Lade Inhalt...

Unterwegs. Wege nach Santiago, Wege zum Glück

mit 80 S/W-Fotografien

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Auf ihrer Jakobswanderung von Pamplona nach Santiago de Compostela fotografierte Katharina John mit ihrer kleinen Kamera, was ihr unterwegs begegnete: Menschen, Tiere, Häuser, Landschaften. Momente, die sich dem Wanderer darbieten, der seine Augen offen hält, Schnappschüsse, zufällige Bilder einer Strecke.

Dass in fast jeder dieser absichtslosen Fotografien ein Geheimnis verborgen liegt, entdeckte der Künstler und Menschenkenner Götz Loepelmann. In bittersüßen, komischen Geschichten über das Leben, wie es rechts und links der großen Wegstrecke stattfindet, beschreibt er das abgründige Welttheater am Straßenrand.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Unterwegs

Wege nach Santiago

Wege zum Glück

Fotografien von Katharina John

Texte von Götz Loepelmann

Vorwort von Ulrich Tukur

Impressum

Originalausgabe

© 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Axel Haase, Berlin

Layout / Satz / Umschlaggestaltung: Andrea Mogwitz, München

ISBN 978-3-942822-21-3

Das Originalbuch als hochwertiger Bildband ist im Buchhandel erhältlich.

ISBN 978-3-942822-10-7 (Print)

www.heypublishing.com

www.katharinajohn.com

www.goetz-loepelmann.de

Vorwort

In »Meraviglioso«, einem seiner schönsten Lieder, erzählt der große italienische Sänger und Poet Domenico Modugno von einem verzweifelten Mann, der auf einer nächtlichen Brücke steht, um sich ins schwarze Wasser eines Flusses zu stürzen.

Plötzlich spürt er, wie jemand hinter ihn tritt, erschreckt fährt er herum und blickt in das Gesicht – eines Engels.

»Un angelo«, singt Modugno, »vestito da un passante« – ein Engel als Fußgänger verkleidet.

»Siehst Du denn nicht, wie schön die Welt ist?«, fragt er und zieht den Verzweifelten sanft von der Brücke fort. »Wie herrlich die Nacht und die Sterne! – Wie, Du sagst, Du hast nichts? Ist die Sonne nichts, das Meer? Es ist alles nur für Dich gemacht! Sieh doch: Das Gesicht eines Kindes, die Liebe einer Frau, die Umarmung eines Freundes …! Wie herrlich, und die Welt, wie wunderschön!«

Noch bevor die Dämmerung das Dunkel vertreibt, bevor Modugno aufhört zu singen, hat er sie wieder, der Nächtliche, den großen, einzigartigen Geschmack des Lebens und die Kraft weiterzulaufen.

Als Katharina John, die Schöpferin der vorliegenden Fotografien, von ihrer ersten Jakobswegwanderung zurückkehrte, die sie von Pamplona nach Santiago de Compostela geführt hatte, erzählte sie mir von einem Vorfall, der sich im Städtchen Astorga ereignete und mich sofort an Modugnos Lied erinnerte.

Sie war schon über zwei Wochen unterwegs gewesen, durch Wind und Wetter gelaufen, hatte Blasen an den Füßen, Muskelschmerzen und eine stark angeschwollene Achillessehne am linken Fuß.

Es war also höchste Zeit für eine Herberge, die sich auch schnell fand. Aber statt im hübschen Hauptgebäude unterzukommen, wurde sie von den Eigentümern, zwei alten Schwestern, in ein kleines, hässliches Haus geführt, das sich in einer engen Gasse ganz in der Nähe befand.

Sie hatte gleich bezahlen müssen und betrat nun ein Zimmer, das dunkel, klamm und grün von Schimmel war. Braunes Wasser lief aus dem Hahn, es roch übel, und eine Toilette gab es nicht. Sie war erschöpft und unglücklich, quälte sich zurück zur Rezeption, um ihr Geld zurückzufordern und sich etwas anderes zu suchen.

Nie hätte sie mit dem gerechnet, was nun passierte.

Die beiden Schwestern verwandelten sich vor ihren Augen in Furien, in kastilische Rachegöttinnen, die auf sie herniederfuhren, um sie zu beschimpfen, zu bespucken und zu verfluchen. Unter schrillem Gezeter wurde sie schließlich vor die Türe gesetzt.

