Lade Inhalt...

Zurück zur Zuversicht

Als das Leben vor meinen Augen verschwand

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Die Journalistin Maria von Welser berichtet von ihrer tragischen Krankheit:
„Meine Augenlider machten nicht mehr das, was ich wollte, sie schlossen sich wie in einem Krampf. Oft so lange, dass ich zeitweilig wie blind durchs Leben tappte. Ich war der Verzweiflung nahe. Das Leben schien mir nichts mehr wert. Mein Beruf, den ich liebe, nicht mehr ausführbar. Dieser Alptraum dauerte genau 11 Monate und 11 Tage. Denn fand ich endlich einen Arzt, der mir sagen konnte, an was ich wirklich leide: Blepharospasmus, eine Form der Dystonie. Wie mir geht es Millionen Menschen überall. Ihnen möchte ich mit diesem Buch helfen.“

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


NUR EIN KURZES VORWORT

Zurück zur Zuversicht – so heißt dieses kleine Büchlein über meine Erfahrungen mit Blepharospasmus. Es soll all denen Mut machen, die wie ich an dieser Form der Dystonie leiden. Haben Sie den Mut, nicht aufzugeben, sich selbst nicht aufzugeben. Suchen Sie unnachgiebig nach einem Arzt, der Ihnen helfen kann. Haben Sie den Mut, mit Ihrer Dystonie zu leben. Denn heilbar ist sie nicht. Sagen bis jetzt alle Ärzte, die sich damit beschäftigt haben.

Dieses Buch erzählt aber nicht nur von den ersten Anzeichen des Blepharospasmus, dem Krankheitsverlauf, dem unglaublich langen Irrweg durch die Praxen von Augenärzten, Gynäkologen und Internisten. Es schildert auch die Ängste, Hoffnungen und die Verzweiflung, die einen überfallen, wenn man als Patient ahnt, dass einem etwas Ernstes fehlt, aber die Diagnose noch nicht greifbar ist. Und damit auch keine Behandlung.

Weil das Leben aber immer ein Ganzes ist, der Mensch eine Einheit, berichtet das Buch parallel auch über das berufliche und private Geschehen. Es geht um Livesendungen, Einschaltquoten und Inhalte. Um Auf und Ab, Ende und Neubeginn in einem journalistischen Leben. Es erzählt von spannenden »Mit mir nicht«-Fällen und aufregenden Jahren im Auslandsstudio London, vom Ringen um soziale Gerechtigkeit und von den umstrittenen Einsätzen der Briten in den Kriegen in Afghanistan und im Irak.

An dieser Stelle will ich aber auch Dank sagen:

Professor Wolfgang Jost von der Deutschen Klinik für Diagnostik, der mir nicht nur die Angst vor den Spritzen genommen hat, sondern mir für dieses Buch mit Rat und Tat und seinem ganzen Fachwissen als Neurologe zur Seite stand;

dem Diplompsychologen Curd Michael Hockel, der meinen Blick immer wieder vom rein medizinischen Geschehen auf die Seele und ihren Einfluss auf den Körper gelenkt hat;

meinem Mann Klaus, der all dies mit mir getragen hat, mich unterstützt, aufgebaut und mir immer wieder Mut gemacht hat. Alle Dystoniepatienten wissen, dass ihre Partner mit leiden.

Und schließlich Kathrin Blum, meiner Lektorin. Ihre Kommentare zu den ersten Manuskriptseiten haben mir immer wieder geholfen, meine Gedanken neu zu sortieren. Dadurch wurde manches gestrafft oder das Thema erweitert. Jedenfalls ist die Geschichte meiner Erfahrungen dabei stets runder, verständlicher und greifbarer geworden. Ganz im Sinne unserer Leser.

1. Kapitel: WIE ALLES BEGANN

Klick – und nochmal: klick. Mit dem vertrauten Diddeldi-Diddeldum schließt sich der Bildschirm. Es ist Freitag, 17 Uhr. In mein Büro auf dem Lerchenberg leuchtet die untergehende Sonne. Davor auf der Wiese tollen schon den ganzen Tag vier kleine Kaninchen herum. Ich freue mich auf das Wochenende, auf die Heimfahrt nach München. Wenn ich Glück habe, brauche ich nur vier Stunden. Hoffentlich.

Auf dem Lerchenberg, dem Hauptsitz des ZDF in Mainz, ist schon friedvolle Ruhe eingekehrt; die Parkplätze gelichtet, und wer einem noch begegnet, grüßt freundlich und wünscht ein schönes Wochenende.

Der BMW rollt an Alzey vorbei, den Rhein flussaufwärts. Ich höre Richard Wagners Tannhäuser.

Als meine Augenlider nach dreißig Minuten Fahrt zu blinzeln beginnen, schiebe ich es auf die Sonne. Also: Sonnenbrille auf die Nase. Aber: Es wird nicht besser. Die Abstände zwischen Augen auf – Augen zu erscheinen mir gefährlich lange. Ich fahre auf den Parkplatz, lege eine kleine Pause ein. Bin ich müde?

Eigentlich gibt es keinen Grund dafür. Die Woche war wie immer: Sitzungen, Filmabnahmen für das Ombudsmagazin »Mit mir nicht! – Welsers Fälle«, dann das Einlesen in die Themen der Sendung, Moderationen schreiben, die Fragekarten vorformulieren für die Gesprächsrunden im Studio. Kurze Überlegung: Was ziehe ich an? Nichts Dunkles, das wirkt nicht vor der Kamera, und möglichst keine kleinen Muster, die flirren. Alles gewohnte Routine. Nach fast zehn Jahren und 430 Sendungen »ML – Mona Lisa« und den inzwischen drei Jahren und 50 Sendungen Ombudsmagazin. Ein Programm, das mir immer mehr ans Herz gewachsen ist. Vor allem auch die Kolleginnen und Kollegen, die so fröhlich, schwungvoll und mit ungebrochenem Engagement an der Sendung arbeiten. Dazu Hunderte von Menschen, die uns anrufen, schreiben, motivieren. Sich bedanken, dass wir uns für sie und ihren Kummer, Ärger einsetzen.

Also aus meiner Sicht: kein Grund für Erschöpfung oder gar Müdigkeit. Ich fahre weiter, will ja nach Hause. Es ist Spätsommer, vielleicht können mein Mann und ich noch ein wenig auf der Terrasse im Garten sitzen. Das fehlt mir unter der Woche. Denn da lebe ich von Montag bis Freitag in Wiesbaden-Freudenberg. In einer sehr gemütlichen Zweizimmerwohnung. Aber: allein, ohne meinen Mann. Und ohne meinen roten Berg-Kater Pedro. So kreisen meine Gedanken beim Fahren rund um meine Familie

Komisch: Es hört nicht auf mit dem Blinzeln. Obwohl jetzt schon längst die Sonne untergegangen ist. Ich muss wieder anhalten und noch einmal nach nur zwanzig Minuten. Ein wenig schmerzt die Halswirbelsäule. Das kann jetzt aber auch vom Autofahren kommen In einer Stunde werde ich sicherzumindest am Stadtrand von München sein. Hoffe ich. Doch so schnell geht es dann nicht. Es ist halt Freitagabendverkehr. Und je südlicher ich komme, desto dichter rollen die Schlangen zweispurig über die Autobahn. Inzwischen habe ich Eros Ramazotti eingelegt. Tannhäusers Liebeskummer hat mich doch ein wenig bedrückt. Vielleicht wirkt Eros' Stimme zweifach: gegen den Verkehrsfrust und gegen das Blinzeln.

Zu Hause – endlich. Als hätte er's gespürt, kommt mein Mann mir entgegen. Kater Pedro dagegen, der seit 16 Jahren mein Gefährte ist, hält es eher umgekehrt: Wenn er mich nach dieser Woche Absenz erblickt, macht er auf der Pfote kehrt und versteckt sich erst mal im Garten.

Macht nichts. Spätestens heute Nacht, wenn mein Mann eingeschlafen ist, kommt er zu mir und schleicht sich wie schon zu seinen Baby-Zeiten zwischen das Kopfkissen und das Kopfteil des Bettes. Da fühlt er sich wohl, versteckt sein Köpfchen dann in meinen Haaren. Vielleicht seine Erinnerungen an den Bergbauernhof auf der Hohen Salve in Tirol, wo ich ihn im Alter von vier Wochen vor einem Katzen mordenden Bauern gerettet habe: »Vor dem Winter müssen die weg …«

Jeder, der nur die Wochenenden zu Hause verbringen kann, kennt dieses wunderbare Freitagsgefühl: vor sich eine schier endlose Zeit (bis Sonntagabend …), wieder daheim in der vertrauten Umgebung, mit den geliebten Menschen. Die ja ihrerseits liebevoll auf die Heimkehrerin zugehen. Probleme, Kummer, Sorgen – das bleibt außen vor. Auf beiden Seiten. Man will ja nicht die kurze Zeit stimmungsmäßig belasten.

