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Zusammenfassung

In einem abgelegenen Nebental im Spessart geschieht ein Mord. Die Idylle rund um die Teufelsmühle ist zerstört. Wer ist die Tote? Und warum musste sie gerade in der Walpurgisnacht sterben? Lastet also doch ein Fluch auf der Teufelsmühle? Hauptkommissar Bernd Rieker steht mit seiner jungen Mannschaft vor einem Rätsel. Da erkennt der alte Störzlein, Riekers ehemaliger Chef, Spuren, die weit in die Vergangenheit führen. Spuren, denen er einst selbst nachging. Und wie damals stößt er auch jetzt auf eine Mauer des Schweigens.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ottilie Arndt & Lydia Ostermeier

Des Teufels Mühle

© Ottilie Arndt, Lydia Ostermeier

E-Book-Ausgabe: © 2013 bei hey! publishing, München

Originalausgabe: © 2009 bei Hermann-Josef Emons Verlag, Köln

Ottilie Arndt und Lydia Ostermeier werden vertreten durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-59-6

Von Ottilie Arndt und Lydia Ostermeier ebenfalls bei hey! erschienen:

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Mittwoch – 30. April, Walpurgisnacht

EINS

Hurenkind. Seit sie, vom Niedersteinbacher Bahnhof kommend, in den düsteren Spessartwaldweg eingebogen war, summte dieses Wort in ihren Ohren. Hurenkind. Wie sie es hasste! Und wie sie alle die hasste, die es sich hinter ihrem Rücken zugeflüstert hatten. So manchen mitleidigen Blick hatte sie ertragen müssen – das machte das ganze Gerede noch schlimmer. Warum Mitleid? Es war ihr doch gut gegangen, ihr, dem Hurenkind. Jeder Schritt, den sie auf den Waldweg setzte, hämmerte die Erinnerung schmerzlich an die Oberfläche ihrer Gedanken.

Im August 1944 war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war fünf Jahre alt, und ihre Mutter ging in Frankfurt am Main als Sekretärin bei Degussa einem durch und durch bürgerlichen Beruf nach. Doch dann hatte man den Vater an die Ostfront geschickt. Sie sollte ihn nicht wiedersehen. Und am 25. September 1944 kroch sie mit ihrer Mutter gegen Mittag aus dem Luftschutzbunker. Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, war nur noch ein rauchender Trümmerberg. Noch am gleichen Tag verließen sie Frankfurt mit den wenigen Habseligkeiten, die ihnen im Schutz des Bunkers geblieben waren. Sie hatten nicht schwer daran zu tragen.

Die Zielstrebigkeit, mit der ihre Mutter sie in den Kahlgrund brachte, ließ sie damals denken, ihre Mutter kenne hier jemanden, bei dem sie unterkriechen konnten. Doch das stimmte nicht. Ihre Mutter nahm nur jede sich bietende Fahrgelegenheit wahr, die sie weg von der zerbombten Stadt brachte. Am besten erinnerte sie sich noch an das letzte Stück, das sie mit der Kahlgrundbahn zurücklegten. Alle Waggons waren überfüllt, selbst auf den Trittbrettern drängten sich Menschentrauben. Manche sprangen zwischendurch ab und liefen ein Stück neben dem Zug her, der so langsam fuhr, dass man mit ihm mühelos Schritt halten konnte. Sie hätte am liebsten noch Stunden auf der Plattform des Waggons verbracht und die herbstliche Landschaft betrachtet, die vor ihren Augen vorüberzog. Nach dem ohrenbetäubenden Sirenengeheul des Luftschutzalarms und den rauchenden Trümmern Frankfurts fühlte sie sich wie im Himmel. Doch ihre Mutter konnte wohl das Gedränge in der Eisenbahn nicht länger ertragen.

Sie stiegen in Niedersteinbach aus dem Zug und fanden am Ende des Tages in einem Bauernhof am Ortsrand Unterschlupf. Nur Frauen lebten auf dem Hof. Alte und junge Frauen und zwei Kinder, zwei Mädchen. Gisela war fünf und Katharina zwei Jahre alt. Die Ehemänner, Söhne und Brüder der Frauen waren noch im Krieg oder schon gefallen.

Ihre Mutter wollte sich nicht unterkriegen lassen. Getrieben von einem übermächtigen Lebenswillen, stürzte sie sich auf die ungewohnte Arbeit in der Landwirtschaft, konnte bald Kühe melken und den Stall ausmisten. Dafür durften sie am Hof wohnen bleiben. Es war eine schöne Zeit für sie, auch wenn sie noch Monate nach der Flucht aus Frankfurt das Donnern des Bombenhagels im Ohr hatte und selbst beim geringsten Geräusch angstvoll zusammenzuckte. Doch zwei Jahre später, als die Männer nach und nach zurückkehrten, sollten sich die unbeschwerten Tage dem Ende zuneigen.

Sie spielte gerade mit Gisela ein kompliziertes Kästchenhüpfspiel, als ein bis auf die Knochen ausgemergelter Mann auf den Hof schlurfte. Mit seinem einen Arm – der andere Jackenärmel baumelte leer herunter – griff er nach Gisela und sagte ihr, er sei ihr Papa. Dabei lächelte er. Das sah furchterregend aus, weil ihm ein Teil des Kinns fehlte. Gisela lief schreiend davon. Erst spät in der Nacht fand man sie in einem Kuhstall am anderen Ende des Dorfes. Mit der grausigen Entstellung ihres Vaters konnte sich Gisela zeitlebens nicht abfinden.

Das kleine Bauernhaus mit dem braunen Fachwerk wurde bald zu eng für alle. So sagten es zumindest die Frauen, aber mit ein wenig gutem Willen hätte man den beiden Flüchtlingen weiterhin ein Stübchen überlassen können. Der Grund, warum man sie immer weniger gern am Hof behalten wollte, war wohl eher die auffallende Schönheit ihrer Mutter. Obwohl sie ihr blondes Haar im Nacken zu einem unscheinbaren Zopf zusammenfasste und ständig abgewetzte Kittelschürzen trug, zog sie die Blicke der Männer auf sich. Und 1946 waren Männer eine Rarität, vor allem solche mit gesunden Gliedmaßen.

Glücklicherweise bekam ihre Mutter von dem Besitzer des Jagdschlösschens am Waldrand von Niedersteinbach die Erlaubnis, in dieses Schlösschen einzuziehen. Die Aussicht, in einem Schlösschen zu wohnen, weckte in dem Mädchen von mittlerweile sieben Jahren, das sie damals war, geradezu märchenhafte Vorstellungen, die auch dann noch standhielten, als sie das ziemlich abgewohnte Gebäude in Augenschein nahmen.

Ein paar Tage später, sie hatten sich gerade notdürftig eingerichtet, stand Regina, Mutters Freundin aus Frankfurt, vor der Tür. Die Ernährungslage war in der Stadt immer noch so bedrückend, dass auch sie aufs Land geflohen war. Sie quartierte sich im Schlösschen mit ein, und die beiden Frauen halfen auf den Bauernhöfen der Umgebung beim Einbringen der Ernte. Im Winter war damit jedoch Schluss. Man brauchte ihre Hilfe nicht mehr. Regina, die auf kein Kind aufpassen musste, fand in einer Gastwirtschaft in Mömbris stundenweise Arbeit als Bedienung. Doch dies währte nicht lange. Die hübsche Regina mit den geschmeidigen Gliedmaßen und der fuchsroten Lockenmähne erregte so sehr die Aufmerksamkeit der Männer und vor allem die des Wirtes, dass sie von der Wirtin an die Luft gesetzt wurde. Wovon sollten sie nun leben? Die beiden Frauen fassten einen aus der Not geborenen Entschluss. Ihre Mutter und Regina wurden Huren.

Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Noch ein paar Schritte, und die verwitterten Gemäuer des alten Schlösschens würden durch das frühlingsgrüne Laub der Buchen schimmern. Sie umrundete das Gebäude.

Damals als Kind war es ihr riesig vorgekommen. Trotz der schäbigen Einrichtung hatte sie sich vorgemacht, die Prinzessin im Märchen vom Froschkönig zu sein. Zusammen mit Gisela hockte sie stundenlang neben dem Brunnen ein wenig abseits des Schlösschens. Sie hielten nach Fröschen Ausschau. Hin und wieder gelang es ihnen, einen zu fangen und zu küssen. Auf den Blitz und den Donnerschlag, der aus dem Frosch einen Prinzen machen sollte, warteten sie jedoch vergeblich. Die Frösche blieben Frösche.

Jetzt, nach all der Zeit, spähte sie durch das Gebüsch und suchte nach dem Brunnen, aus dem ihre Mutter das Wasser geschöpft hatte. Sie konnte ihn nicht finden. Man hatte ihn wohl zugeschüttet.

Ihre Mutter hatte die Fröscheküsserei ziemlich eklig gefunden und stattdessen vorgeschlagen, doch lieber so zu tun, als seien sie Dornröschen. Sieben glückliche Jahre hatte sie in dem Schlösschen verbracht. Dornröschen hatte sie aber nie sein wollen. Sie wollte sich nicht in den Finger stechen und schon gar nicht hundert Jahre schlafen müssen. »Ich schon, ich würde am liebsten von heute auf morgen in einen hundertjährigen Schlaf fallen«, seufzte ihre Mutter.

Damals hatte sie den Sinn dieser Worte nicht begriffen, dafür später umso besser. Ihre schöne Mutter, die ihr blond schimmerndes Haar mit so viel Anmut aus dem Gesicht strich und immer lächelte, hatte das Hurenleben so satt, dass sie es am liebsten verschlafen hätte. Und sie selbst hatte als Kind durch die Ritzen des Verschlags, in dem sie sich aufhielt, wenn ihre Mutter und Regina ihrer Arbeit nachgingen, bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr womöglich mehr blankgezogene Männerschwengel gesehen als alle Frauen zusammen im Kahlgrund.

Unschlüssig schaute sie sich um. War sie überhaupt auf dem richtigen Weg? War das der untere Weg oder, wie die Leute damals sagten, der erste Weg? Ringsherum drängte sich das Unterholz dicht zusammen. Abgestorbenes Geäst lag herum. Früher hätte es das nicht gegeben. Da lag kein dürres Holz im Wald. Es wurde gesammelt und verheizt. Und das Laub wurde in die Viehställe gestreut. Die Wälder waren früher so ordentlich aufgeräumt wie Wohnzimmer.

Hätte sie doch besser den oberen Weg einschlagen sollen, den die Leute auch den zweiten nannten? Auf dem waren früher Fuhrwerke und Autos gefahren. Sie hielt inne und versuchte, sich zu orientieren. Doch, hier musste der Weg weitergeführt haben. Rechts sah sie das saftige Grün des engen Wiesentals durch die Bäume schimmern und wusste, dass sich unterhalb des jähen Abhangs der Geiselbach vorbeischlängelte. Entschlossen drang sie in das dichte Strauchwerk ein, das den Weg überwuchert hatte.

Früher war sie mit Regina hier entlanggeritten, Regina auf einem Apfelschimmel, der gern galoppierte, und sie auf einem lammfrommen Shetlandpony, das geduldig hinter dem Schimmel herzuckelte. Ihre Mutter kam nie mit. Sie hatte Angst vor Pferden.

Früher! Warum fiel ihr seit dem Anruf ständig nur »Früher« ein? Wie war der Bär überhaupt auf ihre Spur gekommen, und was sollte dieses Treffen nach so langer Zeit? Wie mochten sie aussehen nach weit mehr als fünfzig Jahren?

Das Gebüsch lichtete sich, sie konnte die Reste des alten Weges jetzt gut erkennen. Letzte Sonnenstrahlen tropften durch das Blättergewölbe der glatten Buchen und borkigen Eichen, als sie den verwachsenen Hohlweg verließ und nach wenigen Schritten vor dem schmalen Steg stand, der den Geiselbach überspannte. Mickrig wirkte er im Vergleich zu der Brücke, die der alte Teufelsmüller Ende der vierziger Jahre hier angelegt hatte. Die war aus mächtigen Eichenbohlen gebaut, über die sogar die Lastwagen fahren konnten, die dem Teufelsmüller für seine Gastwirtschaft Bier, Limonade, Selterswasser und Apfelwein lieferten.

In der Mitte des Steges hielt sie inne und suchte angestrengt bachabwärts das rechte Ufer ab. Hier mussten doch die Reste der unteren Teufelsmühle sein? Oder lagen sie hinter der Biegung des Baches? Sie löste ihre Hände vom Geländer und wandte sich dem engen Tal zu, das sich vor ihren Augen auftat.

Der Teufelsgrund. Der sagenumwobene Teufelsgrund mit der Teufelsmühle. Hohe Tannen, Fichten, Buchen und Eichen säumten das Tal und tauchten es vorzeitig in dämmriges, grünblaues Licht. Als Kind war ihr das Tal damals viel weiter vorgekommen. Sie folgte dem Trampelpfad durch den Wiesengrund, und endlich trat auch das Dach der Teufelsmühle in ihr Blickfeld. Hier war alles noch beim Alten, registrierte sie erfreut und vergrub die Hände in den Taschen ihrer korallenroten Wanderjacke. Das graue Dach des Blockhauses, das sie an einen ausgespreizten Fledermausflügel erinnerte, ragte weit über die hölzerne Veranda heraus, die drei Seiten des oberen Stockwerks umschloss.

Die grünen Fensterläden waren zurückgeklappt, und die derbe, grün gestrichene Eingangstür stand einladend offen. Dort drinnen hockten sie zusammen. Aber warum kam niemand auf die ausladende Terrasse heraus, um sie zu begrüßen?