Gedemütigt und hundemüde stand sie auf dem verregneten Marktplatz des Städtchens und fing an zu weinen. Für einen Augenblick, sagte sie, hätte sie nicht mehr weiter gewußt und sogar daran gedacht, ihren Weg zu beenden.

Da trat aus dem finsteren Eingang einer Bodega, ihr schräg gegenüber, ein Mann und lief so zielstrebig auf sie zu, als hätte er sie schon lange erwartet. Er hatte nichts Auffälliges an sich, war mittleren Alters und trug einen grauen Anzug. Einen Moment lang stand er vor ihr und sah sie besorgt an: »Señora«, sagte er dann, »das Leben ist manchmal schwer, aber geben Sie nicht auf, Sie müssen weiter! – Hier, nehmen Sie. Ich habe es für Sie gemacht. Viel Glück!«

Er drückte ihr einen kleinen, gelben Pfeil aus lackiertem Pappmaché in die Hand. Überall auf dem Jakobsweg war dieser gelbe Pfeil angebracht. Sah ihn der Pilger an einem Zaun, Baum oder Stein, wusste er, dass er sich nicht verlaufen hatte.

Katharina betrachtete überrascht das kleine Ding in ihrer Hand, und als sie wieder aufblickte, um sich zu bedanken, war der Mann wie ein Spuk verschwunden.

Ähnliche Erlebnisse hatte sie immer wieder auf dieser Wanderung, die ihr mehr und mehr zu einer Metapher des Lebens wurde. Einer Miniatur, die auf kurzer Distanz und wenige Wochen beschränkt alles abbildete, was auch im Großen das Dasein ausmachte.

Die Landschaften, die sie durchquerte, waren lieblich und wild, hässlich und schön, sie lief durch Regen, Schnee und Sonnenschein, der Pfad führte an Flüssen entlang und Autobahnen, wand sich vernebelte Berge hinauf, von denen sie dachte, dass sie sie nie bewältigen würde. Dann aber lagen sie plötzlich hinter ihr, und sie wanderte durch grüne Täler, an deren sanft ansteigenden Hängen Weinreben und Obstbäume wuchsen und über die sich ein makelloser Himmel wölbte.

Immer wieder kam sie an den Punkt, wo die Erschöpfung und Verzweiflung, aber auch der Ärger über sich selbst so groß wurden, dass sie aufgeben wollte. Und immer wieder stand da ein heimlicher Engel am Straßenrand, der ihr Mut machte weiterzugehen.

Der Stolz, durchgehalten zu haben, wuchs von Kilometer zu Kilometer und die Zuversicht, dass sie es doch noch bis zur Kathedrale von Santiago schaffen würde.

Sie photographierte mit einer kleinen Kamera, was ihr unterwegs begegnete: Menschen, Tiere, Häuser, Landschaften. Momente, die sich dem Wanderer darbieten, der seine Augen offen hält, Schnappschüsse, zufällige Bilder einer Strecke. Dass aber in fast jeder dieser absichtslosen Fotografien ein Geheimnis verborgen lag, etwas ganz Besonderes, das das Leben auf eine unverwechselbare Weise beschrieb, das war ihr selbst nicht klar.

Es ist das große Verdienst unseres Freundes Götz Loepelmann, uns darauf hingewiesen zu haben, als er Katharinas Fotografien das erste Mal sah.

Wie, fragten wir, was soll denn schon dran sein an den Trittsteinen, die über den kleinen Bach führen? –

Ja, seht Ihr denn nicht, antwortete er, dass das eine Raupe ist, das Kind eines Riesenschmetterlings, die von der Göttin Ceres in Stein verwandelt wurde?!

Und der hölzerne Verschlag vor der kleinen Dorfkirche ist in Wahrheit ein Kornspeicher, in den Fulgenico Gómez seine bösartige Mutter sperrte, bevor er sich nach Venezuela absetzte! Man muss nur genau hinsehen und die Ohren spitzen, dann hört man auch die Stimmen, die durch die kupfernen Telephondrähte hin und her flitzen und sich unglaubliche Dinge zuflüstern, oder was die beiden Schafe am Straßenrand miteinander Wichtiges zu bereden haben.

Wir baten ihn also, Katharinas stille Bilder zum Sprechen zu bringen und zu beschreiben, was er in ihnen sah. Und er setzte sich hin und schrieb 75 bittersüße, komische Geschichten über das Leben, wie es rechts und links der großen Wegstrecke stattfindet.