Dennoch erzähle ich später – nicht mehr auf der Terrasse, es war dann doch zu kühl – meinem Mann von meinem Blinzeln und Blinkern. Von den Fahrpausen, die ich ungewohnterweise einlegen musste auf der Fahrt nach Hause. Mein Mann, im Berufsleben Pilot, weiß auch sofort des Rätsels Lösung: »Wahrscheinlich kommt irgendwie Abgas in den Innenraum deines Autos; das sind die klassischen Reaktionen, ich kenne das vom Fliegen …

Nächste Woche will er mit mir nach Wiesbaden fahren. Einen Abgastest machen lassen, dann wird sich alles klären. Ich bin beruhigt.

Aber eine Woche später in Wiesbaden schütteln die Feuerwehrleute nach dem Abgastest den Kopf: »Nein, da ist alles in Ordnung, da kommt nichts in den Innenraum Ihres Wagens rein.«

Das war's wohl. Nur: Was ist es dann? Ich habe es doch nur beim Autofahren, nur da fällt es mir auf, dieses vollkommen unwillkürliche Blinzeln, die aus meiner Sicht zu langen Abstände, bis ich wieder ganz klar sehen kann. Vielleicht doch ein Augenproblem? Ich nehme mir vor, mich mal nach einem Augenarzt im Rhein-Main-Gebiet zu erkundigen.

Aber vorerst schiebe ich das alles auf. Denn ganz andere, zurzeit wichtigere Dinge stehen an: Mein Mann und ich wollen ins Rhein-Main-Gebiet umziehen. Drei Jahre lang Wochenendehe, nein, so hatten wir uns unser Leben nicht vorgestellt, als wir 1994 geheiratet haben. Wir haben damals aus zwei eins gemacht, unsere alten Wohnungen aufgelöst und gemeinsam neu begonnen. Weil wir zusammen alt werden wollen. Eine Wochenendehe war da nicht eingeplant.

Nur zu gut kann ich mich noch an unser Gespräch an einem frühen Morgen auf dem Flughafen von Mailand erinnern. Wir waren uns gerade erst vor zehn Tagen zum ersten Mal begegnet. Auf schäbigen Plastikstühlen saßen wir uns gegenüber und gestanden uns fast zeitgleich, dass wir beide keine »informelle Beziehung« wollten. Was bedeutete, dass nicht der eine in Wunstorf, der andere in München sein normales Leben führen sollte. Nein, uns war klar, wir wollten heiraten. Und dann am gleichen Ort zusammen leben. Vielleicht für alle anderen eine verrückte Geschichte. Nur für uns nicht. Denn seit damals sind wir jetzt zehn Jahre zusammen. Zehn überaus glückliche Jahre.

Zusammengeführt hat uns der Krieg auf dem Balkan. Ein Krieg, der Tausenden so viel Leid brachte, schenkte uns das Glück. Ich war, als »ML – Mona Lisa«-Leiterin und Reporterin auf dem Weg nach Sarajewo. Anfang Dezember wollte das ZDF unter dem damaligen Chefredakteur Klaus Bresser den 300 000 eingeschlossenen Menschen in Sarajewo helfen. »Sarajewo soll leben«, hieß der Titel der Sendung, ich hatte dafür den »Mona-Lisa«-Sendeplatz geräumt und sollte zusammen mit Ruprecht Eser, damals Chefreporter, eine 60-minütige Spendensendung moderieren. Petra Gerster übernahm den Moderationspart in Mainz. Wir berichteten aus der eingeschlossenen, hungernden und frierenden Stadt. Mit Filmen und in Gesprächen.

Unser Zeitplan für diese Livesendung war mal wieder äußerst knapp. Ich hatte noch am Sonntag eine »Mona-Lisa«-Sendung in Unterföhring bei München. Konnte also erst am Montag um 8 Uhr in München starten. Eine Maschine der Luftwaffe sollte uns von der italienischen Basis in Falconarain die belagerte Stadt bringen. Doch schon der Flug nach Falconara glich einer Weltreise: erst über Wien nach Zagreb. Dort auschecken, mit einer ZDF-Mitarbeiterin und einem Fahrer durch die ganze Stadt zur UNHCR, um die persönliche Akkreditierung mit Foto zu bekommen. Dann auf dem schnellsten Weg wieder zurück zum Flughafen. Knapp geschafft. Und ab nach Split. Mit der nächsten Maschine dann nach Rom, eine Stunde Aufenthalt, umsteigen, Gepäck abholen, wieder einchecken. Letzte Flugstrecke: Rom-Ancona. Hier holten uns freundliche Soldaten der Luftwaffe ab. Inzwischen hatte auch das ganze Team. zusammengefunden: Ruprecht Eser, mein Kollege, ein Kamerateam, ein Cutter. Und unglaubliche Mengen an Gepäck, Kameras, Schnitteinheiten, Licht. Fernsehen kann manchmal richtig mühsam sein. Wenigstens war eine Reporterin schon einige Tage zuvor mit einem Kamerateam nach Sarajewo aufgebrochen. Wir hofften jetzt auf einen Abflug am nächsten Tag, in der Frühe. Die Luftwaffe wollte uns mit einer Transall hinüberbringen. Aber sicher ist in solchen Zeiten gar nichts.

Was sich gleich am nächsten Morgen zeigen sollte. Denn die Serben gaben keine Ruhe, schossen einer norwegischen Maschine einen Tragflügel in Stücke. Gott sei Dank konnte der Pilot noch sicher in Falconara landen. Aber wir saßen erst mal fest auf diesem Mini-Flughafen, der die Basis der gerade neu installierten Luftbrücke der Alliierten war. Jede Stunde konnte hier eine Transportmaschine starten und den Menschen in Sarajewo Lebensmittel, Decken, Medikamente bringen. Aber die Serben schossen unberechenbar auf die einschwebenden Flugzeuge. So gab es Tage in diesen Wochen und Monaten der Luftbrücke, an denen die Piloten in Falconara aufs Meer schauten und Däumchen drehten. Weil gerade mal wiedereine Maschine getroffen worden war oder weil auf der sehr knappen Anfluglinie hinunter über den Berg Igman zum Flughafen Sarajewo dichter Nebel waberte. Im Winter ein häufiger Gast. Oder weil die Piloten mithilfe eines von den Israelis nachträglich eingebauten Spezialgerät erkannten, dass die Serben eine Rakete auf das Flugzeug abgeschossen hatten. »Tracken«, nennen das die Piloten, wenn bei ihnen der Adrenalinspiegel steigt und die Angst, getroffen zu werden, den Hals zuschnürt. Drei Jahre Luftbrücke, das war wirklich eine unglaubliche Leistung der Briten, Amerikaner, Schweden, Franzosen, Norweger, Holländer, Italiener und Deutschen. Ohne den täglichen Einsatz der mutigen Piloten hätten die Menschen in Sarajewo die Zeit der serbischen Blockade wohl nicht überlebt.

Dort, in Falconara also, traf ich ihn, den Mann, der mit mir keine »informelle Beziehung« haben wollte. Er war, als Oberstleutnant der Luftwaffe, Kommandoführer und damit zuständig für den Einsatz der deutschen Maschinen. Und weil die Serben mal wieder wie besessen auf die Flugzeuge schossen, dazu die Sichtverhältnisse unter 500 Meter lagen, durften die Deutschen nicht hinüberfliegen. So saß das Team einen ganzen langen Tag wie auf heißen Kohlen in den Blechcontainern der Alliierten und schlürfte Kaffee aus Pappbechern. Ich hörte dem »OTL« Klaus Häusler zu. Das ist die Abkürzung für Oberstleutnant. Und da muss es wohl gefunkt haben. Nachhaltig.

Spät am Nachmittag sind sie dann doch geflogen, die Bundeswehrpiloten. Und wir konnten unsere Sendung in Sarajewo machen. Fast sechs Millionen Euro war ein sensationeller Spendenerfolg. Und mein »OTL« und ich zogen nur drei Monate später zusammen. So weit unsere Vorgeschichte.

Und so haben wir es uns nicht leicht gemacht mit der Entscheidung, dass ich für die Sendung »Mit mir nicht! – Welsers Fälle« nach Mainz/Wiesbaden gehen würde. Erste Version: Ich ziehe unter der Woche in eine kleine Wohnung in Wiesbaden und fahre am Freitagabend zurück nach München. Aber nach drei Jahren steht uns die »Wochenendehe« bis zum Hals. Außerdem ist mein Mann inzwischen pensioniert worden. Wir wollen diesen Zustand so schnell wie möglich beenden. Auch für den Preis der Aufgabe »unseres« Bayern. Die Sendung selbst läuft nach jetzt über 50 Ausgaben erfolgreich und erreicht die geforderten Quoten, mindestens zehn Prozent am Mittwochabend um 22.15 Uhr, oft gegen Champions-League-Fußball bei den privaten Sendern. Die ZDF-Spitze selbst versichert mir, dass die Sendung ein wichtiger Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Programms sei und ganz sicher die nächsten Jahre weitergeführt werde. Man unterstützt mich in der Entscheidung, ganz nach Mainz zu ziehen. Und mein Mann und ich freuen uns, dass wieder ein wenig Ruhe und Normalität in unser Leben einkehrt. Unser Haus in München wollen wir für die nächsten Jahre vermieten. Denn ganz »am Schluss«, also für den dritten Lebensabschnitt nach dem Berufsleben, wird es uns beide auf alle Fälle wieder nach München zurück ziehen.