Jetzt, als sie mutterseelenallein im Wiesengrund stand, kam ihr das ganze Treffen zu dieser unsinnigen Uhrzeit absurd vor. »Punkt neunzehn Uhr in der Teufelsmühle. Du brauchst nichts mitzubringen, es ist alles da. Wir übernachten aber im Blockhaus. In unserem Alter will keiner mehr in einem Zelt schlafen. Ansonsten machen wir alles wie früher. Und um Mitternacht gehen wir hinauf zum Hexentanzplatz. Das ist Ehrensache.«

»Wie früher«, äffte sie die Stimme wütend nach und trat an das Ufer des Omersbachs, der sich weiter unten mit dem Geiselbach vereinigte. Das Wehr, das früher den Bach aufgestaut hatte, hatten sie immer und immer wieder als Mutprobe übersprungen. Jetzt bröckelte es im leisen Verfall vor sich hin. Das Mühlrad mit dem mächtigen Mühlstein war verschwunden. Die Teufelsmühle ohne Mühlrad mutete wie eine Weinbergschnecke ohne Schneckenhaus an. Warum war alles um sie herum mucksmäuschenstill? Aus der Hütte waren keine Stimmen zu hören. Wie hatte sie sich nur auf diese Schnapsidee einlassen können hierherzukommen? Warum überhaupt dieses Treffen nach so langer Zeit?

An der Feuerstelle, wo jetzt die klobigen Steinbänke standen, hatten sie damals ihre Zelte aufgeschlagen. Aber nur die Mädchen durften das, die Jungen mussten mit ihren Zelten hinunter zur Auwiese, fast ans Ufer des Geiselbachs. Auch im Teufelsgrund herrschten in den Nachkriegsjahren strenge Sitten. Halb Deutschland lag damals zwar in Trümmern, aber die Sitten waren ebenso streng wie vor dem Krieg. Vor den Zelten der Mädchen durften sie unter den Argusaugen des alten Teufelsmüllers ein Lagerfeuer entfachen. Das letzte Mal 1953, als das mit Gisela passiert war. Der alte Teufelsmüller – war er tatsächlich alt gewesen? Mit seiner Frau und einer Reihe von Kindern hatte er hier gehaust. Da waren auch richtig kleine darunter gewesen. So alt konnte er eigentlich gar nicht gewesen sein, wie es ihr mit vierzehn vorgekommen war. Mein Gott, sie waren so jung gewesen, damals.

In den ältesten Sohn des Teufelsmüllers war sie mit der Innigkeit ihres jungen Herzens verliebt gewesen. Und er? Er mochte vielleicht zwei Jahre älter gewesen sein, zeigte aber an Mädchen kein Interesse. Seine ganze Liebe galt der Malerei. Wenn sie vom Schlösschen heraufkam, sah sie ihn schon von der Brücke her an seiner Staffelei sitzen und malen. Eine Aura höchster Konzentration schien ihn zu umgeben. Er lächelte ihr zwar freundlich zu, sah aber durch sie hindurch wie durch eine Glasscheibe.

Auf den Hexentanzplatz würde sie um Mitternacht nicht mit hinaufsteigen. Schon wegen Gisela nicht. Wer von ihnen wohl auf diese Idee gekommen war?

Unschlüssig stand sie neben den Brennnesseln, die die Wiese säumten, und starrte die Tür des Blockhauses an. Das schmale Terrassenstück vor der Eingangstür war wie damals. An die Wand der Blockhütte lehnte sich eine lange Bank, davor stand ein Tisch. Wie früher! Ließ sie die Vergangenheit denn niemals los?

Was sollte sie tun? Hinaufgehen und nachschauen? Den Kopf durch die Tür stecken und »Juhu, ich bin da« schreien? So tun, als ob keine sechsundfünfzig Jahre zwischen ihrem letzten Zusammentreffen lagen? Warum nicht? Das wäre die natürlichste Reaktion. In großer Wiedersehensfreude würden sich alle um den Hals fallen und gegenseitig in den Gesichtern den Spuren der vergangenen Jahre nachforschen.

Doch die Stille ringsum nahm ihr den Mut. Kein Laut war zu hören, selbst das Zwitschern der Vögel war verstummt. Bleierne Stille umfing sie – und Angst. Die gleiche Angst hatte sie verspürt, als sie damals im Stockfinstern und in heller Panik vom Hexentanzplatz heruntergestolpert waren und feststellten, dass Gisela verschwunden war.

Sie streifte den Rucksack von den Schultern, zog den roten Anorak aus und ließ sich darauf nieder. Während sie in ihrem Rucksack zwischen der Wäsche zum Wechseln nach ihrer Wasserflasche kramte, beobachtete sie beklommen die Tür.

Der klagende Ruf eines Waldkauzes durchschnitt plötzlich die Stille, und sie fuhr erschrocken herum. Aber da war nichts. Im Teufelsgrund fiel das Gruseln von jeher leicht, und das hatte nicht einmal was mit den Schauergeschichten des alten Teufelsmüllers zu tun. Dafür sorgte auch das reale Leben. Als ob es gestern gewesen wäre, kam ihr nun eine Begebenheit in Erinnerung, die sie längst vergessen geglaubt hatte.

Es war eine dieser mondhellen Nächte, in der Gisela umgekommen war. Zu sechst saßen sie vor dem Zelt der Mädchen und schwelgten in Zukunftsplänen, erzählten, was sie nach der Schule machen würden. Es ging schon auf Mitternacht zu.

Plötzlich stand im hellen Mondlicht eine alte Frau mit einem riesigen Margeritenstrauß im Arm. Ihr graues offenes Haar hing ihr weit über den Rücken. Reglos stand sie barfüßig im taunassen Gras und starrte zur Hütte empor. Eine unheimliche Gestalt im weißen Gewand, die ihnen Gruselschauer über den Rücken jagte.

Die wenigen Gäste, die sich noch in der Teufelsmühle aufhielten, wurden ebenfalls auf die seltsame Frau aufmerksam. Sie kannten sie und boten ihr an, sie nach Omersbach zurückzubringen. Doch die Frau schüttelte nur den Kopf und setzte unbeirrt ihren Weg fort. Am nächsten Morgen erwartete die drei Buben ihrer Gruppe ein gewaltiger Schrecken. Als sie sich im Geiselbach waschen wollten, fanden sie die Alte tot im Wasser. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Bach.

In den fünfziger Jahren gab es keine Handys, und so schwang sich der Teufelsmüller auf sein Motorrad und alarmierte die Polizei in Geiselbach. Gespannt verfolgten die sechs Jugendlichen die polizeiliche Untersuchung und das Bergen der Leiche. Aber wohin mit der Leiche in der Sommerhitze, bis jemand von der Rechtsmedizin kam? Man verfrachtete sie kurzerhand in den Keller der Teufelsmühle und packte sie dort auf das Stangeneis, das der Teufelsmüller von der Brauerei zum Kühlen der Getränke geliefert bekam.

Ob die anderen sich daran wohl noch erinnerten?

Sie steckte die Wasserflasche zurück in den Rucksack und holte ihre kleine Taschenlampe aus dem Seitenfach. Sie würde jetzt zur Tür des Blockhauses gehen, mit ihrer Taschenlampe hineinleuchten und der eigenartigen Situation ein Ende machen.

Damals hatte eine Taschenlampe immer zur Grundausrüstung gehört, auf dem Weg zum Hexentanzplatz war sie jedoch streng verboten. Da galt es, Mut zu beweisen, zumindest in der Walpurgisnacht.

Hinter ihrem Rücken murmelte leise der Omersbach. Sie fühlte sich beobachtet. Aber wovor sollte sie sich ängstigen? Vor den Gruselgeschichten, die der alte Teufelsmüller ihnen damals am Lagerfeuer erzählt hatte? Himmel, konnte der Geschichten erzählen von Tod und Teufel und Müllern, die dem Teufel ein Schnippchen schlugen! Er war ein echter Teufelsmüller gewesen, einer, dem es Spaß machte, den Gästen auf ihrem Heimweg durch den stockfinsteren Wald einen Schabernack zu spielen. Manchmal irrlichterte er mit einer Kerze in der Hand vor ihnen her und lockte sie vom rechten Weg ab. Trotzdem kamen sie immer wieder und ließen sich von ihm allzu gern in Angst und Schrecken versetzen.

So lange Zeit lag das nun zurück. Noch einmal rekapitulierte sie das Telefongespräch von letzter Woche. Von längst vergangenen Jugendtagen war die Rede, von Zeltlagern und Lagerfeuern und von Fahrtenliedern im Teufelsgrund. »Hoch auf dem gelben Wagen« kam ihr in den Sinn, und sie summte die ersten Takte des Liedes vor sich hin. Früher. Mit dem Kapitel »Früher« und vor allem mit der Walpurgisnacht, in der Gisela umgekommen war, hatte sie sich später noch einmal eingehend beschäftigt. Das war sie der kleinen fröhlichen Gisela mit den dünnen blonden Haaren schuldig gewesen. Ihrer Freundin.

Bald nach Giselas Tod hatten sich die Zeltlagergefährten in alle Winde zerstreut und waren ihrer eigenen Wege gegangen. Und heute sollten sie sich alle wiedersehen: der Bär, der Fuchs, der Wolf, die Eule und sie selbst, die Elster. Nur Gisela, das sanfte Reh, würde nicht mehr dabei sein.

Da, ein Geräusch! Schritte?

Erschrocken fuhr sie herum. »Du?«, brachte sie erleichtert hervor, als sie das alt gewordene, aber dennoch vertraute Gesicht erkannte. »Wieso bist du allein? Wo sind die anderen?«

»Die kommen noch. Was sollte die Geschichte über meinen Vater? Woher hast du sie?«

»Ich hab dich damals beobachtet. Ich habe alles gesehen«, sagte sie ruhig.

»Du hättest die alten Geschichten besser ruhen lassen sollen. Was hast du jetzt vor?«

»Was, denkst du, könnte ich vorhaben? Etwas, das dir schaden könnte?«

»Das kommt darauf an. Wem hast du noch davon erzählt?«

»Was glaubst du? Vielleicht habe ich niemandem davon erzählt. Vielleicht habe ich nur eine gute Geschichte gebraucht.«

»Das sind mir zu viele Vielleicht.« Eine Hand schoss vor, krallte sich um ihren Hals und drückte zu. »Sag schon. Wem?«

»Niemandem.« Sie rang nach Luft. Als die Hand mit dem Stein auf sie zukam, wusste sie es. Das war die falsche Antwort.

Donnerstag – 1. Mai

ZWEI

In Heinrich Wiesenbergs Subaru rumpelte die Gasflasche hin und her, als er das steile Stück des ausgefahrenen Weges in Angriff nahm. Die Sonne glitzerte in den Tautropfen auf der Wiese. Aber bis zur Ankunft der Gäste, die hier den Ersten Mai feiern wollten, würde das Gras längst trocken sein. Gemächlich lenkte er den Geländewagen durch die Fichtenschonung, und bald darauf öffnete sich vor ihm das Tal mit der saftig grünen Wiese.

In Augenblicken wie diesen fand er den Namen Teufelsgrund für diesen idyllischen Ort nicht angebracht. Als christlicher Mensch verband er das Wort Teufel mit Unheil. Woher, in aller Welt, sollte aber an diesem friedlichen, abgeschiedenen Ort Unheil drohen? Er lachte sein tonloses, asthmatisches Lachen und stellte das Auto wenige Meter vor den Fichten ab, die er vor Jahren geköpft hatte, als sie drohten, das Blockhaus zu überragen.

Keuchend lud er die schwere Propangasflasche ab und schleppte sie zum Häuschen. Dann holte er die Kiste mit den Grillwürstchen und wuchtete sie den Treppenaufgang hinauf. Er stellte sie auf der Terrasse ab und stützte sich schwer atmend auf das Geländer. Erst einmal tief durchatmen. Schuldbewusst sah er dabei auf seinen umfangreichen Kugelbauch hinunter. Asthma und Übergewicht passten zusammen wie Feuer und Wasser. Sein Atem wurde zunehmend ruhiger, und er wandte sich der Eingangstür zu.

Himmelherrgott noch mal! Aufgebrochen! Konnten denn diese verdammten Bengel die Hütte nicht in Frieden lassen? Inzwischen musste doch jedem im Kahlgrund klar sein, dass es hier nichts zu holen gab. Seufzend griff er nach dem Schürhaken neben dem Holzofen und begann seinen Rundgang. Sollte er auf betrunkene Jugendliche treffen, könnte er ihnen mit dem Schürhaken schnell und unmissverständlich klarmachen, dass sie die Hütte unverzüglich zu verlassen hätten. Der Wohnraum und die Küche waren unverändert. Alles schien an seinem Platz zu sein und nichts fehlte. Kurzatmig stemmte er sich die enge Treppe ins Obergeschoss hinauf und inspizierte die beiden Räume. Mühevoll bückte er sich, um auch unter die Stockbetten zu schauen. Nichts! Warum hatten sie dann überhaupt eingebrochen? Womöglich gehörte das wieder einmal zu einem der zweifelhaften Scherze der gestrigen Walpurgisnacht.

Ratlos trat er auf die Veranda, die unter seinem Gewicht bedrohlich ächzte. Nirgends fand er Spuren der Einbrecher. Er stützte sich schwer auf die Brüstung, musterte die roten und weißen Geranien in den Pflanzkästen, die er um die Veranda herum angebracht hatte, und blickte nachdenklich über den Teufelsgrund. Alles schien wie immer zu sein, bis auf die aufgebrochene Tür. Wütend fuhr er sich durch sein grau gesprenkeltes zentimeterkurzes Haar. Früher hatte er pechschwarze Haare gehabt. Ein schöner Mann. Früher. Im Geiste überschlug er die Kosten und den Zeitaufwand für das Reparieren der Tür. »Saubande, verfluchte«, grollte er in sich hinein und wandte sich von der Brüstung ab. Dabei registrierte er aus den Augenwinkeln einen roten Fleck mitten in den Brennnesseln nahe der sumpfigen Quelle.

»Ihren Abfall haben sie auch liegen lassen, die Hundsbuben, die verflixten«, schimpfte er. Ausgerechnet sein Biotop hatten sie versaut. Hier ließ er alles so wachsen, wie die Natur es wollte. Und wie alles wuchs! Die ungewöhnlich warme Witterung hatte die Brennnesseln und das scharfzahnige Sumpfgras über Gebühr in die Höhe schießen lassen. Wie ein dichter Filz schirmten sie die Quelle ab, in der Molche schwammen.

Er würde den Abfall sofort wegräumen, denn schlechtes Benehmen zog weiteres schlechtes Benehmen nach sich. Gerade heute, am Maifeiertag, wo es hier im Tal vor Menschen nur so wimmeln würde, durfte er das von vornherein nicht einreißen lassen. Zornig polterte er ins Untergeschoss und zog ächzend seine Gummistiefel an, ohne die in diesem Sumpf kein Durchkommen war.

