiratet? Ich dachte, diese ... wie heißt sie noch? ... Elvira wäre das. Aber egal. Kommt er auch?«
»Nee, der ist auf einem Kongress in L.A.«
»Wann haben Max und Marty sich eigentlich scheiden lassen?«
Daniel schenkt sich selbst ein Glas ein, während er Matthias antwortet: »Da war ich gerade mal auf der Welt. Ist nicht ganz so gelaufen, wie die beiden sich das damals in ihrem jugendlichen Leichtsinn gedacht haben.«
»Das tut mir leid.«
Daniel zuckt mit den Schultern. »War okay, ich meine, wer weiß, was die sich angetan hätten, wenn sie zusammengeblieben wären. Mein Vater arbeitet mit verdammt scharfen Messern. Immerhin sind sie Freunde geblieben.«
»Von denen der eine dem anderen die Haut abzieht.«
Ich sollte weniger trinken, eindeutig. Ich neige sonst zu unkomischen Albernheiten.
»Ganz so dramatisch würde ich das nicht formulieren.«
»Aber als Alimentenzahlungen gehen die OPs, die Marty dauernd bekommt, wohl auch nicht durch, oder?«
»Nicht wirklich, obwohl, wenn man das gegenrechnet ...«
Matthias ist sichtlich verwirrt. »Könnt ihr mich bitte mal aufklären?«
Daniel sagt nichts, also starte ich einen Versuch: »Hat dir Papa noch nie was vom Schwarzen Schaf der Familie erzählt? Von seinem älteren Bruder, der Medizin studieren durfte, weswegen für ihn nur ein Lehramtsstudium drin war?«
In Matthias arbeitet es. »Da war mal was.«
»Und da ist noch viel mehr, wenn Papa erst mal anfängt zu erzählen.«
Nun schaltet sich auch Daniel ein: »Mein Vater hat es gewagt, sein wertvolles Studium nicht zum Wohle der Menschheit zu nutzen, sondern um plastischer Chirurg zu werden. Das war so ziemlich das Schlimmste, was man Opa antun konnte. Opa war dummerweise schon tot, als mein Vater berühmt geworden ist. Nach meinem Vater ist sogar eine Operationstechnik benannt. Hast du vielleicht schon mal gehört: Der Frisch-Nippel. Das ist eine ...«
Ich stoße Daniel an. Papa ist bis auf Hörweite an uns heran gekommen.
Daniel spricht leiser. »Können wir gerne später vertiefen.«
Matthias nickt, aber irgendwie sieht er nicht so aus, als würde er auf das Angebot zurückkommen. Er ist da etwas zart besaitet. Operationen im Fernsehen, Erinnerungsfotos von verdrehten Knöcheln, eigentlich reichen schon die ein wenig zu detailreichen Schilderungen einer Verletzung, um ihm ein flaues Gefühl im Magen zu bereiten.
Mein Vater ist jetzt bei uns und grinst in die Runde. »Na? Was macht die Jugend?«
Innerlich gebe ich einen mehr als genervten Seufzer von mir. Die Jugend? Die Jugend ist schon fast nicht mehr im gebärfähigen Alter, seit Jahren erwerbstätig und nach Ende des Studiums nur noch schockierend selten nach Mitternacht außerhalb des Bettes gesichtet worden! Wie also, bitte, kann ich noch Jugend sein? Ich will etwas Entsprechendes erwidern, als mir klar wird, dass der Verlust meiner Jugend vor allem einen schwer treffen wird: meinen Vater selbst! Denn wenn ich nicht mehr Jugend bin, was ist dann er? Also bin ich ein wenig milder in meinem Urteil, irgendwann könnte es außerdem durchaus sein, dass ich ähnliche Fragen stelle. Obwohl, dann bin ich so alt wie Tante Hedwig, und man verzeiht mir alles. Also gut, schauen wir mal, was macht denn die Jugend?
»Ich könnte noch ein Glas vertragen«, teilt Matthias seinem noch immer nicht offiziellen potentiellen Schwiegervater in spe mit.
»Ich auch.«
Nein, ich bin nicht vernünftig, ganz eindeutig nicht, aber vernünftig (und nüchtern) kann man einen solchen Tag im Hause Frisch nicht durchstehen. Vor allem nicht, wenn man ein Geheimnis hat.