Jetzt aber: Haussuche. Die sich wider Erwarten einfacher gestaltete als befürchtet:

Ein Kollege inserierte hausintern sein Mainzer Domizil. »Mit Blick auf die Kirche von Gonsenheim und einem kleinen Bach im Hanggrundstück.« Das klingt hübsch in unseren Ohren. Und auch das Haus gefällt uns gut. Erdbeerkuchen auf der Terrasse mit dem Kollegen und seiner Frau – und alles istklar: Wir ziehen Ende jenes Jahres, also 1999, nach Mainz-Molkenborn. Vorher wollen wir allerdings noch einiges im Haus ändern. Mein lieber Mann erklärt sich dazu bereit. Wir kaufen Farben, Tapeten, Teppichböden und Kleister. Räumen schweren Herzens unser Haus in München und düsen ab – erst mal in meine kleine Wiesbadener Bleibe.

Während mein Mann mit zwei Helfern renoviert, kümmere ich mich um meine Sendung.

Im Augenblick steht uns besonderer Ärger ins Haus. Ein Rechtsanwalt aus Oberhausen behauptet, wir würden in der Sendung unerlaubt Rechtsberatung betreiben. Das wäre – durch ein Gesetz aus dem Jahr 1933, also aus dem Dritten Reich – verboten. Der Anwalt klagt gegen das ZDF und meine Sendung.

Aber nicht nur ich stehe im Fokus seiner Angriffe: auch der Kollege Geert Müller-Gerbes mit seiner Sendung bei RTL »Wie bitte!?«, Peter Escher vom MDR, der dort Neppern auf der Spur ist, und oft auch meine Kollegen aus der WISO-Redaktion, Michael Jungbluth und Michael Opozcinsky. Um was geht es?

Der Rechtsanwalt pickt sich immer einzelne Beispiele heraus, um zu beweisen, dass wir Journalisten in solchen Sendungen tatsächlich unberechtigt Rechtsberatung betreiben. Bei mir erregte die Geschichte einer Leipzigerin sein Gemüt: Die 59jährige, inzwischen arbeitslose Frau hätte rund 28 000 Mark Altersübergangsgeld und Pflegebeiträge an das Arbeitsamt zurückzahlen sollen, weil sie ihren Umzug ins Nachbarhaus nicht angegeben hatte. In meiner Sendung schilderten wir den Fall, diskutierten wie immer mit der betroffenen Frau, einem Vertreter ihres für sie zuständigen Arbeitsamtes und einem unabhängigen Fachmann. In der Sendung gestand der Vertreter des Arbeitsamtes zu, dass die Rückzahlung an das Amt ungerecht sei. Die Frau erhielt darauf rund 15 000 Mark vom Arbeitsamt zurück. Ein großer Erfolg für uns, für das Team von »Mit mir nicht!«.

Für den Oberhausener Anwalt der Stein erneuten Anstoßes. Das, was ich da betreiben würde, sei Rechtsberatung – und die sei verboten. Weil ich mich – im Gegensatz zu meinen Kollegen bei RTL, beim MDR und dem Bayerischem Rundfunk – geweigert hatte, eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung zu unterschreiben, marschiert der streitbare Rechtsanwalt jetzt vor das Duisburger Gericht. Aber, oh Wunder: Der Richter weist den Antrag des Anwaltes zurück. Unser ZDF-Anwalt ruft mich gleich nach dem Urteil an. Mit hochroten Wangen sause ich in unsere tägliche Schaltkonferenz im ZDF. Strahlend und atemlos berichte ich von dem Sieg, aus meiner Sicht die Bestätigung für einen kritischen und engagierten Journalismus. Ich weiß allerdings auch: Der Anwalt wird nicht aufgeben. Der geht jetzt in die zweite Instanz, zum Oberlandesgericht Düsseldorf.

Irgendwo steht in diesen Tagen auf meiner »to-do«-Liste: Termin bei einem Augenarzt – aber ich habe immer vermeintlich Wichtigeres vor. Denn da im Leben aus meiner Sicht die Offensive immer die beste Verteidigung ist, planen wir in der Redaktion eine ganze Sendung zu diesem unsäglichen Rechtsberatungsgesetz. Drehen mit Menschen, die ganz besonders darunter zu leiden hatten: einem Jura-Studenten, der seiner Mutter einen Rat in einer Mietangelegenheit gegeben hatte und damit gegen das Gesetz verstoßen hat. Oder ein pensionierter Richter, der einem Strafgefangenen mit Rat und Tat und unentgeltlich zur Seite stand. Wir zeigen Beispiele aus Großbritannien, wo Rechtsanwälte gar die Sendung »Watchdog« unterstützen – und nicht bekämpfen. Im Studio diskutieren wir dann mit Geert Müller-Gerbes von RTL, Herta Däubler-Gmelin, der damaligen Justizministerin, und mit hoch qualifizierten Fachjuristen. Damals ein Erfolg. Aber das Gesetz gibt es leider noch bis zum heutigen Tage. Wenn auch immer mehr Gerichte für die Medien und gegen klagende Anwälte entscheiden.

Am Tag darauf spiegeln die Schlagzeilen aller großen deutschen Zeitungen das Interesse der Menschen wider: »Gericht stoppt Angriff auf die Pressefreiheit«; »Keine Angst vor Anwälten«; »Weiterhin Hilfe-Sendungen im Fernsehen«.

Wir freuen uns riesig in der Redaktion. Und noch mehr, als das Gericht auch in der zweiten Instanz für das Fernsehen, für die Journalisten und ihre Berichterstattung entscheidet. Und gegen den Anwalt. Es kann ja auch nicht sein, dass sich Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose – einfach alle sozial Schwachen – nur mithilfe von teuren Anwälten gegen die Willkür starker Goliaths wehren können. Weil sich bekanntermaßen Behörden, Firmen und große Organisationen einfach zu gern hinter hochpotenten Juristen verstecken. Möglichst so, dass kein Journalist den Finger drauflegt und das Unrecht öffentlich macht.

Und noch etwas wird mir klar im Zuge dieser Auseinandersetzung mit für mich als Journalistin vermeintlich klaren Fragen: Viel zu viele Menschen brauchen in unserem Land Rat – zusätzlich zu juristischer Hilfe. Weil mit dem Wohlstand Kälte, Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit unsere Gesellschaft dominieren. Die Ohnmächtigen und Wehrlosen sind die schweigenden Opfer.

Deshalb gibt es ja auch unsere Sendung. Sicher – wir können pro Sendung zweimal im Monat nicht mehr als acht bis zehn Fälle beleuchten. Aber diese Einzelfälle stehen immer für Tausende andere im ganzen Land. So sehen uns durchschnittlich auch immer – selbst zur späten Stunde um 22.15 Uhr nach dem »heute journal« – zwischen zwei und drei Millionen Menschen zu. Das entspricht der im ZDF geforderten Mindestquote von zehn Prozent. Meist liegen wir sogar darüber, bei 13 Prozent. Dass man die Sendung einstellen könnte – auf diese Idee kommt keiner in der Redaktion. Aber wir liegen leider ziemlich daneben. Wie die Zukunft zeigen wird.

2. Kapitel: BRENDERS LISTE UND DIE FOLGEN

Mein Augenzwinkern vergesse ich in diesen ersten Wochen des Jahres 2000 fast ganz. Verdränge völlig, dass ich im Studio während der Sendungen oft alle Mühe habe, mein Gegenüber ohne Blinzeln anzuschauen.

Sicher, wenn ich mir am Donnerstag im Büro die Sendung vom Abend zuvor ansehe, fällt es mir schon auf. Aber es sagt keiner was in der Redaktion. Und ich konzentriere mich auf die einzelnen Fälle. Unsere Fälle.

Mit meinem Regisseur Jürgen habe ich mich dann doch mal zusammengesetzt. Ihn gefragt, ob vielleicht die Studiolampen zu stark sein könnten, ob er da nicht mit unserem Ersten Kameramann reden könnte. Jürgen verspricht es.