Das war kein Abfall. Was da vor ihm lag, als er die Stelle in den Brennnesseln erreichte, war ein Mensch. Vorsichtig zog er den roten Anorak, der über Kopf und Oberkörper ausgebreitet lag, zur Seite.

»Heiliger Himmel!« Entsetzt starrte er auf den Leichnam. Es war eine Frau. Blicklose, stumpfe Augen in einem blutüberströmten Gesicht.

Er konnte nicht anders. Einen Menschen einfach wie ein Stück Unrat liegen zu lassen, das war nicht mit seinem christlichen Weltbild vereinbar. Also rollte er den Anorak zusammen und schob ihn behutsam unter den Kopf der Toten. Ihre erstarrten Hände legte er aneinander. Danach durchforstete er sämtliche Jacken- und Hosentaschen nach seinem Handy. Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Er hatte es vorgestern in der Hütte liegen gelassen. Schnaufend stapfte er zur Blockhütte zurück und hoffte, dass es den Einbrechern nicht in die Hände gefallen war. Er entdeckte es schließlich in all dem Krimskrams, der sich im Laufe der Jahre auf den Fensterbrettern des Wohnraums angesammelt hatte, gab den Notruf durch und ließ sich dann auf die Bank neben der aufgebrochenen Eingangstür fallen.

Während er auf das Eintreffen des Notarztes und der Polizei wartete, rief er sich noch einmal die Tote vor Augen. Wie lange sie wohl schon in den Brennnesseln lag? Im Grunde konnte sie schon seit vorgestern Abend dort liegen, als er gegen acht Uhr abends die Teufelsmühle verschlossen hatte und nach Hause gefahren war. Gestern hatte er die Einkäufe für den heutigen Maifeiertag erledigt und war abends vor dem Fernseher eingeschlafen. Was hatte die Frau hier nur zu suchen gehabt?

Aus der Ferne erklang Sirenengeheul. Die Kahlgrundsheriffs und ihre Sirenen! Ein spöttisches Grinsen huschte über sein Gesicht. Sie wollen sich damit wohl Mut machen im unheimlichen Teufelsgrund. Ob er ihnen ein Schnäpschen anbieten sollte und sich auf den Schrecken hin auch eines genehmigen könnte? Er verwarf beide Ideen. Einen Schnaps hatten sie nicht verdient. Waren sie es nicht gewesen, die kürzlich die Asche in der Feuerstelle vor der Hütte durchwühlt und ihn dann beschuldigt hatten, unerlaubt Sachen verbrannt zu haben? Dabei waren es doch nur alte Dachlatten gewesen. Angesichts des belasteten Verhältnisses zur dritten Macht im Staate verzichtete er ebenfalls auf den Schnaps.

Mit schweren Schritten polterten zwei Polizisten die Holztreppe herauf. Polizeiobermeister Wolfgang Stenglein, der ältere der beiden, nahm seine Mütze ab. Dunkelbraunes, vom Mützenrand an den Kopf geklatschtes Haar kam zum Vorschein. Er lockerte es mit ein paar geübten Handgriffen auf.

»Morgen, Heinrich. Haben wir dich richtig verstanden? Du hast hier im Teufelsgrund eine Leiche gefunden?«

Heinrich Wiesenberg nickte und stemmte sich von der Bank hoch. Wortlos wies er den Beamten den Weg zum Fundort.

»Da!« Er zeigte ihnen am Rande der Brennnesseln die Richtung und hielt sich gern an die Anordnung, ihnen nicht zu folgen. Mit den Nesseln hatte er ausreichend Bekanntschaft gemacht.

Die Hände in den Hosentaschen vergraben, sah er zu, wie die Beamten in die Hocke gingen, und hörte sie im Gleichklang schimpfen: »Verdammte Nesseln, die brennen ja wie Feuer!«

Das Leben sorgte doch immer wieder für ausgleichende Gerechtigkeit. Heinrich Wiesenberg nickte zufrieden und ließ die Brennnesseln als Wiedergutmachung für die durchwühlte Asche gelten. Geduldig wartete er, bis beide wieder aus den Nesseln herauskamen. Den jüngeren der beiden Beamten, Polizeimeister Jens Habel, kannte er schon von klein auf. Aus dem würde noch was werden. Das war ein heller Bursche. Wollte der nicht zur Kripo?

Wolfgang Stenglein, ein erfahrener Mittvierziger, der stets ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Kahlgrundbewohner hatte, streifte Finger für Finger die Gummihandschuhe ab und fixierte dabei Heinrich Wiesenberg. »Hast du die Leiche angerührt?«

»Nein. Ich habe nur den Anorak weggezogen. Dann war mir alles klar.«

»Ach ja? Und die Leiche hat sich dann den Anorak unter den Kopf geschoben, damit sie bequemer liegt, und ihre Hände gefaltet?«

Heinrich Wiesenberg hatte im Laufe der Jahre schon manches Schüppchen Apfelwein mit Wolfgang Stenglein gebechert und konnte ihn im Grunde seines Herzens gut leiden. Aber jetzt brachte ihn der inquisitorische Blick des Beamten aus der Fassung.

»Herrgott noch mal. So reagiert man eben als Christenmensch«, brauste er auf.

Stenglein kniff wütend die Lippen zusammen. »Das hättest du lieber bleiben lassen sollen. Jetzt können wir uns auch noch mit deinen christlichen Spuren herumschlagen! Sicher hast du schon beim Hingehen zur Leiche wertvolle Spuren vernichtet.«

Beleidigt verschränkte Wiesenberg seine Arme wie eine Barriere über dem Kugelbauch. »Hinfliegen ging leider nicht.«

Stenglein nickte dazu nur abwesend und befahl seinem Kollegen, die Kripo zu informieren. Dann dirigierte er Wiesenberg zur Blockhütte zurück.

In diesem Augenblick rumpelte der Notarztwagen den Feldweg heran und wurde von Jens Habel mit dem Telefonhörer am Ohr in Empfang genommen.

Wolfgang Stenglein und Heinrich Wiesenberg sahen zu, wie Habel den Notarzt zur Leiche führte. Der Arzt kauerte sich nieder und stand bald darauf wieder auf. »Eingeschlagener Schädel«, rief er ihnen zu. »Das ist ein Fall für die Kripo und die Rechtsmedizin.«

Während sie auf das Eintreffen der Kriminalpolizei warteten, sicherte Jens Habel den Fundort der Leiche und sperrte weiträumig den Bereich um die Teufelsmühle mit rot-weißen Bändern ab.

Stenglein ließ sich einen genauen Bericht von Heinrich Wiesenberg geben und begutachtete die aufgebrochene Tür.

»Sie ist mit einem Schraubendreher aufgestemmt worden. Saubere Arbeit. Man sieht es auf den ersten Blick gar nicht. Scheint ein Profi gewesen zu sein. Aber warum nur, wenn rein gar nichts gestohlen wurde?«

»Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit«, grollte Heinrich Wiesenberg und fletschte wütend sein für sein Alter erstaunlich weißes Raubtiergebiss. »Was mach ich nun mit den Wandergruppen, die bald hier eintreffen und grillen wollen?«

»Die schicken wir weiter Richtung Omersbach.«

»Und die Würstchen und Brötchen? Die verderben doch. In der Hütte gibt es keinen elektrischen Strom und damit auch keinen Kühlschrank. Soll ich die etwa auch nach Omersbach schicken?«

»Du könntest ja ein paar Würstchen für uns grillen«, schlug Wolfgang Stenglein vorsichtig vor und inspizierte dabei angelegentlich seine Fingernägel. »Bald wird hier nämlich die Hölle los sein, wenn die Leute von der Mordkommission, der Spurensicherung und der Rechtsmedizin auftauchen. Stunden werden die hier zu arbeiten haben, und ich könnte mir vorstellen, dass sie sich über ein paar gegrillte Würstchen freuen würden. – Natürlich zum Selbstkostenpreis.«

Wiesenberg überdachte eingehend den Vorschlag. Das war allemal besser, als die Würstchen auf den Abfall zu werfen. Aber das mit der durchwühlten Asche wurmte ihn nach wie vor. Deshalb gab er seinen Entschluss noch nicht preis und fragte beiläufig: »Hab ich eigentlich dir die Anzeige wegen unerlaubten Verbrennens von Gegenständen zu verdanken? Hast etwa du in meiner Asche herumgestochert?«

»Ich?« Wolfgang Stenglein zog eine beleidigte Miene. »Wahrscheinlich bist du mit deinen politischen Ansichten jemandem so gehörig auf den Fuß getreten, dass er dich aus Ärger angezeigt hat.«

Wiesenberg musterte Stenglein von der Seite und war nun endgültig überzeugt, dass dieser nicht zu den Schikanierern gehörte, die die Asche fremder Leute durchwühlten. So eine Hinterhältigkeit passte auch gar nicht zu ihm. Wenn dem Beamten etwas gegen den Strich ging, sagte er es stets frei heraus. Zudem sollte man sich mit der dritten Macht im Staate stets gut stellen. Entgegen seiner sonst üblichen bärbeißigen Art fragte er deshalb freundlich: »Möchtest du ein Glas Äppelwoi?«

Sein Apfelwein konnte sich mit denen im ganzen Umkreis messen. Er kelterte ihn selbst und ließ ihn hier bei den gleichbleibend kühlen Temperaturen im Keller der Hütte gären.

Stengleins Miene hellte sich auf.

»Gerne, aber einen Gespritzten. Bitte mehr Wasser als Wein. Immerhin bin ich im Dienst.«

Während der Polizeiobermeister sich Notizen zum Leichenfund und zur aufgebrochenen Hüttentür machte, ging Wiesenberg mit einem Bembel in den Keller. Dabei überlegte er, welchen Preis er für die Würstchen verlangen konnte, ohne den Eindruck zu erwecken, er wolle aus der Situation pietätlos Kapital schlagen. Aber bedeutete ›Selbstkosten‹ nicht, dass man selbst auch auf seine Kosten kam?

DREI

Hauptkommissar Bernd Rieker warf einen prüfenden Blick auf seine junge Kollegin Andrea Herbst.

Hoffentlich machte sie beim Anblick der Leiche nicht schlapp. Er konnte sie nicht recht einschätzen. Seit sie, von Omersbach kommend, in den ausgefahrenen Forstweg eingebogen waren, schaute sie nur stumm aus dem Fenster. Als Umläuferin war sie vor knapp drei Wochen seiner Dienststelle zugeteilt worden, damit sie sich über die Polizeiarbeit kundig machen konnte. Sie erlernte als angehende Polizistin einen ausgesprochenen Erfahrungsberuf, bei dem die älteren Kollegen die jungen Anfänger unter ihre Fittiche nahmen und ihnen zeigten, was zu tun ist.

Zuerst hätte er sie am liebsten einem anderen Kollegen aufs Auge gedrückt, denn mit jungen Frauen im Polizeidienst hatte er bislang keine Erfahrungen. Als Vater von zwei Söhnen fehlte ihm zudem auch im privaten Bereich die Möglichkeit, einschätzen zu können, was man jungen Frauen tatsächlich zumuten durfte. Nach reiflichem Überlegen hatte er jedoch beschlossen, sie ins kalte Wasser springen zu lassen. Er würde schon sehen, was sie aushalten konnte. Und bisher machte sie sich gut. Gestern hatte er ihr nach der Dienstbesprechung das Du angeboten, als er feststellte, dass er inzwischen der Einzige war, mit dem sie sich noch siezte.

Als sie um die Biegung herumfuhren und die Teufelsmühle mit den vielen Streifenwagen, dem Auto des Rechtsmediziners und dem Leichenwagen davor sichtbar wurde, kam Leben in Andrea Herbst.

»Du warst wohl schon einmal hier?«, fragte sie. »Allein hätte ich den Weg niemals gefunden.«

»Als Kind kam ich oft her. Wir machten mit der Schule immer wieder mal einen Ausflug zur Teufelsmühle. Ich glaube, das war das Wandertagsprogramm vieler Schülergenerationen in der Umgebung. Meine Großeltern waren schon hierher gewandert, und meine Eltern ebenfalls.«

Andrea Herbst nickte. Ausflüge dieser Art kannte sie gut. Sie selbst stammte aus Mespelbrunn, und die Mentalität der Spessartbewohner war ihr durchaus vertraut. Bei den lokalen Sehenswürdigkeiten kannte sie sich aber weniger gut aus. Während ihres Studiums in Fürstenfeldbruck hatte sie es vorgezogen, sich ausführlich in der aufregenden Münchener Szene umzuschauen. Die Zuweisung zur Alzenauer Polizeiinspektion hatte sie deshalb ziemlich gefuchst. Eine größere Stadt mit entsprechend höherem kriminellen Potenzial wäre ihr viel lieber gewesen. Hoffentlich erwies sich wenigstens der Mordfall, zu dem sie nun gerufen wurden, als halbwegs interessant.

Zackig schwang sie ihre Beine aus dem Auto und nahm die Blockhütte näher in Augenschein. Die Sonne überflutete inzwischen das enge Tal – eine Idylle. Nur die Polizisten störten. Sie entdeckte Jens Habel von der Schutzpolizei und winkte ihm zu. Er lotste gerade eine Horde Kinder samt Eltern im Gänsemarsch an der weiträumigen Absperrung vorbei. Die Eltern machten noch enttäuschtere Mienen als ihre Kinder, da sie nun die lästige Bürde eines alternativen Ausflugprogramms zu tragen hatten.

Polizeiobermeister Wolfgang Stenglein kam auf sie zu und berichtete ihnen, wie und in welchem Zustand sie die Leiche vorgefunden hatten.

Bernd Rieker dankte ihm und seufzte beim Anblick der Kindergruppe: »Hoffentlich bleiben sie hinter der Absperrung und zertrampeln keine wichtigen Spuren.« Danach strebte er dem Treppenaufgang der Hütte zu, auf dessen oberster Stufe Heinrich Wiesenberg wie ein Granitblock aufragte.

»Na, Heinrich, altes Haus, übertreibst du nicht ein wenig mit den Leichen im Teufelsgrund? Wer weiß, vielleicht stapelst du sie gar schon in deinem kühlen Keller? Zumindest von einer weiß ich noch«, flachste Rieker, als er sich an Wiesenbergs Leibesfülle vorbeidrängte.

