Lade Inhalt...

Der transparente Mann

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Eine schwungvolle Beziehungskomödie mit frechen Sprüchen und viel Herz

Die eigenwillige Johanna arbeitet erfolgreich als Installateurin auf einer Baustelle. Das verrät sie aber nicht, als sie den schöngeistigen Galeristen Konstantin kennen lernt: Weil sie das Gefühl hat, dass Konstantin mit der Handwerkerzunft nicht allzu viel anzufangen weiß, gibt sie sich als Architekturstudentin aus. Als die Lüge auffliegt, stellt sich heraus, dass Johanna sich die Mühe umsonst gemacht hat, denn Konstantin hat absolut kein Problem mit ihrem Beruf. Sie kann ja auch nicht ahnen, dass Konstantin ebenfalls ein sorgfältig gehütetes Geheimnis mit sich herumträgt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Eins

Ein schnittiger Porsche, so blank poliert, dass er in der Morgensonne glänzte, schoss auf den einzigen Parkplatz weit und breit zu, den Joe längst anvisiert hatte.

»Vergiss es!« Spontan drückte Joe das Gaspedal ihres alten Kastenwagens durch, den auch eine weitere Beule nicht verunstalten konnte. Ein paar Sekunden lang schien es, als wollte der junge Typ im Luxusschlitten dagegenhalten, bevor er wenige Zentimeter vor ihrem Kotflügel abrupt bremste.

Na bitte. Männer lieben eben ihre Autos. Joe schmunzelte, kurbelte das Seitenfenster hinunter und streckte den Kopf hinaus. »Notfall!«, rief sie geschäftig. Sie mochte solch spielerische Manöver. Zum Trost schenkte Joe ihm ihr schönstes Strahlen und deutete entschuldigend auf den Schriftzug ihres Autos: Firma Benk – Meisterbetrieb für Sanitär und Heizung. Darunter stand die gebührenfreie Nummer für den Vierundzwanzig-Stunden-Notservice. Der überraschte Blick, mit dem der Porschefahrer wieder weiterfuhr, amüsierte Joe. Lange blonde Haare widersprachen offensichtlich seinem Bild von einem Klempner. Erleichtert dachte Joe, dass ihr Notfall-Telefon bald nie mehr nachts klingeln würde, weil wieder irgendein Schlaumeier mit heißem Fett oder Kerzenwachs die Abwasserleitung verstopft hatte. Nicht, dass sie sexistische Vorurteile hätte! Es war vielmehr die Erfahrung, die Joe gelehrt hatte, dass die Idee, einen Kerzenständer im heißen Wasserbad zu säubern und das flüssige Wachs mittels Wasserspülung zu entsorgen, meist einem männlichen Gehirn entsprang, das sich auch mal häuslich betätigen wollte.

Nachdem sie eingeparkt hatte, schritt Joe in dem berauschenden Gefühl, endlich ein neues Leben zu beginnen, die breiten Stufen zum imposanten Portal der Universität hoch und reihte sich in die Schlange der Wartenden vor dem Immatrikulationsbüro ein. Dabei fiel ihr Blick auf ein Plakat, das für heute den Gastvortrag eines Galeristen ankündigte. Nicht, dass Joe sich brennend für Kunst interessierte. Vielmehr war es das Lächeln dieses Mannes, das sie magisch anzog. Sie starrte auf sein klassisch schönes Gesicht in Schwarz-Weiß. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie seit Monaten Männer nur im Arbeitsoverall erlebt hatte, seit fast zwei Jahren keinen Freund mehr hatte und ihr Bett nur mit ihrem alten Stoffhasen, einem Relikt aus Kinderzeiten, teilte.

»Der Nächste bitte!« Die weibliche Stimme war kühl und unpersönlich und riss Joe aus ihren Überlegungen.

Sie betrat das Büro und zog leise die Tür hinter sich zu.

Als sie nach wenigen Minuten von den Uni-Mitarbeitern wieder entlassen wurde, schien es ihr, als würde sie den Zugang zu ihrem alten Leben verschließen und den zu einem neuen öffnen. Jetzt war sie nicht mehr die kleine Klempnerin in der Firma ihres Vaters, sondern eine ganz offiziell immatrikulierte Architekturstudentin, wenn auch mit achtundzwanzig Jahren viel älter als die anderen Jungs und Mädchen mit ihren piepsenden Handys und bauchfreien Tops, die mit ihr in der Schlange gewartet hatten. Nur noch ein paar Monate bis zum Semesterbeginn. Dann würde ihr Leben – und da war Joe sich ganz sicher – endlich so sein, wie sie es sich immer erträumt hatte. Die »Joe vom Bau« würde dann nicht mehr existieren, auch wenn sie zugeben musste, dass sie sich an die neue Johanna selbst erst noch würde gewöhnen müssen.

Lächelnd hüpfte sie die Treppen hinunter. Dabei trällerte sie den alten Hit von SimplyRed, den sie an diesem Morgen im Radio gehört hatte: »Ifyoudon'tknowmebynow, you will nevergettoknowme.« Wieder fiel ihr Blick auf das Plakat, und spontan blieb Joe erneut stehen. Sie musste einfach ergründen, ob die Augen des Mannes hell oder dunkel waren.

»Schade. Singen Sie doch weiter.« Die Stimme hinter ihrem Rücken klang äußerst männlich.

Schmunzelnd drehte Joe sich um. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ungläubig starrte sie den Mann vom Plakat an, der auf wundersame Weise direkt in ihr Leben katapultiert worden war. Sie war so verwirrt, dass plötzlich alle coolen Sprüche aus ihrem Gedächtnis ausradiert waren.

»Waren Sie auch bei meinem Vortrag?« Leibhaftig vor ihr stehend, wirkte dieser Mann noch tausendmal anziehender.

Joe lächelte, weil ein Lächeln auch immer eine Antwort war.

Er schien ihre Irritation nicht zu bemerken, sondern setzte den Vortrag fort, den er wohl gerade im großen Hörsaal beendet hatte. Sehr ernsthaft erläuterte er, dass es nicht so wichtig sei, was der Künstler mit seinem Werk ausdrücken wollte, sondern was der Betrachter in ihm sah.

Joe verstand exakt, was er meinte. Denn sie sah so vieles in diesem fremden Mann. Besonders in seinen Augen. Blaugrün waren sie, geheimnisvoll, vielversprechend, sexy und intelligent. Und sie hielten Joe fest in ihrem Bann.

Ihr Schweigen deutete der Galerist als Aufforderung für weitere Ausführungen über Kunst. Glühend erzählte er von seiner neuen Ausstellung, die gerade in Planung war, und dass er ihr, falls sie Interesse hätte, gern eine Einladung zukommen lassen würde. »Verstehen Sie das bitte nicht falsch«, betonte er mit einem jungenhaften Lächeln, »aber ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr mich früher so ein Event interessiert hat.«

»Ja, schon, doch ich war ja gar nicht bei Ihrem Vortrag«, platzte Joe heraus. Mist! Jetzt hatte sie alles vermasselt.

»Oh. Entschuldigen Sie. Ich dachte …« Er gab ihr die Hand und stellte sich mit einem kräftigen Druck als Konstantin Wastian vor.

»Ja, ja, ist mir schon klar.« Nervös zuckte Joe mit den Schultern und deutete dorthin, wo er so imposant an der Wand hing. Wie eine Idiotin kam sie sich vor. Ihr Kopf war leer bis auf die Erkenntnis, dass er der attraktivste Mann war, den sie seit Jahren getroffen hatte. Schätzungsweise Ende dreißig. Ob er wohl verheiratet war?

»Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen trotzdem eine Einladung schicken lassen. Dann müssten Sie mir allerdings Ihre Adresse geben.«

»Solche Tricks kenne ich schon«, entfuhr es Joe. Dafür hätte sie sich am liebsten geohrfeigt. Konnte sie nicht einmal das Richtige sagen?

Konstantin Wastian lachte schallend. Offensichtlich gefiel sie ihm trotzdem, und er gefiel ihr sowieso.

»Nein«, versuchte Joe, den Schaden schnell zu begrenzen. »Natürlich schreibe ich Ihnen meine Adresse auf.« Keinesfalls wollte sie den Eindruck erwecken, an seiner Ausstellung nicht interessiert zu sein. Um von ihrer ungeschickten Äußerung abzulenken, wechselte sie das Thema und beantwortete endlich seine Eingangsfrage. »Ich singe schrecklich«, erklärte sie. »Deshalb lass ich es besser.«

»Ich singe, wenn ich glücklich bin.«

Joe hatte noch nie einen Mann getroffen, der einen so schlichten Satz mit einer so großen Selbstverständlichkeit so liebenswert zu ihr gesagt hatte. Wie weggeblasen war das Gefühl der Distanz. Sie erzählte, dass sie sich gerade für ihr Architekturstudium immatrikuliert hatte, und gab zu, genau wie er immer dann zu singen, wenn sie glücklich war.

»Da haben wir ja die erste Gemeinsamkeit.«

»Und die zweite?«

Konstantin lachte. Joe war froh, dass sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Sie betrachtete seine weich geschwungenen, unwiderstehlichen Lippen. Auch mit vierzig Fieber würde sie sich zu seiner Ausstellung schleppen, ganz gleich, was da an seinen Wänden hing. Diesen Mann musste sie einfach wiedersehen! Eilig kramte sie in ihrer Tasche nach einem Kugelschreiber. Den Gedanken, ihm eine Visitenkarte der Firma in die Hand zu drücken, hatte sie sofort verworfen. Womöglich hätte er sie dann als Klempnerin engagiert, anstatt sie zur Vernissage zu bitten. Kaum war ihre Handtasche ein paar Sekunden offen, registrierte sie seinen irritierten Blick. Dann roch sie es auch. Ein intensiver Geruch strömte aus ihrem Lederbeutel. Am liebsten hätte Joe sich in ein Mauseloch verkrochen.

»Leberkäse?«

Joe nickte schwach. In diesem Augenblick hasste sie alle Leberkäse-Semmeln dieser Welt. Und dann auch nicht mehr, denn er fragte sie nun, ob er sie zum Mittagessen in ein bestimmtes vegetarisches Restaurant einladen dürfe, weil Leberkäse ernährungstechnisch bedenklich sei.

Joe nickte, strahlte und verschwieg ihre Vorliebe für Schweinebraten, Gulasch und Rindsrouladen. Sie war einfach froh, dass er sie fragte und nicht all die anderen Frauen, die ihn bei seinem Vortrag eben ganz bestimmt angehimmelt hatten. Aber dann fiel ihr diese Brotzeit wieder ein. Um Souveränität bemüht, erklärte sie Konstantin: »Ich habe kurz etwas zu erledigen. Aber in ein paar Minuten komme ich nach.«

»Kein Problem. Ich warte.«

»Das müssen Sie nicht.«

»Ich warte gern.«

»Okay. Dann bis gleich«, gab Joe nach und steuerte auf die Herrentoilette zu, an der ein Schild verkündete: Wegen Reparatur geschlossen.

»Halt! Da sind die Handwerker!«

Joe tat so, als hätte sie nichts gehört, und ging trotzdem hinein.

Verwundert blickte Konstantin ihr nach.

Im Blaumann kniete Marc unter einem der Waschbecken, weil er den Wasserschaden reparieren musste, der eigentlich heute Joes Aufgabe gewesen wäre. Marc, als guter Freund und Monteur der Firma Benk, hatte aber sofort verstanden, dass Joe nicht von den Toiletten zum Immatrikulationsbüro hatte sprinten wollen. Wie immer hingen ihm die dunklen Locken wirr in die Stirn, während er schraubte und dabei zu der Musik aus seinen Kopfhörern summte. Zuerst bemerkte er Joes Riemchensandalen, dann Joe selbst. Überrascht richtete er sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und musterte sie von Kopf bis Fuß. »So ein Kleid steht dir verdammt gut!«

»Danke. Für das Kompliment bekommst du sogar zwei Leberkäse- Semmeln.« Strahlend reichte Joe ihm die Brotzeit, die sie beim Metzger noch extra in Alufolie und Plastiktüte hatte verpacken lassen, damit ja kein Fettfleck ihre Immatrikulationsunterlagen verunzieren konnte.

»Wieso? Isst du nichts?«

Joe schüttelte den Kopf.

Und auch Marc blickte ihr an diesem besonderen Tag erstaunt nach, während sie nun eilig die Herrentoilette verließ.

Schon wieder kam eine Frau in diesem vegetarischen Restaurant an ihren Tisch und begrüßte Konstantin überschwänglich. Dabei würdigte sie Joe nur eines flüchtigen Seitenblicks. Aber das machte Joe nichts aus. Glücklich löffelte sie ihren Spargelrisotto, der ihr nach der Kürbiscreme-Suppe serviert worden war. Ihr Blick fiel dabei auf den freiliegenden Bauchnabel dieser Studentin, die sich gerade mit Konstantin über die neue Vernissage unterhielt. Der Nabel war leider ebenso perfekt wie der dazugehörende flache Bauch. Joe schwor sich, die nächsten Wochen nur noch Gemüsebrühe zu löffeln. Zum Glück trug sie dieses geblümte Sommerkleid, das die kleine Speckschicht um ihre Hüften nicht mal erahnen ließ. Während die beiden sich unterhielten, musterte Joe Konstantins Hände, die so gepflegt waren, wie nur die Hände eines Akademikers sein konnten. Am liebsten hätte Joe ihre unter dem Tisch versteckt.