Vor der nächsten Sendung probieren wir es dann aus: weniger Licht auf meine Augen, mehr auf die Haare. Man nennt das im Fachjargon: eine Spitze. Aber auch die »Spitze auf meinem Haar« hilft nichts. Wieder sehe ich am Donnerstag, dass ich furchtbar geblinzelt habe. Dabei stelle ich fest, dass ich vor allem in den Gesprächssituationen heftiger mit den Augenlidern blinke und zwinkere. Immer beim Zuhören, wenn mir unsere Gäste ihre Geschichte erzählen. Wenn ich dagegen selbst spreche, gar von einem Thema zum nächsten überleite, die so genannten Anmoderationen in die Kamera spreche, blinken meine Augenlider überhaupt nicht. Warum nur beim Zuhören? Ich verstehe das nicht. Denn ich weiß, dass ich mich wirklich für die Menschen interessiere, die da vor mir sitzen und ihre Geschichten erzählen. Ich bin mir auch sicher, dass ich keineswegs die Augen vor etwas verschließen will, schon gar nicht vor ihrer Geschichte, ihrem Schicksal. Warum nur blinzle ich dann so? Ich bin ratlos. Und schiebe es mal wieder auf das Licht, die Lampen im Studio. Denn Nervosität kann es aus meiner Sicht nicht sein. Seit 1980 arbeite ich vor der Kamera. Angespannt bin ich immer vor einer Sendung, das ist normal. Aber nicht wirklich nervös. Da hilft mir meine jahrelange Erfahrung als Skirennfahrerin. Da heißt es schließlich auch, immer auf die Sekunde voll präsent zu sein, denn ein Rennen dauert höchstens zwei Minuten – eine einzige Moderation in einer Livesendung ist selten länger als eine Minute.

Auch im privaten Bereich ist mein Leben in dieser Zeit turbulenter als gewohnt. Dass es in den kommenden zwei Jahren noch heftiger werden könnte, daran dachte ich nicht im Entferntesten. So müssen wir uns erst mal im neuen Haus, in der neuen Umgebung eingewöhnen. Wohin mit den Sachen für die Reinigung, den kaputten Schuhen, wo gibt es frisches Obst und Gemüse, möglichst biologisch angebaut. Mein Mann ist mir in dieser Zeit – wie immer – eine große Hilfe. Aber es fällt mir schwer, die Verantwortung im Haushalt abzugeben. So koche ich am Abend, aber die Zutaten dafür kauft jetzt mein Mann ein. (Und dann bloß nicht meckern, wenn die Tomaten zu hart sind, der Schinken zu dick geschnitten ist …)

Wir kämpfen also beide mit der Umstellung. Denn auch mein Mann hat ja das vertraute Bayern, die Freunde und das Altherrentennis, die kleinen Aufgaben des Alltags und die räumliche Nähe zu seinen Kindern für mich und meinen Beruf aufgegeben.

Auch beruflich gibt es neue Aufregungen: Unser Chefredakteur Klaus Bresser geht in Rente. Der Neue, Nikolaus Brender, hat sich schon in der Redaktion angemeldet. Vor seinem offiziellen Amtsantritt. Das ist ungewöhnlich. Auch, dass ein Chefredakteur in die Räume einer Redaktion kommt, an unseren Konferenztisch, und nicht die Mitarbeiter zu sich ins Büro bittet.

So drängeln wir uns alle um meinen runden weißen Konferenztisch, ein Relikt aus »ML – Mona Lisa«-Zeiten.

Ich habe bis heute das vierstündige Gespräch in überaus angenehmer Erinnerung. Mit keinem Wort wird über eine Einstellung unserer Sendung gesprochen. Von Verbesserungen, ja. Auch von seinen Vorstellungen für neue Magazine im ZDF: erstellt nach den Grundregeln besten Journalismus und investigativer Recherche.

Nach dem langen Gespräch bei uns in der Redaktion ruft mich noch am Abend ein Kollege von der Zeitschrift Die Woche an. Mit einer verblüffenden, ja irritierenden Frage: »Was machen Sie denn, wenn Ihre Sendung eingestellt wird?«

Nach einem kurzen, tiefen Luftholen antworte ich solidarisch-loyal: »Gute Journalisten werden immer gebraucht, und im Übrigen kann ich mir nicht vorstellen, dass man so ein klassisches öffentlich-rechtliches Format wie das Ombudsmagazin aufgibt.«

Am übernächsten Tag, dem Tag des Amtsantritts des neuen Chefredakteurs, ist unter der Überschrift »Brenders Liste« nachzulesen, was sich in unserem Sender so alles ändert. Aber auch, was alles eingestellt wird. Unter anderem – das Ombudsmagazin.

3. Kapitel: DIE ZUKUNFT IN DEN KARTEN?

Es ist heiß in Mainz. Wir können nur mit im ganzen Haus geöffneten Fenstern schlafen. Könnten. Aber ich kann nicht.

Mir geht dauernd im Kopf herum, warum unsere Sendung tatsächlich eingestellt wird. Was geschehen wird mit meinen Kolleginnen und Kollegen, bis auf eine allesamt nicht festangestellt, sondern so genannte »freelancer«. Und auch: Was werde ich machen? Sicher: Als Festangestellte, dazu noch Abteilungsleiterin, muss ich keine Existenzängste haben. Aber rundum breitet sich eben doch ein großes Unsicherheitsgefühl aus. Und bei mir auch Enttäuschung, weil wir doch gerade erst mit Sack und Pack und voller Schwung an Rhein und Main gezogen waren.

Einer meiner netten Kollegen aus der »Mit mir nicht!«-Redaktion ist schon im letzten Jahr in ein Landesstudio gewechselt. Ich ließ ihn ungern ziehen, aber er bekam dort eine Festanstellung. Das war nicht zu toppen. Und jetzt, in diesem heißen Sommer, erinnere ich mich an seine letzten Worte: »Dass ich bei Ihnen landen würde, und dann weiter Karriere machen, das hat mir schon vorher eine Wahrsagerin prophezeit.« Er gab mir damals auch ihren Namen. Ich war ganz schön erstaunt: ein junger Mann, intelligent, tough, der zur Wahrsagerin geht?

Und dann hat es auch noch gestimmt …

Nach einer weiteren heißen Mainzer Sommernacht steht mein Entschluss fest: Ich werde mal zu dieser Dame gehen. Warum nicht mal einem fremden Menschen zuhören, dadurch die eigenen Gedanken ordnen, Herr über die Ängste werden? Zugegeben: Dafür gibt es keine wissenschaftlichen Beweise, das erscheint vielen wie »Spökenkiekerei«. Auch in Tibet unter den Buddhisten soll es Menschen geben, die die Zeit anders erleben. Nicht nur in einer Richtung, wie wir: also hier die Vergangenheit, dort die Zukunft. Für sie existiert eine vierte Dimension. Sie nennen sie ebenfalls Zeit.

An einem sonnigen Sonntag um 11 Uhr soll ich kommen, in einen Vorort von Wiesbaden. Margret heißt die Dame mit Vornamen. Ihr Haus ist ein typisches hessisches Dorfhaus, mit hohem Tor. Fest verschlossen. Keiner soll drüberschauen können. Dahinter ein sauber gepflasterter Hof. Eine blitzblank geputzte Treppe führt in den obersten Stock. Hierher führt sie mich, an einen kleinen Tisch mit einer bunt gemusterten Decke. Margret lacht mich fröhlich an, immer einen Witz auf den Lippen. Sie zündet eine Kerze an, schenkt mir einen Früchtetee ein und legt los mit den Karten. Ich muss mischen, abheben, dreimal mit der linken Hand in meine Richtung. Rituale sind anscheinend wichtig. Mit der rechten Hand schreibe ich mit. Weil ich weiß, dass ich mir nie alles merken kann, was ich da so hören werde. Eines erstaunt mich gleich zu Beginn: Sie stellt mir keine Fragen, will nichts von mir wissen.

Erst erzählt sie von meinen Söhnen – ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich zwei habe. Denn meine beiden Söhne habe ich während meines ganzen beruflichen Lebens vor den Medien beschützt. Ich wollte einfach nicht, dass Florian, der Erstgeborene, und Poldi, der zweite, auf irgendeinem Foto in einer Gazette erscheinen. Habe immer mit Erfolg so genannte »Home-Storys« verhindert. Auch damit sich deren Leben so unkompliziert wie möglich gestaltet. War es für die beiden schon schwierig genug, eine Mami zu Hause zu haben, die Woche für Woche auf dem Bildschirm zu sehen war. Heute ist das kein Thema mehr; sie sind 35 und 31 Jahre alt, haben ihre Berufe und ihr eigenes Leben. Darüber bin ich froh.

Wie kann also Margret von ihnen wissen? Und noch dazu so viel wissen? Meine Verblüffung wächst mit jedem ihrer Worte. Sie erzählt von einer alten Dame. Da kommt mir eine ehemalige Freundin meiner Eltern in den Sinn, die mir vor kurzem einen langen, lieben Brief geschrieben hat. Die sei mir wohl gesonnen, liest Margret jetzt aus den Karten. Scheint so, sage ich mir insgeheim. Alles, was sie mir erzählt, passt in mein derzeitiges Leben. Kann sie Gedanken lesen? Wie macht sie das?