Mein Vater ist wild entschlossen, meine Mutter und deren vorwurfsvollen Blick zu meiden, deswegen bleibt er bei uns, obwohl es bei uns nicht viel zu erleben gibt. Wir sollten einen Club der Meider und einen der Gemiedenen gründen. Papa und ich in dem einen, Matthias und meine Mutter in dem anderen. Ich bin mir absolut sicher, dass die beiden sich in ihrem Leid sehr gut verstehen würden.
Papa legt jetzt richtig los: »Und, Daniel, was macht die Firma?«
»Läuft.«
»In welcher Abteilung bist du jetzt?«
»Kunststoff. Wir entwickeln gerade ein Material, dessen Oberfläche so glatt und stabil ist, dass es vom Eisfach direkt in die Mikrowelle kann. Total faszinierend.«
Abfälliger Blick von Matthias. »Gibt’s das nicht schon? Meine Mutter hat früher immer alles Tiefgekühlte in die Mikro gepackt. War nie ein Thema.«
»Wir reden noch mal drüber, wenn du dich fragst, warum deine Kinder ein Ohr zu wenig oder zwei Finger zu viel haben.«
»Aber ...«
»Kann natürlich auch sein, dass sich erste Folgen der Kontaminierung schon in deiner Generation zeigen.« Daniel wirft einen kritischen Blick auf Matthias. »Aber aktuell sieht’s noch ganz gut aus.«
Mein Vater ist – wie bereits erwähnt – ironieresistent. »Ist das wirklich so schlimm? Dann muss ich gleich mal mit Lenchen reden, die macht das nämlich auch. Sie weiß bestimmt nicht, wie gefährlich das ist.«
»Papa, Daniel macht Quatsch.«
»Nicht nur.«
Papa fängt sich wieder. »Und in dieser Abteilung, da machst du was genau?«
»Ich leite sie.«
»Das ist natürlich ...«
»Die haben dich befördert? Das ist ja großartig!«
»Sonst wäre ich nicht zurück in den heimischen Stall gekommen. Da mussten sie mir schon was anbieten.«
»Gratuliere, mein Junge, noch keine vierzig und schon ... Lenchen, hast du gehört? Daniel ist Chef von einer ganzen Abteilung!«
Endlich wieder Licht am Ende des Gedankentunnels. So ein Erfolg im engsten Familienkreis lässt sogar den Blumen-GAU verblassen. Das ist auch eins von diesen Familiendingern: Wenn einer aus dem Team Geld macht, Erfolg hat oder Herausragendes leistet (alles, außer dem Frisch-Nippel, ist willkommen), dann sonnen sich alle anderen in seinem Glanz. Umgekehrt funktioniert das übrigens nicht. Wer leidet, leidet allein. Ich spreche aus Erfahrung.
Sofort wird der erfolgreiche heimgekehrte Neffe von stolzen Tanten und Onkeln umringt und zu seinem Erfolg beglückwünscht. »Nein, der Daniel, da sind deine Eltern aber stolz auf dich, was?« … »Siehst du, wenn du nur ordentlich lernen tust, dann passt das.« … »Ach, ist das schön, dass ich das noch erleben darf!« Ja, meine Sippe neigt alles in allem zu Pathos. Und dem tiefen Stapfen in Fettnäpfchen.
Die Begeisterungswelle ebbt langsam ab, und Daniel kann sich wieder Matthias und mir zuwenden. »Und, Matthias, was machst du so?«
Eigentlich eine harmlose Frage, die unter Männern, die noch der »Jugend« zugeschlagen werden, aber zu größeren Verwerfungen führen kann. Ob Daniel das wohl einkalkuliert hat?
»Ich bin Beamter.«
»Ach, echt? Wo denn. Kripo? BKA?«
»Einwohnermeldeamt.«
»Ja ... also, das stelle ich mir auch total interessant vor. Wenn man da so ...«
Daniel holpert sich durch den Satz. Und kramt in seinen Erinnerungen nach halbwegs attraktiven Tätigkeiten, die man mit dem Einwohnermeldeamt in Verbindung bringen könnte. Findet aber keine. Doch dann: »Ihr verlängert Pässe, nicht wahr? Dann komm ich demnächst mal vorbei. Und wenn ich eine Wohnung gefunden habe, lass ich meinen Perso umschreiben.«
»Besser ist andersrum.«
»Wie?«
»Erst die neue Wohnung, dann die Papiere. Da sparst du ganz schön, wenn du das so rum machst.«
»Ah, ja, danke für den Tipp.«
Genau, danke für den Tipp. Auf die Idee wäre Daniel, aufsteigender Stern am Himmel der chemischen Industrie, Ingenieur mit Auslandserfahrung, drei Sprachen fließend, sicher nie gekommen.