»Noch so einen vor Geist sprühenden Witz, und ich streiche dich von meiner Äppelwoi-Liste. Ihr Polizeifuzzis habt ja überhaupt keine Ahnung, wie geschäftsschädigend das alles ist. Bald traut sich niemand mehr hier herunter in den Teufelsgrund.«

Bernd Rieker war fest entschlossen, die personifizierte Friedfertigkeit zu bleiben und hob beschwichtigend die Hände. »Gib mir bitte einen Gespritzten und erzähl mir, was passiert ist.« Er wies auf Andrea. »Das ist übrigens meine Kollegin, Frau Herbst.«

Der Hüttenwirt warf einen zutiefst misstrauischen Blick auf die junge Frau. Mit ihren zum Pferdeschwanz gebundenen hellbraunen Haaren sah sie wie ein Teenager aus. Waren die bei der Polizei noch zu retten? Kein Wunder, dass die bei der Verbrechensaufklärung so hinterherhinkten. Mit finsterer Miene holte er zwei der im Rautenmuster geriffelten Apfelweingläser aus der Küche, langte nach dem graublauen Steingutbembel und schenkte ein Glas halb voll. Den Rest füllte er mit Mineralwasser auf.

Sein durchdringender Blick musterte Andrea. »Und Sie? Ich sag's aber gleich: Milch habe ich nicht hier. Die wird mir nur sauer.«

»Das Gleiche bitte.« Andrea Herbst lächelte dem Wirt freundlich zu. An Provokationen dieser Art war sie gewöhnt.

Bernd Rieker und Andrea Herbst griffen zum Glas und lauschten aufmerksam Wiesenbergs Bericht. Es gefiel ihnen gar nicht, dass er die Tote bewegt hatte. Womöglich hatte er dabei Spuren verfälscht oder gar eigene eingebracht. Als Wiesenberg geendet hatte, standen sie auf, traten an die Terrassenbrüstung und verfolgten die Arbeit der Spurensicherungskollegen.

Sie beobachteten, wie das Opfer von Kopf bis Fuß akribisch mit Haftstreifen abgeklebt wurde, um sämtliche Mikrospuren, die vielleicht vom Täter stammen könnten, zu sichern. Von der Toten und der Umgebung wurden Fotos und Videoaufzeichnungen gemacht. Es dauerte geraume Zeit, bis der Rechtsmediziner endlich mit seiner Untersuchung beginnen konnte.

Als Bernd Rieker sah, wie Dr. Werner Wegener die Messsonde, die er tief im Mastdarm der Leiche platziert hatte, herausnahm und sich Notizen zur Kerntemperatur machte, schloss er daraus, dass die Untersuchung dem Ende zuging. Er gab seiner jungen Kollegin ein Zeichen. Beide schlüpften in Schutzanzüge aus weißer Zellulose, stülpten blaue Schuhschützer über ihre Schuhe und zogen Handschuhe an, damit sie nicht aus Versehen selbst Spuren am Tatort einschleppten.

Nachdenklich musterte Rieker das blutüberströmte Gesicht der Frau, die nun auf einer Plastikplane ruhte und zum Abtransport bereit war.

»Was denkst du, WeWe, wie lange mag sie hier gelegen haben? Und wurde sie tatsächlich an dieser Stelle umgebracht?«

Werner Wegener verzog bei dieser Anrede schmerzvoll das Gesicht, als frage er sich, was die Leute eigentlich originell daran fanden, seinen Namen so zu verunstalten. Kommentarlos wandte er sich der Leiche zu seinen Füßen zu. Er hob einen Arm und bewegte ihn hin und her.

»Wie du siehst, ist die Totenstarre voll ausgebildet. Als Maximalwert würde ich zwanzig Stunden ansetzen. Von der Kerntemperatur her könnten es auch zwischen zwölf und sechzehn Stunden sein. Ihr müsst halt rumfragen, wann sie zum letzten Mal gesehen wurde.«

Als ob sie das nicht selbst wüssten. Rieker war enttäuscht, und WeWe sah ihm das an der Nasenspitze an. Immerhin arbeiteten sie schon lange zusammen. Er versuchte, ihn mit einer weiteren Information aufzumuntern.

»Anhand der Totenflecken bin ich nach dem ersten Augenschein der Ansicht, dass die Tote nicht nennenswert bewegt wurde. Somit wäre der Auffindeort auch der Tatort. Damit könnt ihr schon was anfangen, nicht wahr? Ich kann dir aber erst nach der Obduktion Genaueres sagen.«

WeWe griff in seinen Aluminiumkoffer und reichte dem Hauptkommissar eine Lupe. »Schau dir mal den Hals des Opfers an.«

Bernd Rieker nahm die Lupe und ging in die Knie. Eingehend betrachtete er die leichten Verfärbungen am Hals der Toten und gab die Lupe an Andrea weiter. »Das sieht mir sehr nach Würgemalen aus.«

Der Rechtsmediziner nickte. »Ich hätte sie fast übersehen, weil ihr Halstuch darüber lag. Nach meiner Erfahrung ist sie aber nicht bis zur Ohnmacht oder bis zum Tod gewürgt worden. Das hätte zu einer wesentlich stärkeren Ausbildung der Male geführt. Mit Sicherheit darf die massive Zertrümmerung des Schläfenbeins als Todesursache angesehen werden. Eure Leute haben das mutmaßliche Tötungswerkzeug, einen Stein, bereits sichergestellt. – Wenn ihr einverstanden seid, würde ich sie jetzt in die Rechtsmedizin bringen lassen.« Er nahm die Lupe, die Andrea Herbst ihm reichte, wieder an sich und verstaute sie in seinem Koffer.

»Warte noch einen Moment damit, ich möchte mir erst ein eigenes Bild von Leiche und Tatort machen. Lass dir von Wiesenberg in der Zwischenzeit ein paar Würstchen braten.«

In WeWes Augen blitzte es freudig auf. »Mal was Neues: Tatort mit Würstchenbraterei hatten wir auch noch nicht.« Und er machte sich beschwingt davon.

Bernd verschränkte die Arme im Rücken und drehte sich langsam um die eigene Achse. Andrea machte es ebenso. Auf diese Weise versuchten sie, sämtliche Einzelheiten zu erfassen. Jedes Detail war wichtig. Die Frau konnte buchstäblich aus allen vier Himmelsrichtungen gekommen sein: aus Niedersteinbach, aus Dörnsteinbach, aus Geiselbach und aus Omersbach. Ganz zu schweigen von den weiteren Ortschaften im Umkreis.

»Für mich gibt es ein paar Ungereimtheiten«, ließ sich Andrea nach einer Weile vernehmen.

»So. Und welche?« Rieker musterte sie interessiert. Es gefiel ihm, wenn junge Leute eigenständig dachten.

»Erstens ist es seltsam, dass die Frau nichts bei sich hatte. Keine Tasche, keinen Geldbeutel, keine Schlüssel, keine Ausweispapiere. Nichts. Absolut nichts. Frauen machen das üblicherweise nicht. Ohne alles wegzugehen, meine ich. Vielleicht hat der Täter die Sachen an sich genommen, um die Identifizierung der Leiche zu erschweren? Man könnte natürlich auch an einen Raubmord denken.«

»Könnte man.«

Andrea warf Bernd einen prüfenden Blick zu, doch der schaute mit unbewegter Miene in die Luft. »Zweitens das Halstuch der Toten über den Würgemalen.«

»Zufall. Könnte darüber gerutscht sein.«

»Oder der Täter hat es ihr bewusst darüber gezogen. Außerdem waren laut Aussage des Hüttenwirts Kopf und Rumpf mit dem Anorak bedeckt. Der Täter könnte das absichtlich gemacht haben. Sozusagen, um seine Tat ungeschehen zu machen. Das würde auf eine Beziehungstat hindeuten.«

Donnerwetter, diese Umläufer! Bernd Rieker nickte Andrea wohlwollend zu.

»Gut gemacht, Kollegin. Das alles müssen wir natürlich berücksichtigen. Dafür hast du dir ein paar Bratwürstchen verdient.«

Andrea freute sich und folgte ihrem Chef, der zielstrebig Wiesenbergs Grill neben dem Bach ansteuerte. Nie im Leben würde sie zugeben, dass sie bei dem schrecklichen Anblick der Toten butterweiche Knie bekommen hatte. Um ein Haar hätte sie auf die Leiche gekotzt. Und dazu noch die Schwärme von Fliegen, die sich kaum verscheuchen ließen und beharrlich danach trachteten, in die Körperöffnungen der Leiche einzudringen, um ihre Eier abzulegen. In den Lehrbüchern sah das viel weniger abstoßend aus.

Aber nach dem Lob war das alles vergessen, und sie griff nach dem Pappteller mit den Würstchen, den ihr Wiesenberg reichte. Sie gab einen dicken Klecks Senf dazu, nahm sich einen Weck und gesellte sich zu Bernd, der sich gerade mit dem Leiter des Spurensicherungstrupps unterhielt. Dabei musterte er eingehend den blutverschmierten Stein in der Plastikhülle.

Die Spurensicherung hatte eine Stelle hinter einer Weide entdeckt, an der die Brennnesseln so platt gedrückt worden waren, dass sie sich nicht mehr aufrichten konnten. Jemand hatte sich dort aufgehalten. Von dieser Stelle aus war der Tatort zwar nur schlecht einsehbar, aber eine aufrecht stehende Person hätte der Täter dennoch gut wahrnehmen können.

Er hätte sie beobachten, sich lautlos anschleichen und sie umbringen können. Bernd kaute bedächtig auf seinem Würstchen herum. Aber wer machte das? Wer setzte sich hinter einen Weidenbusch, wartete, bis zufällig jemand hier an der Teufelsmühle vorbeikam, und brachte ihn um? Nie im Leben war das eine Zufallstat. Dahinter musste mehr stecken. Entweder war der Täter dem Opfer gefolgt, oder sie waren miteinander verabredet.

Das Wichtigste war im Moment die Identifizierung der Leiche. Alle Leute in den umliegenden Ortschaften mussten befragt werden. Das bedeutete mühevolle und zeitraubende Kleinarbeit. Am besten würde es sein, sich auch über die Medien an die Öffentlichkeit zu wenden. Bernd ließ sich vom Spurensicherer die Fotos von der Toten zeigen und war enttäuscht. Die sahen durch die Bank zum Fürchten aus und eigneten sich nicht zum Herzeigen. Er brauchte ein barmherzigeres Foto und erklärte dem Spurensicherer sein Problem.

Doch der sah darin keine Schwierigkeit: »Keine Sorge. Ich mach dir sofort ein passables Foto. Wir müssen uns aber beeilen. Der WeWe will die Leiche gerade abtransportieren lassen.«

Zufrieden betrachtete Bernd im Display der Digitalkamera das Foto, das ihnen buchstäblich in letzter Minute gelungen war. Das würde er im Kommissariat noch ein wenig retuschieren und entsprechend viele Abzüge machen lassen, damit umgehend mit der Befragung begonnen werden konnte. Außerdem würde er noch heute eine Pressekonferenz abhalten. Ein gutes Verhältnis zu den Medien, der vierten Macht im Staat, zahlte sich immer aus. Bereits in den Abendnachrichten und natürlich am nächsten Morgen in den Zeitungen würden seine Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Er sah sich nach Andrea um und spürte sie endlich hinter dem Weidenbusch auf, der offenkundig auch dem Täter Deckung gegeben hatte. Neben ihr kauerte Jens Habel, die Augen auf den Tatort gerichtet. Vermutlich erläuterte er ihr seine Theorie des Tathergangs. Bernd gab ihr das Zeichen zum Aufbruch und registrierte, wie ungern sie sich vom Schauplatz des Verbrechens trennte. Sie nahm ihren Job offenbar sehr ernst, das gefiel ihm.

Freitag – 2. Mai

VIER

Hauptkommissar a.D. Karl Störzlein massierte mit Ingrimm sein steifes Bein, das ihn an einem Morgen voll Sonnenschein und Schönwetterwölkchen, wie heute, besonders ärgerte. An so einem Tag hätte er nichts lieber getan als sein Häuschen in Mömbris zu verlassen, um einen ausgiebigen Spaziergang durch die lieblichen Spessartwälder zu unternehmen. Doch gerade das war ihm verwehrt.

Vor zwanzig Jahren, mit achtundfünfzig, war er mit seinem Motorrad ins Schleudern gekommen und fürchterlich gestürzt. Bedauerlicherweise war das nicht während einer rasanten Verbrecherjagd geschehen. Mit so einer Verletzung hätte er sich aussöhnen können. Das hätte ihm den Nimbus eines Helden verliehen.

Aber nein. Eine ordinäre Eisplatte, die sich tückisch unter altem Laub verbarg, hatte ihn an einem dienstfreien und sonnigen, aber eiskalten Aprilmorgen zu Fall gebracht, als er mit seiner Yamaha die kurvenreiche Straße am Engländer entlangbretterte. Das Wirtshaus war ein im ganzen Spessart beliebter Biker-Treff, zu dem er seit dem Unfall nur noch mit seinem Auto mit Automatikgetriebe gelangen konnte. Doch darauf verzichtete er. Er hatte seinen Stolz. Nicht einmal der hartgesottenste ehemalige Biker fuhr zu einem Bikertreff mit einem kreuzlahmen Automatikgetriebe.

Griesgrämig saß er am Küchentisch vor den Resten seines Frühstücks und blätterte ohne große Lust und Interesse im Main-Echo. Doch das änderte sich, als er die Seite drei aufschlug.

Mord in der Teufelsmühle Wer kennt die Tote?

Gestern Vormittag gegen neun Uhr machte der Pächter der Teufelsmühle, Heinrich W., eine grauenvolle Entdeckung. Nur wenige Meter von der Blockhütte entfernt lag die Leiche einer Frau.

Sachdienliche Hinweise, die zur Identifizierung der Toten führen, nimmt die Polizeidienststelle Alzenau entgegen.