Er trug keinen Ehering.

»Was denken Sie, Johanna?« Die langbeinige Gazelle war endlich davongerauscht.

Wie beiläufig zuckte Joe mit den Schultern. Dass sie heilfroh war, dass er keinen Ehering trug, konnte sie nun wirklich nicht erzählen.

»Verraten Sie mir dann vielleicht, was Sie vor diesem Studium gemacht haben?«

Kurz schoss es Joe durch den Kopf, sich ein bisschen wichtiger zu machen, als sie war; zu schwindeln, eine Zeit im Ausland verbracht zu haben, anstatt von beißender Isolierwolle zu erzählen und dem Schleppen von Toiletten, bis ihr die Glieder abends so wehtaten, dass sie sich nur noch wünschte, bei einer Folge von Sex andthe City endlich entspannen zu dürfen.

»War das auch eine indiskrete Frage?« Sein Blick war amüsiert, weil sie immer noch nicht geantwortet hatte.

Joe fühlte sich ertappt. »Nein, überhaupt nicht«, sagte sie deshalb schnell. »Ich war auf dem Bau.«

Jetzt verschlug es ihm die Sprache. Ungläubig starrte er sie an, und Joe genoss es, ihn so beeindruckt zu haben. Deshalb fügte sie wohl platziert und cool hinzu: »Als Klempnerin.«

»Ach, deshalb waren Sie auf dem Männerklo!« Er lachte und beugte sich näher zu ihr, um nichts von ihren Ausführungen über das Leben auf dem Bau zu verpassen. Während sie von Be- und Entwässerungsanlagen redete, erschienen ihr die beiden Grübchen in seinen Wangen noch tiefer. Sie spürte, wie sehr er es genoss, ihr zuzuhören. Er bestellte sogar noch zwei Espressi und eine Vanillecreme mit Kokossahne, die sie sich teilen wollten. Joe ging es dabei nicht um die vierhundertfünfzig Kalorien, sondern um diese spontane, süße Gemeinschaftsaktion. Und darum, dass ihr platonischer Freund und Mitbewohner Alf ihr einmal erklärt hatte, dass Männer, die Süßes mochten, gute Liebhaber seien. Joe wünschte sich sehnlichst, Konstantin würde noch viele Portionen Vanillecreme mit Kokossahne bestellen.

Es war bereits dunkel, als sie, nach einer kurzen Stippvisite in der Firma und noch immer erfüllt von einem erhebenden Glücksgefühl, nach Hause kam. Zwischen dem dritten und vierten Stock des Altbauhauses war das Licht im Treppenhaus ausgefallen. Joe nahm sich vor, die Glühbirne gleich in der Früh auszutauschen, da Hausmeister Wimmer beim Thema Arbeit stets sehr lustlos war. Umso lustvoller agierte er dafür nachts. Da hörte sie eindeutige Geräusche von nebenan, denn die Wand war dünn wie Pappe. Obwohl sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte, nahm Joe zwei Stufen auf einmal, als sie die knarrenden Stiegen zu ihrer Dachwohnung emporstieg. Sie konnte es kaum erwarten, Alf von diesem aufregenden Tag zu berichten. Mit ihm teilte sie, gefahrlos für ihr Herz, die Wohnung, denn Alf war schwul und ein bisschen verrückt. Genau dafür liebte Joe ihn. Im Gegensatz zu ihr konnten die meisten Menschen jedoch nicht begreifen, warum Alf sich in einer Zeit der Rastlosigkeit, in der Stress als Kompliment galt, unbeweglich wie eine Statue und verkleidet wie ein silberner Ritter stundenlang zwischen eilig hin und her hetzende Menschen auf den Marienplatz stellte und sich freute, wenn Kinder ihn zwickten, um zu prüfen, ob er echt sei.

Alf hingegen zwickte Joe, wenn sie ihren zackigen Baustellen-Ton anschlug, um sie daran zu erinnern, dass sie als Frau noch vorhanden war.

Ja, jetzt fühle ich mich auch endlich wieder so, dachte Joe und schloss die Wohnungstür auf.

»Es gibt Gulasch mit Knödel.« Alf küsste sie zur Begrüßung. Sie roch sein Parfum, das sich mit der Schärfe der Chilis, Paprika und Zwiebeln vermischt hatte. Der niedrige Tisch im Wohnzimmer, vor dem sie nur im Knien auf dem Boden essen konnten, war bereits gedeckt.

Joe konnte nicht kochen. Was sie auch nicht weiter schlimm fand. Dafür wechselte sie in siebeneinhalb Minuten vier Autoreifen und gewann fast immer beim Kartenspiel, zu dem sie sich manchmal in der Mittagspause von ihren Monteuren überreden ließ.

Joe aß mit Appetit, trank dazu Bier aus der Flasche und berichtete Alf in allen Einzelheiten von ihrer Begegnung mit Konstantin, ja selbst den Tonfall seiner Stimme ahmte sie nach. Sie erzählte, wie schwer es ihr anfänglich gefallen war, sich als Klempnerin zu outen, denn was wusste ein berühmter Galerist schon von Gas, Wasser und Scheiße?

Alf hörte ihr aufmerksam zu. Aufrecht und im Schneidersitz saß er in seinen kitschig geblümten Schlabberhosen vor ihr. Seine Haut schimmerte noch leicht von Gold bestäubt, denn er hatte heute wieder viele Stunden unbeweglich in die Seelen der vorbeihetzenden Menschen geblickt. »Was hast du eigentlich gegen Gas, Wasser und Scheiße?«

»Nun ja. Ist ja nicht gerade megasexy. Außerdem wollte nicht ich Klempner werden – mein Vater wollte es so.« Joe fixierte ihre Fingernägel, unter denen sich noch Spuren von Schmiere befanden, obwohl sie sie mit einer Bürste geschrubbt hatte.

»Das macht es natürlich schwerer zu wissen, was man eigentlich selbst will.« Alf brachte es wie immer auf den Punkt.

Etwas später, als Joe dann im Bett lag, betrachtete sie durch das Dachfenster den Mond. Rund und hell schien er auf sie herunter. Plötzlich standen ihre Wünsche so klar vor ihr, als hätte das Mondlicht sie erleuchtet. Sie wollte endlich mehr als nur eine neue Folge von Sex andthe City, bei der sie stets Zuschauerin war, gefeit vor Liebeskummer. Sie wollte wieder ihr Herz und ihren Körper spüren. Endlich neben einem Mann auf dem Sofa sitzen, der nicht schwul war, sondern jeden Zentimeter ihrer Haut lustvoll küsste. Sie wünschte sich einen Mann, der sie tröstete, wenn sie mal traurig war, und der sie euphorisch durch die Luft wirbelte, wenn sie vor Glück am liebsten geweint hätte. Sie hatte genug von ihrem alten Stoffhasen im Bett. Sie träumte vom warmen Körper eines Mannes, den sie am nächsten Morgen mit einem Kuss erwecken konnte. Joe wollte lieben, mit Herzklopfen und allem, was dazugehört. Sie starrte den runden, hellen Mond an, und der schien ihr zuzuflüstern: »Konstantin.«

Joe wünschte, die Welt möge sich viel, viel schneller drehen, sodass morgen nicht morgen, sondern der Tag in einem Monat wäre. Denn dann wüsste sie bereits, ob all das, was sie heute für Konstantin empfand, vielleicht doch nur ihrer Einbildung entsprungen war.

Zwei

Am nächsten Morgen parkte Joe ihren Kastenwagen direkt vor einem Bauzaun, vor dem unter anderem das Schild Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr prangte. Dahinter hatten mächtige Bagger ein noch mächtigeres Loch für einen neuen Wohn- und Bürokomplex ausgehoben. In der Mittagspause hatte Joe die Großbaustelle auf ihrem Weg zum Nagelstudio entdeckt. Joe hätte nie gedacht, dass sie mal so einen Schönheitstempel aufsuchen würde. Aber der Gedanke an perfekt gefeilte Nägel hatte sich in ihrem Hirn festzementiert, denn sie wünschte sich, Konstantin würde beim nächsten Treffen wenigstens ihre Hand nehmen und küssen.

Die durch Permanent-Make-up gestylten Augenbrauen und Lippen der Dame dieses Studios hatten Joe unwillkürlich an einen Totenkopf denken lassen. Und als die Nagelstylistin Joes Hände begutachtet hatte, hatte sie exakt das gesagt, was Joe von Konstantin auf keinen Fall hören wollte: »Oh Gott! Die sehen ja grausam aus!«

»Kann man da nichts machen?«

Nachdem sie dreimal tief geseufzt hatte, hatte besagte Dame Joes Nägel mit Kunststoff-Tips verlängert, mit Gel überzogen und auch noch »french« manikürt, sodass sie jetzt so makellos waren, wie ein echter Nagel kaum wachsen konnte. Jedenfalls keiner von Joes Nägeln.

Joe lächelte, weil sie sich an ihren Händen nicht satt sehen konnte, schlüpfte aus ihren neu erstandenen Pantoletten und zog die Gummistiefel an, die sie hinter dem Sitz deponiert hatte. Noch im Auto sitzend, kritzelte sie die Telefonnummer des Bauträgers in ihren schwarzen Kalender. Sie wusste, dass man gewitzt sein musste, um in diesen harten Wirtschaftsjahren schwarze Zahlen in der Firmenbilanz zu schreiben. Entschlossen stieg sie aus, stapfte mit knappem Jeansrock und gelben Gummistiefeln durch den Dreck zum Bauwagen. Wenn es um neue Aufträge ging, wusste Joe sehr wohl ihre Weiblichkeit einzusetzen, auch wenn Gummistiefel nicht gerade sexy waren. Dafür war sie hier die einzige Frau.

Die Tür des Bauwagens stand offen.

»Betreten der Baustelle verboten«, blaffte ein Mann mit natürlicher Autorität, die ihn sofort von den anderen Männern abhob, die an vier Schreibtischen über Bauplänen brüteten. Er hatte sie schon von weitem kommen sehen.

»Für mich ist das nicht verboten«, sagte Joe mit einem selbstbewussten Lächeln. Sie reichte ihm eine Visitenkarte und sprach von der Zuverlässigkeit ihrer Firma. Dabei redete sie so kompetent und lächelte so charmant, dass der Mann, der sich als verantwortlicher Oberbauleiter Franz Wagenscheidt vorstellte, nicht anders konnte, als ihr zuzusichern, ihr die Ausschreibung für beide Gewerke zukommen zu lassen. Mit einem jovialen Lächeln überreichte er ihr seine Visitenkarte. »Schicken Sie mir bitte eine Referenzliste zu.«

»Die habe ich dabei.«

Ein überraschter Blick traf sie.

Joe öffnete ihre Umhängetasche und drückte Herrn Wagenscheidt die Liste und zusätzliches Informationsmaterial in die Hand. »Rufen Sie mich an!«

Joe wusste, dass sie gepunktet hatte, als sie durch den Matsch zurück zum Auto stapfte. Wenn ihr Angebot auch nur einigermaßen stimmte, würde die Firma Benk den Auftrag hundertprozentig bekommen. Es würde ein großer und höchst lukrativer Auftrag werden. Über ihrem Stolz hatte sie völlig vergessen, dass sie bald keine Sanitärinstallateurin mehr sein würde.

Es vibrierte durch das Leder ihrer Umhängetasche. Das Dröhnen eines Presslufthammers war so laut, dass Joe das Klingeln ihres Handys nicht hören konnte.

Er war am Telefon.

Nur konnte sie nichts verstehen.

Joe hasste diesen Arbeiter mit seiner lärmend stampfenden Maschine. Am liebsten hätte sie sie ihm entrissen. Joe rannte in Richtung ihres Autos. Nur weg vom Dröhnen und Hämmern! Und dann schlug ihr Herz einen Salto, als Konstantin sie fragte, ob er sie am Samstag um acht Uhr zum Abendessen einladen dürfte.

Joe strahlte noch, als das Gespräch längst beendet war und sie wieder in ihrem Kastenwagen saß. »If you don't know me by now, you will never get to know me«, trällerte sie, als sie den Motor anließ. Aber der Wagen bockte. Sie wunderte sich, stieg aus und entdeckte große Ballen Isoliermaterials hinter ihrem Wagen, die ein Wegfahren unmöglich machten. Joe schickte sich an, den ersten schweren Ballen hinter ihrem Auto wegzuziehen. Plötzlich baumelte der imposante Haken eines Baukrans so dicht über ihrem Kopf, dass sie erschrak. Erst jetzt bemerkte sie Kran und Kranführer, den sie sofort als Übeltäter ausmachte. Und der Typ da oben lachte so unangreifbar in seinem Häuschen, dass Joe total sauer wurde. »Idiot!«, rief sie nach oben, aber er konnte sie ja nicht hören. Wild gestikulierte sie mit den Armen, zeigte ihm an, dass es an der Zeit wäre, dieses dumme Spiel zu beenden.