Und Matthias ist noch lange nicht am Ende. »Du kannst direkt zu mir kommen, ohne zu warten. Ist immer gut, wenn man Beziehungen hat, was?«
Das hat er nicht wirklich gesagt! Schade, dass die Wirkung des Sektkorkens so schnell nachgelassen hat. Ob Daniel wohl noch einen Schuss wagen könnte?
»Zu Tisch!«
Gut, das passt.
Wir sind doch eine ganze Menge Leute geworden. Mama wird am Tisch von mir und Papa flankiert. Sie wird in solchen Momenten immer ganz kuschelig, schließlich bin ich das Tollste, was sie im Leben zustande bekommen hat (das sagt sie, nicht ich!). Und Papa ist der Mann ihres Lebens – Blumen-GAU hin oder her. Deswegen darf er auch neben der Jubilarin sitzen. Es gibt ein kurzes Gerangel, welcher der beiden jungen Herren an meiner Seite sitzen darf. Matthias gewinnt, Daniel wird Tante Hedwigs Tischherr, was auch Vorteile hat, denn Tante Hedwig erwartet keine Beteiligung am Gespräch, man kann in ihrer Gegenwart ganz entspannt schweigen. Und manchmal tut das ja auch gut, denke ich, während Matthias immer wieder den Versuch unternimmt, mit mir zu reden ...
Ich muss hier raus. Ich muss hier ganz dringend raus. Aber meine Chancen stehen schlecht, also vertröste ich Matthias auf später, nicke dabei bestätigend zu allem, was meine Mutter so von sich gibt, und lächle hin und wieder Daniel aufmunternd zu, der unter Tante Hedwigs Geplapper zu leiden hat.
Schließlich aber haben wir es geschafft!
Draußen ist es stockfinster, folglich richtig spät. Diesmal haben die alten Recken wirklich alles gegeben. Abschied, Küsschen hier, Küsschen da, Taxi nach Hause (alles andere wäre grob fahrlässig), Tür aufgeschlossen, Matthias den Vortritt gelassen, der sofort los in Richtung Klo – und den Rest können wir uns vorstellen. Matthias verträgt keinen Schnaps, trinkt ihn aber trotzdem, kotzt und fühlt sich schrecklich, schwört dann mit ganz großer Geste, das Teufelszeug nie wieder anzurühren, vergisst das aber dummerweise wieder und macht beim nächsten Umtrunk natürlich denselben Fehler. Es ist ihm einfach nicht auszutreiben. Der Vorteil ist: Ich habe das Bett für mich alleine. Und noch eine Nacht länger Zeit, drängenden Fragen zu meinem Verhältnis zu Matthias und meiner Zukunft aus dem Weg zu gehen.
5
Aber selbst die schönste Nacht endet (obwohl schön hier nicht ganz das passende Wort für das ist, was sich hier so abgespielt hat, ich sage nur »Papierkorb«), und ihr folgt ein weniger schöner Morgen. Was unter anderem daran liegt, dass Matthias den absolut schlimmsten Kater seit Jahren hat – er hat ihn immer, er vergisst es nur regelmäßig. Leider bezieht sich seine Amnesie lediglich auf die Ursache des Katers, nach wie vor unvergessen sind die Szenen bei IKEA oder auf dem Balkon. Und wenn er nicht gerade leicht grün im Gesicht vor sich hinwürgen würde, würde er sicher nicht zögern, noch einen dritten Versuch vor dem Frühstück zu unternehmen, mir eine Antwort auf seine – ich bleibe dabei – nach wie vor nicht gestellte Frage abzuringen. Ja, nein, vielleicht.
Ich bin nur froh, dass Montag ist. Ich bin eigentlich nie froh, dass Montag ist. Der Song »Thank God, it’s Friday« wurde – obwohl ich, wie bereits erwähnt, nicht selten auch Samstag, Sonntag und gerne auch mal mitten in der Nacht arbeiten muss – quasi für mich geschrieben. Aber heute mache ich eine Ausnahme; ich springe aus dem Bett, werfe mich unter die Dusche und in die Klamotten, bringe Matthias in die Gänge (den man um diese Uhrzeit im Bürgeramt schon langsam als vermisst betrachten wird) und verschwinde, bevor ich mich weiteren Nervereien privater Natur aussetzen muss, in meine Apotheke. In meinen sicheren Hafen. Dorthin, wo ich nicht nur meine Brötchen verdiene, sondern auch meine Freundinnen habe. Wir sind ein tolles Team, meine Leute und ich. Alles Frauen. Ist eben ein Frauenberuf, PTA und so, ich bin also auf keinen Fall irgendwie sexistisch. Es hat sich einfach noch nie ein Mann um eine Stelle beworben, egal, was ich in die Anzeigen reinschreibe.