Mord in der Teufelsmühle. Wie furchtbar. Dort hatte er auch mal einen Fall gehabt, damals, am Anfang seiner Polizeikarriere. Störzlein ließ die Zeitung sinken und trank einen Schluck Kaffee. Dann betrachtete er ausgiebig das Bild der Toten. Etwas in ihrem Gesicht kam ihm bekannt vor, gleich darauf aber auch wieder nicht. Sie erinnerte ihn an ein Mädchen von früher, eine Heranwachsende von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Es war schwer zu sagen, ob er richtig lag. Die Frau auf dem Foto war mindestens sechzig Jahre alt, wenn nicht sogar älter. Aber trotzdem. Eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht von der Hand weisen. Dazu als Tatort die Teufelsmühle. In der Walpurgisnacht. Wie vor mehr als fünfzig Jahren.

Dass er diesen Fall damals nicht aufklären konnte, wurmte ihn noch heute. Es war der ewige Stachel in seinem Fleisch, der ihm neben dem steifen Bein den Ruhestand vergällte. Er fasste einen Entschluss. Auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, würde er bei der Polizei in Alzenau anrufen. Anrufen? Nein. Er würde hinfahren.

***

Bernd Rieker blickte überrascht von dem Spurenblatt auf, das er gerade studierte, als unmittelbar nach einem lauten Klopfen seine Bürotür aufging und Karl Störzlein hereinhumpelte. Vor zwanzig Jahren war Störzlein als Erster Hauptkommissar sein Chef und Vorgänger gewesen, bis er nach einem schweren Motorradunfall abrupt aus dem Dienst ausscheiden musste.

Bernd sah schweigend zu, wie Störzlein mühsam mit seinem Krückstock den Stuhl vor dem Schreibtisch ansteuerte und sich ächzend darauf niederließ.

Der Alte machte einen hinfälligen Eindruck und schien seit ihrem letzten Zusammentreffen noch magerer geworden zu sein. Auch der graue Haarkranz um seinen mit Altersflecken übersäten Schädel war früher üppiger gewesen. Doch die Augen waren noch die alten. Grau und hellwach blitzten sie unter den buschigen Brauen hervor.

»Morgen, Karl. Das ist aber eine Überraschung. Was führt dich denn her?«

Störzlein griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen Zeitungsausschnitt hervor. Er strich ihn glatt und schob ihn über den Schreibtisch. »Das da. Der Mord in der Teufelsmühle. Habt ihr schon Anhaltspunkte, wer die Tote sein könnte?«

»Nein. Über ihre Identität haben wir noch nichts herausgefunden. Aber wir wissen inzwischen, dass sie wohl über Niedersteinbach zur Teufelsmühle gelangte. Dort wurde sie jedenfalls gestern am späten Nachmittag gesehen. Aber wie sie nach Niedersteinbach und woher sie überhaupt kam, ist bis jetzt unbekannt. Sie könnte mit ihrem eigenen Auto oder der Bahn angereist sein, oder jemand könnte sie hergebracht haben. Wir haben die Kollegen in Hessen informiert. Immerhin liegt der Tatort nah an der hessischen Grenze. Hier sind die Spurenblätter.« Er hob den Ordner hoch, der auf seinem Schreibtisch lag. »Möchtest du einen Blick darauf werfen? Ich hol uns inzwischen einen Kaffee.«

Als er mit zwei dickwandigen Kaffeepötten aus der Teeküche am anderen Ende des Flurs zurückkam, setzte Störzlein seine gewohnt griesgrämige Miene auf. »Das ist ja noch nicht viel, mein Lieber, was ihr da habt. Wie viele Leute sind überhaupt auf den Fall angesetzt?«

Der alte Fuchs. Bernd Rieker kannte Störzlein viel zu genau, um nicht seine Absicht zu durchschauen. Er wollte haarklein über das Ermittlungsvorgehen informiert werden. Im Grunde war dagegen nichts einzuwenden, denn Karl Störzlein kannte den Kahlgrund und seine Bewohner wie kein Zweiter.

»Alle verfügbaren Einsatzkräfte. Wir haben zusammen mit den Kollegen von der Kripo Aschaffenburg eine Mordkommission gebildet.«

Eigentlich hätte sich Bernd bei Störzleins Frage wie ein dummer Schuljunge vorkommen können, aber davon war er weit entfernt. Störzlein war ein guter Chef gewesen, der seine Leute niemals gängelte. Die unerwartete Anteilnahme an dem jetzigen Mordfall erstaunte ihn aber doch, und er fragte: »Warum interessiert dich die Mordsache Teufelsmühle?«

»Wegen des Falls von 1953, der auch in der Walpurgisnacht im Teufelsgrund passiert ist. Und auch damals war ein Stein das Tötungswerkzeug. Ich habe dir doch mehrmals davon erzählt.«

Bernd Rieker erinnerte sich jetzt wieder an diese alte Geschichte.

»Waren darin nicht sechs Halbwüchsige verwickelt gewesen, die in der Nähe der Teufelsmühle gezeltet hatten? Dabei war doch ein Mädchen ums Leben gekommen, oder? Soweit ich es noch im Kopf habe, wurden die Ermittlungen dazu bald eingestellt und der Fall als Unfall zu den Akten gelegt.«

»Richtig. Aber das war kein Unfall. Davon bin ich nach wie vor überzeugt. Weil die Tatverdächtigen so jung waren, hatte niemand Lust, die Sache groß zu verfolgen. Außerdem stand zu der Zeit wenig Personal zur Verfügung, das zudem für wichtigere Fälle gebraucht wurde.« Das Gesicht des alten Herrn wurde vor Enttäuschung runzelig wie eine überlagerte Kartoffel.

»Was sagten denn die Jugendlichen damals aus?«

»Nichts. Außer den Angaben zur Person sagten sie nur, dass sie sich erschrocken hätten, als jemand Feuerwerkskörper ins Lagerfeuer warf, und jeder für sich geflüchtet sei. Niemand wollte gesehen haben, was dem Mädchen passiert war. Sie mauerten. Ich denke, sie hatten sich abgesprochen.«

Das kam Bernd Rieker bekannt vor, und er lachte. »Das Gesetz der Gruppe. Die heutigen Jugendlichen verhalten sich ebenso. Wenn die mauern, kann man kaum etwas dagegen ausrichten. – Aber das Ganze geschah lange vor meiner Zeit. Wenn du Parallelen zu unserem Fall hier siehst, bring mich bitte auf den letzten Stand. Was ergab denn damals die medizinische Untersuchung?«

»Von der Kopfverletzung her hätte es ein Tötungsdelikt sein können, das stand sogar schwarz auf weiß im rechtsmedizinischen Gutachten. Aber niemandem passte dieser Fall so richtig in den Kram. Und ich war in diesen Jahren sowieso nur ein junger Schutzpolizist, der von der Kripo ziemlich von oben herab behandelt wurde. Deshalb schwor ich mir auch, als ich selbst zur Kripo kam, den Kollegen von der Schutzpolizei stets mit Respekt zu begegnen. Die sind es nämlich, die meist ohne jede Vorwarnung mit den schlimmsten Tatorten konfrontiert werden. Wir von der Kripo wissen durch sie dann schon, was auf uns zukommt. – Den Stein, an dem das Blut des Opfers klebte, habe ich übrigens persönlich zur Asservatenkammer gebracht. Mord verjährt nie, deshalb müsste er noch dort liegen.«

»Da wäre ich mir in diesem Fall nicht so sicher. Letztendlich entschied man doch, dass es ein Unfall war. Aber was willst du tatsächlich hier, außer neugierig in den Spurenblättern des gestrigen Falls herumstöbern?«

Karl Störzlein wand sich unter Riekers durchdringendem Blick. Doch dann fasste er sich ein Herz. »Ich möchte gern über alles auf dem Laufenden gehalten werden. Es mag zwar unwahrscheinlich klingen, aber die Tote kommt mir bekannt vor.«

»Aha. Und wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht. Darüber zermartere ich mir schon seit Stunden das Hirn. Vielleicht ist das, was ich mir in meinem senilen Kopf zusammenreime, auch nur ein Hirngespinst. Aber es könnte eines der Mädchen von damals sein. Ist es erlaubt, den Tatort zu besichtigen?«

Wenn Störzlein einen derart sanftmütigen Ton anschlug und sich sogar dazu herabließ, artig wie ein wohlerzogener Schuljunge zu fragen, dann war es ihm wirklich ernst. Bernd Rieker nickte zustimmend. »Nur zu. Wir haben noch ein paar Spurensicherer dort. Heinrich Wiesenberg ist wegen seiner aufgebrochenen Tür heute ebenfalls in der Teufelsmühle. Er wird sich sicher freuen, wenn du mit ihm einen Schoppen hebst. Ich komme später nach, wenn ich meinen Papierkram erledigt habe. Vielleicht liegen bis dahin sogar weitere Ergebnisse von dem Befragungstrupp vor.«

***

Es war schon nach zwei am Nachmittag, als Bernd Rieker zusammen mit Andrea Herbst vor der Teufelsmühle aus dem Auto stieg. Das Areal vor dem Blockhaus war bis auf einen schmalen Streifen am Ufer des Omersbachs nach wie vor mit rot-weißen Polizeibändern abgesperrt. Zwei Spurensicherer in weißen Schutzanzügen durchkämmten noch einmal auf Knien die Brennnesseln.

Bernd rief ihnen einen kurzen Gruß zu und stieg hinter Andrea die kurze Treppe zur Terrasse hinauf.

Donnerndes Gelächter drang unter einem der Sonnenschirme hervor. Karl Störzlein wischte sich die Lachtränen aus den Augen, als er sie herankommen sah. Über seinem sonst grauen, faltigen Gesicht lag eine gesunde Röte und ließ ihn mindestens zehn Jahre jünger erscheinen. Bernd schrieb diese wundersame Verjüngung vornehmlich dem Apfelwein zu.

Überhaupt machte Störzlein im Vergleich zu heute Vormittag einen regelrecht ausgelassenen Eindruck. Mit hölzerner Freundlichkeit wandte er sich sogar Andrea zu und ließ sich ihre bisherigen Erfahrungen als Umläuferin erzählen. Daran und an der arg gestelzten Sprechweise konnte Bernd ablesen, dass sich der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht seit dem Tod seiner Frau wohl auf ein Mindestmaß zu beschränken schien. Er sollte mehr unter die Leute gehen.

Heinrich Wiesenberg holte einen frischen Bembel Apfelwein und schenkte den Neuankömmlingen großzügig die Gläser voll. Ungespritzt, versteht sich. Polizisten, die selbst einen in der Krone hatten, würden sich hüten, bei ihm einen Alkoholtest zu machen, darauf baute er. Anschließend verschränkte er die Arme vor seinem Kugelbauch und lächelte breit. »Karl und ich haben uns Geschichten von früher erzählt. Dabei kam heraus, dass er …«

Der Alte ließ unverzüglich von Andrea ab und riss das Thema an sich, bevor Wiesenberg zu ausführlich werden konnte. »Ach, das ist doch gar nicht interessant. Aber ich wollte gerade erzählen, woher ich den Heinrich überhaupt kenne. Ende der vierziger oder Anfang der fünfziger Jahre müsste das gewesen sein. Jetzt weiß ich es genau: Ich war zweiundzwanzig. Damals warst du ein kleiner Schisser von höchstens zwölf. Mit einem Kollegen machte ich gerade eine Kontrollfahrt durch den Teufelsgrund. Vor der Blockhütte lagerte deine Schulklasse, und der alte Teufelsmüller war wie immer in seinem Element. Er erzählte und erzählte. Von Tod und Teufel, Hexen und Geistern und dass der Teufel hin und wieder auch die Mühle heimsucht. Atemlos hingen die Kinder an seinen Lippen. Auf einmal drehte er sich zum Häuschen um und rief mit dramatisch tiefer Stimme: ›Samuel erscheine‹. So wahr ich hier sitze, tauchte in diesem Augenblick eine pechschwarze Gestalt auf. Von unten sah es so aus, als ob sie geradewegs aus dem Schlot herausfuhr. Sie fuchtelte wild mit einer Mistgabel herum und schüttelte drohend die Faust. Da brach unter den Schulkindern blankes Entsetzen aus. Wie die Hasen stoben sie in alle Richtungen davon. Du vorneweg.«

Störzlein bedachte Wiesenberg mit einem ironischen Blick und wandte sich wieder den anderen zu. »Dabei war der Teufel, der da auftauchte, sein eigener Vater. Als Kaminkehrer hatte er auch den Kamin der Teufelsmühle zu kehren. An diesem Tag hatte er sich dahinter versteckt und gewartet, bis ihm der Teufelsmüller das Zeichen zum Erscheinen hinaufrief. ›Samuel erscheine‹ war das Stichwort.«

Mit gequälter Miene stimmte Heinrich Wiesenberg in das Gelächter ein. Doch Karl ließ nicht von ihm ab, sondern stach ihn mit spitzem Zeigefinger in die üppige Leibesmitte. »Du hattest doch das Kaminkehrergeschäft von deinem Vater übernommen. Geht das denn noch mit so einer Wampe? Bringst du damit nicht jedes Dach zum Einstürzen?«

»Mein Sohn macht das jetzt. Ich schreibe nur noch die Rechnungen.« So, damit hatte er es dem knochigen Beamtenarsch aber ordentlich gegeben. Trotzdem gefiel Wiesenberg die Richtung, die das Gespräch nahm, immer weniger. Er hieb so heftig auf den Tisch, dass die Gläser tanzten, und sagte: »Ich für meinen Teil habe noch zu tun im Gegensatz zu manchen Kripobeamten, die sich schon am helllichten Nachmittag einen hinter die Binde gießen können.«

Mit schweren Schritten stapfte er davon, und bald darauf sahen sie, wie er an dem Geländer des Stegs rüttelte, der über den Omersbach zum Plumpsklo führte. Offenbar hatten sich ein paar Nägel gelockert, denn er holte einen Hammer aus seiner Werkzeugkiste und machte sich ans Reparieren.

Jetzt, da sie unter sich waren, sah Bernd Rieker die Zeit gekommen, Störzlein über die neuesten Entwicklungen des Mordfalls zu unterrichten.

