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Niemand stirbt für ewig

Tod, Reinkarnation und Wiedergeburt

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Gibt es eine Wiedergeburt? Oder ist der Glaube daran nur Ausdruck unserer Sehnsucht nach Unsterblichkeit?
Dreiviertel aller Menschen glauben an Reinkarnation – jeder dritte Mensch ist überzeugt, dass Leben und Materie letztlich nicht zerstörbar, nicht auf ewig verloren sind. Das Vertrauen auf eine Wiedergeburt scheint ein urmenschliches Bedürfnis zu sein. So vermitteln nahezu alle Religionen die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, wenngleich auch die Vorstellungen darüber sehr unterschiedlich sind.
Kurt Allgeier hat alles zusammengetragen, was wir bis heute über Tod, Reinkarnation und Wiedergeburt wissen. Und er liefert unzählige Beweise dafür, dass Menschen schon einmal gelebt haben und sich an frühere Existenzen erinnern ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Der kleine Gregor

Zweifellos ergeht es uns allen so: Die Vorstellung einer Wiedergeburt übt eine starke Faszination auf uns aus. Doch gleichzeitig erschreckt sie uns auch.

Doch mit dem Gedanken, schon einmal oder mehrmals gelebt zu haben, können sich immer mehr Menschen auch in unserer Heimat anfreunden. Wenn der Hypnosearzt oder der Psychotherapeut uns in ein früheres Leben zurückführt und wenn wir erfahren, dass wir damals als angesehene Kurtisane am französischen Hof, als Priesterin im alten Rom oder als Minister im Ägypten der Pharaonen gelebt haben, dann mag das einen gewissen Glanz in den grauen Alltag des jetzigen Daseins bringen, eine nicht eben geringfügige Wertsteigerung: »Das war ich! Also bin ich doch jemand!« Wenn es sich herausstellen sollte, dass wir in einer früheren Inkarnation schwere Schuld auf uns geladen haben oder auch schmählich versagten, dann kann ein gegenwärtig schweres Schicksal plötzlich einsichtig werden – und wird vielleicht von da an sogar leichter zu tragen. Die Zahl der Menschen, die etwas über eine mögliche frühere Existenz erfahren möchten, wächst heute, kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend, sprunghaft an – nicht zuletzt deswegen, weil sich viele davon ein wichtiges Stück Selbsterkenntnis erhoffen: »Ich möchte mich selbst besser kennenlernen.« So begründen sie ihren Wunsch, frühere Leben ins Gedächtnis zu rufen. Und dieses Vorgehen ist nicht völlig abwegig. Sigmund Freud hat uns gelehrt, dass viele unserer Lebenskonflikte in frühkindlichen Erlebnissen begründet liegen. Und er hat auch behauptet, dass mit der Rückerinnerung an solche Erlebnisse die Lösung der Konflikte möglich ist.

War es da nicht logisch, dass moderne Wissenschaftler den Versuch wagten, über das frühkindliche Stadium hinauszugehen, immer noch weiter zurück; bis zum Leben im Mutterleib vor der Geburt, und noch weiter, bis in ein früheres Leben?

Außerdem: Wird mit dem Glauben an die Wiedergeburt nicht die Ungerechtigkeit des Lebens aufgehoben, die Frage beantwortet, die so viele Menschen quält: »Warum hat der eine immer nur Glück und Segen, darf in Saus und Braus leben, während andere ihr Leben lang von einem Schicksalsschlag nach dem anderen heimgesucht werden?«