Dann hält sie inne und sieht mich mit einem verschmitzten Grinsen lange an.

»Wissen Sie was, Sie werden bald umziehen, in eine Stadt am Wasser. Auf eine Insel.«

Ich schüttele fassungslos den Kopf: »Wie? Ich bin doch gerade erst umgezogen. Vielleicht heißt das Wasser hier in den Karten Rhein oder Main?«

»Nein, nein«, da ist sie wohl überzeugt: »Das sieht mir mehr nach Meer aus.«

In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Wir bauen uns gerade ein kleines Ferienhäuschen auf einer Insel im Süden – vielleicht meint sie das? Nur – was um Himmels willen soll ich dort beruflich machen? Die Lokalzeitung? Das erscheint mir außerhalb meiner Vorstellungswelt. Aber ich kann gar nicht lange nachdenken.

Margret ist längst beim nächsten Thema, platziert die Karten, verdeckt, deckt wieder auf, es geht alles rasend schnell. So ganz zwischendurch erwähnt sie, dass meine Hormone nicht in Ordnung seien. Ich sollte da mal einen Test machen lassen.

Nach fast zwei Stunden, unzähligem Mischen, Legen, Einsammeln, neuem Mischen und übervoll an Informationen, packe ich mein blaues Buch voller Notizen wieder zusammen. Margret bringt mich noch vor ihr Tor, lachend und guter Dinge. Meint zum Abschluss nur noch: »Machen Sie sich keine Sorgen, es wird doch alles …«

Zu Hause lese ich meine gesammelten Notizen meinem Mann vor. Der ist – als Pilot und rational denkender Mensch – ziemlich sprachlos. »Woher weiß die das, was hast du ihr vorher gesagt, hat sie was in der Zeitung darüber gelesen?« … und so weiter. Nein, ich beruhige ihn, in der Zeitung konnte sie nichts davon lesen. Und als ich ihm dann noch ein Ereignis aus seiner eigenen Familie berichte, ist er endgültig baff. Noch nicht endgültig überzeugt, aber immerhin nicht mehr völlig ablehnend in Sachen Zukunftsvorhersage.

Das mit den Hormonen stellt sich schnell als wahr heraus. Der Östrogenspiegel nähert sich fast null. Ungläubig befragt mich der Arzt, was mich bewogen habe, zu ihm zu kommen. Ich gestehe ihm die Wahrheit – und ernte auch hier ungläubiges Kopfschütteln. Auch ich finde es ziemlich unheimlich. Aber Punkt eins hat sich jetzt schon mal bewahrheitet.

Das mit der Stadt auf einer Insel, am Wasser habe ich in den nächsten Tagen völlig vergessen. Zu viel passiert in all diesen Tagen – im Job wie auch zu Hause. Mit keinem Gedanken habe ich geglaubt, dass fast alles Wirklichkeit werden würde, was mir die fröhliche Margret an diesem heißen Augusttag in Wiesbaden aus den Karten so alles herausgelesen hat. Dass es meinen Mann und mich tatsächlich in die zitierte »Stadt am Wasser auf einer Insel« verschlagen würde. Und zwar schon bald.

4. Kapitel: VON EINEM AUGENARZT ZUM ANDEREN

Im Beruf überstürzten sich die Ereignisse. Drei Redaktionen werden aufgelöst, insgesamt 145 Kolleginnen und Kollegen sollen neue Aufgaben übernehmen. Wo, wissen sie nicht.

Auch ich nicht.

Meine Augen blinzeln wie wild. Eigentlich sitze ich doch ganz entspannt – denke ich – an meinem Schreibtisch auf dem Lerchenberg. Was ist da los? Ob es tatsächlich trockene Augen sind?

Gestern hat mich ein Studiogast nach unserer Livesendung darauf angesprochen: »Ich kenne das, das Blinzeln im Licht der Scheinwerfer. Das sind nur trockene Augen.« Er empfahl mir »flüssige Tränen«. Jetzt fällt es also schon unseren Gästen auf; mir wird ganz heiß vor Scham. So kann ich doch nicht mehr meinen Job machen, vor die Kamera treten … Noch gestern Nacht habe ich eine offene Apotheke gesucht, um die flüssigen Tränen zu erstehen. Aber sie haben nichts geholfen. Ich muss so schnell wie möglich zum Augenarzt. Schon heute Morgen, auf dem kurzen Weg hinauf zum Sender, hat es wieder angefangen. Obwohl ich so sehr versucht habe, mich ganz fest zu konzentrieren, starr geradeaus zublicken, das Blinzeln meiner Lider mit Macht zu stoppen. Aber – sinnlos.

Meine Gedanken schweifen ab zu den Themen, die mich im Büro erwarten, zu den Menschen, die sich in der Redaktion auf mich verlassen, auch auf meine Fähigkeit zu kämpfen. Jetzt für sie, für uns alle. Dennoch rufe ich am Nachmittag einen Kollegen an, bitte um die Telefonnummer eines ihm vertrauten Augenarztes. Noch brauche ich solche Hilfe, denn meine Netzwerke funktionieren vor allem in München – nicht im Rhein-Main-Gebiet.

Er empfiehlt mir eine Augenärztin, der er voll und ganz vertraut. Ich bekomme auch gleich einen Termin. Nur eine Woche später. Bis dahin vergesse ich Blinzeln und Blinken Es gibt anderes zu tun.

Zum Beispiel die Beete im Garten säubern, neu pflanzen. Die Büsche zurückschneiden. Und vielleicht mal auf der idyllischen Terrasse gemütlich Tee trinken.

Donnerstagnachmittag, eine Woche später: der erste Termin bei der empfohlenen Augenärztin in Wiesbaden. Es gelingt mir, pünktlich zu sein.

Als Privatpatientin darf ich in ein gesondertes Sprechzimmer. Es sollte mich freuen. Aber mir ist bewusst, dass wir auf dem besten Wege zur Zweiklassenmedizin sind. Hier die Kassenpatienten, die gar nicht so viel weniger zahlen im Monat wie ich als Privatpatientin. Dort die Privaten. Die wiederum für das Einkommen der Ärzte sorgen (angeblich sind Kassenpatienten ja nur ein Zuschussunternehmen). Ich glaub's nicht. Das ganze System an sich ist marode, undurchsichtig und wird von viel zu vielen Ärzten schamlos ausgenutzt.

Die Frau Doktor ist groß, eher korpulent, hat eine schicke Frisur und ist sehr von sich überzeugt. Ich schildere mein häufiges Blinzeln und Zwinkern, berichte von der Odyssee beim Autofahren und dem vermeintlichen Abgasproblem. Sie testet erst mal meine Sehstärke – oder eher -schwäche. 2,5 Dioptrien beim Lesen. Das wusste ich schon vorher. Sonst sei alles in Ordnung – bis auf tatsächlich ziemlich trockene Augenoberflächen. Aber das sei bei Frauen in diesem Alter normal. Tropfen für tagsüber, eine Creme abends in die Augen, eine morgens, dann löse sich das Problem von allein. Ich solle nur nicht vergessen, die Cremes auch regelmäßig zu nehmen. Sprach's– und schwupps! bin ich draußen aus der Praxis.

Im gleichen Haus gibt es eine Apotheke, und bewaffnet mit meinen Augentropfen, den Morgen- und Abend-Cremes fahre ich ziemlich beruhigt nach Hause. Und denke schon da: Das Blinzeln legt sich sicher, wenn sich auch im Beruf die Wogen geglättet haben.

Das mit den Cremes am Morgen und am Abend ist ziemlich mühsam. Noch dazu, wo ich mit der Abend-Creme auf den Augen nicht lesen kann, weil sie über den ganzen Augapfel schmiert. Und im Bett lesen ist mein Schönstes. Also schludere ich, vergesse zuweilen auch die Tropfen für tagsüber. Und bemerke, dass es schlimmer wird mit meinen Augen. Sogar auf dem kurzen Weg im Auto hinauf zum Lerchenberg. In zwei Tagen ist wieder Sendung. Mir wird ganz anders. Ziemlich verzweifelt rufe ich in der Mainzer Augenklinik an. Zu der anderen Ärztin wollte ich nicht mehr. Auch wegen meines schlechten Gewissens – denn so ganz präzise habe ich mich wirklich nicht an ihre Medikationsanweisungen gehalten.

In der Uni-Klinik bekomme ich tatsächlich am nächsten Morgen um 7 Uhr früh einen Termin. Dankbar sitze ich auf einer Plastikbank in einem kahlen Gang. Eine junge Frau bittet mich zu sich herein; wieder erzähle ich meine Geschichte vom dem Blinken und Blinzeln, auch von der Diagnose der Kollegin in Wiesbaden, nenne die Medikamente und schildere meine Ratlosigkeit. Die Universitätsärztin will als Erstes meine Tränenkanäle testen. Ehe ich es richtig begreife, hat sie mir schon zwei kleine Plastikkanülen in meine Unterlider eingesetzt. Damit soll der Abfluss meiner Tränenflüssigkeit gestoppt werden; die Augen würden so feuchter bleiben, ich müsste nicht mehr so stark blinzeln und blinken. Leuchtet mir ein. Aber wenn das des Rätsels Lösung ist, warum dann nicht schon eher?