Der Mann zeigte sich unbeeindruckt. Er ließ nur den riesigen Haken aus Stahl mal rauf und dann wieder runter, um sie weiter zu necken und zu ärgern.

Da waren Joe ihre kostbaren Fingernägel plötzlich egal. Wie ein Mann zerrte sie jeden einzelnen Ballen vom Auto weg. Aber das reichte ihr nicht. Sie zog die Ballen noch direkt zwischen einen LKW und Anhänger. Die Haut an ihren Händen riss, die Fingernägel litten sekündlich, aber daran dachte Joe nicht mehr. Viel wichtiger war ihr, dem Kranführer diesen Macho-Spaß ein für alle Mal zu verderben.

Demonstrativ spöttisch winkte Joe ihm zu, als sie davonbrauste. Sie wusste, dem Spaßvogel würde jetzt ein Riesenärger mit dem Fahrer dieses LKWs bevorstehen. Kaum war sie um die Ecke gefahren, stimmte sie fröhlich in einen Song ein, der aus dem Autoradio dudelte.

Endlich Samstag! Gerade stöckelte Joe aus einer Nebenstraße auf das verabredete Restaurant zu, als Konstantin in einem englischgrünen Cabriolet vorfuhr, ausstieg und ein Portier dienstbar herbeieilte, um das Schmuckstück sicher zu parken. Konstantin wirkte so erotisch wie die Marke seines Fahrzeugs.

Lächelnd kam er ihr entgegen. »Johanna! Du siehst zauberhaft aus!« Sein flüchtiger Kuss war eine große Verheißung.

Gemeinsam betraten sie das Restaurant. Hier war Konstantin so bekannt, wie Joe es in ihrer Hauskantine gleich gegenüber der Firma war, in der »Mamas Schupfnudeln mit Kraut« serviert wurden und alle an Tischen aus blank gescheuertem Holz saßen. Der Platz, der ihnen jedoch hier zum Dinieren zugewiesen wurde, war mit weißem Damast und zartem Porzellan eingedeckt. Während sie Champagner schlürften, konnte Joe durch die imposante Glasfront all diejenigen beobachten, die draußen vorbeigingen und einen neugierigen Blick ins Restaurant warfen. Wer hier speiste, war nämlich wer.

Joe hatte noch nie hier gespeist, doch das war nicht so wichtig. Sie strengte sich ernsthaft an, Konstantins Ausführungen über Fotokunst zu lauschen, aber sie war einfach mehr mit seinen klaren Augen, seinen weich geschwungenen Lippen und seinem energischen Kinn beschäftigt.

»Johanna?«

Erst, als er sie noch mal eindringlich und erstaunt mit diesem Namen ansprach, bemerkte Joe, dass sie gemeint war.

»Ja?« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Sag mir, ob es einen Mann gibt, der dich jetzt vermisst.« Seine Augen blitzten bei dieser theatralischen Formulierung belustigt.

Joe musste einfach lachen.

Konstantin lachte zurück.

Joe fand es gut, dass sie einen ähnlichen Humor hatten. Sie duzten sich, seit sie auf den weich gepolsterten Lederstühlen Platz genommen hatten, denn es kam ihnen plötzlich so vor, als hätten sie schon oft gemeinsam hier gesessen und über das Leben philosophiert.

»Nein. Es gibt keinen Mann.« Viel mehr wollte Joe angesichts seiner blaugrünen Augen, die ihr äußerst tiefgründig erschienen, auch nicht zu diesem Thema sagen. Denn seine Lippen formulierten jetzt exakt die Worte, die sie zu hören gehofft hatte.

»Ich bin dem Schicksal dankbar, dich getroffen zu haben, und ich muss unbedingt herausfinden, was uns beide verbindet.«

Ach, konnte er das nicht noch einmal sagen? Joe wurde weich wie Zuckerwatte.

»Glaubst du an Zufälle?« Diese Frage konnte sie sich einfach nicht mehr verkneifen.

»Nein! Du glaubst doch auch nicht an Zufälle.« Sein Blick war eine Offenbarung.

Joe bekam eine Gänsehaut.

Nach dem Amuse-gueule, einer Mikroportion Lachstatar auf einem Hauch von Kartoffelpuffer, erzählte Konstantin von seiner letzten langjährigen Liebe. »Über zwei Jahre ist das jetzt her«, sagte er und sah Joe plötzlich ganz traurig an.

Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, über die damals bereits geplante Hochzeit zu sprechen, die dann doch ins Wasser gefallen war. Er hatte seine Braut mit einem anderen erwischt. Dass er so offen über seine Gefühle sprach, empfand Joe als untypisch für einen Mann und ließ ihre Hochachtung für Konstantin nur noch wachsen.

»Ich versteh dich so gut. Das tut einfach beschissen weh«, meinte sie und war insgeheim heilfroh darüber, sonst wäre Konstantin inzwischen längst verheiratet. »Und – glaubst du nach so einer Erfahrung noch an die Liebe?«

»Zu lieben ist ein Geschenk«, antwortete er schlicht.

Zwischen Rucola-Salat mit fein gehobeltem Parmesan, gefolgt von einer Dorade im Salzmantel, so zart, dass sie ihren Gaumen zu liebkosen schien, schenkte Konstantin ihr dann ein Buch. »Let'stalkaboutlove«, sagte er mit einem tiefgründigen Lächeln, weil das der Titel des Buches war. Das Besondere an diesem Werk war, dass es Fragen über Gefühle, Wünsche und Ängste stellte, die man auf noch leeren Seiten beantworten musste. »Mir hat das Buch damals geholfen. Manchmal wird alles klarer, wenn man es aufschreibt.«

»Eine Reise ins Innere«, bemerkte Joe versonnen, als sie das Buch in die Hand nahm und betrachtete.

»Wenn man sie antreten will!«

»Warum nicht? Ich fände das gut.« Joe wünschte sich, er würde sie endlich küssen.

»Heute in einem Jahr werde ich dich in diesem Restaurant fragen, ob ich deine Antworten lesen darf.«

Verwirrt verstaute Joe das Buch in ihrer Handtasche. Dann stand sie hektisch auf und steuerte auf die diskrete Tür für »Damen« zu. Als Profi hatte sie diesen Ort schon gleich beim Hereinkommen ausgekundschaftet. Nervosität drückte ihr stets auf die Blase.

Im Vorraum waren flauschige Handtücher neben den breiten, kantigen Waschtischen aus weißem Porzellan auf mattierten Edelstahlgittern gestapelt. Die Waschtische, feinstes italienisches Design. Die Armaturen, Klassiker von Vola. Joes Blick entging nicht, dass die Einrichtungsgegenstände perfekt montiert waren. Alles, auch die Warm- und Kaltwasser-Anschlüsse unter den Waschbecken, befanden sich auf einer Linie. Was jede einzelne dieser von Philippe Stark wie ein Trog geformten Toiletten kosteten, das wusste Joe auf den Cent genau. Angesichts dieses Luxus wunderte sie sich nicht mehr, dass die Portionen so klein und die Preise so hoch waren. Joe ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Sie brauchte dringend eine Abkühlung.

Im Restaurant hatte Konstantin inzwischen zum dritten Gang, Tagliolini mit weißen Trüffeln, einen ZweiundneunzigerBarolo bestellt. Der Wein war rubinrot und verwirrte Joes Sinne gänzlich. Konstantin schwärmte von meisterhaften Schwarz-Weiß-Fotografien von Rom, die zurzeit in seiner Galerie ausgestellt wurden.

»Rom! Da war ich noch nie.« Joes Blick war verträumt.

»Du musst unbedingt dorthin.«

Joe seufzte. Spontan wünschte sie sich, mit Konstantin nach Rom reisen zu können. Es ärgerte sie, wie wenig sie bisher von der Welt gesehen hatte. Sie erzählte ihm, dass sie seit Jahren keinen richtigen Urlaub gemacht hatte, und auch als Kind war sie nur selten mit ihren Eltern verreist. Die Belange der Firma hatten stets Vorrang gehabt. Und wenn sie doch mal weggefahren waren, dann höchstens ins Allgäu. Ihr Vater gab die Urlaubskasse aus Prinzip nur im eigenen Land aus.

Während Konstantin daraufhin sehr anschaulich vom Kolosseum, dem Vatikan und dem Petersdom erzählte, kam es Joe plötzlich so vor, als verweilte sie gerade selbst dort.

»Wenn du willst, könnten wir noch einen Abstecher in meine Galerie machen«, unterbrach er ihre Gedanken, nachdem Joe den letzten Rest einer Crème brûlée auf ihrer Zunge hatte zergehen lassen. Dabei berührte seine Hand ganz zärtlich die ihre.

»Ja. Gern«, gab Joe schlicht zurück, denn sie wollte unbedingt mit ihm Rom sehen, auch wenn Rom vorerst nur in seiner Galerie lag.

Das Licht war gedämpft. Die Galerie hatte ein klassisch spartanisches Ambiente. Die Bilder an den weißen Wänden wurden punktuell beleuchtet, sodass das Spiel des Lichtes dem Raum eine besondere Note verlieh. Der Blick durch die großen Fensterflächen, die von der Decke bis zum Boden reichten, war durch weiße Jalousien versperrt.

»Soll ich die Nacht hereinlassen?«, fragte Konstantin. Er spürte, dass Joe sich erst daran gewöhnen musste, wirklich ganz allein mit ihm zu sein.

Sie nickte.

Per Knopfdruck beförderte Konstantin die Jalousien nach oben. Nur noch wenige Autos fuhren auf der nachtdunklen Straße. Schweigend und irgendwie feierlich betrachteten sie die Fotos, die Rom mit seinen Straßen, Plätzen und Menschen so fantastisch darstellten, dass sie sogar Joe, die von Fotografie null Ahnung hatte, in ihren Bann zogen. Sie hatten sich auf eine asiatische Bank aus Teakholz gesetzt, die in der Mitte des Raumes stand. Eng nebeneinander saßen sie da und spürten die Hitze ihrer Körper. Joe roch Konstantins Rasierwasser, dem eine Note aus Moschus und Tabak anhaftete. Sie lauschte seinen Ausführungen über frühere Zeiten, in denen er kaum Geld gehabt hatte. Aber dennoch war er sich immer sicher gewesen, mit einer Fotogalerie erfolgreich zu werden. »Mit Fotokunst konnte man damals noch kein Geld verdienen. Aber ich habe meinem Gefühl vertraut.« Sein Blick war so vielsagend, dass es Joe ganz flau im Magen wurde. »Vertraust du auch immer auf dein Gefühl?«

Joe schwieg, denn ihr Mund war trocken. Sie verlor sich in seinen Augen, diesen Grübchen, diesem Lächeln, während er von Künstlern erzählte, die er entdeckt hatte. Heute gehörte seine Galerie zu den bekanntesten Ausstellungsstätten für Fotokunst in Deutschland, schloss er seine Ausführungen. »Na ja, vielleicht sogar in Europa«, fügte er nicht unbedingt bescheiden hinzu. Dann schwieg er und sah sie einfach nur an.

Joe wünschte sich, mit ihren Händen seine Haut, mit ihren Lippen seinen Mund, mit ihren Gedanken seine Seele und mit ihrem Herz das seine zu berühren.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. Mit Mittel- und Zeigefinger strich er ihr über das Gesicht, um danach die Linien ihrer Augenbrauen, ihrer Nase, ihrer Wangenknochen und ihres Mundes nachzuzeichnen. Dann endlich küsste er sie.

Ihre Lippen schienen sich schon lange zu kennen. Ihre Zungen liebkosten sich, spielten miteinander, bis Joe nicht mehr denken, sondern nur noch küssen wollte. Bei jedem Kuss spürte sie, dass sie noch viel, viel mehr wollte, auch wenn sie eine leidenschaftliche Küsserin war. Ihre Brustwarzen waren hart wie kleine Kieselsteine. Wenn er noch eine Sekunde länger gewartet hätte, sie zu berühren, hätte Joe selbst die dünnen Träger ihres Kleides heruntergeschoben. Er kostete ihren Körper, als wäre er ein Nachtisch des Himmels. Joes Lust wurde so übermächtig, dass sie diesmal nicht singen, sondern nur schreien wollte. Alf hatte mit seiner »Süßigkeit-und-Männer-Theorie« verdammt Recht!

Drei

Es waren deutlich mehr Frauen als Männer auf dieser Vernissage. Und alle himmelten Konstantin unübersehbar an. Im Blitzlichtgewitter der Fotografen sprach er souverän über die Arbeit der jungen Künstlerin Anna Bauer. Mit ihren riesigen Farbfotografien toter Körper zählte die Rothaarige im schwarzen Kleid zu einer der weiblichen Neuentdeckungen der Kunstszene. Für Joe völlig unverständlich. Konstantin hingegen war überzeugt, dass ihre Werke in fünf Jahren gut das Doppelte wert sein würden.