Dass Götz Loepelmann, dieser wunderbare Bühnenbildner, Regisseur, Maler und Bildhauer, der seit vielen Jahren auf Teneriffa lebt und die spanische Kultur und Mentalität gut kennt, dass also dieser schräge Humanist mit der Fotografin Katharina John (die ganz nebenbei auch meine Frau ist) in diesem Buch über den Jakobsweg zusammenkam, ist ein großes Glück.

In ihren Fotografien entdeckt der Künstler und Menschenkenner Loepelmann, der selbst schon einen weiten Weg gegangen ist, das abgründige Welttheater am Straßenrand, und wir lachen und weinen und wischen uns die Tränen aus dem Gesicht.

Erleichtert laufen wir weiter auf unser Ziel zu, das irgendwo hinter den nebelverhangenen Bergen liegt.

Ulrich Tukur

54_santiago_d.eps

03_P1000138.eps

Ein Kiesel

Ich habe mich an den Wegrand gesetzt, auf die kleine Böschung.

Manchmal ist mein Blick der Weite, der entrückten Ferne müde und sucht sich einen Halt in dem, was nahe liegt. Zu meinen Füssen liegen Steine, kleine runde Kiesel.

Wo kamst Du her? Wie alt bist Du?, frage ich einen und nehme ihn in die Hand. Er ist warm von der Sonne. Wie lange liegst Du schon hier?

Ich komme auch von weit her und halte Dich in meiner Hand.

Schade, dass Du nicht erzählen kannst, so muss ich raten.

Aber zuerst muss ich Dir danken, dass wir uns hier trafen, uns begegneten.

Du musst lange im Meer oder einem Fluss gelegen haben, denn Du bist glatt geschliffen von den Jahrtausenden. Sicher warst Du einmal rau und kantig. Da Du Deinen Widerstand aufgegeben hast, hast Du die endgültige Form erhalten. Nun kann Dir nichts mehr etwas anhaben, außer dass Du vielleicht immer kleiner wirst. Aber Deine runde Gestalt wirst Du behalten bis ans Ende der Tage. Du hast so etwas wie eine Haut bekommen, Deine Haut. Kein anderer der Kiesel, die hier liegen, gleicht Dir, jeder ist unverwechselbar, wenn ich mir die Zeit nehme, Euch zu vergleichen.

Wer ist schon über Dich hinweg gelaufen? Wie viele Sommer und Winter gingen über Dich hinweg und ließen ihre Spuren zurück?

Was soll ich von Dir lernen?

Bescheidung? Geduld? Gelassenheit?

04_P1000157.eps

An der Grenze

Als Lao Dse seine Lebenswanderung beinahe beendet hatte, übergab er dem Grenzwächter seine Schriften und verschwand im Nebel.

Der Grenzwächter fragte: Wohin gehst Du?

Aber Lao Dse schwieg.

Und was soll ich mit diesen Schriften tun?

Aber Lao Dse schwieg wieder, lächelte und verschwand.

Was aber geschah im Nebel?

Löste sich Laos Gestalt auf und wurde auch zu Nebel, oder gelangte er an das Ende des Nebels, dorthin, wo das Licht beginnt, die Klarheit, oder fiel Nacht auf ihn, die Schwärze des Nicht-Lichts, die alles beendet? Der Grenzwächter legte seine Stirn in Falten und rätselte, ohne eine Lösung zu finden, die ihn befriedigt hätte.

Und da er nicht lesen konnte, halfen ihm auch die fein beschriebenen Pergamentblätter nicht, die er in der Hand hielt. Erst als er einem Dritten, einem Gelehrten, später die Schriften übergeben konnte, wich der Nebel auch von ihm. Er vergaß einfach seine unnützen Fragen.

06_P1000141_2.eps

Immer geradeaus!

Nicht rechts, nicht links. Hat mein Vater immer gesagt. Ich bin viel zu oft abgebogen. War ja nicht immer ganz falsch, aber ich habe einfach Zeit verloren.

Es kann ja auch eine Falle sein.

Aber wer macht sich schon die Mühe, 48 Steine in der korrekten Pfeilform für mich hier hinzulegen? Was will er mir denn versprechen?

Das, was alle andauernd suchen.

Das Glück, natürlich, was denn sonst?

Aber wie weit ist es denn bis dahin?

Manche finden es ja auch, wenn es jemand verloren hat.

Wahrscheinlich ist es sehr weit.