Versorgt mit einem weiteren Rezept für ein neues Liquid zur Befeuchtung meiner ach so trockenen Augäpfel ziehe ich ab. Zuerst brav zur Apotheke, dann ins Büro. Die Vorbereitung der Sendung nimmt mich sofort voll in Anspruch: Es geht diesmal um Anlagebetrug. Durch ein dubioses Steuersparmodell ist ein Familienvater in den Ruin getrieben worden. In einer weiteren Geschichte rücken wir einem Vater auf den Pelz, der sich vor Unterhaltszahlungen drückt, obwohl er genug Geld hat. Später wird das Jugendamt erfolgreich gegen ihn prozessieren. Schließlich erheben verzweifelte Eltern Anklage gegen die Kollegen ihrer Tochter. Sie war Polizistin und hat sich das Leben genommen. Vermutlich wegen Mobbings am Arbeitsplatz. Die Redaktionsarbeit läuft präzise und reibungslos wie immer. Meine Augen sind vergessen, jetzt geht es nur noch um die Menschen. Und um die Frage, ob wir Missstände aufdecken und in einigen Fällen vielleicht sogar helfen können.

Ich habe nach der Sendung ein gutes Gefühl, auch die Kolleginnen und Kollegen schauen nicht unglücklich drein. Aber am nächsten Tag sehe ich mir die Sendung auf Video an und bemerke mehr denn je, wie sehr ich meine Augen zukneife, wenn ich zuhöre. Hat also alles nichts gebracht? Wer kann mir da helfen? Wenn das so weitergeht, kann ich gar nicht mehr vor die Kamera. Was dann?

5. Kapitel: EIN TURBULENTER HERBST

Es wird Herbst im Rhein-Main-Gebiet. In den Weinbergen ernten die Bauern satte Reben. Ich gehe mit meinem Mann oft noch am Abend spazieren. In beiden Jackentaschen immer die kleinen Plastikkanülen mit den Tropfen. Denn besonders draußen muss ich viel blinzeln. Und das komme ja – so die einheitliche Meinung bisher aller Augenärzte, die ich dazu konsultiert habe – von meinen strohtrockenen Augen. Sehr viel mehr Gedanken mag ich mir zurzeit auch gar nicht machen. Ich tropfe mir das Gel links und rechts in den Tränensack – und hoffe, dass dieses blöde Leiden endlich verschwindet.

Viel mehr bewegt mich, was mit meinen Kolleginnen, meinen Kollegen und auch mit mir wird. Denn jetzt ist endgültig klar: »Mit mir nicht!« wird eingestellt. Ebenso das politische Magazin »Kennzeichen D«, mit dem wir uns den wöchentlichen Sendeplatz mittwochs um 22.15 Uhr teilen. Dazu naht das Ende von »Frontal« mit den Herren Hauser und Kienzle. Dafür sollen zwei ganz neue Magazine zur »Prime-time«, also um 21 Uhr, ins Programm kommen.

Das sind keine guten Nachrichten. Wir in der Redaktion wollen uns aber den Modernisierungsbestrebungen nicht entgegenstellen, keinesfalls den Kopf in den Sand stecken. So diskutieren wir, machen Vorschläge, verwerfen sie wieder, entwickeln neue Konzepte, neue Sendungen. Einige der Kolleginnen und Kollegen schauen sich schon nach anderen Stellen um. Ich helfe, wo ich kann. Suche neue Jobs und Redaktionen für sie. Denn meine Mann-/Frauschaft kam schließlich aus ganz Deutschland von den erfolgreichen Sendungen »Monitor«, »Report«, »Frontal«, »Focus TV«, »Mittagsmagazin«, »Sat 1« und »WISO« zusammen. Die wollen im Magazingeschäft bleiben. Verständlich.

Völlig überraschend für mich wird mir eines Tages in großer Sitzungsrunde eine Nachmittags-Talksendung angeboten – mit dem Hinweis, »ich müsse nur noch zustimmen«. Das trifft mich wie ein Hammerschlag. Nachmittagstalk? Ich? Nichts gegen Bärbel Schäfer und die anderen Damen und Herren bei den privaten Sendern – aber ohne zu selbstbewusst zu sein, ist so ein Format nicht unbedingt mein größter Traum.

Aber die Zeiten sind hart. Ich packe meine Bergschuhe und meinen Laptop ein und fahre für eine Woche hinunter in die Tiroler Berge. Da will ich mir alles durch den Kopf gehen lassen. Mir ein Konzept ausdenken, mit dem ich mich identifizieren kann. Aber erst mal: viel lesen – Tageszeitungen, Illustrierte, ich habe mir einen dicken Packen älterer Ausgaben mitgebracht. So ganz allmählich kristallisiert sich heraus, was mir am Samstagnachmittag – um den geht es – vorschwebt: interessante Gäste, mit einem aktuellen Bezug zur Woche. Nicht politisch, eher nah an den Problemen der Menschen. Aber auch aus Musik, Theater, Literatur. Vorausgesetzt, die Gäste waren in den vergangenen Tagen in den Schlagzeilen.

Am letzten Nachmittag gehe ich mit meiner Freundin Heidi, die mich in diesen Tagen beherbergt, auf den Berg. Es ist ein strahlender Herbst, die Sonne strengt sich noch einmal so richtig an. Es könnte ganz wunderbar sein, wenn – ja … wenn ich nicht so viel blinzeln müsste. Als wir beide vom Horn ins Tal wandern, muss ich fast an jeder Kurve stehen bleiben. Ich zwinge krampfhaft die Augen auf und träufle mir voller Hoffnung wieder ein paar Tropfen in die Tränensäcke, dann gehen wir weiter, bis ich wieder anhalten muss. Ich schiebe es auf das grelle Sonnenlicht. Renne unten im Dorf in meiner Verzweiflung in die nächste Apotheke. Erzähle der netten Apothekerin im Tiroler Dirndl von meinen zu trockenen Augen, von der starken Sonne, von meinen Problemen. Sie nickt verständnisvoll den Kopf und beruhigt mich: »Ja mei, des kenn i scho, des ham vui Leit, vor allem Weiberleit.«

Sie habe dafür ganz spezielle Augentropfen, die helfen ganz gewiss. Ich zahle 64 Schillinge und gehe mal wieder voll neuen Mutes zu Heidi, die mich bereits im Gasthaus am Marktplatz erwartet. Kopf nach hinten, Tropfen in die Augen und gleich das gute Gefühl: Die helfen – jetzt ist es besser. Jetzt wird alles wieder gut.

Aber nur kurz. Schon am nächsten Tag, auf der sechsstündigen Fahrt zurück nach Mainz, muss ich immer wieder anhalten. Allmählich stört mich das Ganze doch gewaltig. Sicher – wenn ich so mittendrin bin in meinem Job, wird mir das Augenzwinkern nicht so sehr bewusst. Es ist auch in dieser Zeit recht hektisch im Sender. Das Konzept für meine neue Nachmittagssendung gefällt. Jetzt geht es rund. Denn wir sollen Anfang Februar starten. Das ist in genau zwei Monaten. Das neue Team besteht zum großen Teil aus meinem alten Team. Viele, die sich als Magazin-Redakteure nicht in einer Talkshow sehen, sind schon woanders untergekommen. Ich bin ziemlich erleichtert. Keiner wird nach der Einstellung von »Mit mir nicht!« am 1. Januar ohne Job sein.

Aber jetzt geht es ums Geld. Genauer um den Etat. Dann um die »location«, um die Örtlichkeit, wo wir die Sendung aufzeichnen und ausstrahlen. Ich schlage die Lounge eines weltstädtischen Hotels am Rhein vor, dann müssen wir nicht so viel Geld für Dekorationen, Auf- und Abbau und Lagerung ausgeben. Mit Jürgen, seit vielen Jahren in fast allen meinen Sendungen der Regisseur, und zwanzig Mann aus der Technik machen wir Ortsbesichtigung. Es sieht gut aus, nicken sie alle. Sowohl vom Licht als auch von der Beschallung her. Und der Hoteldirektor hat auch nichts dagegen. Ganz im Gegenteil.

Im Sender können wir unsere Redaktionsräume behalten, die PCs und die Möbel auch. Es fügt sich alles, und inzwischen beginne ich mich auf die Sendung zu freuen. Da bittet mich der Chefredakteur nochmal zu sich, gleich am nächsten Morgen, wenn es geht um 8 Uhr. Ich denke mir nichts Besonderes. Im Vorfeld einer neuen Sendung gibt es immer viel zu besprechen. Nur mein lieber Mann ruft mir noch zu, als ich in der Früh davonsause: »Lass dir aber nicht schon wieder was Neues aufs Auge drücken …« Wie Recht er haben sollte mit seinem flapsigen Wunsch.