Kaum mache ich die Tür zum Laden auf, werde ich auch schon von Kitty umarmt. Kitty heißt eigentlich Katharina, lehnt diesen Namen aber ab, was ich gut verstehe, denn Katharinas sind erwachsen, ein wenig konservativ und könnten auch mal eine Strickjacke in gedeckten Farben tragen, während Kittys eben sind wie Kittys: wilde Locken, breiter Lachmund, sexy Dekolleté und Schuhe, in denen ich nicht mal einen halben Arbeitstag überleben würde. Die trägt Kitty allerdings nicht nur, um gut auszusehen (hinter dem Tresen sind die Schuhe sowieso kaum zu sehen), sondern vor allem, um überhaupt über den Tresen schauen zu können. Denn Kitty ist winzig – aber perfekt. Alles an ihr passt zu ihrer Winzigkeit. Gut, winzig stimmt nicht ganz, aber wenn ich mich neben jemandem groß fühle, dann ist der andere schon ziemlich zart. Ist so ein Verhältnis wie ich zu Matthias. So in etwa jedenfalls.
Kitty lässt mich los. »Wie war dein Wochenende? Habt ihr schön gefeiert?«
»Definiere ›schön‹.«
»Oh, bitte, guck nicht so, deine Eltern sind total nett. Was hat deine Mutter zum Gutschein gesagt?«
Tiefes Bohren in nicht geschlossener Wunde.
»Nichts. Sie hat nicht mal ins Buch geschaut. Und da sie bislang nicht angerufen hat, um sich mit tränenfeuchten Augen für mein wahnsinnig großzügiges Geschenk zu bedanken, hat sie es wohl immer noch nicht getan.«
»Das tut mir total leid. Echt.«
Und dann nimmt sie mich wieder in den Arm, was unter Garantie ein wenig grotesk aussieht, aber ich fühle mich tatsächlich gleich ein bisschen besser. Muss ich erwähnen, dass Kitty ein sehr empathischer Typ ist? Wahrscheinlich mit ein Grund, warum sie ihren Job so liebt. Sie ist fleischgewordenes Mitgefühl. Was dazu führt, dass sie nicht selten deutlich übers Ziel hinausschießt, wenn sie beispielsweise Kunden, die Medikamente mit Indikation für schwere Krankheiten kaufen, verständnisvoll alles, alles Gute wünscht und dabei Tränen in den Augen hat. Und bei Schwangerschaftstests ist es richtig schlimm. Nach dem letzten Vorfall (sie hat nicht nur den Test verkauft, sondern gleich noch Folsäure, Proben für Nahrungsergänzungsmittel für Schwangere und den Flyer einer Hebamme dazu gelegt, was bei der betroffenen Fünfzehnjährigen zu einem dramatischen Heulanfall geführt hat) haben wir uns auf folgende Formel verständigt: »Ich wünsche Ihnen das Ergebnis, das auch Sie sich wünschen«. Sie hält sich dankenswerterweise daran.
»Und sonst? Was macht dein Dauerfreund?«
Kitty ist vertraut mit dem Jargon meiner Eltern.
»Lebt noch, obwohl er haarscharf an der Alkoholvergiftung vorbeigeschrabbt ist.«
»Schnappsduell mit ’nem Onkel?«
»Fast. Diesmal ging es eher gegen meinen Cousin.«

Gret Weyden
Gret Weyden behauptet auf Partys gerne, Aerobictrainerin zu sein. Klingt dynamisch und lässt keine Fragen offen, ist also 'ne klare Sache. Ganz anders als der Job, den sie wirklich macht: Schreiben. Alleine. Im heimischen Arbeitszimmer mit Blick auf den Rhein. Ohne Musik. Drehbücher. Romane. Sportstudio gibt’s nur nach Feierabend. Schade, eigentlich ...(c) Autorenfoto: Hartmuth Schröder