Was bedeutet denn bloß die 48?

48 Kilometer? 48 Monate, 48 Jahre? 48 Paar durchgelaufene Schuhe?

48 Wiedergeburten?

Nein! 2 Tage! Gleich 48 Stunden!

Haha, das ist des Rätsels Lösung!

Also noch zwei Tage laufen, und ich finde mein Glück!

Das ist ja wohl besser als die 48 Paar Schuhe!

Vielleicht mache ich es mir auch nur bequem, ich suche nach dem leichtesten Weg.

Typisch, würde mein Vater sagen, Du suchst immer den bequemsten Ausweg, aber das Leben ist nun mal nicht so.

Nur wer … und dann kamen immer die Beispiele.

Also das Glück – warum muss das bloß so immer schwer sein?

Ich bin ein Glückskind, es wird mir einfach begegnen, ja, mich suchen und finden!

Na klar, da steht’s doch: Ich habe doch am 8. Juni Geburtstag!

8 x 6 = 48. Genau! Mein Geburtstag!

07_P1000209.eps

Die Taschenuhr

In dieses Waldstück hatten sich Domingo und Elba geflüchtet, sie waren fast noch Kinder, 17 und 15 Jahre alt. Sie versteckten sich vor den Soldaten der Franco-Armee. Ihren Vater hatten sie verschleppt, und niemand wusste, wo er gefangen gehalten wurde, man wusste nur, dass die Mutter in das Gefängnis geworfen worden war. Leute im Dorf hatten den Vater als Kommunisten angezeigt, obwohl der gar keiner war, sich aber widersetzt hatte, ein Grundstück an einen missgünstigen Grundbesitzer billig zu verkaufen. Da hockten sie also zitternd vor Angst im Gestrüpp und hörten die Salven, mit denen die republikanischen Soldaten erschossen wurden. Sie hielten sich eng umarmt und hofften, doch noch ungesehen in das Dorf, wo die Großmutter wohnte, zu entkommen. Sie krochen langsam zum Waldrand und sahen, wie die Faschisten die Erschossenen im Acker notdürftig und fluchend verscharrten. Die beiden entgingen dem Massaker und lebten fortan im Haus der Großmutter, weil ihre Mutter im Gefängnis nach langen Misshandlungen gestorben war.

Siebzig Jahre später führten sie eine Gruppe von Historikern, die mit den Nachforschungen beschäftigt war, zu dieser Stelle, und es begann die Exhumierung der Ermordeten. Am Rande der Grube standen nun die beiden Geschwister, alt und weißhaarig, einander umarmend wie damals. Hinter ihnen redete jemand davon, dass man die Toten ruhen lassen solle, vergangen sei vergangen, und es wäre grausam, alte Wunden wieder aufzureißen. Als aber die Berge vergilbter erdfeuchter Knochen und Schädel sich auftürmten, verstummte dieser Schwätzer endlich.

Domingo, der die ganze Zeit still zugesehen hatte, bückte sich auf einmal: Da blinkte ein kleiner metallener Fleck in der Sonne auf, er kratzte mit seinen Fingern die Erde fort und fand eine kleine verkrustete Taschenuhr. Er nahm sie in die Hand und rieb Erde und Sand ab, es gelang ihm sogar, den kleinen Sprungdeckel zu öffnen, innen war sie noch ziemlich sauber, und als er rieb, konnte er eine Gravierung entziffern: Für Genaro von Luisa. 17.X.1920

So hießen seine Eltern. Das war auch ihr Hochzeitstag.

08_P1000205.eps

Liebeskummer

Gregor war verzweifelt. Gregor hatte Liebeskummer. Gregor hatte seine Freundin an einen anderen verloren. Einen Dummkopf, wie er meinte.

Soll sie machen mit ihm, was sie will. Aber ich will nicht mehr weiterleben ohne sie. Ich werde mich aufhängen. Und wenn sie hier lang geht, soll sie mich hier finden. Und weinen soll sie um mich. Blutige Tränen. Und bereuen soll sie es, dass sie diesen Dummkopf gewählt hat. Den mit den Plattfüßen und dem schlechten Atem. Da links steht der richtige Baum. Hat lauter waagerechte Äste. Da werde ich mich aufhängen. Genau über dem Weg. Da kann ich auch gut hinaufklettern, den Strick anbinden und dann hinunterspringen.

Gregor geht den Strick holen.