Das eine und einzige irdische Leben ohne Davor und Danach kann auf diese drängende Frage keine Antwort geben. Und da es heute immer schwerer wird, an eine ewige Hölle zu glauben, in der die Frevler nach dem Tod büßen müssen, an ein zeitlich begrenztes Fegefeuer, das die Gerechtigkeit wiederherstellen könnte, stellt der Glaube an die Wiedergeburt den wohl einzig denkbaren Ausweg dar: Du hast dir dein Schicksal in deinen früheren Inkarnationen selbst eingebrockt! Und: Beneide den Reichen, den Satten, den Mächtigen nicht. Entweder hat er sich sein Glück redlich verdient – oder, falls er auf Kosten anderer glücklich ist, wird er in seinem nächsten Leben dafür büßen müssen! Diese mögliche nächste Wiedergeburt flößt uns jedoch großes Missbehagen ein. So schön ein Rückblick sein mag: Was wird mir das nächste Mal blühen? Wer möchte tatsächlich noch einmal von vorne anfangen müssen, seiner Fehler wegen möglicherweise unter schwierigeren Voraussetzungen? Ist diese Wiedergeburt tatsächlich eine Chance – oder muss ich nicht viel mehr in der Wiederholung eine erbarmungslose Strafe sehen? Soll ich mich freuen auf ein neues Leben in einer Welt, die möglicherweise von Atombomben zerstört wurde, die radioaktiv verstrahlt ist, in ihrer Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen? Soll das eine Vorstellung sein, die mich befreit und beglückt?

Faszination im Blick zurück – Schrecken vor dem, was vor uns liegen könnte. Dies empfinden wir, wenn wir uns ernsthaft mit der Idee der Reinkarnation befassen.

Denn schließlich handelt es sich dabei nicht um eine mehr oder weniger nebensächliche Gedankenspielerei, nicht um eines unter vielen Alltagsproblemen – sondern tatsächlich um die Existenzfrage schlechthin: Wer bin ich? Welchen Sinn und welches Ziel hat mein Leben? Gibt es nur dieses eine gegenwärtige irdische Leben, oder stellt mein diesmaliger »Auftritt« nur eine flüchtige Episode meiner wirklichen Existenz dar?

Solche Fragen stellen sich heute aus drei Gründen immer dringlicher:

Zum einen ist der Glaube von Millionen Christen an das, was ihnen einst im Religionsunterricht beigebracht wurde, stark ins Wanken geraten. In einer Zeit, in der selbst Theologen an der Unsterblichkeit zweifeln und die Unvergänglichkeit der Seele leugnen, in der so viele Moralbegriffe, Dogmen, Traditionen in Frage gestellt werden, ist es tatsächlich schwer zu erkennen, was man noch glauben kann und was nicht. Verständlich, dass vor allem junge Menschen ihren Blick über den eigenen Kirchturm hinaus richteten, um zu erfahren, ob andere Kulturen, andere Religionen einsichtigere Lösungen anzubieten und mehr Sicherheit zu spenden vermögen.

Zweitens kam hinzu, dass die angebliche Erinnerung an ein früheres Leben nicht mehr dem Zufall und vereinzelten Sonderfällen vorbehalten blieb. Hypnose und andere Techniken der »Rückführung« machten es möglich, die Erinnerung beliebig oft und bei immer mehr Menschen zu wecken. Die spektakulärsten Erfolge wurden weltweit veröffentlicht und weckten das Interesse von Millionen an diesem Thema. Wissenschaftler von Rang befassten sich mit der Wiedergeburt, untersuchten die interessantesten Fälle anhand strengster, nachprüfbarer Methoden und kamen dabei zu Ergebnissen, die man beinahe schon als Beweise für die Reinkarnation bezeichnen könnte. Eigentlich fehlt nur noch das allerletzte Glied in der Kette.

Drittens erweckte die Beschäftigung mit dem Glauben an die Reinkarnation in fernöstlichen Ländern, im Vorderen Orient und bei den Indianern, mit Berichten von Kindern, die von sich behaupteten, erst kürzlich schon einmal gelebt zu haben, das Gespür dafür, dass ähnliche Erfahrungen mitten unter uns gemacht werden. Und vor allem diese Berichte von Kindern machten für viele überraschend deutlich, dass das Thema Wiedergeburt keineswegs auf ferne Länder beschränkt ist, wo Menschen anders denken und anders glauben, sondern ganz offensichtlich auch bei uns Aktualität besitzt. Bisher wurde dieses Thema aber wahrscheinlich durch die voreingenommene Haltung, die der christliche Glaube uns vorschreibt, unterdrückt. Plötzlich bekennen sich Leute zur Wiedergeburt und erzählen die erstaunlichsten Fakten aus der eigenen Familie.