Ich werfe noch eine neue Packung Augentropfen in meine große Handtasche und sause los. Im Vorzimmer treffe ich den neu aus Berlin hinzugezogenen »Chef vom Dienst«. Er berichtet von seiner Haussuche, ist tief unglücklich über den miserablen Immobilienmarkt im Rhein-Main-Gebiet. Ich stimme ihm zu und berichte von unserem Glück vor einem Jahr und dem schönen, neu renovierten Häuschen in Mainz. Nicht ahnend, wie sich alles fügen würde.

Dann empfängt mich ein gut gelaunter Chefredakteur in seinem großen Büro, bittet mich Platz zu nehmen und sagt im gleichen Atemzug: »Also, Sie haben da vielleicht schon Recht gehabt, eine Nachmittags-Talksendung ist wirklich nicht das Richtige für Sie. Ich biete Ihnen die Studioleitung London an, haben Sie Lust?«

Ich hole kurz tief Luft, aber dann zögere ich keine Sekunde mehr – im Hinterkopf die begeisterten Beschreibungen meines Mannes, der einmal in London gelebt hat. »Ja!«, sage ich sofort. Aber im gleichen Atemzug will ich wissen, was dann mit meinen Kolleginnen und Kollegen passiert, die sich jetzt alle mit mir auf die neue Sendung eingestellt haben. »Alle werden gebraucht, alle kommen unter«, versichert mir der Chefredakteur. Als mir dann noch einfällt zu fragen, wann ich den neuen Job antreten sollte, wird mir bei seiner Antwort ganz anders: »In sechs Wochen, zum ersten Januar, das geht doch. Oder?«

Ich glaube, ich habe in der ganzen Zeit im Büro des Chefredakteurs nicht einmal mit den Augen gezwinkert. Mit hochroten Wangen verlasse ich sein Zimmer. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Als Erstes muss ich meinen Mann anrufen. »Weiß du, wohin wir bald gehen?«, frage ich. Er findet diese Frage nicht sonderlich ungewöhnlich in diesen turbulenten Zeiten auf dem Lerchenberg. »Nach Berlin?« – »Nein.« – »Zurück nach München?« – »Nein.« – »Dann weiß ich's nicht.« – »Du kannst es aber erraten«, insistiere ich, »weil du da immer so gerne warst … wir gehen nach London!«

Mein Mann beweist mal wieder seine Flexibilität und Loyalität. Er freut sich und beginnt sofort mit den ersten Listen. Seine Zeit in London als Mitglied des britischen Staff College der Luftwaffe hat er in schönster Erinnerung. Damals durfte er als junger Major ein Jahr lang eine Spezialausbildung bei der Britischen Luftwaffe absolvieren Immer wieder hat er mir von dieser Zeit vorgeschwärmt, von den freundlichen britischen Kollegen, vom herrlichen Land, den fröhlichen Festen. Und wie gut man in Großbritannien leben könne. Also, denke ich: Auf geht's.

»Nur schade«, sagt er noch, »dass wir unser gerade erst bezogenes schönes Häuschen schon wieder verlassen müssen.« Ich fühle mit ihm, denn die meiste Renovierungsarbeit hat er vollbracht. Aber insgesamt überwiegt bei uns beiden ab jetzt die Aufbruchstimmung.

Dann fällt mir der vom Haus-Suchen so frustrierte Kollege ein. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht gehe ich in sein Büro. Ganz irritiert schaut er mich zunächst an, als ich ihm sage: »Ich habe ein Haus für Sie – unseres.« Aber dann ist er begeistert.

Noch am gleichen Nachmittag fährt er zu meinem Mann, um das Haus zu besichtigen, drei Tage später kommt seine Frau – und der Deal per Handschlag ist perfekt.

Mein Mann und ich köpfen an diesem Abend eine ganze Flasche Rotwein und diskutieren die neue Situation. Nach meinem anfänglichen Enthusiasmus kommen mir jetzt auch Zweifel. Kann ich das überhaupt? Ein aktuelles Studio zu führen ist etwas anderes, als ein Magazin zu leiten. Meinem Mann fällt an diesem Abend auf, dass meine Augenlider heftig blinzeln. Zum ersten Mal auch zu Hause, wenn wir beide ganz unter uns sind. Manchmal bleiben die Augen sekundenlang ganz zu. Ich schiebe es auf den Rotwein und falle ins Bett.

Zwei Tage später steht die Meldung von meiner Versetzung dann auch schon in den Zeitungen. Und bei meinem Mann und mir verlängern sich die »to-do«-Listen. Vor allem will ich ganz schnell nach London und eine Wohnung suchen. Nicht ahnend, was mich dort erwartet. Der bisherige Studioleiter will mir zuerst seine jetzt frei werdende Wohnung zeigen. Vielleicht fügt sich das ja auch so gut wie mit unserem Mainzer Nachfolger.

6. Kapitel: MAL WIEDER WOHNUNGSSUCHE

Das Londoner Studio ist sehr beeindruckend: ein viktorianisches Londoner Stadthaus direkt am St. James's Park,zwischen Downing Street und Buckingham Palace. Helen, die den so genannten »aktuellen Desk« im Studio leitet, zeigt es mir. Sie ist die Seele des Studios. Bei ihr kommen alle Bilder an, die uns über die Standleitungen von BBC und ITN überspielt werden. Sie sammelt auch die aktuellen Meldungen und verteilt sie an die Korrespondenten. Helen, so erfahre ich später, ist eine ehemalige ITN-Producerin mit unglaublich viel Erfahrung und einer großen Leidenschaft für ihren Beruf und die neuesten Bilder.

Theo Koll, mein Vorgänger, nimmt mich herzlich in Empfang. Helen bringt mir einen wunderbaren englischen Tee mit Milch. Das Büro des Leiters – mein künftiges – erscheint mir riesig. Drei edle grüne Ledersofas und ein immens großer Teak-Schreibtisch sind die Herzstücke. Mein Kollege erzählt mir erst mal alles zum Thema Personal und Ablauf der täglichen Arbeit. Ich schreibe mit in mein hellblaues Buch. Doch ich geniere mich fürchterlich bei diesem ersten Gespräch. Weil ich Theo Koll gar nicht ruhig in die Augen sehen kann,ständig mit den Lidern krampfe und blinzle, mich nur rette, indem ich in mein Notizbuch sehe. Was mag der von mir denken? Ist die nur nervös oder hat die einen Tick?

Ich bin froh, als Helen das Gespräch mit dem Hinweis unterbricht, dass die Maskenbildnerin jetzt da sei, für die Fotos. Die Pressestelle hat sie für eventuelle Anfragen in Auftrag gegeben. Wir setzen uns in einen der Schneideräume. Sie erkennt sofort mein Problem und träufelt mir ihr »Wundermittel« in die Augen. Die besten englischen Tropfen; alle Fernsehmoderatorinnen von BBC und ITN schwören darauf, versichert sie mir. Ich hoffe, dass sie Recht hat – damit ich die Augen auf den Fotos nicht zu sehr zusammenkneife. Im Übrigen ist meine Devise ab jetzt nur noch: Da musst du durch …

Zusammen mit Dan, dem Kameramann, fahren wir dann die einschlägigen Londoner Fotopositionen ab: vor dem Parlament mit Big Ben im Hintergrund. Vor Buckingham Palace am goldenen Gatter und in Whitehall mit den Guards neben mir. Wenn ich mir heute diese Bilder ansehe, spüre ich wie gestern den Druck auf meinen Augen. Auf Fotos soll man doch ganz große Augen machen. Ich aber habe an diesem Tag und auf diesen Fotos superkleine Schlitzaugen, zusammengepresst und umgeben von lauter Falten. Entsetzlich.

Der nächste Tag ist der Wohnungssuche gewidmet. Zuerst sehe ich mir die von Theo Koll an. Sie ist sehr repräsentativ, aber die Fenster der beiden Schlafzimmer gehen zur Straße hinaus. Und erscheinen mir nicht dicht genug zu schließen, denn man kann die viel befahrene Victoria Street, die um die Ecke liegt, hören. Noch habe ich deutsche Vorstellungen von einer Wohnung in London. Zwei Makler zeigen mir an dennächsten beiden Tagen über zwanzig Wohnungen. Und ich muss mich jedes Mal wieder wundern. Zum einen über die wirklich horrenden Preise: 1000 Euro in der Woche für drei Zimmer sind normal. Zum anderen über die Qualität der angebotenen Wohnungen.

Mein Mann und ich hatten uns vor der Suche genau aufgeschrieben, welche Eigenschaften unser Domizil in London haben soll. Zum Beispiel zwei ruhige Schlafzimmer, in denen man im Sommer auch die Fenster öffnen kann. Dann soll sie hell und licht sein, mit einem ordentlichen Essplatz, an dem wir Gäste bewirten können. Ein kleiner Garten oder Balkon zum Draußensitzen würde uns auch sehr gut gefallen. Und das maximal 45 Minuten vom Studio entfernt. Egal ob mit Bus oder Underground.