In ihrem schwarzen Rollkragenpullover stand Joe trotz der kurzen Ärmel der Schweiß auf der Stirn. Sie war so aufgeregt, als müsste sie sich an Konstantins Stelle vor diesen vielen Menschen präsentieren. Zwei Monate, fünfzehn Tage und sechs Stunden war ihre Beziehung jetzt alt. Dennoch war Joe quasi inkognito hier. Sie hatte sich Konstantins Meinung angeschlossen, dass ihre Gefühle nur ihnen gehörten. Sie waren kein Thema für Kunden, Käufer oder Presse. Euphorischer Beifall signalisierte das Ende seiner Rede. Das vegetarische Buffet mit gebratenem Kräutertofu, Gemüsecurry und Sprossensalat wurde endlich eröffnet.

»Schweinebraten mit Kruste wäre mir lieber«, murmelte Joe vor sich hin, während sie sich beeilte, das Buffet zu erreichen. Sie hatte den ganzen Tag ein neues Badezimmer in einem Einfamilienhaus installiert. Als sie sich mit gefülltem Teller wieder an ihrem Stehtisch positioniert hatte, was ihr ein Gefühl von Sicherheit verlieh, beobachtete sie die Gäste. Alle schienen einander zu kennen, und alle gehörten zu einer höchst eigenen Spezies Mensch. Sie lauschte dem Gespräch zweier Blondinen am Nachbartisch. Die beiden bewunderten gegenseitig ihre neuesten, sündhaft teuren Prada-Taschen, die man jetzt unbedingt besitzen musste, nur weil irgendein Hollywoodstar so einen roten Beutel spazieren trug.

Joe fand das albern. Solche Menschen hatte sie in ihrer geerdeten Welt noch nie näher kennen gelernt. Zwar waren die Gesichter der älteren Frauen erstaunlich frei von Falten, doch ihre Hände und auch der Hals straften die erschwindelte Verjüngung Lügen. An diesen Stellen konnte der Zahn der Zeit trotz Schönheitsoperationen und Botox-Spritzen nicht überlistet werden.

Während sie im Sprossensalat stocherte, fiel ihr eine ältere Journalistin auf, die Konstantin mit unverhohlener Bewunderung interviewte. Für das gemeinsame Foto legte ihr Traummann sogar seinen Arm um die füllige Taille dieser Zeitungsfrau mit dem gestylten Lockenkopf. Plötzlich wünschte sich Joe, in der Zeitung von morgen doch etwas über sich, die Frau an seiner Seite, zu lesen.

»Konstantin hat einfach immer den richtigen Riecher.« Die Journalistin lächelte und stellte ihren Teller mit Tofukreationen direkt neben Joes Teller. Sie hatte diesen lauernden Ausdruck in den Augen, der bei Journalisten eine Berufskrankheit ist.

Joe nickte.

»Ich habe Sie noch bei keiner Ausstellung gesehen. Kennen Sie den Galeristen persönlich?«

»Ja.« Joe gab sich Mühe zu lächeln, allerdings gelang ihr Lächeln nicht annähernd so breit wie das der Journalistin, die sich als Monika Treschniewski, Kunst- und Theaterkritikerin einer der größten Boulevardzeitungen, vorstellte.

»Ein toller Mann, nicht wahr?«

»Ja. Herr Wastian hat Geschmack.« Joe ärgerte sich über diese Hartnäckigkeit.

Monika Treschniewski prostete ihr wie eine alte Freundin zu. Joe spürte ein leises Rauschen in ihrem Kopf. Es war ihr drittes Glas Rotwein. Weißwein wäre klüger gewesen. Der machte sie nicht so schnell beschwipst. Jetzt war es zu spät.

»Ich schreibe seit Jahren über seine Ausstellungen«, klärte Monika Treschniewski sie auf, um zu betonen, wie wichtig ihre wohlwollenden Artikel für Konstantin waren.

Joes Lächeln war jetzt offen und aufrichtig. Sie hatte es nicht nötig, zickig zu sein. Denn wenige Minuten später spürte sie schon Konstantins Hand heimlich und leicht über ihre Hüfte streichen. Endlich stand er wieder neben ihr.

»Ich sehne mich nach dir«, flüsterte er ihr in einem unbeobachteten Moment ins Ohr. Mit dem für ihn so typischen jungenhaften Lächeln wandte er sich dann wieder der Journalistin zu, um erst mit ihr und dann mit Joe anzustoßen.

In Joes Kopf rauschte es jetzt noch mehr. Nur war der Grund dafür diesmal nicht der Rotwein, sondern Konstantins Atem, den Joe immer noch an ihrem Ohr und ihrem Hals zu spüren meinte.

»Womit beschäftigen Sie sich, wenn Sie nicht gerade auf einer Vernissage sind?«

»Entschuldigung. Was wollten Sie wissen?« Joe war für die erste Frage viel zu abwesend gewesen.

»Ich habe Sie nach Ihrem Beruf gefragt.«

Joe bekam in ihrem schwarzen Rollkragenpullover Hitzewallungen. Sie wünschte diesen Lockenkopf im Stillen zum Mond.

»Ich studiere Architektur.« Joe spülte den Satz mit einem kräftigen Schluck Rotwein nach. Ihr erstes Semester begann in einer Woche. So war es einerseits die Wahrheit, andererseits dennoch eine Lüge.

»Dann sind Sie ja bald mit Ihrem Studium fertig, oder?«

War diese Frau penetrant! Konnte sie nicht endlich den Mund halten?

»Johanna ist nicht nur Studentin«, griff Konstantin unvermittelt ein. »Johanna leitet auch noch eine Firma für Gebäudetechnik.« Stolz und Bewunderung schwangen in seiner Stimme mit.

Joe hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst. Jetzt war sie vollends überzeugt, dass er sich ihres Handwerksberufes nicht schämte, wie sie insgeheim doch manchmal befürchtet hatte. Und Monika Treschniewski war endlich sprachlos.

Die Nacht war wie für sie gemalt, denn der Himmel sah aus wie Joes Sternchenpyjama. Es war weit nach Mitternacht, als sie mit Konstantin in seinem dunkelgrünen Sportwagen durch die Nacht glitt. Die ganze Szene erinnerte Joe an ein kitschiges Hollywood Movie, in dem Humphrey Bogart neben Audrey Hepburn durch die Dunkelheit rauschte und alle Zuschauer wussten, dass sie füreinander bestimmt waren. Joe liebte solche Filme und konnte dabei leicht eine Familienpackung Chips und auch ein paar Tränen verdrücken, wenn sie in ihrem Bett lag und bis in die frühen Morgenstunden alte Filme schaute, die sie seit Jahren auf Video sammelte.

»Geht es dir gut?« Konstantin legte den Arm um sie, wie Humphrey Bogart das im Film auch getan hätte.

Joe lächelte, nickte nur und sagte nichts, denn diese Stille war nicht beklemmend, sondern schön. Der CD-Player dudelte If you don't know me by now.Konstantin hatte diese CD für sie beide gekauft, damit der Song sie immer an ihr erstes Zusammentreffen erinnern würde.

»Es war schrecklich, dich zu verleugnen«, gestand Konstantin nach einer Weile und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel.

Joe verstand gut, was er meinte. »Fand ich auch. War ganz komisch, so zu tun, als würden wir uns kaum kennen. Meinst du, die anderen haben etwas gemerkt?«

»Welche anderen?«

»Na ja, da waren ja schon ganz schön viele Frauen, die dich nicht aus den Augen gelassen haben«, gab Joe zurück, versuchte dabei aber, ihrer Stimme einen scherzenden Klang zu geben.

»Vergiss diese Frauen. Das ist einfach nur mein Job. Für mich gibt es nur dich.«

Als sie viel später eng umschlungen in seinem großen anthrazitfarbenen Bett lagen, hatte Joe tatsächlich alle anderen Frauen vergessen. Sie genoss die Wärme seines Körpers, sog den Geruch von Rosenöl ein, mit dem er sich immer nach dem Duschen einrieb, und war glücklich.

»Ich liebe dich«, flüsterte Konstantin. Sekunden später schlief er bereits. Dabei kräuselte er ein wenig die Oberlippe, durch die er pfiff, wenn er besonders tief und glücklich schlief.

»Ich liebe dich auch.« Sie traute sich noch nicht, solche Worte auszusprechen, wenn er wach war.

Am nächsten Morgen war es kalt im Büro des Firmengebäudes, oder kam es Joe nur so vor? Schon beim Öffnen der Tür sagte ihr ihr Gefühl, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

»Guten Morgen.« Sie gab ihrer Mutter einen Begrüßungskuss, die heute besonders still an ihrem aufgeräumten Schreibtisch saß.

»Hallo, Joe.« Wie abwesend blickte Hilda Benk wieder auf die aufgereihten Muranoglasfiguren, zerbrechliche Andenken an ihre Hochzeitsreise, die einzige Fahrt ins Ausland, die sie jemals mit ihrem Mann Werner unternommen hatte. In Grado, da war sich Hilda ganz sicher, war Joe in einem Hotel am Meer gezeugt worden, begleitet von den aus der Musikbox heraufklingenden Liedern über Liebe und Sehnsucht.

Jetzt schritt der romantische Held aus Joes Kinderträumen aufgeregt durchs Büro. Die Röte in Werner Benks Gesicht zeugte gefährlich von Bluthochdruck. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir haben den Auftrag!« Er sprach so laut, dass die Monteure im Hof ihn hören konnten.

»Wir haben den Auftrag«, dröhnte es wieder und wieder in Joes Ohren. Es war ein Fünfhunderttausend-Euro-Auftrag. Es war der größte des Jahres, und er würde die Firma wieder in die schwarzen Zahlen katapultieren.

»Dir ist schon klar«, fuhr Werner Benk fort und fixierte seine Tochter mit ernstem Blick, »dass wir damit alle Sorgen los sind. Wir können die offenen Lieferantenrechnungen bezahlen. Und einen neuen Transporter, denn den brauchen wir dringend.«

»Ja, und? Was willst du damit sagen?« Joe wusste selbst, wie wichtig dieser Auftrag für das Konto und Image der Firma war. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie im Jeansrock und mit gelben Gummistiefeln über die neu entdeckte Großbaustellte gestapft war, um Herrn Wagenscheidt die Firmenunterlagen in die Hand zu drücken.

Fast wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan, denn sie ahnte schon, was sie nun erwartete.

»Du kannst jetzt nicht studieren! Das weißt du selbst am besten!«

Unweigerlich schössen Joe Tränen in die Augen, denn sie wusste das wirklich nur zu gut.

»Wir schaffen das einfach nicht ohne dich«, mischte sich ihre Mutter mit sanfter Stimme ein.

»Aber am Montag beginnt die Uni! Ich bin längst immatrikuliert.« Joe versuchte, selbstbewusst zu klingen. Trotzdem hörte es sich jämmerlich an.

»Ohne dich müssen wir ablehnen. Du musst dich entscheiden.«

Täuschte sich Joe, oder hörte sie da einen verzweifelten Unterton in der Stimme ihres Vaters? Aufmerksam sah sie zu ihm hinüber. Nach alter Bau-Manier kickte er mit dem Feuerzeug den Kronenverschluss von der Bierflasche. Normalerweise trank er tagsüber nicht. Aber heute war kein Tag wie jeder andere. Heute war der Tag, an dem er sie um etwas bitten musste. Zum ersten Mal kam es Joe so vor, als wäre er nicht so stark, wie sie immer angenommen hatte. Die beiden senkrechten Falten zwischen Augenbrauen und Nasenwurzel erschienen ihr tiefer als sonst. Das Gespräch fiel ihm sichtlich schwer.

Er schien ihren Blick zu spüren. Abrupt stand er auf, ging zum Kühlschrank und entnahm ihm eine zweite Flasche Bier, die er auf dieselbe Art mit dem roten Einwegfeuerzeug öffnete. Er reichte sie Joe. »Du kannst jetzt sicher auch einen Schluck vertragen.«

»Danke.« Soweit Joe sich erinnern konnte, hatte er ihr noch nie ein Bier geholt.

Joe trank langsam, weil das Trinken ihr Zeit verschaffte. Sie musste nachdenken. Sie dachte an Konstantin, neben dem weiterhin eine Frau im Bett liegen würde, die trotz leidenschaftlicher Duschorgien stets das vage Gefühl beschlich, immer noch leicht nach Gas, Wasser und Scheiße zu riechen, obwohl Konstantin ihr lachend versichert hatte, noch nie eine Frau geliebt zu haben, die so gut roch wie sie, Joe. Nein, wie Johanna. Eine Joe kannte Konstantin ja nicht.

»Du könntest doch im nächsten Sommer mit dem Studium anfangen. Es geht ja nur um ein Semester. Der Auftrag ist wichtig«, fuhr Werner Benk jetzt etwas ruhiger fort. »Ich würde dir sogar die alleinige Leitung der Baustelle übertragen.«

»Wirklich?« Joe konnte es kaum glauben.