Damit aber ist die Reinkarnation, die Wiedergeburt, die Seelenwanderung, wie man früher auch sagte, nichts Exotisches mehr, das angenehm prickelndes Gruseln hervorruft, interessant allenfalls für Völkerkundler und Religionsforscher – sondern ein Thema, das uns ganz unmittelbar anspricht, bewegt und im Innersten beunruhigt. Wir alle kommen nicht mehr umhin, sondern werden zu einer Stellungnahme gezwungen, weil wir ständig mit den Ereignissen, die für eine Wiedergeburt sprechen, direkt konfrontiert werden. Eine solche Konfrontation war etwa folgendes Erlebnis: Im Jahre 1980 schrieb ich eine große Illustrierten-Serie über ärztliche Kunstfehler. Bei meinen Recherchen stieß ich in Merklingen bei Stuttgart auf die Familie Klaus-Jürgen und Barbara Lang. Er ist Abteilungsleiter in einem großen Elektronikwerk, ein sehr realistisch eingestellter, moderner Mann, alles andere als ein Träumer oder Spinner. Früher hatte er sich nie für Themen wie Wiedergeburt, Weiterleben nach dem Tod und dergleichen mehr interessiert. Ja, er hätte es entschieden abgelehnt, überhaupt darüber zu diskutieren. Frau Barbara ist Lehrerin, ebenfalls eine sehr vernünftige, kluge Frau. Aber der Glaube an eine Wiedergeburt war für sie ein »Altweiberzeitvertreib«, und sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dieses Thema ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Dann wurde die Familie von einem schlimmen Schicksalsschlag heimgesucht, der alles schlagartig veränderte. Der kleine Gregor, am 18. Juni 1975 geboren, ein ungewöhnlich gesundes, kräftiges Kind – der Hausarzt nannte den Jungen nur »meinen Prachtkerl« –, musste völlig sinnlos sterben. Eine Ärztin im Heimatort der Mutter unterschätzte einen vermeintlich harmlosen Durchfall, gab falsche Medikamente und reagierte nicht auf den wiederholten Alarmanruf der besorgten Mutter – bis es zu spät war. Obwohl man Gregor noch mit dem Hubschrauber in die Kinderklinik nach Stuttgart flog, war er nicht mehr zu retten. Der kleine Junge war buchstäblich vertrocknet. Er durfte nur genau 18 Monate, 18 Tage und 18 Stunden alt werden. Leicht vorzustellen, wie erschüttert seine Eltern waren. Zumal sich beim Sterben des Kindes seltsame Dinge ereigneten.

Im letzten Moment, bevor Gregor ohnmächtig wurde, blickte er seine Mutter an und sagte klar und deutlich und in der Art, als wäre er ein erwachsener, verständiger Mensch: »Danke, Mama.« Dann schloss er die Augen und verlor für immer das Bewusstsein. Von den dramatischen Rettungsversuchen bekam er nichts mehr mit. Er starb schließlich nach einem entsetzlichen Todeskampf.

Frau Lang war in unsagbarem Schmerz bewusstlos zusammengebrochen. Als sie nach drei Stunden wieder zu sich kam und danach verlangte, Gregor noch einmal sehen zu dürfen, sagte die Ärztin: »Tun Sie das nicht. Ihr Kind hat zuletzt viel durchmachen müssen. Es sieht schrecklich aus. Behalten Sie es doch so im Gedächtnis, wie Sie es gekannt haben: Froh und glücklich. Sie müssen jetzt an ihr zweites Kind denken, das bald zur Welt kommen wird.« Frau Barbara Lang war im neunten Monat schwanger und nach dem Schock, den sie soeben durch den Tod des kleinen Gregor erlitten hatte, unfähig, der Ärztin zu widersprechen.

»Dann holen Sie mir wenigstens eine Locke meines Kindes, damit ich etwas von ihm zurückbehalte«, bat sie mit leiser, müder Stimme. Die Ärztin nickte und ging, dem gestorbenen Kind eine Haarsträhne abzuschneiden. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, rannte sie auch schon völlig atemlos und mit fliegenden Mantelschößen zurück. »Kommen Sie. Das müssen Sie sehen. Ihr Kind sieht aus, als ob es Sie erwarten würde. Keine Spur mehr von seinem Todeskampf. Es ist wie ein Wunder.« Frau Lang ging zu ihrem Kind. Und da lag es tatsächlich, rosig, ein nie gesehenes glückliches Lächeln auf seinem Gesicht. Die Mutter legte ihre Hand auf sein Köpfchen und sagte: »Gregor, wenn du willst, dann kehre zu uns zurück. Aber du musst nicht unseretwegen kommen, nur wenn auch du es wirklich willst. Wir würden uns ganz schrecklich freuen, wenn wir dich wieder bei uns haben dürften. Doch wichtig ist nur, dass du es willst. Wenn du wieder bei uns bist, dann lass es mich wissen, damit ich ganz sicher sein kann. Zeige mir, dass du es bist. Du darfst dann auch wieder deinen Namen haben und Gregor heißen.«