Unterwegs denkt er: Dieser Dummkopf küsst vielleicht besser?

Aber der hat schon einen Bauch! Der sollte da hängen! Wieso ich?

Der Schuldige ist der Dummkopf, der so gut Mundharmonika spielt. Dabei kann der das gar nicht so gut, spielt immer dasselbe. Mehr kann der nicht. Immer dasselbe. Wahrscheinlich ist das mit dem Küssen genauso. Und im Bett? Immer dasselbe. Nein, ich will sterben. Oder nicht? Aber Gott wird mir ein Zeichen geben. Gib mir ein Zeichen, San Pablo, bitte! Die Schatten der Bäume malen mir etwas auf den Weg! Ich sehe drei schwarze dicke Linien, ein großes N. NO sagt mir San Pablo! Nur das kann es heißen! Danke!

Gregor geht in die Bar, erleichtert, und trinkt einen Vino tinto.

Sie wird ihn schon noch sattbekommen, den Dummkopf.

09_weg24.eps

Der gepflasterte Weg

Felipe war schon älter, so um die 28 Jahre, und hatte noch immer keine Frau. Er verehrte schüchtern die hübsche maestra, die Lehrerin Concha aus der Schule. Die hörte er manchmal, aus der Ferne, singen. Verlegen grüßte er sie auch, wenn sie an ihm vorbeiging und ihn fragte: Na, wie geht’s? Dann murmelte er nur verlegen: Gut. – Und Dir? – Auch gut, sagte sie meistens und lachte. – Da freue ich mich, sagte er dann, ging aber weiter.

Einmal, als es im November sehr geregnet hatte, war der Boden aufgeweicht und schlammig und der Weg in den Bäckerladen mühsam. Da begegnete er ihr wieder.

Na, wie geht’s? Er murmelte nur verlegen: Gut.

Und Dir? – Dieser Weg ist schrecklich, meine Schuhe sind schon ganz aufgeweicht!, sagte sie. – Ja, schrecklich ist der Weg, sagte er.

Aber da war sie schon weitergegangen.

In seiner freien Zeit, wenn er vom Feld heimkam, karrte er alle Steine, die er auf dem Acker aufgesammelt hatte, zu diesem Weg und begann ihn zu pflastern. Meter für Meter, Jahr für Jahr. Vor dem Bäckerladen begann er, und immer so weiter zu Conchas Haus hin.

Meistens arbeitete er spät abends, nach seiner eigenen Tagesarbeit, und so kam es, dass er Concha nur sehr selten begegnete.

Na, wie geht’s? fragte sie ihn dann selten genug. Dann murmelte er nur verlegen: Gut. Und Dir? – Auch gut, sagte sie meistens und lachte. Die sollten hier den ganzen Weg pflastern!, sagte sie, ging aber weiter. Wird schon, wird schon, sagte Felipe und legte schweigend seine Steine.

Nach vielen Jahren war der Weg fertig gepflastert. Es regnete, und die altgewordene Concha hastete zum Bäckerladen, mit einem großen schwarzen Regenschirm in der Hand. Da stand Felipe.

Na, wie geht’s? Er murmelte er nur verlegen: Gut. Und Dir? – Dieses Pflaster ist wunderbar, jetzt sind meine Schuhe nie mehr aufgeweicht, so wie früher!, sagte sie. Kannst Du Dich noch daran erinnern? – Ja, jetzt ist der Weg leichter für Dich geworden, sagte er und lachte, fast ein bisschen glücklich.

Aber da war sie schon weitergegangen.

10_P1000244.eps

Das Totenhaus

In diesem Haus da gegenüber wurde 1886 Javier Z. geboren.

Er war das Achte von 14 Kindern, von denen die meisten schon im Kindesalter starben. Sein Vater war ein einfacher aber hartherziger Mann, der, erniedrigt von Armut und Not, trank und bösartig wurde. Er prügelte seine Frau und seine Kinder, verlor schließlich seine Arbeit als Landarbeiter auf dem Gut des Kaziken, dem alles Land ringsum gehörte, trieb sich herum und endete schließlich im Irrenhaus. Seine Frau Dolores zog die sechs noch übrig gebliebenen Kinder mit Mühe und Not auf. Als Javier gerade 14 Jahre alt war, jagte sie ihn aus dem Haus und sagte ihm, er solle von nun an sein Brot selbst verdienen, weil sie nicht alle hungrigen Mäuler stopfen könne. Javier war ein intelligentes Bürschchen.