»Wagenscheidt hat das vorgeschlagen«, knurrte er. »Ich weiß zwar nicht, wie du das angestellt hast, aber auf jeden Fall hast du ihn beeindruckt. Na gut. Morgen muss ich wissen, wie du dich entschieden hast.«

Ihre erste eigene Großbaustelle! Eine Baustelle, die sie ganz allein leiten dürfte! Es galt, über hundert Bäder, über hundert Küchenanschlüsse, unzählige Toilettenanlagen, zwei Hebeanlagen, mehrere Abläufe, meterlange Regenrinnen und viele, viele Kilometer Be- und Entwässerungsleitungen zu verlegen. Endlich hätte Joe die Gelegenheit, ihrem Vater zu beweisen, wie gut sie auch ohne ihn war. Kurz schoss Joe durch den Kopf, dass er ihr bislang nicht einmal für diese lukrative Akquisition gedankt hatte. Und gleichzeitig ärgerte sie sich. Wann würde sie endlich aufhören, auf ein Lob ihres Vaters zu hoffen?

»Komm, erzähl schon. Was ist mit dir los?« An ihrer belegten Stimme hörte Konstantin, dass etwas nicht stimmte, als sie nach der Unterredung von ihrem Kastenwagen aus mit ihm telefonierte. Das Auto war der einzige Ort, an dem Joe ungestört sprechen konnte.

»Ach. Es geht um die Firma. Ich erzähle dir alles, wenn ich darüber nachgedacht habe. Morgen.« Joe wollte keine weiteren Einzelheiten berichten, bevor sie sich nicht über ihre eigene Entscheidung klar geworden war.

»Ach, komm doch mit. Es wird dich ablenken. Wir haben Premierenkarten für die erste Reihe.« Konstantin war es nicht gewohnt, dass Joe eine Verabredung absagte. Und schon gar nicht die zur Premiere der Rocky Horror Picture Show im Deutschen Theater. Aber Joe fühlte sich wie in ihrer persönlichen Horrorshow. Sie hatte das dringende Bedürfnis, wie in alten Zeiten bis in die Morgenstunden mit Alf und Marc auf ihrem Sofa zu sitzen, tütenweise Chips zu vertilgen und dabei ihre Probleme von allen Seiten zu beleuchten.

»Wenn ich dich küsse und in den Arm nehme, wird es dir gleich viel besser gehen«, versuchte Konstantin, sie zu überreden.

Joe hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. Kurz schwankte sie, ob sie ihm zuliebe nicht doch mitgehen sollte, entschied sich aber angesichts ihrer inneren Anspannung dagegen. »Es tut mir leid. Aber ich könnte dafür später in der Nacht oder morgen ganz früh zum Frühstück kommen.« Joe griff hinter ihren Sitz nach der Daunenjacke, die sie für die zugigen Rohbauten immer bereithielt. Bei diesen herbstlichen Temperaturen fror sie in ihrem Kastenwagen. Wieder einmal ärgerte es sie, dass sie in der Firma nicht einen winzigen Raum für sich allein hatte.

Konstantin war ein bisschen beleidigt. Das nahm Joe leicht amüsiert wahr. »Lass mal«, meinte er, »wenn es für dich so wichtig ist, verstehe ich das natürlich. Dann sehen wir uns morgen. Wird heute Abend sicher spät. Danach ist ja noch die Premierenfeier. Da macht es keinen Sinn, wenn du noch vorbeikommst. Du musst dir meinetwegen die Nacht nicht um die Ohren schlagen.«

»Schade. Ich vermisse dich schon jetzt. Viel Spaß, mein Schatz.«

»Ich vermisse dich auch. Ich wünsch dir gute Gedanken – und stress dich nicht.« Zum Abschied schickte Konstantin ihr viele Seelenküsse durchs Telefon.

Joe legte auf. Wenigstens läuft in der Liebe alles bestens, dachte sie, während sie ihr Handy in der braunen Umhängetasche verstaute. Sie ließ den Motor des alten Kastenwagens an, startete zügig und stellte die Heizung auf höchste Stufe. Sie musste sich beeilen, noch schnell beim Großhändler eine Zirkulationspumpe besorgen, diese gegen eine defekte Pumpe eines Mehrfamilienhauses austauschen, und zwischendurch galt es, einen Abstecher zum Getränkemarkt zu machen, um einen Kasten Bier für den Abend zu besorgen. Ach ja, den Wasserschaden in einem Einfamilienhaus musste sie auch noch beheben!

Es gab Chips mit Zwiebeln und Paprika, die sie zusammen mit Alfs berühmtem Chili con Carne verspeisten. Joe hatte mit ihrer Problemdiskussion gewartet, bis Marc gekommen war. So musste sie die mögliche Wendung in ihrer Lebensplanung nicht zweimal erzählen.

Marc, der höchst überrascht über die Einladung zum Essen gewesen war, hatte ihnen das Video Bridget Jones mit Hugh Grant als Gastgeschenk mitgebracht.

»Soll das irgendwie eine Anspielung sein?«, fragte Joe schmunzelnd.

Grinsend erzählte Marc, dass ihm der Kinoabend, an dem Joe vor Rührung Rotz und Wasser geheult hatte, noch unvergesslich war. Er wusste, dass Joe ein Fan von Hugh Grant war. Ihr gefiel besonders sein jungenhafter Charme, den sie auch an Konstantin liebte.

Marc saß schon auf dem Sofa und trank ein Bier, während Joe in der Küche ein paar Handlangerarbeiten für Alf erledigte, denn zu mehr war sie heute nicht fähig.

»Ich finde Marc einfach süß. Allein schon, dass er an den Film gedacht hat.« Alf betonte das Wort »süß« so speziell, wie nur Alf dies vermochte, während Joe das Chili umrührte, damit es nicht anbrannte.

»Männer wollen nicht süß sein.« Joe lachte. Sie stellte die Schüssel für das Chili neben den Herd. Alf hatte schon öfter Marcs menschliche und männliche Qualitäten hervorgehoben, sodass Joe sich manchmal fragte, ob Alf nicht heimlich in ihn verliebt war. Alf stritt das stets heftig ab, vielleicht aber auch nur, weil er wusste, dass Marc, was dies betraf, für Männer nichts übrig hatte. Für Joe machte das keinen Unterschied. Ihr war es egal, ob Marc schwul war oder nicht.

»Wissen Männer überhaupt, was sie wollen?« Alfs Gesicht zeigte eine Spur von Traurigkeit. Seit zwei Jahren hatte er keinen festen Freund mehr gehabt und schätzte One-Night-Stands ebenso wenig wie Joe.

»Wissen wir denn immer, was wir wollen?« Joe fiel nicht auf, dass sie bei ihrer Gegenfrage Alf in die Weiblichkeit mit einbezog. Das war nicht weiter verwunderlich. Alf pflegte immer seine feminine Seite, obwohl er keineswegs eine Tunte war.

»Ich dachte, du wüsstest es jetzt. Du hast Konstantin, und du hast dein Studium.«

»Konstantin schon, doch mein Studium ist schwer gefährdet.« Joe seufzte. Damit waren sie bereits mitten im Thema.

Es war ein windiger Abend, und die ersten Blätter, die sich rot und gelb färbten, kündigten den Herbst an, doch mit den vielen bunten Kissen und unzähligen Kerzen, die überall brannten, mutete es in der Wohnung warm und heimelig an. Einträchtig setzten sie sich auf das Patchwork-Sofa, das eigentlich kein Patchwork-Sofa war, doch Alf hatte eine bunte Flickendecke darübergelegt, da der Sofabezug seine besten Zeiten längst hinter sich hatte. Joe stellte die Schüssel mit dem Chili auf den Tisch im Wohnzimmer.

Dann begann sie zu erzählen, und niemand unterbrach sie. Das Chili brannte so scharf, wie Joe ihre Worte wählte, als sie über ihren Vater und sein Ansinnen sprach, dass sie schon wieder ihr geplantes Studium wegen der Firma verschieben sollte. Nachdem sie geendet hatte, schwieg sie. Aufmerksam blickte sie in die Gesichter ihrer beiden Freunde.

Wie immer, wenn Marc höchst konzentriert war, zwirbelte er eine dunkle Haarsträhne, und seine braunen Augen erschienen Joe noch dunkler als sonst. Alf hingegen saß so regungslos da, als hätte er sich erneut in eine silberne Statue verwandelt.

»Dein Problem ist, du willst schon aus Prinzip nicht das, was er will«, sagte Marc nach einem Moment des Schweigens. Mit dem Wort er meinte er natürlich Joes Vater. »Der Job ist nicht dein Problem. Oder warum kriechst du sonst unter jedes Waschbecken und ziehst einen Auftrag nach dem anderen an Land? Vergiss mal deinen Vater. Was willst du?«

Egal, wie sehr sich Joe auch bemühte, die Antwort auf seine Frage lag für sie wie hinter verschmutztem Fensterglas, durch das sie nicht blicken konnte. Es war ihr unmöglich, den Fokus klar auf ihre eigenen Bedürfnisse zu richten. Deshalb wich sie aus, sprach erneut vom Job, der sie – zugegebenermaßen – reizte, aber auch davon, dass ihr Vater sie ständig bevormundete, sich nicht für sie interessierte und ihr nie Anerkennung für ihr Engagement zollte.

»Trink einfach noch ein Bier.« Marc begriff, dass weiteres Insistieren keinen Sinn machte. So reichte er ihr eine neue Flasche, die Joe dankbar entgegennahm.

»Darf ich dich etwas fragen?« Diese Art der Höflichkeit war typisch für Alf. Er schien aus seinem tranceähnlichen Zustand erwacht zu sein.

Joe nickte. Alf durfte sie alles fragen, und das wusste er auch.

»Stell dir vor, du studierst. Du warst ewig auf keiner Baustelle mehr. Du gehst also jeden Morgen in die Uni, mittags in die Mensa, und abends sitzt du hier vor deinen Büchern und deinem Computer und lernst. Und plötzlich bietet dir eine fremde Firma die Bauleitung für diesen großen Auftrag an.« So viel und so lange sprach Alf selten an einem Stück. Er blickte Joe direkt in die Augen: »Hast du eine Idee, wie du dich in diesem Moment fühlen würdest?«

Joes Augen begannen zu leuchten. »Das wäre der Hit!«

Alf und Marc lächelten einander zu. Joes Antwort hatte sie nicht überrascht.

Am späten Vormittag fuhr Joe bei Konstantin vorbei. Bislang hatte sie weder etwas von ihm gehört noch ihn telefonisch erreicht. Sowohl daheim als auch auf dem Handy schaltete sich nur die Mailbox ein. Die noch heruntergelassenen Rollläden seines Hauses zeugten von gutem Schlaf, denn es war bereits kurz vor zwölf. Mit laufendem Motor sinnierte Joe, ob sie klingeln oder es besser lassen sollte. Einerseits hatten sie sich mehr oder weniger fest für ein gemeinsames spätes Frühstück verabredet, andererseits schlief Konstantin am Samstagmorgen gern und lange aus. Joe gab wieder Gas, denn sie wollte seine Träume nicht stören, und Sekunden später war Konstantins Haus aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Wie vermutet war der Firmenparkplatz leer. Joe war heilfroh, allein im Büro zu sein. Sie setzte sich an den Schreibtisch ihres Vaters, auf dem die Leistungsverzeichnisse und die Pläne jener Großbaustelle lagen. Wie immer, wenn sich Joe in ein Projekt vertiefte, vergaß sie darüber die Zeit, bis das Klingeln ihres Handys sie jäh aus der Arbeit riss. Ihr Herz hüpfte, als sie Konstantins schmeichelnde Stimme vernahm. Es war bereits vier Uhr am Nachmittag, und er rechnete es ihr hoch an, ihn nicht geweckt zu haben. Der lange Schlaf hatte ihn erfrischt, wie er sagte. Jetzt sei er bester Laune und bereit, sie die ganze Nacht zu lieben.

Joe lachte. Schlagartig fühlte sie sich glücklich.

»Geht es dir heute besser?« Seine Stimme schien sie zu liebkosen.

»Viel, viel besser. Tut mir leid, dass ich gestern so schlecht drauf war.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Aber ich habe Sehnsucht nach dir.«

»Ich auch nach dir.«

Sie verabredeten sich für kurz vor acht Uhr. Sie waren zu einem privaten Abendessen eingeladen, wie Konstantin ihr überraschend mitteilte. Julia und Hans Grafenberg, bedeutende Kunstsammler, waren seit Jahren mit Konstantin befreundet. Er hoffte, ihnen einen Edward Weston vermitteln zu können. Die Provision, die er dadurch verdienen konnte, war immens hoch. Wenn alles gut ging, so hatte Konstantin versprochen, würde er Joe zu einem Luxuswochenende nach Rom einladen.

Allein bei dem Gedanken daran verfiel Joe in Träumerei. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Hastig räumte sie den Schreibtisch auf, und als sie wenige Minuten später in ihrem Auto saß, nahm sie sich vor, eine dicke Gehaltserhöhung zu fordern, da sie sowieso die am meisten arbeitende, aber am schlechtesten bezahlte Mitarbeiterin der Firma war. Und von dem Geld würde sie sich in Rom viele, viele neue Kleider kaufen.

Das prunkvolle Tor zur breiten Einfahrt öffnete sich automatisch, und der Kies knirschte unter den Autoreifen, als sie durch den Park mit stolzen Zypressen und kugelig geschnittenen Buchsbäumen vor die Villa der Grafenbergs fuhren. Mit den brennenden Fackeln an der Eingangstür mutete die Villa in der Dunkelheit wie ein Märchenschloss an.