Das war nicht viel mehr als ein plötzlicher Einfall, eingegeben vom unerträglichen Abschiedsschmerz. Ein verzweifelter Versuch, den Tod rückgängig zu machen.

Allerdings hatte Frau Lang von diesem Augenblick an den Eindruck, Gregor wäre unsichtbar, aber deutlich spürbar bei ihr. Sie konnte sich mit ihm unterhalten und bekam von ihm, ohne dass sie ihn gehört hätte, deutliche Antworten.

Dieser lebhafte Kontakt dauerte vier Wochen lang und war für Barbara Lang der eigentliche Halt, ohne den sie diese bittere Zeit wohl nicht durchgestanden hätte. Am 6. Februar waren die unsichtbaren Bande plötzlich gerissen. Frau Lang spürte: Gregor ist nicht mehr neben mir.

Drei Tage später, am 9. Februar, 9 Tage zu früh, wurde sie von ihrem zweiten Kind entbunden. Es war wiederum ein Sohn. Mit dem verstorbenen Gregor hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit. Statt blauer Augen hatte er dunkelbraune. Im Gegensatz zu Gregor hatte er kein sehr ausgeprägtes, vorspringendes Kinn. Nein, das konnte unmöglich der wiedergeborene Gregor sein. Klaus-Jürgen Lang und seine Frau waren auch keineswegs darüber verwundert. Denn, so sagten sie sich, dieses eben geborene Kind war ja schon unterwegs gewesen, als Gregor starb. Also konnte nicht einmal einer, der von der Wiedergeburt felsenfest überzeugt ist, davon ausgehen, dies könnte Gregor sein.

In den ersten Wochen seines Lebens allerdings ist nicht nur den Eltern aufgefallen, dass sich das Kind sehr rasch und sehr deutlich veränderte und Gregor immer ähnlicher wurde. Diese Veränderung war so erstaunlich, dass beim Standesbeamten vorsichtshalber drei Vornamen angegeben wurden: Markus, Gregor, Stefan. Und Frau Lang erinnerte sich an ihr Versprechen, das sie dem eben verstorbenen Gregor gegeben hatte: »Du darfst auch wieder Gregor heißen.« Deshalb bat sie den Standesbeamten: »Unterstreichen Sie noch keinen Rufnamen. Wir möchten das später nachholen.« Zu Hause nannten sie den zweiten Sohn Markus. Bis zu jenem Tag, an dem Markus sich dann als Gregor zu erkennen gab: Er war erst drei dreiviertel Monate alt, eigentlich also viel zu klein, sich bereits kontrolliert zu äußern. Und doch tat er es. Und zwar unmissverständlich. Er benützte sein »Codewort«, um seiner Mutter zu verstehen zu geben: »Begreife doch, ich bin es!«

Dieses Codewort stammte aus Gregors Lieblingsspiel: »Ich-erschrecke-dich!« Seitdem er von einem Hund erschreckt worden war, der plötzlich und völlig unerwartet laut kläffend hinter einer Ecke hervorgeschossen kam, spielte er das mit seiner Mutter – und das nicht nur mit ihr: »Er lauerte mit geballten Fäustchen hinter einer Türe, und wenn sie dann das Zimmer betrat, stürzte er hervor und rief: »Ha-W!« Unnachahmlich, unverwechselbar, ein langgezogenes Haaa – das ganz plötzlich mit einem stark betonten »W« ausklang.

»Ha-W«! Wenn die Mutter darauf erschreckt reagierte, jauchzte Gregor.