Er wanderte nach La Coruña und heuerte als Schiffsjunge auf einem amerikanischen Frachtschiff an, das Wolle, Leder und Wein nach New York brachte. Das Schiff geriet in einen Sturm, havarierte, und drohte durch ein Leck zu versinken, das ein lose rollendes Fass in den Rumpf geschlagen hatte. Javier wagte sich als Einziger hinunter in den lecken Schiffsrumpf zu dem hereinschießenden Wasser, und es gelang ihm mit einer ungeheuren Anstrengung, das Leck zu verschließen mit allem, was er fand, sodass das Schiff zwar Schlagseite hatte, aber weiter manövrierfähig blieb und schließlich sogar noch mit letzter Kraft New York erreichte. Der Reeder belohnte Javier mit einer Prämie von 200 Dollar.

So musterte er ab, blieb in New York, arbeitete als Gelegenheitsarbeiter, bildete sich aber als Cellist aus und wurde schließlich einer der berühmtesten Cellisten seiner Zeit. Als er alt war, wollte er noch einmal sein Elternhaus besuchen. Aber dazu kam es nicht mehr. Er starb, ohne seinen Wunsch verwirklicht zu haben. Zum Glück.

Das Haus aber blieb tot und leer, als seine Mutter und der jüngste Bruder schließlich auch gestorben waren. Niemand wollte es kaufen. Das Totenhaus nannten es die Bauern.

Verlassen verkam es und wurde Heimat für Fledermäuse, Schwalben und Eidechsen.

11_P1000046.eps

Von den Ameisen

Als Kind liebte Fernando Kartoffelbrei. Mit dem Löffel – manchmal, wenn die Mutter es nicht sah, mit dem Finger – formte er daraus Landschaften auf dem Teller. Hügel, Täler, Wege und Flussläufe, die er mit der Sauce füllte. Aber jedes Mal verschwanden diese Gebilde in seinem Bauch. Gott hat den Menschen aus Ton erschaffen, dachte Fernando, aber ebenso auch die Landschaften. Mit seinem gewaltigen Finger hat er Furchen und Rillen in die Erde gezeichnet, aus denen dann die Wege wurden. Stand doch so ein »Finger Gottes«, ein großer aufragender schlanker Fels, unten am Meer. Aber sein Lehrer wusste es wieder besser.

Die Straßen sind durch die Ameisen entstanden, sagte er. Jaja, durch die Ameisen! Die liefen bei ihrer Nahrungssuche immer die gleiche Strecke, hin und her, Tausende von Ameisen. So entstand ein schmaler Pfad, einen Finger breit, auf dem nichts mehr wuchs. Dann kamen die Eidechsen, die Mäuse. Alle liefen sie dort entlang, weil es bequemer war, als durch das Gestrüpp, die Disteln und Brennnesseln sich einen Weg zu bahnen. Dann liefen dort alle anderen Tiere, die Kaninchen, schließlich die Ziegen und die Schafe. Die fraßen alles ab, was da wuchs. Und dann kamen die Menschen mit ihren Pferden und Wagen und verbreiterten die Pfade, die da einladend schon entstanden waren. Ihre Häuser bauten sie sich am Rande dieser Wege, schön eng zusammen um sich zu schützen, zu helfen oder miteinander zu schwatzen. Und noch später wurden daraus Alleen, Straßen, Chausseen. Die Autobahnen aber sind nicht so entstanden, die wurden mit dem Lineal quer durch die Felder geplant und gebaut. Darum sind sie langweilig und gerade. So berichtete der Lehrer.

Und nachdem er nachdenklich eine Weile aus dem Fenster geschaut hatte, seufzte er und schloss: Aber von den Ameisen spricht niemand mehr.

12_P1000216.eps

Wasserscheu

Vor Zeiten lebte einmal eine Riesenraupe, die war das Kind eines Riesenschmetterlings, Mariposalia gigante, und war schon lange aus dem Ei geschlüpft, das mindestens so groß war wie eine große Kanonenkugel. Sie kroch dahin und suchte sich einen Baum, um sich daran festzumachen und um sich zu verpuppen. Nun waren in der Gegend aber wenige Bäume, erst da unten am Bach standen ein paar Eschen. Ausgerechnet am anderen Ufer. Wie sie so dahin kroch, dachte sie dies und das, müde war sie schon und staubig, sie wollte nur noch ausruhen und den langen Traum träumen, den Verwandlungstraum zu einem Riesenschmetterling. So gelangte sie schließlich an den Bach, kam aber nicht hinüber, denn das Wasser floss reißend und rasch dahin. Und da sie eine gläubige Raupe war, betete sie zu Ceres, der Göttin der Tiere und Pflanzen, um Hilfe. Die erschien auch, stand da in ihrem goldenen Licht und war erstaunt über die Größe der Raupe.