Ein Hausangestellter öffnete die Tür. Joe streckte ihm freundlich die Hand entgegen, da sie ihn für den Herrn des Hauses hielt.

»Die Herrschaften sind im Salon«, sagte der Butler distinguiert.

Joe wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Na, Herr Hartmann, wie geht's?«, fragte Konstantin.

Über das Gesicht des Butlers huschte ein höfliches Lächeln. »Danke, Herr Wastian. Sehr gut.«

Konstantin legte den Arm um Joe, als sie Herrn Hartmann in den Salon folgten. In der Eingangshalle und auch im Salon standen überall Skulpturen. Joe ahnte, dass auch die Bilder und die Fotografien an den Wänden ein Vermögen wert sein mussten.

Julia und Hans Grafenberg erhoben sich aus ihren Clubsesseln, die vor dem knisternden Kamin standen, und kamen mit einem herzlichen Lächeln auf sie zu. Hans Grafenberg war ein stattlicher Mann, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. Obwohl er die sechzig bereits überschritten hatte, war er sich noch immer seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Sein Händedruck war fest, als er Joe von oben bis unten musterte.

»Jetzt weiß ich, warum Konstantin Sie so lange vor mir versteckt hat.« Wohlwollend drückte er noch kräftiger zu.

Da er offenbar keinen Kommentar erwartete, lächelte Joe und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie Julia Grafenberg, eine Frau um die vierzig, Konstantin charmant begrüßte. Joe erinnerte sich, diese Frau bereits auf der Vernissage bemerkt zu haben. Jetzt trug sie ein schlichtes sandfarbenes, aber raffiniert ausgeschnittenes Kleid, das Joe in der Auslage eines jener noblen Geschäfte in der Maximilianstraße gesehen hatte. Ihr Hals wurde von einer breiten, goldenen Kette geschmückt, und das blonde Haar fiel ihr weich ins Gesicht. Joe wurde bewusst, dass ihr eigenes Kleid von H&M war und mit Sicherheit weniger gekostet hatte als das Parfum dieser Dame.

Der Champagner, der von Herrn Hartmann gereicht wurde, löste Joes Beklemmungen angesichts all dieses Prunks, und als das Dinner kurz darauf im Speisezimmer bei Kerzenschein serviert wurde, hatte Joe bereits ihre Verlegenheit vollkommen überwunden. Ungezwungen lachte sie mit Hans Grafenberg, der ihr gegenübersaß und höchst witzig eine Anekdote nach der anderen zum Besten gab. Konstantin war in ein Gespräch mit Julia Grafenberg vertieft, in dem es wie immer um Kunst ging und an dem sich Joe besser nicht beteiligte, obwohl sie seit Wochen täglich in einem sündhaft teuren Kunstratgeber blätterte, den sie über Amazon gebraucht erworben hatte und der jetzt auf ihrem Nachttisch lag.

Dann servierte Herr Hartmann leider Austern. Sie lagen auf silbernen Tellern auf Eis und schienen Joe anzustarren.

Joe hasste Austern. Sie glibberten so auf der Zunge, und der Geschmack nach Salz, Meer und Algen verursachte ihr einen üblen Brechreiz. Mit einem kräftigen Schluck Weißwein spülte sie das erste Tier tapfer und unzerkaut hinunter.

»Sie mögen keine Austern?« Julia Grafenberg, ganz aufmerksame Gastgeberin, war Joes Abneigung nicht entgangen, und sie schlug vor, ihr stattdessen eine rosa gebratene Gänsestopfleber bringen zu lassen.

»Nein danke, wirklich nicht nötig.« Verlegen stocherte Joe mit der kleinen Austerngabel am Rand der harten Muschel, um das Fleisch zu lösen. Nicht für Geld und gute Worte hätte sie jetzt noch die überfettete Leber qualvoll gemästeter Gänse schlucken können.

Beruhigend tätschelte Konstantin ihr Bein, um dann mit einem jungenhaften Schmunzeln seinen bereits geleerten Austernteller gegen Joes Teller auszutauschen.

»Gut für die Potenz.« Hans Grafenberg zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Joe war erstaunt. Auch in besseren Kreisen waren die Witze nicht besser als auf dem Bau.

Während Herr Hartmann den Hauptgang servierte, verstummte wie auf Kommando die leise Hintergrundmusik, da das letzte Lied auf der CD zu Ende war. Jetzt hörte Joe das Gluckern ganz deutlich. Es stammte von einer Heizung, die dringend entlüftet werden musste. Auch Konstantin und die Grafenbergs blickten automatisch hinüber zu den großen Jugendstil-Fenstern, vor denen breite, gusseiserne Heizkörper montiert waren.

»Ach, diese Heizung! Wir haben immer Probleme damit.« Julia Grafenbergs Ausruf entbehrte nicht einer gewissen Theatralik.

»Die müssen nur gescheit entlüftet werden. Reine Routine.« Joe sprach, ohne nachzudenken, da sie sich ganz auf ihr Rinderfilet mit Morchelsauce und Kartoffelgratin konzentriert hatte. Dieser zweite Gang war endlich nach ihrem Geschmack.

Joe spürte die erstaunten Blicke der Grafenbergs, und ihr wurde klar, dass Handwerker normalerweise nicht zu den Gästen dieses Hauses zählten.

»Johanna ist auch …«, setzte Konstantin zu einer Erklärung an, doch Joes strenger Blick ließ ihn verstummen. Um seine abrupte Pause zu vertuschen, trank er erst mal einen kräftigen Schluck Wein.

»… wirklich ungewöhnlich praktisch veranlagt«, beendete Julia Grafenberg den Satz lächelnd für ihn, um sich danach über die Selbstständigkeit der jungen Frauen von heute auszulassen. Nicht ohne Koketterie gestand sie, dass sie nicht einmal wusste, wo sich in diesem Haus der Sicherungskasten befand.

»Handwerker bewegen doch nur ihren Hintern hierher, wenn sie dir eine komplette Heizungsanlage verkaufen können. Das ist ja das Kreuz!« Hans Grafenberg hasste es, sich über dieses profane Thema zu unterhalten. »Wollten wir nicht noch nach Schottland zum Golfen, bevor der Winter kommt.7«, fragte er Konstantin.

»So kann man das nicht sehen.« Joe klang schroffer, als sie es beabsichtigt hatte. »Es gibt überall schwarze Schafe, aber die meisten Handwerker sind zuverlässig und gut, und ohne Handwerker würden Sie gar nicht hier sitzen.«

»Ein Plädoyer für die Handwerkerzunft von dieser jungen Dame? Wie ungewöhnlich! Aber ich habe so einen guten, zuverlässigen Handwerker noch nie getroffen.« Hans Grafenberg schien immer das letzte Wort haben zu wollen.

Konstantin streichelte beruhigend Joes Oberschenkel. Bevor Joe sich erneut zu einer Bemerkung hinreißen ließ, erhob sich Julia Grafenberg. Damit war das Thema endgültig beendet.

Kaffee und Cognac wurden im Salon gereicht. Hans Grafenberg rauchte eine dicke Zigarre. Aufmerksam hörte er Konstantin zu, der ausnahmsweise ebenfalls eine dicke Zigarre paffte und über die wahrscheinliche Wertsteigerung der Masterprints von Paul Strand philosophierte, von dem Joe noch nie zuvor etwas gehört, geschweige denn gesehen hatte.

Julia Grafenberg spürte, dass Joe zu diesem Thema auch gern eine Meinung gehabt hätte. »Im Esszimmer hängen drei Strands.«

»Ja, richtig«, erwiderte Joe schnell und fügte hinzu: »Ich würde sie mir gern noch einmal genauer anschauen.«

»Aber bitte.« Julia Grafenberg wollte aufstehen, doch Joe winkte ab.

»Bemühen Sie sich nicht. Vielen Dank.«

Mit einem charmanten Lächeln und ihrem Cognacglas in der Hand erhob Joe sich und ging ins Esszimmer – dabei bemühte sie sich um einen höchst grazilen Gang, denn die taxierenden Blicke der anderen konnte sie förmlich in ihrem Rücken spüren. Sie war heilfroh, für einen Moment dieser Gesellschaft entfliehen zu können.

Die Fotografien von Farnen und Zweigen in Schwarz-Weiß langweilten Joe bereits nach wenigen Minuten, umso mehr irritierte sie wieder das Gluckern der Heizkörper. Sie zögerte kurz, doch dann siegte der Klempner in ihr. Sie öffnete ihre winzige Abendtasche, die Konstantin ihr zum ersten Monatstag geschenkt hatte, und zog ihren Schlüsselbund heraus, an dem auch ein paar Entlüftungsschlüssel hingen. Ein prüfender Blick zur Tür, und schon kniete Joe vor dem ersten Heizkörper. Mit Zufriedenheit vernahm sie den hohen, zischenden Laut der austretenden Luft, bis schließlich die für alte Heizrohre typische rostig-braune Flüssigkeit herausspritzte. Joe fing das Wasser in ihrem leeren Cognacglas auf und wunderte sich, dass Menschen so viel Geld für Kunstwerke, aber so wenig für Rohrleitungen ausgaben. Diese hier mussten einfach dringend erneuert werden. Kaum hatte sie das Ventil geschlossen, hörte sie Schritte auf dem glänzenden Parkett.

Panik erfasste Joe. Vor Schreck kauerte sie regungslos auf dem Boden. Der Cognacschwenker war zur Hälfte mit braunem Heizungswasser gefüllt. Der Esstisch versperrte noch die Sicht auf ihr Tun. Suchend blickte Joe sich um, aber es war kein Blumentopf in greifbarer Nähe, in den sie die braune Brühe hätte schütten können.

»Johanna! Wo steckst du denn?« Das war Konstantins Stimme.

Die kleine Gesellschaft kam immer näher, sodass Joe nichts anderes übrig blieb, als sich zu erheben. Sie lächelte Konstantin und Julia Grafenberg an, die nun direkt vor dem Tisch standen.

»Was machst du denn da?« Konstantin war ernsthaft verblüfft.

Joe fiel nichts Überzeugenderes ein, als vorzugeben, einen Ohrring zu vermissen, obwohl sie gar keine Ohrringe trug. Sie hatte nicht einmal Löcher gestochen.

»Ich werde ihn suchen lassen. Ich bin sicher, er wird sich bald finden. Dieses Haus verliert nichts.« Julia Grafenberg überging, dass Joe heiße Röte ins Gesicht geschossen war. Dafür war Joe ihr in diesem Moment unendlich dankbar.

»Na dann, zum Wohl.« Konstantin hob sein Glas, und Joe dachte erleichtert, dass sich der Cognac farblich kaum merklich von der Flüssigkeit in ihrem Glas unterschied. In einem Zug und ohne das Gesicht zu verziehen, trank sie die rostige Flüssigkeit.

Es regnete, als Joe eine Stunde später mit Konstantin nach Hause fuhr. Der Abend hatte sie mehr erschöpft als alle Überstunden auf dem Bau.

»Du hast doch gar keine Ohrringe getragen, oder?«, fragte er, während sie durch die Dunkelheit fuhren.

»Ich habe die Heizkörper entlüftet.« Sie sprach so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

»Du hast was?«

»Die Heizkörper entlüftet.«

Konstantin blickte irritiert zu ihr, dann musste er sich wieder auf den Straßenverkehr konzentrieren.

»Ich kann so was einfach nicht hören. Da war so viel Luft drin! Die Leitungen könnten sie übrigens auch mal erneuern. Kommt ja mehr Rost als Wasser.«

»Das glaube ich einfach nicht.«

»Doch.« Joe klang ganz kleinlaut.

»Und was hast du mit dem Wasser gemacht?« Sein besorgter Blick zeigte ihr, dass er an den kostbaren Mosaikfußboden dachte.

»Getrunken.«

Konstantin brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann brach er in hemmungsloses Gelächter aus und hörte erst auf zu lachen, als er Joes bekümmerte Miene bemerkte. Liebevoll nahm er sie in den Arm. Er küsste sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Dafür liebe ich dich noch viel mehr.«

»Dann haben wir ja Glück.« Joe hatte ihren Humor wiedergefunden. Jetzt war ihr endlich danach, ihm ihre jüngste Lebensentscheidung mitzuteilen. »Weißt du, gestern Abend hatte ich eine wichtige Entscheidung zu treffen. Ich verschiebe mein Studium. Ich will vorher noch meine erste eigene Großbaustelle leiten. Mein Vater hat mir das Angebot gemacht.«

»Dann verlegst du also weiterhin Rohre?« Der Schalk blitzte nur so aus seinen Augen, als er Joe zärtlich zu sich herüber auf den Fahrersitz zog und sie küsste.

»Sicher!« Joe lachte, obwohl sie solche Witze verabscheute. Nur Konstantin durfte so etwas zu ihr sagen.