Und genau dieses Spiel wiederholte nun der kleine, erst 15 Wochen alte Markus. Seine Großmutter hatte ihn gerade im Arm, um ihm das Fläschchen zu geben. Da kam die Mutter durch die Tür. In diesem Augenblick kauerte Markus sich zusammen, ballte die Fäustchen – Fertigkeiten, die er sonst längst noch nicht beherrschte. Dann schnellte er wie eine Feder auseinander, streckte sich, warf die Händchen in die Höhe und rief laut und deutlich: »Ha-W!« Frau Barbara Lang ließ die Tasse fallen, die sie in den Händen gehalten hatte, und fragte vollkommen verblüfft: »Gregor? Willst du mir sagen, dass du Gregor bist?« Und das Kind wiederholte noch einmal, diesmal eher vorwurfsvoll, so als wollte es tadelnd mahnen: Hast du es immer noch nicht kapiert: »Ha-W!« Dann, so schilderte Frau Lang, überzog sein Gesichtchen ein fast spitzbübisches, heiteres Lachen. Frau Lang ging zum Standesbeamten und gab die Anweisung: »Jetzt können Sie den Rufnamen unterstreichen. Unser Kind heißt wieder Gregor!«

Frau Barbara war nun fest davon überzeugt: Unser Gregor ist zurückgekehrt. Und von dieser Stunde an bekam sie dafür einen »Beweis« nach dem anderen. Man kann sie alle demnächst in einem Buch nachlesen, das Frau Lang schreibt und in dem sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse darlegt. Hier nur noch ein besonders verblüffendes Beispiel: Gregor hatte eine Lieblingspuppe besessen, ein beinahe unansehnliches Stoffding, gefüllt mit Styropor, rothaarig, mit einem Jeansanzug ausstaffiert. Diese Puppe mit Namen Hansi nannte er, weil er das »S« nicht aussprechen konnte, »Handi«.

In der Stunde seines Todes sind die Großeltern in die Wohnung geeilt, um ganz rasch alles wegzuräumen, was an das verstorbene Kind erinnern konnte. Sie nahmen die Bilder von der Wand und stopften die Spielsachen kreuz und quer in den Bettkasten im Gästezimmer. Den heimkehrenden Eltern sollte der schmerzliche Anblick erspart bleiben.

Als der zweite Gregor gerade ein Jahr alt geworden war, kam die Großmutter zu Besuch. Und im Gespräch sagte sie so ganz nebenbei zu ihrer Tochter: »Ich glaube, es wäre an der Zeit, dem Kind zu den Bausteinen und Tieren endlich eine Puppe zu geben. Willst du ihm nicht Hansi holen?«

Im selben Augenblick spitzte Gregor die Ohren, blickte auf und sagte verzückt: »Handi? Wo Handi?« Und, als müsste er überlegen, wo die Puppe sein könnte, blickte er sich um, schüttelte den Kopf, wiederholte noch einmal: »Handi? Wo Handi?« Das Kind war völlig aufgeregt. Genau wie der verstorbene Gregor sagte es Handi statt Hansi.

Dann krabbelte es, als wäre es ihm eingefallen, zur Treppe und die Treppe hinauf. Vorbei am Kinderzimmer, am Elternschlafzimmer, weiter in das zweite Stockwerk – hin zum Gästezimmer. Als man ihm dort, neugierig geworden, die Türe öffnete, um zu erfahren, was das Kind hier wollte, ging es schnurstracks auf den Bettkasten zu. »Da Handi! Da Handi!« Gregors Mutter wusste nicht, wo Hansi abgeblieben war und ob die Puppe überhaupt noch existierte. Die Großmutter konnte sich auch nicht mehr erinnern, wo sie versteckt worden war. Doch als man den Bettkasten hervorzog, stürzte sich Gregor auf die rotschöpfige Puppe, die er mit einem Blick erkannt hatte, obwohl sie auf dem Gesicht lag. Er schloss sie in die Arme und stammelte gerührt nur immer wieder: »Handi, mein Handi.« Weder die Affen noch die Teddys noch sonst ein Spielzeug interessierten ihn. Er hatte nur Augen und Ohren für seinen »Handi«.

Es ist ganz bestimmt nicht einfach, für solche »Zufälle« eine plausible Erklärung zu finden, schließt man die Möglichkeit der Wiedergeburt von vornherein aus.