»Der Aufruf in den Medien war übrigens erfolgreich. Ein Kollege aus dem Frankfurter Polizeipräsidium hat mich angerufen. Dort ist nämlich heute Mittag von einem Frankfurter Verlag ein Hinweis eingegangen. Bei denen ist eine amerikanische Autorin abgängig, die Ähnlichkeit mit unserem veröffentlichten Foto aufweisen soll. Caroline Hurst. Sie hätte gestern Abend im Aschaffenburger Kulturzentrum eine Lesung halten sollen, ist dort aber nicht erschienen. Die Besitzerin des Hotels, in das sich Caroline Hurst einquartiert hatte, wusste, dass sie einen Ausflug machen wollte. Das war vorgestern, am 30. April.«

Störzlein war zutiefst enttäuscht. Eine Amerikanerin. Damit war seine Idee, sein Fall von damals könnte mit dem aktuellen Mordfall zusammenhängen, wie eine Seifenblase zerplatzt. Die frische Röte in seinem Gesicht verblasste zusehends, und er setzte wieder seine griesgrämige Miene auf.

»Nimm dir das doch nicht so zu Herzen, Karl«, versuchte Rieker ihn zu trösten, der den Stimmungsumschwung bemerkt hatte. »Das wäre schon ein ziemlicher Zufall gewesen, wenn es zwischen beiden Fällen einen Zusammenhang gegeben hätte.«

»Wieso beide Fälle?«, wunderte sich Andrea. »Von welchem Fall ist da noch die Rede?«

Störzlein gab ihr einen knappen Überblick über den alten Fall und setzte betrübt hinzu: »Da habe ich mich wohl getäuscht. Eine Amerikanerin mit Namen Caroline Hurst war nicht unter den Jugendlichen.«

»Die Autorin sollte nächste Woche übrigens auch in Alzenau lesen«, sagte Andrea. Sie hatte im Eingangsbereich des Alzenauer Rathauses die Ankündigung einer Lesung gesehen. Mit Foto. Warum war ihr das eigentlich nicht schon früher in den Sinn gekommen? Klar. Darum. Die Tote war durch die Kopfwunde und das Blut so entstellt, dass sie mit dem Foto keine Ähnlichkeit hatte. Außerdem sah sie auf dem Bild wesentlich jünger aus. Autoren pflegten wohl auch ihre kleinen Eitelkeiten.

»Die Lesung wird nun wohl abgesagt werden. Schade. Ich wäre wirklich gern hingegangen. Der Titel des Buches, das sie vorstellen wollte, klang vielversprechend. Der Roman heißt »Kind der Hure« und ist eine Übersetzung aus dem Amerikanischen.«

Andrea war ein wenig enttäuscht, als Bernd diese Information nur mit einem Achselzucken abtat und auf seine Armbanduhr schaute.

»Ich muss los. In einer Stunde muss ich jemanden von dem Verlag in Aschaffenburg vom Bahnhof abholen und zur endgültigen Identifizierung des Opfers in die Rechtsmedizin bringen. Auf geht's, Andrea.«

Das war nicht nach Karl Störzleins Geschmack, plötzlich allein zurückgelassen zu werden und als einzige Unterhaltung auf Wiesenbergs galligen Humor angewiesen zu sein. Deshalb wandte er sich mit einem listigen Funkeln in den Augen an die junge Kollegin.

»Wollen Sie wirklich bei einer langweiligen Identifizierung Ihre Zeit verschwenden? Bleiben Sie doch hier. Ich fahre Sie später nach Alzenau zurück. Es könnte nämlich durchaus sein, dass die Spurensicherer heute fündig werden. Erfahrungsgemäß bringt erst der zweite Durchlauf die besonders wichtigen Erkenntnisse.«

Das waren selbst für den mit allen Wassern gewaschenen Rieker große Neuigkeiten, und er musterte seinen ehemaligen Chef misstrauisch. Sollte sich der alte Knabe gar in seinem dritten Lenz befinden und einer jungen Frau, die seine Enkelin sein könnte, den Hof machen wollen?

Doch Andrea blieb gern beim alten Störzlein, der sie mit seinem holzgeschnitzten, knorrigen Charme an ihren Mespelbrunner Großvater erinnerte, und Bernd Rieker machte sich kopfschüttelnd allein auf den Weg nach Aschaffenburg.

FÜNF

Störzlein legte seine altersfleckige Hand auf die von Andrea und drückte sie leicht.

»Danke fürs Bleiben. Von Jahr zu Jahr wird es schwieriger, jemanden zu finden, mit dem man sich gern unterhält.«

Andrea erwiderte herzlich den Händedruck.

»Als Dank erzählen Sie mir von dem alten Teufelsmüller. Das muss ja ein ganz kauziger Typ gewesen sein.«

»Eigentlich nicht. Er kam aus Omersbach und war einer von uns Kahlgründern, der Hofmanns Alfred. Im Grunde verkörperte er das, was in uns allen steckt und was man vornehmlich in armen Gegenden findet, sei es nun im Spessart, im Fichtelgebirge oder im Bayerischen Wald. Aus der Not heraus schärfen sich wohl Lebenswille, Kampfgeist, Mut zum Risiko und der Wille, aus allem das Beste zu machen. Und der Humor, auch wenn es oftmals Galgenhumor ist. Ich habe ihn allerdings erst kennengelernt, als er vom Krieg heimkam. Ostfront. Die Hölle.«

Störzlein sortierte seine Gedanken. Während er sie an Andrea weitergab, tauchten immer neue Erinnerungen an die zahllosen Gespräche auf, die damals in der Teufelsmühle von durch und durch traumatisierten Männern geführt worden waren. Traumatisiert vom Krieg mit tiefen inneren und äußeren Verletzungen. Die einen beladen mit unvorstellbaren Erlebnissen, die anderen mit Schuld. Manche waren zu Taten fähig gewesen, die sie vor dem Krieg nicht für möglich gehalten hätten. Und dazu der demütigende Kriegsausgang.

Andrea hörte aufmerksam zu und seufzte: »War das eine schreckliche Zeit. Aber gab es da nicht einen Plan, der die Wende zum Besseren brachte? Marshall-Plan oder so ähnlich.«

»Richtig, Frau Herbst. Den entwickelte der amerikanische Außenminister George C. Marshall 1947. Er wurde 1948 in Kraft gesetzt und war eigentlich ein Entwicklungshilfeprojekt. Damit sollten erstens Hunger, Verzweiflung, Armut und Chaos in den verwüsteten Ländern des alten Kontinents überwunden werden. Zweitens brauchten die amerikanischen Exporteure wieder Absatzmärkte und Handelspartner. Und drittens bestand das klare Ziel in der Eindämmung des Kommunismus. Ja, dieses kluge Kalkül ging auf. Die Amerikaner machten aus den Notleidenden Partner und schufen so die politischen Voraussetzungen für das Bündnis im Kalten Krieg.«

Es dauerte aber eine geraume Zeit, bis die großen Pläne der Weltpolitik bei den kleinen Leuten ankamen. Störzlein sah sie wieder vor sich, diese Männer in der Teufelsmühle. Noch verharrten sie in lähmender Hoffnungslosigkeit. Vielfach konnten sie sich auch mit den Gegebenheiten in der Heimat nicht mehr abfinden, waren ihren Ehefrauen und Kindern fremd geworden, hatten keine Arbeit mehr, wurden nicht mehr gebraucht. Manche legten den Kopf auf die Tischplatte und schluchzten sich wie kleine Kinder das ganze Elend von der Seele.

Doch dann erwachte langsam neue Hoffnung. Auch beim Teufelsmüller. Er war von Beruf Meteorologe, ein deutscher Wetterdienst war jedoch noch nicht wieder eingerichtet. Er hatte also keinen Arbeitsplatz. Von irgendetwas musste aber die Familie ernährt werden. Deshalb beschloss der Hofmanns Alfred, aus dem Blockhaus ein Ausflugslokal zu machen.

Störzlein klopfte mit seinem Stock auf den Terrassenboden. »Frau Herbst, wir sitzen hier an einem historischen Ort. Die Teufelsmühle ist so, wie sie jetzt dasteht, schon mehr als hundert Jahre alt. Der Vater des Teufelsmüllers, der Kilian Hofmann, war Schreiner in Omersbach und hatte 1904 von einem Frankfurter Industriellen den Auftrag bekommen, für ihn auf den Fundamenten der früheren Teufelsmühle ein Jagdhaus zu bauen. Der Bau ging schleppend voran, denn der Auftraggeber zahlte unregelmäßig. 1909, als er endlich fertig war, war der Auftraggeber pleite.«

Störzlein berichtete, wie Kilian Hofmann das Jagdhaus notgedrungen und ohne Begeisterung als Entgelt für die entgangenen Zahlungen übernahm. Sein Sohn Alfred, der bei ihm eine Schreinerlehre machte, half ihm nach dem Ersten Weltkrieg, das Gebäude um ein Stockwerk zu erweitern.

Alfred war ein heller Kopf und ein durchtrainierter Ringer. Hin und wieder vollführte er Kunststücke, die schon ans Akrobatische grenzten. Einmal ging er in die Knie und packte einen Tisch mit den Zähnen, auf dem ein Stuhl stand. Und auf dem Stuhl saß ein ausgewachsener Mann. Dann richtete sich Alfred mit der ganzen Last zwischen den Zähnen auf.

So verwunderte es nicht, dass er in das legendäre Hunderttausendmannheer aufgenommen wurde.

Die Reichswehr erwies sich für Alfred als großer Vorteil. Nach den dürftigen Schuljahren in Omersbach konnte er seine Bildungslücken ausmerzen und Meteorologie studieren. Er heiratete eine Oberpfälzerin, sie bekamen zwei Kinder und blickten zuversichtlich in die Zukunft. Tja, und dann brach der Zweite Weltkrieg aus.

Störzleins Bericht näherte sich wieder dem Anfang. Er zog noch eine kleine Schleife zur Situation im Kahlgrund im April 1945, als die Amerikaner unaufhaltsam näher rückten und die örtlichen NSDAP-Funktionäre zunehmend nervöser wurden. Eine irrwitzige Anordnung der Ortsgruppenleiter und Volkssturmführer jagte bald die andere. Sie ließen jammervolle Häuflein von alten Männern und Buben zwischen vierzehn und sechzehn Jahren antreten, die die Dörfer verteidigen sollten. Ausgerüstet mit Schaufeln, Hacken, Handwägelchen und ein wenig Sprengstoff sollten sie nach Partisanenart Sprengfallen bauen und Gräben ausheben. Ein durch und durch lächerliches, hirnrissiges und vor allem gefährliches Unternehmen angesichts der hervorragend ausgerüsteten Amerikaner.

Heinrich Wiesenberg war von Störzlein unbemerkt an den Tisch getreten und hatte aufmerksam zugehört.

»Solche Geschichten kenne ich auch. Einiges habe ich sogar selbst miterlebt. Als Fünfjähriger kriegte ich damals mehr mit, als die Erwachsenen glaubten. Augenblick. Ich bin gleich wieder da.« Er griff nach dem mittlerweile leeren Steingutbembel und machte sich auf den Weg zum Keller. Kurz darauf knallte er den vollen Krug schwungvoll auf den Tisch und rückte neben Störzlein auf die Holzbank.

»April Fünfundvierzig. Wir wohnten damals noch in Großwelzheim. Die Amerikaner waren im Anmarsch, man konnte den Donner der schweren Geschütze schon hören. Die Kleinwelzheimer hatten überall weiße Fahnen gehisst. Aber wir Großwelzheimer standen unter der Knute eines Ortsgruppenleiters, der plötzlich den Helden spielen wollte. An die Front war er nicht gegangen. Davor hatte er sich die ganzen Kriegsjahre hindurch erfolgreich gedrückt und lieber das Dorf mit seinen absurden Anordnungen schikaniert. Ausgerechnet in dieser hochsensiblen Lage bekam er einen Anflug von Heldenmut und rief die alten Männer und die Buben zum Volkssturm auf. Stellt euch diese irre Situation vor, in der ein Schuss auf die Amerikaner genügt hätte, unser ganzes Dorf in Schutt und Asche zu legen.«

Andrea sah ihn gespannt an. »Und was passierte dann?«

»Der Wahnsinnige hatte nicht mit den Großwelzheimer Frauen gerechnet.« Heinrich Wiesenberg grinste verschmitzt. »Die Frauen vereinigten sich zum Widerstand. Meine Großmutter und meine Mutter waren auch dabei. Aber die größte Heldin war damals die hochschwangere Susanna Klotzky. Man sollte ihr noch heute ein Denkmal setzen, denn sie hat das Dorf gerettet.«

Bevor Wiesenberg weiterberichtete, stärkte er sich mit einem Schluck Apfelwein. »Wie ein Lauffeuer hatte sich das Vorhaben des Ortsgruppenleiters im Dorf verbreitet und wurde von den Frauen von Haus zu Haus weitergetragen mit der Parole: ›Das müssen wir verhindern.‹ Niemand hat damals auf mich, einen fünfjährigen Knirps geachtet. Ich bin den Frauen bis zum Schulhaus hinterhergelaufen.

Auf der Schulhaustreppe habe ich den Ortsgruppenleiter stehen sehen. Wie ein Feldherr hat er sich in Positur geworfen, dieser Wicht, um der jämmerlichen Greisen- und Kinderarmee seine Befehle zu erteilen.«

Wiesenberg schüttelte noch im Nachhinein den Kopf über diesen lächerlichen Anblick. Er berichtete, wie der Ortsgruppenleiter auf einmal von einer Gruppe Frauen umringt wurde, die von Minute zu Minute immer größer wurde. Alle waren schwarz gekleidet, denn jede von ihnen hatte bereits jemanden im Krieg verloren. Wütend brüllten sie: »Unser Dorf wird nicht verteidigt.« Der Ortsgruppenleiter wollte sich jedoch nicht geschlagen geben, drohte den Frauen barbarische Strafen bis hin zum Erschießen an und fuchtelte mit seiner Pistole herum.

Da teilte sich die Menge und die hochschwangere Susanna Klotzky, deren ältester Sohn bereits gefallen war, schritt hindurch, erklomm die Treppe und forderte ihn auf, die Pistole wegzustecken und die Greise und Kinder heimzuschicken. Der Ortsgruppenleiter richtete die Pistole auf sie, doch sie starrte ihn nur furchtlos an und sagte: »Schieß doch. Dann hast du gleich zwei auf dem Gewissen.« Danach schlug sie ihm ins Gesicht. Auch die anderen Frauen rückten nun bedrohlich näher und bildeten einen engen Ring. In seiner Angst floh er ins Schulhaus. Die Frauen verbarrikadierten sämtliche Eingänge und drohten, ihn so lange gefangen zu halten, bis die Amerikaner da seien. Das wirkte. Er wusste, was eine Auslieferung an die Amerikaner für ihn bedeuten würde, und kapitulierte lieber.