Vier

Wie Hühner auf der Stange standen die Handwerker auf dem Außengerüst des gigantischen Rohbaus. Ungeniert musterten sie Joe. Einige pfiffen anerkennend. Diese altbekannte chauvinistische Attitüde, die Joe immer registrierte, wenn sie zum ersten Mal auf einer neuen Baustelle erschien, auf der die Arbeiter sie noch nicht kannten, berührte sie längst nicht mehr. Sie lächelte selbst dann noch vergnügt, als einige Handwerker so dreist pfiffen, als wäre sie das Pin-up-Girl in ihrem Spind. Dabei war Joe in ihrem Blaumann, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, von einem Pin-up-Girl so weit entfernt wie Angelina Jolie von einer Klempnerin.

»Sie können ruhig weiterarbeiten, meine Herren. Ab heute komme ich täglich«, rief Joe gut gelaunt und blickte dabei nach oben in die von Wind und Wetter gegerbten Gesichter.

Wie eine laute Fanfare drang hemmungsloses Gelächter zu ihr herunter. Joe blieb stehen. Sie hatte die fatale Doppeldeutigkeit ihrer Worte erkannt.

»Ich auch«, tönte es wie ein Echo zurück.

Joes Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Sie wusste, dass dies der Zeitpunkt war, um sich hier ein für alle Mal Respekt zu verschaffen. Souverän fixierte sie den Mann, der am lautesten gebrüllt hatte. »Jetzt verstehe ich«, sagte sie und betonte jedes ihrer Worte pointiert und genüsslich, »deshalb brauchen Sie wohl auch diese Pause.«

Verblüfft über diesen coolen Konter lachten die Männer noch lauter. Aber diesmal galt das Lachen nicht ihr, sondern dem Mann, den Joe fixiert hatte. Er war ein anständiger Verlierer. Er grinste und nahm die Arbeit wieder auf. Das war auch für die anderen das Signal: Die Show war zu Ende, der Applaus gehörte Joe.

Sie betrat den Rohbau, in dem es nach frischem Mörtel roch. Die ganze Nacht hatte es wie aus Badewannen geschüttet, aber zum Glück standen Wände und Decken so weit, dass die gewaltigen Wasserfluten keinen Schaden mehr an der Bausubstanz hatten anrichten können. Aufmerksam ging Joe von einer Etage in die andere, um zu überprüfen, ob sich die Schlitze und Aussparungen für die Rohrleitungen an ihrem planmäßigen Platz befanden und ihre Männer und sie morgen mit den Arbeiten beginnen konnten.

Hilda Benk blickte nur kurz vom Computer auf, als Joe am späten Nachmittag das Büro betrat, nachdem sie das Material im Lager hinter dem Haus hergerichtet hatte. Als das Telefon im Büro klingelte, wünschte sich Joe, gleich Konstantins sonore Stimme zu hören. Aber es war nur Franz Wagenscheidt. Er erkundigte sich, ob die Arbeiten morgen wie vereinbart beginnen würden.

»Alles bestens, ich komme gerade von der Baustelle. Morgen fangen wir an. Mit vier Mann.« Joe war voller Elan, bis sie den autoritären Blick ihres Vaters spürte, der gerade das Büro betreten hatte.

»Gib ihn mir mal!« Er sprach zwar leise, ließ jedoch dennoch nicht den gewohnten Befehlston vermissen.

Joe drehte ihm den Rücken zu, setzte ihr Gespräch fort und sagte höchst freundlich: »Ja, ganz wie geplant. Das Material ist auch schon hergerichtet.«

»Was ist mit dem Raum dafür? Hast du an die Bautür gedacht?« Schon wieder stand ihr Vater vor ihr. Er redete jetzt so laut dazwischen, dass es peinlich wurde. So gut es ging, versuchte Joe, ihn zu ignorieren, und verabredete sich mit Wagenscheidt für den kommenden Tag. Dann legte sie den Hörer auf. Wütend blitzte sie ihren Vater an:

»Bitte lass das in Zukunft! Willst du mich als unfähig hinstellen, oder was sollte dieses ständige Dazwischenreden?«

»Hast du die Aussparungen für die Rohrleitungen mit den Plänen verglichen?« Ihr Vater hielt weder eine Antwort noch eine Rechtfertigung, geschweige denn eine Entschuldigung für nötig.

»Ja, ja, ja! Das habe ich alles erledigt! Aber ist das jetzt deine oder meine Baustelle?«

»Es ist immer noch meine Firma!«

»Wie konnte ich das vergessen!« Die Ironie in Joes Stimme war nicht zu überhören.

»Dann denk auch daran! Es darf nichts schief gehen. Wagenscheidt ist schließlich unser größter Kunde.«

»Ich weiß. Ich habe ihn ja selbst an Land gezogen.« Joe zwang sich zur Ruhe.

»Du bist unverschämt.«

»Nein. Ich möchte nur, dass du aufhörst, dich einzumischen. Es ist meine Baustelle.«

Sichtlich verblüfft starrte ihr Vater sie an.

»Hört auf zu streiten«, mischte sich Hilda Benk ein. Sie stand auf und schlüpfte in ihren Mantel. Es war fast sechs. Sie hatte nun Feierabend und wollte wie jeden Abend noch ein wenig allein spazieren gehen, um durchzuatmen und die Gedanken zu ordnen. Auch Joe schnappte sich ihre Jacke und schickte sich an, schnellstens das Büro zu verlassen.

»Von mir hat sie diese Art nicht«, hörte sie ihren Vater noch im Hinausgehen poltern.

»Sie hat alles so gut vorbereitet. Du hättest sie ruhig mal loben können.«

»Loben? So etwas Albernes! Mich lobt auch keiner.«

Es regnete, als Joe auf den Hof trat. Sie atmete tief durch. Die Luft schien ihre Seele zu reinigen und den Frust allmählich wegzuspülen. Es war widersinnig, sich von ihrem Vater den Abend verderben zu lassen. Joe stieg in ihren Pick-up und legte die CD ein, die Konstantin ihr geschenkt hatte.Ifyoudon'tknowmebynow. Andere hätten sich bestimmt schon längst daran satt gehört, denn Joe spielte den Song auf jeder Fahrt mindestens einmal. Und auch jetzt summte Joe mit, hing ihren Gedanken nach, und als sie an einer roten Ampel anhalten musste, fiel ihr Blick wie automatisch auf ein Schaufenster. Da waren Träume in Weiß mit Schleier und Brautkranz, die sie wie magisch anzogen. Sie sah sich auf einmal mit jenem glücklichen Lächeln, das der Schaufensterpuppe ins Gesicht modelliert war. Die Züge der smarten Puppe im Frack glichen erstaunlicherweise Konstantins Gesichtszügen.

Joe seufzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie, von wem sie diesen symbolträchtigen Ring an den Finger gesteckt bekommen wollte. Joe fiel nichts, aber auch gar nichts ein, was dagegen sprechen konnte, ihn zu heiraten. Mit Konstantin konnte sie lachen. Sie freute sich, dass er den Schöngeist besaß, der ihr fehlte – noch fehlte, denn mit ihm war sie auf dem besten Wege, einen Sinn für Kunst und Kultur zu entwickeln. Sie liebte es, ihn zu schmecken und zu riechen, er war ein wunderbarer Liebhaber, der ihr ungeahnte Empfindungen bescherte. Konstantin war für Joe Gegenwart und Zukunft. Sechs Monate, drei Wochen und vier Tage waren sie nun ein Paar. Joe dachte an die vielen gemeinsamen Jahre, die noch vor ihnen lagen. Dabei wurde es ihr so warm ums Herz, dass sie die Heizung runterdrehen musste. Erst als die Autofahrer hinter ihr ein Hupkonzert veranstalteten, registrierte sie, dass die Ampel längst auf Grün geschaltet hatte.

»Das sind die Hormone.« Alf lachte, als Joe ihm von ihrem Tagtraum erzählte. Dabei füllte er sorgsam die Rinderrouladen mit Speck und Gurke. Rinderrouladen waren Joes Leibgericht. Alf versuchte stets, ihr eine Freude zu bereiten, wenn er ahnte, dass sie Konstantin vermissen könnte. Seit vier Tagen war er bereits geschäftlich in New York. Alf wusste, dass Joe sich nachts allein in ihrem Bett wie eine Süchtige auf Entzug fühlte.

»Ihr müsst euch unbedingt näher kennenlernen.« Sie schickte einen prüfenden Blick zu Alf hinüber. Ihr war schon länger aufgefallen, dass die beiden Männer es perfekt verstanden, einander aus dem Weg zu gehen. Zugegebenermaßen war das recht einfach, da Konstantin es vorzog, die Abende und Wochenenden nicht bei Joe, sondern mit ihr in seinem luxuriösen Haus zu verbringen, für das auch zweifelsfrei die Größe, der offene Kamin, die Sauna, das große Bett und das Heimkino sprachen. Joe war das ganz recht. Sie liebte es, bei ihm zu sein.

»Na ja, er ist einfach so anders als ich.« So vorsichtig, wie Alf seine Worte formulierte, legte er auch die fein säuberlich gerollten und mit Küchengarn zusammengebundenen Rouladen ins heiße Fett.

»Er ist ja auch nicht schwul«, meinte Joe augenzwinkernd.

Zwischen Zwiebelschneiden und Knoblauchpressen versicherte Alf, dass er keinerlei Vorurteile hegte, auch wenn er Menschen, denen Ruhm und Geld viel wichtiger waren als ihm, lieber aus dem Weg ging, da er einfach keine gemeinsame Ebene mit ihnen finden konnte. Joe wusste, worauf er anspielte. Voller Unbehagen erinnerte sie sich an den einzigen Abend zu dritt, an dem Konstantin sie in ein Zwei-Sterne-Lokal am Chiemsee eingeladen hatte. Er hatte endlich den Mann kennenlernen wollen, der Joe so nahe stand.

Das Treffen war von Anfang bis Ende ein Desaster. Konstantin konnte es kaum fassen, dass Alf sich extra für diesen besonderen Abend die Fingernägel lackiert hatte (immerhin durchsichtig). Und Alf, der die Langsamkeit liebte, bekam fast einen Infarkt, als Konstantin mit zweihundertzwanzig Stundenkilometern über die Autobahn raste. Sooft Joe auch ein nächstes Treffen arrangieren wollte – keiner der beiden Männer schien ernsthaft an einer Wiederholung dieses Abends interessiert zu sein. Stets hatten beide andere Pläne, versicherten ihr aber, dass aufgeschoben nicht aufgehoben sei.

»Auch wenn er schwul wäre, wäre er nicht mein Typ. Da kannst du ganz beruhigt sein.« Alf goss etwas Rotwein in den Topf, um das Fleisch abzulöschen, und schloss zufrieden den Deckel.

»Danke«, sagte Joe lachend. Dann wurde sie nachdenklich.

»Findest du nicht, dass es Schicksal war, dass ich ihn getroffen habe?«

»Alles ist Schicksal«, kommentierte Alf lakonisch.

»Nein, ich meinte, dass Konstantin und ich eine … karmische Verbindung haben.«

»Ja, karmisch ist die bestimmt.«

»Vielleicht war das an der Ampel ja doch ein Zeichen, und wir heiraten wirklich.« Joe hatte dieses besondere Leuchten in den Augen, als sie fragte: »Du wärst doch dann mein Trauzeuge, oder? Versprochen?«

Alf sah, dass die Fantasie Joe auf einen gefährlichen Trip gebracht hatte. Als sie seinen besorgten Blick sah, musste sie lachen.

Alf registrierte das mit Erleichterung. Er hielt es für ungesund, sich so in eine Vision hineinzusteigern, die nur dazu verführte, das Drehbuch des eigenen Lebens schreiben zu wollen.

»Träumen darf man ja mal.« Joe schien Alfs Gedanken erraten zu haben. Verlegen beeilte sie sich, Teller, Servietten und Besteck aus dem Schrank zu holen, um den Tisch im Wohnzimmer zu decken.

Es war kurz vor neun, als es an der Tür klingelte. Joe und Alf waren erstaunt, denn sie erwarteten keinen Besuch.

»Ja, bitte?«, fragte Joe neugierig durch die Gegensprechanlage.

»Blumen für Johanna Benk.«

»Oh! Vierter Stock.« Verblüfft drückte sie auf den Türöffner. Wenig später stürmte ein junger Mann in Jeans und Regenjacke die Treppe empor und streckte ihr einen gigantischen Rosenstrauß entgegen. Joe war so überwältigt, dass sie vergaß, ihm ein Trinkgeld zu geben. Das fiel ihr erst ein, als die Haustür so laut ins Schloss fiel, dass Joe oben an der Wohnungstür noch zusammenzuckte. Der Stopper war nämlich kaputt. Joe nahm sich vor, ihn bald zu reparieren. Bis der Hausmeister seinen Pflichten nachkam, konnte es dauern. Manchmal vermutete Joe allerdings, dass er extra so lange wartete, weil er wusste, Joe würde ihm die lästige Arbeit schon abnehmen.

Kurz darauf stand sie wieder strahlend im Wohnzimmer und wiegte die langstieligen Rosen im Arm. Alf war nicht wenig beeindruckt. Er vergaß sogar das letzte Stück Roulade auf seiner Gabel, die er gerade zum Mund hatte führen wollen.

»Konstantin!«, sagte Alf überflüssigerweise. Beiden war natürlich klar, dass nur Konstantin die Rosen geschickt haben konnte. Sie kannten keinen anderen Menschen, der so viel Geld für Blumen ausgeben konnte. »Aha, der Brautstrauß.« Er grinste breit.