Es muss noch erwähnt werden, dass Gregor, als er mit zwei Jahren ein kleines Schwesterchen bekam, es mit der trockenen Bemerkung begrüßte: »Na, da ist sie ja!« Die Mutter fragte verwundert: »Was soll das denn heißen, da ist sie ja? Freust du dich denn gar nicht?« Gregor gab zur Antwort: »Die hab ich mir schon beim lieben Gott ausgesucht!« Und lachend setzte das Kind hinzu: »Komisch, da war sie noch eine große Tante!«

Mit vier Jahren geriet Gregor in eine ganz schlimme Krise. Er versuchte mehrfach, sich die Treppe hinunterzustürzen. Er wollte sich umbringen. Und wenn ihn die bestürzte Mutter fragte: »Was ist denn mit dir los? Warum tust du das?« dann gab er, sichtlich von einem gewissen Heimweh geplagt, zur Antwort: »Ich will wieder zum lieben Gott. Dort ist es viel schöner als bei euch …!«

Diese Geschichte, davon konnte ich mich persönlich mehrfach überzeugen, ist wahr. Und zwar in allen Details. Ich habe lediglich die Namen der betroffenen Familie und den Ortsnamen verändert, weil ich verhindern möchte, dass der kleine Gregor seiner »Wiedergeburt« wegen Nachteile oder Verletzendes hinnehmen muss; auch weil sein Vater aufgrund seiner beruflichen Position gewisse Rücksicht zu nehmen hat. Noch sind wir leider nicht soweit, dass man persönliche Erfahrungen, die für eine Wiedergeburt sprechen, unvoreingenommen und ohne Emotionen diskutieren könnte.

Gregor ist im Augenblick, da dieses Buch geschrieben wird, gerade zehn Jahre alt, ein sehr heiterer, unbekümmerter Junge. Fragt man ihn, ob er der wiedergeborene Gregor ist, ob er sich noch an den Himmel erinnern kann, dann antwortet er, als wäre es die überflüssigste Frage der Welt, mit großem Gleichmut: »Von solchen Sachen weiß ich nichts mehr.« Und er wendet sich seiner kleinen Schwester zu, die sich an kein vorheriges Leben erinnern kann, um mit ihr zu spielen. Ein ganz normales, völlig unauffälliges, gesundes Kind. Glücklicherweise, möchte man hinzufügen.

Aber dürfen auch wir so leicht und selbstverständlich über die Ereignisse hinweggehen? Oder ergeben sich für uns aus dem Erfahrenen nicht ganz ernste Fragen, ja eventuell Konsequenzen? Um nur zwei Punkte vorwegzunehmen:

Wenn alles das stimmt, was hier über das Schicksal des kleinen Gregor erzählt wurde, dann stellt sich unbedingt die Frage: Wer oder was lebte unter dem Herzen von Frau Barbara, bevor Gregor darin wiedergeboren wurde? Etwa ein seelenloses Geschöpf?

Und dann – und das verlangt noch drängender nach einer Antwort: Wenn es die Wiedergeburt gibt, muss dann nicht von Anfang an, vielleicht schon vom Augenblick der Zeugung an, die Seele des Wiedergeborenen zugegen sein – möglicherweise fähig, alles, was um sie herum geschieht, wahrzunehmen? Fähig auch, zu erkennen, ob sie geliebt wird – oder ob sie das neue Leben nur einem »Unfall« zu verdanken hat? Fähig vielleicht, selbst Gedanken zu erraten? Oder hat der Wiedergeborene seine Eltern sogar schon vor der Zeugung gekannt, sie sich »ausgesucht«?

Ist es möglich – wir werden uns eingehend mit solchen Fragen zu befassen haben –, dass ein Kind im Mutterleib mithört und in der ganzen Tragweite erfassen kann, wenn seine Eltern sich darüber unterhalten, ob sie es annehmen oder abtreiben wollen? Wie viele seelische Leiden könnten damit erklärt werden!