»Genial. Wie Jeanne d'Arc. Ich weiß nicht, ob ich in ihrer Lage so viel Tapferkeit und Mut aufgebracht hätte.« Nachdenklich blinzelte Andrea in die tief stehende Sonne. »Das war echter Heldenmut, wie man ihn nur selten findet.«

»Oder der Mut der Verzweiflung. Viele in dieser Zeit waren in einer verzweifelten Lage. Keiner wusste, was nach dem Kriegsdesaster auf sie zukommen würde«, entgegnete Störzlein mit verhaltener Stimme. »Aber der Susanna Klotzky sollte wirklich ein Denkmal gesetzt werden. Ich glaube, es gab damals noch eine ganze Reihe von mutigen Menschen wie diese Susanna, doch niemand erzählt davon. Die Generation, die sich daran erinnern kann, stirbt langsam aus. Und mit ihr die Geschichten ihrer namenlosen Helden. Schade.«

In den Brennnesseln vor der Hütte entstand Bewegung. Einer der Spurensicherer tauchte vor der Hütte auf und verstaute einen Gegenstand in einer Plastiktüte. Störzlein griff nach seinem Krückstock und schlurfte an das Geländer der Terrasse. »Was ist, habt ihr doch noch was gefunden?«

Der Spurensicherer betrachtete mit unschlüssiger Miene den Gegenstand in seiner Hand und hob die Achseln. »Ich weiß nicht so recht. Warte mal, ich komm gleich zu dir hoch.«

Lautlos, wie auf Katzenpfoten, stieg er kurz darauf mit seinen Schuhschützern zur Terrasse hinauf, reichte Störzlein den Beutel und bat den Hüttenwirt um einen Gespritzten.

Heinrich Wiesenberg musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. »So ist es recht. Erst die ganze Wiese zertrampeln, dass man sie nicht mehr mähen kann, und dann auch noch einen Gespritzten wollen.«

»Brennnesseln, Heinrich. Lauter Brennnesseln. Wenn du sie beizeiten gemäht hättest, wären wir nicht gezwungen gewesen, wie die Karnickel darin herumzukriechen. So, und jetzt her mit dem Gespritzten.«

Mit dem Glas in der Hand trat der Kollege zu Karl Störzlein und fragte: »Hast du so eine Münze schon mal gesehen?«

»Das ist ein Reichspfennig, der mit der Währungsreform von 1948 seine Gültigkeit verloren hat. Der hat sicher schon eine Ewigkeit hier herumgelegen.«

Doch der Kollege von der Spurensicherung schüttelte den Kopf. »Nie im Leben. Da würde er ganz anders aussehen, jedenfalls nicht so makellos poliert wie dieser. Aber das ist nicht unser Problem. Darüber soll sich Bernd Rieker mit seinem Team den Kopf zerbrechen. Wir machen jetzt Schluss.«

Er trank sein Glas leer und kehrte zu seinen Kollegen in den Brennnesseln zurück. Gemeinsam rollten sie die Absperrbänder ein und machten sich auf den Heimweg.

Störzlein und Andrea Herbst brachen ebenfalls auf, nur Heinrich Wiesenberg saß noch in Gedanken versunken da. Zu viel war seit gestern geschehen. Der verstörende Anblick der erschlagenen Frau saß ihm noch tief in den Knochen. Zudem beschäftigte ihn nach wie vor das aufgebrochene Türschloss. Was hatte das nur zu bedeuten?

Jetzt, da alle weg waren und er allein hier saß, gefiel es ihm auch nicht mehr. Er fühlte sich unbehaglich. War das doch ein verwunschener Ort?

Als Kind war er Zeuge gewesen, wie die Teufelsmühle verwünscht wurde. Am Feiertag des Ersten Mai gegen Abend. Wie viele andere hatten er und sein Vater den Feiertag in der Teufelsmühle verbracht. Sie hatten sich gerade zum Heimgehen entschlossen, weil sich immer mehr schwarze Wolken am Himmel zusammenballten. Es sah nach einem Gewitter aus. Da kam eine Gruppe von ziemlich angetrunkenen Wanderern heran. Sie hatten bereits im Frohnbügel kräftig dem Apfelwein zugesprochen und setzten das Saufgelage nun in der Teufelsmühle fort.

Einer der Saufkumpane konnte der Versuchung nicht widerstehen, jedes Frauengesäß, das in seine Reichweite kam, zu betatschen. In den vierziger und fünfziger Jahren passierte das oft, und Frauen, die sich darüber aufregten, galten als humorlose und spießige Spielverderber. Bei dem Männermangel nach dem Krieg verwunderte das nicht. Selbst die ältere Tochter des Teufelsmüllers, damals ein junges Mädchen von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren, blieb davon nicht verschont. Dem Teufelsmüller ging der Frauenbelästiger aber heillos gegen den Strich, und er stauchte ihn gründlich zusammen. Mehr noch. Er forderte ihn auf, unverzüglich zu verschwinden.

Das rief eine Reaktion hervor, die sich bei allen Anwesenden unvergesslich ins Gedächtnis einbrannte.

Der Gemaßregelte erhob sich mit feierlicher Miene, holte aus seiner Jacke ein schwarzes Buch hervor, vielleicht sein Gebetbuch von der morgendlichen Feiertagsmesse, griff zu einer Bierflasche und schlug ihr an der Tischkante den Hals ab. Dann drückte er sich die Scherben so tief in die Hand, dass ordentlich Blut floss.

Die blutüberströmte Hand klatschte er voll Theatralik auf das Buch und schrie mit flackerndem Blick: »Ich verwünsche die Teufelsmühle. Ich verwünsche sie bis ins dritte Glied.« In genau diesem Augenblick tauchte ein gleißender Blitz die blutige Schwurhand in grelles Licht, und ein ohrenbetäubender Donner besiegelte die Verwünschung. Ein Filmregisseur hätte das Einsetzen des Gewitters nicht besser inszenieren können.

Vor Wiesenbergs Augen entfaltete sich erneut die gruselige Szene von damals, als ob es gestern gewesen wäre. »Bis ins dritte Glied.« Die Kinder des Teufelsmüllers hatten inzwischen längst Kinder. Das verwünschte dritte Glied gab es also schon und hatte heute die Last des Fluchs zu tragen. Eingedenk der Leiche und seiner aufgebrochenen Tür geriet Heinrich Wiesenberg nun doch ins Grübeln. Was wäre, wenn diese Verwünschungen plötzlich ein Eigenleben entwickelten und auf den Pächter übersprangen? War sie doch des Teufels Mühle?

Samstag – 3. Mai

SECHS

Obwohl es Samstag war, saß Bernd Rieker am nächsten Morgen bereits um kurz vor sieben Uhr hinter seinem Schreibtisch. Bei Mord verschoben sich die Prioritäten, und man konnte keine Rücksicht auf Wochenendplanungen nehmen. Er griff in den Korb, in dem die letzten Ergebnisse gesammelt waren, und studierte die aktuelle Spurenlage.

Interessant war das abgebrochene Stück einer Schaufel von einem Schraubendreher. Die Spurensicherung hatte es in einer Ritze neben der Eingangstür der Teufelsmühle gefunden. Offensichtlich war der Täter mit dem Schraubendreher zwischen Türzarge und Tür gefahren und hatte sie damit aufgehebelt. Dabei war er sehr geschickt vorgegangen. Mit handwerklichen Arbeiten schien er sich auszukennen. Das abgebrochene Schaufelstück war fast so einzigartig wie ein Fingerabdruck, denn Werkzeuge brechen willkürlich. Es gibt immer nur zwei Teile, die zusammenpassen. Sie bräuchten zur Überprüfung nur das passende Gegenstück. Daran hakte es aber meist genauso wie bei Fingerspuren. Was nützte die schönste Spur, wenn man sie mit nichts vergleichen konnte?

Der alte Reichspfennig stellte ihn jedoch vor ein Rätsel, und Bernd kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass das Geldstück mit dem Mordfall nichts zu tun haben konnte. Irgendjemand, der es vielleicht aus nostalgischen Gründen bei sich trug, hatte es wohl dort verloren.

Er holte sein Notizbuch hervor und schlug die Seite mit dem gestrigen Eintrag auf. Caroline Hurst. Memphis, Tennessee. Die Tote war von der Verlagsleiterin eindeutig identifiziert worden.

Tief bewegt hatte sie sich von den Todesumständen unterrichten lassen, wobei es ausreichte, ihr das zu erzählen, was sowieso in den Zeitungen zu lesen war. Sie hatte beschlossen, die Lesereise doch nicht abzusagen. Die Lektorin, die die Autorin betreut hatte, sollte das Lesen übernehmen. Aber auf den Veranstaltungsplakaten müssten sie einen Zusatz anfügen. »Der helle Stern am Autorenhimmel ist jäh erloschen« oder so ähnlich. Das würde man sich im Verlag noch genauer durch den Kopf gehen lassen.

Bis auf das eindeutige Identifizierungsergebnis hatte sich Bernd nach dem Gespräch jedenfalls ebenso schlau wie vorher gefühlt und war deshalb ziemlich frustriert nach Hause gefahren.

Gerade jetzt, eine halbe Stunde vor der morgendlichen Dienstbesprechung, peinigte ihn die Vorstellung ungeheuer, mit dem ganzen Fall auf der Stelle zu treten. Er schreckte auf, als unvermutet die Tür aufging.

Im Türrahmen stand Andrea Herbst mit einer Gießkanne in der Hand und riss erschrocken die Augen auf.

»Oje! Ich dachte, es ist noch niemand hier, und wollte schnell die Pflanzen gießen. Alles verdorrt in dieser Maihitze.«

»Nur zu.«

Bernd Rieker schaute ihr belustigt zu, während sie seine Pflanzen am Fensterbrett mit Wasser versorgte. Nebenher erzählte er von der Identifizierung der Leiche und dem Gespräch mit der Verlagsleiterin.

Andrea hörte aufmerksam zu. Dann kam sie zu ihm an den Schreibtisch und stellte die Gießkanne ab. Ihre Miene verriet ihm, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, und er wartete geduldig.

Nervös fingerte sie an ihrem Pferdeschwanz herum, wickelte die fransigen Enden um den Finger und rückte endlich mit ihrem Anliegen heraus.

»Wäre es möglich, Chef, dass ich diesmal nicht an der Besprechung teilnehme? Ich würde nämlich gern in dem Verlag vorbeischauen. Vielleicht stoße ich auf eine Information, die uns weiterbringt. Ich verspreche mir viel davon, wenn wir mehr über das Opfer wissen.«

»Das ist eine gute Idee. Ich halte es aber für besser, wenn du dort anrufst und darum bittest, dass sie uns jemanden herschicken, der das Opfer näher gekannt hat. Ich hätte da nämlich auch ein paar Fragen.«

***

Linda Endrich zwängte ihr kleines Auto in eine Parklücke, die selbst für ihre bescheidenen Ansprüche eine Spur zu eng war, und wand sich wie eine Schlange aus dem Wageninneren heraus. Dabei wurde die dicke Roststelle an der Türkante ihrer Strumpfhose zum Verhängnis. Eine Laufmasche in der gefühlten Breite einer Autobahn machte sich in Kniehöhe auf den Weg nach unten. Linda drückte die Tür zu – wegen Platzmangel war an das gewohnt schwungvolle Zuschlagen nicht zu denken – und sah sich auf dem Platz vor dem Alzenauer Rathaus um.

Sie kannte Alzenau bereits. Vor Jahren hatte der Frankfurter Verlag, mit dem sie zusammenarbeitete, in der eindrucksvollen Alzenauer Burg, dem Wahrzeichen der Stadt aus dem vierzehnten Jahrhundert, eine spektakuläre Lesung inszeniert.

Der Autor des historischen Romans, aus dem gelesen wurde, steckte in einem mittelalterlichen Gewand. Zwischen den Lesepausen spielte ein vierköpfiges Ensemble Minnelieder und lyrische Weisen auf Instrumenten aus dem Mittelalter. Am Ende der Lesung gab es ein Ritteressen mit allem Drum und Dran. Die Gäste tranken Met aus dem Kuhhorn, man aß mit den Fingern und warf, je weiter die Zeit fortschritt, mit den abgenagten Knochen nur so um sich.

Am liederlichsten von allen hatte sich jedoch der Autor selbst benommen, der keines der mit Met gefüllten Kuhhörner ungetrunken an sich vorübergehen ließ und mit beiden Händen die Fleischbrocken in sich hineinstopfte. Seine Fleischeslust wurde immer ungezügelter und dehnte sich auch auf anwesende Frauen aus. Mit seinen fettigen Schweinsbratenfingern betatschte er sogar den Busen der Cheflektorin, die sich in aufopfernder Weise für das Zustandekommen dieser Lesung eingesetzt hatte.

Fett hatte auf Seide von jeher eine fatale Wirkung. So wurde die weiße Seidenbluse der Cheflektorin gerade an den Stellen, die sie gern verhüllt gesehen hätte, durchsichtig wie Glas. Mit zornrotem Gesicht war sie aus dem Rittersaal der Alzenauer Burg gestürmt. Linda Endrichs Wissen nach hatte der Verlag nach dieser Lesung kein weiteres Werk des Autors mehr veröffentlicht.

Wohlgefällig musterte sie die ungewöhnliche dunkelbraune Bruchsteinfassade der Stadtpfarrkirche St. Justinus mit den barocken Einfassungen, Voluten und Vasen als Zier. Sehr schön und harmonisch ausgewogen. Überhaupt sah es ringsum hübsch und ordentlich aus. Alles stand an seinem Platz, nirgends lag Abfall herum. So war sie es von deutschen Kleinstädten gewohnt.