Hilf mir über den Bach, verehrte Göttin Ceres, und ich will es Dir danken!, sagte die Raupe.

Geh doch hinein, Du ängstliche Raupe, krieche durch die Fluten, und nichts wird Dir geschehen!, sagte die Göttin.

Ich hasse kaltes Wasser!, sagte die Raupe.

Geh nur, versuch es einfach, und alles wird sich lösen!, antwortete Ceres.

Nein, ich gehe nicht, ich gehe nicht! Es ist so eklig kalt, außerdem gehen dann meine ganzen schönen Farben ab!

Und so ging es hin und her, Ceres ermutigte die Raupe, aber die wurde, was gar nicht zu ihr passte, immer zickiger und schriller, so wasserscheu war sie. Schließlich war die Raupe doch soweit und wagte sich in den Bach, war schon beinahe auf dem anderen Ufer, als sie losschimpfte: Verdammte Ceres, ich sterbe vor Kälte! Dein Rat war einfach Unsinn!

Ceres ärgerte sich und schrie: Dann werde doch zu Stein, dann fühlst Du nichts mehr!

Und die Raupe versteinerte und blieb da liegen bis auf den heutigen Tag.

13_P1000263.eps

Die Schatten

Vor langer Zeit, als den Wünschen noch geholfen wurde, gingen Elvira und ihr Mann Ernesto den langen Weg in die Stadt. Die Sonne stand schon tief, und ihre Schatten waren lang. Die Schatten folgten ihnen, folgten ihren Bewegungen und waren amüsiert, dass sie nicht dauernd zerteilt wurden durch Stuhlbeine, Tische und was sich sonst alles zwischen sie und sie Sonne stellte. Die beiden Schatten konnten sich endlich ganz entfalten und ausbreiten. Da sagte Elviras Schatten zu Ernestos Schatten: Wenn erst die Sonne untergegangen sein wird, gibt es uns nicht mehr und wir müssen warten, bis unsere Herren wieder hinaus gehen in die Sonne. – Ja, antwortete Ernestos Schatten betrübt, wir sind sehr abhängig, und das gefällt mir nicht, lieber wäre es mir, wir wären independiente, unabhängig, so drückte wie er sich in einem Anflug von Eitelkeit ausdrückte. Aber da wir ja in einer Zeit sind, wo sich die  Wünsche erfüllen, so erfüllte sich auch dieser. Ernesto und Elvira wanderten über ihre Schatten hinweg und bemerkten es gar nicht, dass sie auf einmal schattenlos waren, denn sie unterhielten sich angeregt über den Preis von Hühnereiern, die letztlich sehr viel teurer geworden waren. Die beiden Schatten jedoch waren zunächst überrascht und wussten nicht so recht, was sie nun tun sollten, denn Freiheit und Unabhängigkeit waren sie nicht gewohnt, und es ängstigte sie fast.

In die Stadt will ich nicht! Da sind so viele Häuser, die auch Schatten werfen, sodass man uns gar nicht sieht!, sagte Elviras Schatten. Und Ernestos Schatten nickte So eine richtige Aufgabe sehe ich im Moment nicht, außer der, einfach so weiterzugehen. – Wir könnten uns zu einem einzigen Schatten vereinigen!, meinte Elviras Schatten dann und umarmte Ernestos Schatten. Aber just in diesem Augenblick versank die Sonne, und die Schatten verblassten. Ein schöner Tod!, sagte Ernestos Schatten noch, na, bis zum nächsten Mal!

14P1000187.eps

Der Schlüssel

Warum ist mein Leben nur immer beschwerlich?, fragte sich Lorenzo Rodriguez Peralba auf seinem Weg. Nicht einmal jetzt, wo ich mich gezwungen sehe, mein Land für immer zu verlassen, auswandern muss, weil es an allen Ecken und Enden für niemand und nichts reicht, wo das blanke Elend im Haus hockt und mich mit toten Augen anstarrt, hat es Gnade mit mir.