Aber nichts, was die Makler mir zeigen, entspricht auch nur im Entferntesten unseren Vorstellungen. Als mir die Maklerin nach einer halsbrecherischen Autotour durch Central London dann auch noch eine Souterrainwohnung am Sloane Square anbietet, reicht es mir endgültig. Dass wir im Wohnzimmer sitzend die Schuhe der Londoner Bürger betrachten sollen, finde ich vollkommen abwegig. Ich bedanke mich höflich und fliege ziemlich deprimiert nach Hause. Mein einziger Trost ist, dass meine neuen Kollegen mir versichert haben, dass der Immobilienmarkt im neuen Jahr sicherlich wieder viel besser aussehen würde.

Jetzt habe ich erst mal ab Januar ein möbliertes Zimmer in einem Apartmenthotel in Kensington gebucht. Der Sender wird bis zu sechs Monaten die Kosten dafür übernehmen. So lange haben wir Zeit zum Suchen.

Zurück in Mainz laufen die Vorbereitungen für die letzte »Mit mir nicht!«-Sendung auf Hochtouren. Wir planen eineRückblende auf unsere größten Erfolge. Quasi noch zum Abschluss eine Leistungsbilanz.

Jetzt, vor London, will ich aber auch das mit meinen Augen endgültig in Ordnung bringen. Ich telefoniere mit einem Freund aus Wien, einem der führenden europäischen Endokrinologen. Neue Hoffnung bei mir. Denn er beruhigt mich. In seiner jahrzehntelangen Praxis habe er immer wieder von trockenen Augen gehört. Und darum habe sich ihm die Vermutung aufgedrängt, dass das irgendwie mit den Hormonen zusammenhängen würde. Zusammen mit einem befreundeten Apotheker habe er deswegen hormonhaltige Augentropfen entwickelt.

Ich bin begeistert. Schon beim Zuhören habe ich das Gefühl: Das ist des Rätsels Lösung. Noch am gleichen Tag schickt er mir das Präparat nach Mainz. In einer dicken Verpackung. Denn das Fläschchen ist aus Glas.

Begeistert packe ich die Tropfen aus. Schon nach kurzer Zeit vermeine ich eine Verbesserung zu verspüren. Ich gehe keinen Schritt mehr aus dem Haus ohne diese neuen Tropfen. Und bilde mir wirklich ein, dass das Blinzeln und Blinken fast weg sei.

Nach unserer letzten Sendung im Dezember 2000 gratulieren uns viele: Es sei eine unserer besten gewesen. Und bedauern, dass es uns nicht mehr gibt. In unseren Redaktionsräumen drängen sich die Kolleginnen und Kollegen. Wir haben ein schönes Büffet bestellt, ich steige auf einen Stuhl und bedanke mich bei allen, die in diesen vier Jahren mit uns gekämpft haben. Gegen das Unrecht draußen, für die Menschen, die unter Organisationen, Firmen, Institutionen, Behörden und Ämtern leiden. In 78 Prozent der Fälle konnten wir tatsächlich helfen. Oft erst nach der Sendung. Aber immer durch die Sendung. Als ich mir noch spät am Abend die Aufzeichnung ansehe, fällt mir auf, dass ich überhaupt nicht blinzele. Ist es vorbei? All die Wochen und Monate nur ein Spuk? Helfen die hormonhaltigen Tropfen? Es wäre zu schön, um wahr zu sein.

Jetzt sind erst mal Ferien angesagt. Mein Vorgänger in London hat zwar schon seine Sachen gepackt, aber die netten Kollegen schicken eine Stallwache nach London. So bleibt mir Zeit zum Luftholen und Verschnaufen bis zum 16. Januar. Die Pause wollen wir in unserem kleinen Ferienhäuschen im Süden verbringen. Denn, oh Wunder: Es ist rechtzeitig fertig geworden. Und das in Spanien, bei den Unkenrufen all unserer Freunde. Ich kaufe einen Christbaum – wie alle Spanier im großen Blumentopf, damit man die Umwelt schont und den Baum hinterher wieder auspflanzen kann. Den Christbaumschmuck habe ich schon vorher angeschleppt. Es gibt am Weihnachtsabend Ente, Blaukraut und Knödel. Meine »Männer«, also mein Ehemann und mein jüngster Sohn, legen darauf gesteigerten Wert.

Alles ist wunderbar. Bis mir am ersten Feiertag das kleine braune Fläschchen mit meinen hormonhaltigen Augentropfen auf die weißen Kacheln im Bad fällt. Tausend kleine Splitter – meine einzige Rettung liegt in winzigen Seen auf dem Boden. Ich bin fassungslos. Denn über Weihnachten und Neujahr ist keiner in Wien zu erreichen, um mir noch einmal diese für mich so kostbaren Estradiol-Augentropfen zu schicken.

Ich fühle mich verloren und will dennoch die Hoffnung nicht aufgeben, dass hier im milden mediterranen Klima meine Augenlider ruhiger werden. Immerhin bin ich hier weit weg vom Sender und meinem anstrengenden Alltag. Aber soganz machen die Augen nicht mit. Ich erlebe wieder das Gleiche wie im letzten Jahr. Wenn ich allein bin, mich mit anderen Dingen konzentriert beschäftige, ist alles normal. Wenn ich allerdings mit Freunden zusammen rund um unseren Tisch sitze, wir uns alle am spanischen Rotwein erfreuen, fällt es mir extrem schwer, den anderen ohne zu blinzeln beim Reden in die Augen zu sehen. Die Lider krampfen und blinken, mit dem Rotwein wird es nur noch schlimmer. Nicht besser, wie ich manchmal hoffe. Dann schimpfe ich innerlich mit mir. Denke, es ist nur eine Frage des Loslassens. Konzentrier dich einfach und vertreib das Krampfen! Ist doch nur eine Frage des Willens, des Wollens, oder?

Aber umsonst. Aus Deutschland reisen Freunde an, beide Mediziner. Sie ist Augenärztin, heißt Eva und bringt mir eine Flüssigkeit mit, die gegen die Trockenheit auf den Augäpfeln wirken soll. Noch kenne ich keinen anderen Grund für das so häufige Verkrampfen meiner Augenlider. Ich träufle stündlich – aber ohne sichtbaren Erfolg. Und träume schon von meinen Estradiol-Hormon-Augentropfen. Meinem Wundermittel.

Der andere Freund heißt Michael, ist Internist und bringt mir ein neues Hormonpräparat mit. »Das mit deinen Augen kann schon auch mit den Hormonen zusammenhängen«, meint er und drückt mir die Schachtel in die Hand. Ich bin gerührt, wie sich die Freunde um mein Wohlergehen sorgen. Nur packt mich manchmal auch die Verzweiflung. Weil es in dieser »Ruhepause« überhaupt nicht besser wird. Auch auf unseren langen Spaziergängen über die winterlich-stille und verträumte Insel muss ich immer häufiger stehen bleiben. Trotz Sonnenbrille mit Windschutz, trotz der Tropfen – es wird nicht besser. Was passiert dann erst in London, in meinem neuen Job? Und vor allem: Was habe ich? Wie heißt diese Erkrankung, ist sie vielleicht psychosomatisch? Oder fehlt mir etwas sehr viel Ernsthafteres? Auf der einen Seite genieße ich diese langen Tage mit meinem Mann, auf der anderen plagt mich große Unruhe, weil ich endlich wissen will, was man gegen die blinkenden und blinzelnden Augenlider tun kann. Aber nach vier Wochen heißt es jetzt erst mal: Koffer packen für die Wintermonate in London.

7. Kapitel: NEUER START AN DER THEMSE

Es nieselt dunkelgrau, als ich in London Heathrow an- komme. Auf dem Rücken meinen neuen schwarzen Mandarina-Duck-Rucksack. In dem soll mein Laptop Platz haben, wenn ich mich ab jetzt jeden Morgen auf den Weg ins Büro mache. Per U-Bahn und Bus. Autofahren kann ich hier vergessen, haben mir alle schon vorher gesagt. Jetzt sitze ich erst mal in einem der geräumigen Londoner Cabs, samt großem Koffer und einem Haufen Winterklamotten. Denn ab jetzt bleibe ich ja in dieser Stadt, werde nur noch zum letzten Packen nach Mainz fliegen. Wenn wir denn eine Wohnung gefunden haben …

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822459
DOI
10.3239/9783942822459
Dateigröße
980 KB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (März)
Schlagworte
Autobiografie Maria von Welser Erfahrungsbericht Dystonie journalismus Blepharospasmus botox therapie medizin publizistik augen augenkrankheit zdf
Zurück

Titel: Zurück zur Zuversicht
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
0 Seiten