Eine junge Frau, die an der Tür des Rathauses lehnte, wurde auf sie aufmerksam und kam auf sie zu. »Frau Endrich?«

Linda nickte überrascht, denn sie hatte sich innerlich auf einen bulligen Kriminalbeamten in Uniform eingestellt, der seine Hand griffbereit über dem Holster seiner Waffe hielt. Möglicherweise hatte sie auch zu viele amerikanische Kriminalromane ins Deutsche übersetzt, was ihrer Vorstellung von Polizisten einen unauslöschbaren Stempel aufdrückte.

Ganz gegen ihre Erwartung stand sie nun dieser jungen Frau in Jeans und einem gelben Top gegenüber, die ihr hellbraunes Haar mit einem gelb-blau gestreiften Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und jetzt, als sie lächelte, niedliche Grübchen in ihre Wangen zauberte. Vom Alter her könnte sie ihre Tochter, wenn nicht gar Enkelin sein.

Obwohl Andrea in gewisser Weise im Vorteil war, da sie wusste, dass der Verlag die Übersetzerin schickte, war sie ebenfalls überrascht. Eigentlich hatte sie mit einer blassen, verhutzelten Frau gerechnet, die hinter ihren Übersetzungen einstaubte und vertrocknete. Doch weit gefehlt.

Groß und gertenschlank stand Linda Endrich im Sonnenlicht und blickte sich mit wachen Augen um. In ihren dunkelbraunen Locken steckte ein schreiend roter Haarreif. Überhaupt schien sie eine Vorliebe für die drei Grundfarben zu haben, und zwar in reiner Form. Bluse und Blazer im gleichen Rot wie Haarreif und Lippenstift, königsblau dagegen Rock und Strümpfe, die wiederum in kanariengelben Ballerinas steckten. Sie schulterte eine Umhängetasche im gleichen Gelb und versprühte eine berauschende Vitalität.

Andrea fiel es schwer, das Alter der Frau zu schätzen. Sie siedelte es vorsichtig in einem Rahmen zwischen fünfzig und sechzig an. Mit einem freundlichen Lächeln gab sie ihr die Hand.

»Mein Name ist Andrea Herbst. Schön, dass Sie sich für uns Zeit nehmen konnten, Frau Endrich. Hauptkommissar Rieker hält wegen des Mordfalls gerade eine Pressekonferenz ab. Das Medieninteresse ist nämlich immer noch sehr hoch. In der Zwischenzeit darf ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen.«

Linda Endrich folgte Andrea zu einem der Tischchen vor dem Café am Marktplatz und ließ sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl unter der grün-weiß gestreiften Markise sinken.

»Ich bin eine bekennende Sitzerin, Frau Herbst. Sitzerin, Raucherin und Schlemmerin. In dieser Reihenfolge. Wenn Sie sich mit mir gut stellen wollen, und davon kann ich doch ausgehen, besorgen Sie mir bitte einen Aschenbecher, eine große Tasse Kaffee und ein buttercremefettes Stück Frankfurter Kranz.«

Andrea machte sich gewissenhaft an die Abarbeitung der Aufträge und kehrte bald darauf mit einem Aschenbecher zurück. Linda Endrich hielt bereits eine brennende Zigarette in der Hand und schlug so schwungvoll die Beine übereinander, dass die Laufmaschen in ihrer Strumpfhose ein Eigenleben entwickelten. Linda Endrich schenkte dem keine Beachtung. Sie wollte lieber von Andrea wissen, was diese bei der Polizei denn so zu tun habe.

Andrea erklärte es ihr, und Linda hörte aufmerksam zu. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.

»Ich hab da nämlich ein Problem, bei dem Sie mir vielleicht helfen könnten. Als die vom Verlag anriefen, saß ich gerade an einer schwierigen Übersetzung. Als Amerikanerin mit deutschen Wurzeln beherrsche ich beide Sprachen wie eine Muttersprache. Aber diesmal handelt es sich um einen amerikanischen Roman, der nur so strotzt vor Schweinereien. Kurzum, mittlerweile fehlen mir dazu die passenden deutschen Ausdrücke. Mein Repertoire ist erschöpft. Ich würde mich nur ständig wiederholen. Sie mit Ihrer kriminellen Klientel hätten da vielleicht noch Sachen auf Lager, die mir bislang unbekannt sind.«

Andrea nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dieser Aufgabe fühlte sie sich durchaus gewachsen. In einigen Vernehmungsprotokollen, die sie während ihres Studiums analysiert hatte, wimmelte es nur so von Deftigkeiten aus der untersten Schublade.

»Das mach ich gern für Sie. Aber erzählen Sie mir doch von Caroline Hurst. Von Ihrem Verlag habe ich erfahren, dass Sie sie am besten kannten.«

Der Frankfurter Kranz und zwei Tassen Kaffee wurden gebracht. Linda Endrich griff sofort zur Kuchengabel.

»Tatsächlich, echte Buttercreme. In den Staaten bekommen sie die einfach nicht so gut hin.« Verzückt drehte sie die Augen himmelwärts und naschte noch eine kandierte Kirsche vom Frankfurter Kranz. Dann legte sie die Gabel zur Seite und zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Ich bin eine Wanderin zwischen den Kontinenten und pendle ständig zwischen den USA und Deutschland hin und her. Mal als Dolmetscherin, mal als Übersetzerin für verschiedene Verlage. Vor drei Jahren entdeckte ich Caroline Hursts Roman und las ihn auf dem Flug nach Deutschland bis auf ein paar wenige Kapitel durch. Er hat mich sehr bewegt. Ich machte mehrere deutsche Verlage darauf aufmerksam. Der in Frankfurt, mit dem Sie telefonierten, hat zugegriffen und die Lizenz gekauft. Ich freute mich sehr darüber, vor allem aber freute ich mich, dass ich es war, die ihn übersetzen durfte. Leider begannen damit die Probleme. Für mich wurde es die bislang schwierigste Übersetzung.«

Andrea lehnte sich weit im Stuhl zurück, damit sie nicht länger in Lindas Rauchschwaden saß, und fragte verwundert: »Warum denn das?«

»Caroline Hurst hatte eigentlich gar keine deutsche Übersetzung gewollt. Den Grund dafür weiß ich bis heute nicht. Laut Vertrag musste sie aber letztendlich zustimmen. Dann kam die Übersetzung selbst. Ich weiß nicht, wie oft ich einzelne Passagen überarbeiten musste, bis sie endlich damit zufrieden war. Abgesehen von dieser lästigen deutschen Pingeligkeit war sie ein beeindruckender Mensch, gerade mal zehn Jahre älter als ich. Als sie vor einer Woche nach Frankfurt kam, feierten wir im Verlag ihren siebzigsten Geburtstag. Für mich hatte sie aber die Lebenserfahrung einer Hundertjährigen. Wenn man bedenkt, dass sie, das Kind einer deutschen Prostituierten, es geschafft hat, eine der bekanntesten Anwältinnen in den Staaten zu werden, dann grenzt das an ein Wunder. Zeitlebens setzte sie sich vor allem für die Rechte der schwarzen Bevölkerung ein. Der Grund dafür hatte sogar ein wenig mit dem Lebensabschnitt zu tun, den sie hier in der Nähe von Alzenau zubrachte.«

»Caroline Hurst hat hier in der Gegend gelebt?«

»Ja, damals hieß sie noch Karolina, Karolina Wald.«

Andrea machte sich eine Notiz in ein kleines blaues Büchlein. Es könnte durchaus sein, dass immer noch Menschen in der Gegend lebten, die Caroline von früher kannten. Störzlein fiel ihr ein. Vielleicht sagte dem alten Herrn der deutsche Name des Opfers ja mehr als der amerikanische? Denkbar wäre das.

Linda Endrich fuhr fort: »In ihrer Kindheit war Caroline mit ihrer Mutter von Frankfurt aufs Land geflohen und lebte im Kahlgrund, bis beide nach Amerika auswanderten. Während unserer Zusammenarbeit hat sie mir viel darüber erzählt. Wenn sie das Manuskript zuschlug und den unvermeidlichen Rotstift weglegte, sprach sie von dem, was ihr eigentlich auf dem Herzen lag. Und das war die Vergangenheit. Mitunter hatte ich Mühe, die Zeitsprünge nachzuvollziehen, die sie immer wieder vollführte.«

Linda Endrich erzählte, wie Caroline Hurst ungeschminkt und ohne Beschönigung von ihrem Leben im Spessart, in einem Waldschlösschen im Kahlgrund, berichtet hatte. Carolines Mutter Angela und deren Freundin Regina waren dort der Prostitution nachgegangen. Während Angelas Angebot den biederen Blümchensex einer deutschen Hausfrau nicht nennenswert überstieg, brachte es Regina als Domina bald zu einer Virtuosität, die sogar die Männer im lustverwöhnten Frankfurt aufhorchen ließ. Sie galt als Geheimtipp für alle, die sich hin und wieder gern den Hintern versohlen oder gründlich zur Sau machen lassen wollten.

Ihr liebster, weil großzügigster Kunde war ein in Hanau stationierter US-amerikanischer Colonel, der immer wieder auch am Standort Gelnhausen zu tun hatte. Bei diesen Gelegenheiten wies er seinen Fahrer oft an, einen kleinen Umweg über Niedersteinbach zu machen, um den Damen im Schlösschen einen Besuch abzustatten.

Sergeant Jim Hurst, der Fahrer, war der erste Schwarze, den Caroline in ihrem Leben zu sehen bekommen hatte. Ein Neger. Damals war die ganze Welt politisch unkorrekt und sagte Neger.

»Manche sind es heute wieder«, warf Andrea dazwischen.

»Wie in den Staaten.« Linda Endrich nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und fixierte Andrea über den Tassenrand hinweg. »Noch ehe man sich versieht, werfen sie schon wieder mit dem Schimpfwort Nigger um sich. Aber wie dem auch sein mag, Caroline freute sich damals immer, wenn Jim kam und seine Gitarre mitbrachte. Während nämlich Regina den Colonel kräftig durchwalkte und seinen verlängerten Rücken grün und blau schlug, schlug Jim auf seiner Gitarre ganz zart die Saiten an und sang mit samtiger Stimme für ihre Mutter zum Weinen schöne Gospels und romantische Balladen.

Sogar der AFN in Hanau, eine der Radiostationen für die amerikanischen Armeeangehörigen, sendete Jims Lieder. Angela und Jim verliebten sich und gingen leichtsinnigerweise auch miteinander aus. Das hatte Folgen. Hinter Angelas Rücken wurde nun nicht mehr über sie als ›die Hure‹ getuschelt. Jetzt war sie das ›Amiflittchen‹ und die ›Negerhure‹.«

Linda Endrich machte eine Pause und zündete sich eine neue Zigarette an. Nach einem kräftigen Zug lehnte sie sich zufrieden zurück und fuhr mit Carolines Geschichte fort.

»1953 passierten zwei Dinge. Zum einen kam eine Freundin von Caroline beim Zelten im Teufelsgrund unter ungeklärten Umständen zu Tode. Und zum anderen endete Jim Hursts Armeedienst in Deutschland.«

Andrea war wie elektrisiert. »Moment mal. Sagten Sie Teufelsgrund? Dort soll Carolines Freundin umgekommen sein?«

»Ja, ganz in der Nähe der Teufelsmühle. Ihr Tod hat Caroline schwer zu schaffen gemacht.«

Sprach Linda Endrich da etwa von Störzleins altem Fall? Andrea konnte es kaum fassen. Womöglich hatte er von Anfang an richtig gelegen mit der Vermutung, dass die beiden Fälle zusammenhängen könnten.

»Frau Endrich, kann es sein, dass Carolines Freundin damals in der Walpurgisnacht ums Leben kam?«

»Allerdings, es war die Nacht auf den Ersten Mai, das weiß ich mit Sicherheit.«

»Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass Caroline Hurst mehr als fünfzig Jahre später in eben dieser Nacht, an fast derselben Stelle erschlagen wurde?«

Linda Endrich hielt inne. »Tatsächlich. Meinen Sie, dass das etwas miteinander zu tun haben könnte?«

»Das darf man wohl zumindest nicht ausschließen. Sie sollten es Hauptkommissar Rieker gegenüber unbedingt erwähnen.«

Andrea nahm ihr Notizbuch und schrieb »Walpurgisnacht« und »Teufelsmühle« unter Carolines richtigen Namen. Sie wollte Linda Endrich gerade bitten weiterzuerzählen, als ihr Handy in der Hosentasche vibrierte. Sie holte es hervor und meldete sich. Es war Hauptkommissar Rieker. Die Pressekonferenz war zu Ende und er wartete nun auf Frau Endrich.

Doch die griff ungerührt zur Kuchengabel und protestierte: »Meinen Frankfurter Kranz werde ich aber noch zu Ende essen dürfen. So viel Zeit muss mir Ihr Hauptkommissar schon zugestehen, nachdem er mich selbst lange genug hat warten lassen.«

Andrea war mit ihr einer Meinung und beobachtete, wie Stück für Stück des Buttercremekuchens in Linda Endrichs Mund verschwand. Allein vom Zusehen bekam sie schon Gallebeschwerden. Dann riss sie ihre Augen von der Kuchengabel los und fragte: »Wie reagierte Caroline Hurst eigentlich darauf, dass nun erstmals in der amerikanischen Geschichte ein Schwarzer Präsident wurde?«

In Lindas Augen nistete sich sogleich ein Strahlen ein.

»Sie war überglücklich, das können Sie sich doch denken. Außerdem wurde ihr eine große Ehre zuteil, denn trotz ihres fortgeschrittenen Alters wurde sie in den juristischen Beraterstab von Barack Obama aufgenommen. Ich habe im Fernsehen verfolgt, wie der Präsident sie persönlich der Öffentlichkeit vorstellte und ihre Verdienste für die schwarze Bevölkerung würdigte. Der einzige Wermutstropfen dabei war für Caroline, dass Jim und Angela diesen Moment nicht mehr miterleben konnten. Sie waren schon Jahre zuvor gestorben.«

Linda griff nach ihrer kanariengelben Handtasche und holte ein Buch hervor. »Lesen Sie?«

»Selbstverständlich.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822596
DOI
10.3239/9783942822596
Dateigröße
2.1 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Mai)
Schlagworte
main krimi regionalkrimi mainkrimi Spessart Walpurgisnacht
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Titel: Des Teufels Mühle
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