Alle meine elf Brüder sind schon fort und ich bin der Letzte. Gut, den Schlüssel habe ich in der Tasche, von dieser verfluchten Bruchbude, lächerlich. Wo soll ich hin? Zu meinen Brüdern nach Argentinien, nach Cuba, Venezuela? Und die Überfahrt, wovon zahle ich die? 20 000 Peseten, die ich nicht habe. Wenn wenigstens die Sonne schiene! Gott befohlen für immer! Arbeiten kann ich, aber was nützen mir meine Arme, wenn sie niemand braucht? Und die Gräber der Eltern, wer wird sie pflegen? Niemand. Sie werden verfallen. Ja sollen sie! Soll alles verfallen! Wer wird sich denn noch an mich erinnern, und wo werden sie mich einst begraben?

Mit diesen trübseligen Gefühlen ging Lorenzo nach Norden, immer weiter nach Norden, tagaus, tagein. Der Weg war beschwerlich. Zum Hafen wollte er, nach La Coruña. Nein, nicht nach Santiago in die Kathedrale, um Hilfe zu erbitten.

Ach die Kirche! Als hätte sich der feiste Pfarrer Don Paco jemals erbarmt, der kam immer nur, um etwas abzuholen, Schmalz und Eier, Speck und geschlachtete Hühner. Damit war es vorbei. Ein Kreuz hat er in die Luft geschlagen mit seinen kurzen Fingern. Soll ihn der Diabetes holen! Das Glück! Das Glück gibt es nicht, das haben sich Leute ausgedacht, um andere auszubeuten. Hat schon jemand das Glück gesehen? Glück haben nur die Leute, die Geld haben. Geld ist Glück. Darum gibt es Diebe und Betrüger, Bischöfe und Halsabschneider und was weiß ich noch.

So wanderte Lorenzo dahin nach La Coruña. Niemand erfuhr je, was aus ihm geworden ist. Auch seine Brüder verloren seine Spur. Ob er wohl immer noch den Schlüssel in der Tasche hat?

15_P1000217.eps

Kupferkabel

Siehst Du die Telefonleitungen da oben in der Luft?

Im Sommer sitzen die Schwalben darauf und im Herbst die Stare, ehe sie fortfliegen.

Sie sitzen da und schwatzen miteinander, genau wie die vielen Menschen, die miteinander telefonieren, sich von ihren Krankheiten erzählen, von ihrer Liebe, von ihrer Arbeit. Einfach von allem, was ihr Leben ausmacht. Alle diese Seufzer, ihr Lachen, alle diese Laute flitzen in Windeseile hin und her durch die kupfernen Drähte. Aber nicht nur das. Die kupfernen Drähte transportieren auch Flüche und Verwünschungen, hier wird enterbt und belohnt, bestochen und erpresst, Hilfe gesucht, und hier werden Schwangerschaften angekündigt, Todesnachrichten, wird gejammert und gefleht, oder es ist einfach nur Geschwätz. Telefonleitungen sind ausgesprochen geduldig.

Auch Adán und Teresa wissen nicht so genau, wie das eigentlich geht. Sie wissen nur, dass es geht.

Vor dreißig Jahren gab es die Drähte noch nicht, und Adán musste den weiten Weg von seinem Dorf zu Teresas Dorf gehen, wenn er sie sehen, mit ihr sprechen wollte, oder sie mit ihm. Da lief er also ein Stündchen und freute sich dabei auf Teresa, malte sich in Gedanken die verwegensten erotischen Abenteuer aus.

Jetzt ruft er an und sagt: In fünf Minuten bin ich da, steigt auf sein Motorrad und brummt los.

Das kommt Adán schon lang vor, aber für die Entwicklung einer richtigen Vorfreude, für erotische Phantasien sind diese fünf Minuten viel zu kurz. Und wenn er dann ankommt, weiß er nicht, was er sagen soll, und braucht mindestens die durch das Motorrad eingesparte Zeit, um ein fröhliches Gespräch mit Teresa zu beginnen, erst einmal stottert er nur so herum.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822213
DOI
10.3239/9783942822213
Dateigröße
89 KB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (März)
Schlagworte
fotografien fotografie jakobsweg jacobsweg pilgern santiago katharina john ulrich tukur götz loepelmann hey ebook
Zurück

Titel: Unterwegs. Wege nach Santiago, Wege zum Glück
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
0 Seiten