Denn, daran gibt es keinen Zweifel und es gehört zu den eigentlichen Überraschungen für jeden, der sich mit der Wiedergeburt befasst und der sich daranmacht, in seiner Umgebung überzeugende »Fälle« zu finden: Die Geschichte des kleinen Gregor ist kein Einzelfall. Hat man erst einmal einen solchen Fall ausgegraben – und das ist nicht ganz einfach, weil sich viele Leute noch scheuen, etwas über ihre Erfahrungen verlauten zu lassen –, dann löst man eine Lawine von Fällen aus. Denn jeder, mit dem man spricht, erinnert sich dann meistens noch an einen anderen Fall.

Es ist an der Zeit, das Thema aufzugreifen und so sachlich wie nur möglich darzulegen, alle Für und Wider frei von weltanschaulichen, religiösen Einschränkungen und Voreingenommenheiten zu diskutieren; um damit möglicherweise ein bisschen mehr über den Sinn unseres Lebens zu erfahren; um unnötige Ängste und Befürchtungen loszuwerden – auch wenn es letztlich nicht möglich ist (noch nicht?), den endgültigen Beweis für oder gegen die Idee der Wiedergeburt vorzulegen.

Wer wissen will, wozu er lebt, der kommt an der Frage der Wiedergeburt nicht vorbei, gleichgültig, auf welcher geistigen, spirituellen Ebene er auch stehen mag. Wenn es stimmen sollte, dass unser gegenwärtiges Leben das Ergebnis früherer Verdienste und früherer Fehler sein sollte, dann könnten wir die Welt verändern, indem wir uns selbst verändern – um in der nächsten Inkarnation selbst glücklicher zu werden und mehr Glück schenken zu können. Wenn es richtig ist, dass Menschen geheilt werden können, sobald sie Einsicht in frühere Leben erlangen, dann ist das Thema Wiedergeburt eines der aufregendsten und interessantesten überhaupt. Ein Thema, das unser Leben schlagartig verändern könnte.

»Wer kann wissen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Cäsar wohnt? … Die Seele Dschingis-Khans wohnt jetzt vielleicht in einem Rezensenten, der täglich, ohne es zu wissen, die Seelen seiner treuesten Baschkiren und Kalmücken in einem kritischen Journal niedermäht?« Hinter den humorvollen Fragen Heinrich Heines steckt tiefer Ernst.

Immer mehr Menschen glauben in unseren Tagen, die Antwort auf die Frage nach der Wiedergeburt zu kennen. Haben sie recht – oder haben sie irgendeinen ganz wichtigen Punkt übersehen?

Und fast noch wichtiger: Hilft es überhaupt etwas bei der Lebensgestaltung, die Antwort zu kennen?

Versuchen wir gemeinsam, einen Schritt zur weiteren Klärung beizutragen: Was kommt nach dem Tod?

Oder besser gefragt: Gibt es den Tod überhaupt – oder ist er tatsächlich, wie die berühmte Sterbensforscherin Frau Professor Elisabeth Kübler-Ross behauptet, »nur ein Heraustreten aus dem physischen Körper, und zwar in gleicher Weise, wie ein Schmetterling aus seinem Kokon heraustritt«?

Weil ich dieses Thema für ungeheuer brisant halte, wage ich es, neun Jahre nach meinem ersten Versuch (Du hast schon einmal gelebt, München 1979) ein neues Buch vorzulegen, das der rasanten Entwicklung, den neuesten Einsichten auf diesem Gebiet Rechnung tragen soll. Ein Buch, in dem Sie alles finden, was bei der Frage nach der Wiedergeburt von Bedeutung ist.

I. Kapitel

Am Anfang die Katastrophe – am Ende die ewige Seligkeit

Das Abendland zwischen Schuld und Erlösung

Erstickt unter der Asche von Pompeji

»Was ist mit unserer kleinen Vera nicht in Ordnung?« rätselten ihre Eltern. Immer, wenn sie von Italien erzählten, geriet das Mädchen in eine merkwürdige, heftige Erregung. Es begann zu zittern, vergaß seine Spielsachen und lauschte mit großen, erschreckten Augen.