Joe grinste zurück. »Blödmann.« Akribisch begann sie, die Rosen zu zählen. »Es sind achtundzwanzig.« Ihre Stimme klang zufrieden.

»Achtundzwanzig.«

»Wieso fragst du?«

»Aber du wirst doch erst in drei Monaten achtundzwanzig?«

»Ja, stimmt«, murmelte Joe etwas nachdenklich. »Auf diese Verbindung wäre ich jetzt nicht gekommen. Das ist Zufall. Das sind nur einfach ganz viele Blumen.«

»Es gibt keinen Zufall.«

Joes Verwirrung wuchs. Sie beeilte sich, die kleine Grußkarte aus dem Umschlag zu ziehen, die an dem Papier des Blumenladens angeheftet war, und las vor: »Meiner süßen Liebe die herzlichsten Glückwünsche. In zärtlichen Gedanken. Dein Konstantin.«

Eine Zeit lang blickte sie nachdenklich auf die Karte. Auch Alf schwieg. Dann kombinierte sie: »Das sind keine verfrühten Blumen zum Geburtstag, Alf. Was du ihm da schon wieder unterstellst!« Sie sagte das in einem belustigten Tonfall. »Konstantin hat einfach daran gedacht, dass ich heute meinen ersten Arbeitstag auf meiner eigenen Baustelle hatte. Er hätte auch nur drei Rosen schicken können. Die Anzahl ist unwichtig. Es geht um die Geste.« Joe wirkte irgendwie erleichtert. »Ist das nicht aufmerksam von ihm?« Sie hätte Konstantin am liebsten sofort angerufen. Aber leider saß er in diesem Moment und für die nächsten zehn Stunden im Flieger, der ihn jedoch zum Glück bald zu ihr zurückbringen würde. Also umarmte Joe stellvertretend einfach Alf.

Die Sonne schickte goldene Strahlen zur Erde, und der Himmel war blau wie gemalt, als Joe am nächsten Morgen ihren alten Kastenwagen, voll beladen mit Verbindungsstücken und Rohren, auf dem Baugelände neben dem schweren silberfarbenen Mercedes Franz Wagenscheidts parkte. Zwei ihrer eigenen Firmenwagen standen entladen daneben. Das sprach dafür, dass »ihre« Männer Marc, Kulzer, Huber und Hoffmann bereits pünktlich bei der Arbeit im Rohbau waren.

Joe stieg aus und stiefelte im Arbeitsoverall und mit festen Schuhen an den Füßen über das Baugelände. Den Zollstock hatte sie wie üblich in die Hosentasche gesteckt. Beschwingt steuerte sie auf den grauen Container zu, in dem sich das Baubüro mit Computeranlage, Kaffeemaschine und Kühlschrank befand.

»Guten Morgen, Herr Wagenscheidt.« Joe schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als sie den Container betrat. Die Kaffeemaschine hatte ihren Duft schon entfaltet, und hier drinnen war es angenehm warm.

»Freut mich, Sie zu sehen.« Wagenscheidt legte die Zeitung zusammen. Er beeilte sich aufzustehen und begrüßte Joe mit einem kräftigen Händedruck. »Kaffee?«

»Gern. Ich habe noch Material mitgebracht.« Sie sagte es wie zur Entschuldigung. Er sollte nicht glauben, sie würde erst nach ihren Arbeitern den Tag beginnen. »Der Chef kommt als Erster und geht als Letzter.« Dieser Merksatz ihres Vaters war nämlich fest in ihrem Kopf verankert.

Wagenscheidt reichte ihr einen Kaffee. Sie setzten sich an den langen Besprechungstisch gegenüber der Planungswand, auf der mit bunten Farben die Termine aller Gewerke markiert waren. Nachdem sie die Arbeitsabläufe besprochen hatten, blickte Wagenscheidt sie wohlwollend an. »Tja, dann auf gute Zusammenarbeit.«

»Wird schon schief gehen.« Ihr Blick war so souverän, als würde sie seit Jahren nichts anderes machen, als ganz allein die Sanitär- und Heizungsinstallationen einer Großbaustelle zu planen und zu leiten.

Wagenscheidt stand auf und zog seine makellose braune Lederjacke an, die ihm ein jugendliches Aussehen verlieh, obwohl er um die sechzig sein musste. »Wissen Sie, ich will Ihnen keinesfalls zu nahe treten, aber in den zwanzig Jahren, in denen ich Oberbauleiter bin, hatte ich noch nie mit einer Frau zu tun. Ehrlich gesagt, Sie haben mich schon bei unserem ersten Treffen beeindruckt.«

»Danke.« Joe überspielte ihre Freude, indem sie nochmals prüfend einen Blick auf die Planungswand und ihre Unterlagen warf, die vor ihr auf dem Besprechungstisch ausgebreitet lagen. »Es ist wichtig, dass Ende des Monats die Fenster drin sind. Sonst können wir die Heizkörper nicht termingerecht setzen«, erklärte sie geschäftig.

»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum.« Bevor Wagenscheidt den Baucontainer verließ, drehte er sich nochmals um und musterte sie lächelnd. »Ihr Vater ist bestimmt stolz auf sie. Eine so schöne junge Frau in einem so harten Männerjob.«

»Ja«, sagte Joe. »Das ist er.«

Schade nur, dass das eine Lüge war.

Mit Huber und Marc kniete Joe auf dem rauen Betonboden im Rohbau. Gemeinsam studierten sie den Bauplan, während Kulzer und Hoffmann suchend daneben einen Schacht ausleuchteten.

»Hier. Da sind sie ja«, meinte Joe und zeigte auf eine markierte Stelle im Plan. »Für die Heizungen gibt es extra Aussparungen.« Dann stand sie auf und deutete mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe geschäftig in die Tiefe.

»Kann ich mal die Chefin sprechen?« Die Stimme, die nur aus wenigen Metern Entfernung zu ihr herüberklang, ließ ihr Herz im Akkord schlagen.

Hastig sprang Joe auf. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und sie brachte kein Wort hervor. Er stand mit einem amüsierten Lächeln vor ihr. Direkt der First Class einer Airline entsprungen. Sein zweiter Blick galt seinen Schuhen. Der Weg zu ihr in den vierten Stock hatte Spuren auf den sonst blank polierten Pferdelederschuhen hinterlassen.

»Ihr schafft es auch fünf Minuten ohne mich, oder?« Joe schaute Huber geschäftsmäßig an und gab sich Mühe, ihre Freude zu verbergen.

»Logisch. Auch zehn«, antwortete Huber lächelnd. Er kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen war. Er hatte ihr alles auf dem Bau erklärt, immer dann, wenn ihr Vater keine Zeit dafür gehabt hatte.

»Ja, dann bis gleich.« Lächelnd ging sie auf Konstantin zu und dann gemeinsam mit ihm die Treppen hinunter. Joe spürte die Blicke der Monteure in ihrem Rücken. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie endlich außer Sichtweite waren. Dann legte Konstantin sofort lustvoll den Arm um ihre Hüften. Er drückte sie fest an sich und stöhnte kurz leidenschaftlich: »Ich habe dich so vermisst!«

»Ich dich auch.«

»Gut, dass ich nicht eifersüchtig bin.« Er lachte so, wie Joe es liebte.

»Wieso eifersüchtig?«

»Bei so vielen Männern, die du unter dir hast!« Konstantin grinste und nahm ihre Hand.

Joe lachte zurück. Bei ihm fand sie sogar solche Zweideutigkeiten charmant.

Sie setzten sich auf ein leeres Gerüst, genossen die Sonne und redeten. Konstantin sah sie dabei so intensiv an, als müsste er sie neu studieren. Joe wurde sich ihres schmutzigen Overalls und der schwarzen Ränder unter ihren Fingernägeln bewusst. Was sie augenblicklich verlegen machte.

»Du siehst so sexy aus«, flüsterte er ihr höchst erotisch ins Ohr.

»Nicht wirklich.« Joe strich sich den Staub aus den Haaren.

»Weiß du, was ich jetzt am liebsten machen würde?«

Da war schon wieder dieses Kribbeln in ihrem Bauch. »Was denn?«

»Ich würde dich gern küssen – erst deine Nasenspitze, dann deine Ohrläppchen, um dann weiter mit meiner Zunge zu deinem Hals zu wandern, dann zu deinem Nacken, so ganz sanft die Schultern herunter. Dabei würde ich deine Träger einfach herunterstreifen und mit meiner Hand über deinen Busen und deinen Bauch fahren, und dann …«

»… fallen wir vom Gerüst!« Joe brauchte dringend eine kalte Dusche. »Du machst mich ganz verrückt.«

»Schön.« Er gab ihr einen Kuss. »So soll das auch sein. Ich freue mich schon auf heute Nacht.«

»Ich mich auch«, seufzte Joe. »Ich habe mich übrigens so darüber gefreut, dass du daran gedacht hast. Danke. Ich konnte dich nur nicht gleich anrufen, weil du ja im Flieger gesessen hast. Das war echt süß von dir.«

»Süß?« Er verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse.

Joe lachte. »Na, dann eben liebevoll, aufmerksam, zärtlich, innig. Ich weiß schon, Männer wollen niemals süß sein!«

Konstantin schaute trotzdem irgendwie irritiert drein. »Danke? Wofür eigentlich?«

»Wie wofür?«

»Ja, wofür bedankst du dich?«

»Für die Rosen natürlich.«

»Rosen?«

»Die du mir geschickt hast!«

»Ich hab dir keine Rosen geschickt.«

Joe lachte auf. »Ach, komm! Es ist der schönste Strauß, den ich in meinem Leben bekommen habe.«

»Rosen? Von mir? Wann?«

Jetzt war Joe verwirrt. »Du musst doch wissen, dass du mir Rosen geschickt hast. Bei dem Strauß war sogar eine Karte mit Glückwünschen.«

»Ich bin doch nicht senil. Wofür sollten die denn gewesen sein?« Konstantin klang ein wenig gereizt.

»Na, ich dachte, du wolltest mir zu meiner neuen Baustelle gratulieren. Es waren achtundzwanzig. Ich habe sie gezählt.«

Schweigen antwortete ihr. Joe wurde langsam unsicher. Sie schauten einander an. Dann platzte Konstantin heraus:

»Dieser dämliche Blumenladen! Die waren für deinen Geburtstag bestellt!«

In Joes Kopf war plötzlich nur noch Watte. Ihr Bauch fühlte sich an wie auf hoher See. Selbst als Konstantin sich wieder gefangen hatte und zärtlich den Arm um sie schlang, legte sich der Sturm in ihrem Herzen nicht.

»Sorry, war ein dummer Zufall.« Er spürte ihre Stimmung und fuhr fort: »Nein, es war kein Zufall, es war Schicksal. Zu so einem Anlass sollte man Rosen bekommen.«

Joe schwieg beharrlich weiter.

»Komm, jetzt schau nicht so! Freu dich trotzdem über die Blumen.«

Joe schluckte. »Wieso bestellst du drei Monate im Voraus meine Geburtstagsblumen?«

In seinem Blick lag die Unschuld eines Buben. »Ist das sehr schlimm?«

»Irgendwie seltsam, findest du nicht?«

»Ach, Johanna!« Der leicht genervte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Jetzt hör mit diesem Unsinn auf. Du weißt doch, wie oft ich verreisen muss. Und wer weiß, wo ich an deinem Geburtstag bin. Ich muss private Dinge einfach organisieren, so unromantisch das auch für dich klingen mag. Freu dich doch, dass ich hier bin!«

Er hatte Recht. Seltsam fand Joe es dennoch.

Es war ein altmodischer Blumenladen mit einem ebenso altmodischen Bestellbuch mit goldener Schnörkelschrift, das jetzt vor dem Verkäufer auf dem Tresen lag, der mit getrockneten Rosenblüten, einer Duftlampe, Salzkristallen und Feng-Shui-Pyramide zu einem Kunstobjekt stilisiert war. Topf- und Trockenblumen präsentierten sich auf dem Marmorboden in italienischen Terrakotta-Töpfen. Die fertig gebundenen Sträuße, die in kunstvoll bemalten Tonvasen auf Käufer warteten, waren Meisterwerke der Bindekunst, und es gab hier die prächtigsten Orchideen, die Joe jemals gesehen hatte. Die Wände waren in warmen Rot- und Brauntönen mit einer speziellen Wischtechnik gestrichen, sodass man sich bereits beim Betreten des kleinen Ladens wohl und heimelig fühlte.

»Ach, die Bestellung von Konstantin Wastian«, sagte der Florist, ein sympathischer Mann um die vierzig. Er stellte sich als Thomas Mirnoff, Besitzer dieses Geschäftes, vor. »Herr Wastian hat die Galerie in der Nähe vom ›Bayerischen Hof‹.«

»Ja.« Joe konnte ihre Ungeduld kaum verbergen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822183
DOI
10.3239/9783942822183
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Januar)
Schlagworte
Frauenroman Liebesroman
Zurück

Titel: Der transparente Mann
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
book preview page numper 41
0 Seiten