Veras Eltern, wohlhabende Bürger in Prag, reisten viel – und besonders gerne nach Italien. Eines Tages sprachen sie über frühere Urlaubstage in Neapel, da passierte es. Vera, gerade sieben Jahre alt geworden, bekam plötzlich schwere Erstickungsanfälle. Das Kind wurde von Krämpfen geschüttelt. Seine Augen glühten vor Fieber. Die erschrockenen Eltern riefen den Hausarzt. Er kam noch mitten in der Nacht und stand gleich vor zwei Rätseln: Was Vera fehlte, konnte er nicht erkennen, doch zu seiner Verblüffung hörte er das Kind im Fieber lateinisch reden. Und er notierte in aller Eile ein paar Brocken, die er aufschnappte: »pedes, detergeat … undos … lintea … cave …«

Am nächsten Morgen war Vera wieder völlig gesund. Sie konnte sich an die Vorfälle der vergangenen Nacht nicht erinnern, aber das Wort Vesuv brachte sie erneut aus der Fassung. Und als man ihr ein Bild vom Golf von Neapel zeigte, geriet Vera beinahe wieder in Panik.

Für die Eltern war das alles geradezu unheimlich. Denn solche Zwischenfälle wiederholten sich regelmäßig – aber immer nur dann, wenn vom Vesuv, dem unruhigen italienischen Vulkan, und seiner Gegend die Rede war.

Als Vera 15 Jahre alt war, nahm ihre Mutter sie mit zu einer berühmten Wahrsagerin. Vera hatte sich zu einem sehr schönen Mädchen entwickelt, und die Eltern hätten zu gerne gewusst, welche glänzende Zukunft ihrem Kind bevorstand. Die Wahrsagerin sagte voraus, was sich genauso erfüllen sollte: »Du wirst Schauspielerin. Ich sehe zwei Männer, viele Reisen. Aber auch sehr viel Leid.« Doch dann erzählte die Wahrsagerin plötzlich etwas aus längst vergangenen Zeiten. Und das war für Vera und ihre Mutter mehr als verwirrend: »Du musst in diesem Leben viel büßen für das, was du in früheren Leben Böses und Schlechtes getan hast. Du warst einmal eine Prinzessin in Ägypten, launisch, unvorstellbar herrschsüchtig und grausam. Und du bist auch dabei gewesen, als Pompeji unter der Lava begraben wurde.«

Da war es wieder, das mysteriöse Pompeji und der feuerspeiende Vulkan! Sollten die unerklärlichen Aufregungen etwas mit einer echten Erinnerung zu tun haben?

Vera M'Pessa erzählt die Geschichte selbst weiter: »Ich habe das alles damals nicht so ganz ernst genommen. Die Zwischenfälle aus meiner Kindheit waren beinahe vergessen, als ich 1957 auf dem Flug nach Griechenland plötzlich den Vesuv unter mir liegen sah. In diesem Augenblick packte mich ein fürchterlicher Schüttelfrost. Ich bäumte mich in meinem Sitz auf und murmelte wie geistesabwesend die Sätze: ›Der Diener soll die Füße des Gastes waschen und trocknen. Ein Tuch soll die Kissen schützen. Man nehme Rücksicht auf unsere Wäsche …‹

In diesem Augenblick sah ich es vor mir, als säße ich in einem Film über mein früheres Leben: Ich lebte da unten in Pompeji als junges Mädchen. Einer unserer Nachbarn hieß Epidius Immeneus. Er wohnte in der Via dell'Abbondanza. Ein seltsamer Mann. Seine Hausordnung hatte er fein säuberlich so an die Hauswand geschrieben, dass sie keiner übersehen konnte. Es waren jene Sätze, die ich als Kind schon im Fiebertraum lateinisch zitiert hatte und die mir beim Überfliegen von Pompeji spontan eingefallen waren.«

Dieses Erlebnis ließ der Schauspielerin keine Ruhe mehr. Jetzt wollte, ja musste sie Gewissheit finden: »Ein paar Monate nach dem Flug über den Vesuv, im Jahre 1958, reiste ich mit meinem Mann nach Pompeji. Als wir durch die Ruinenstadt geführt wurden, die im Jahre 79 nach Christi Geburt durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, hatte ich mit einemmal das Gefühl: Hier bist du zu Hause. Und tatsächlich: Ich kannte jeden Winkel, konnte genau angeben, was wir hinter der nächsten Ecke antreffen würden. Es war mir alles vertraut. In der Via dell'Abbondanza sagte ich zu meinem Mann: ›Siehst du, hier haben wir unser Obst gekauft. Und dort drüben wohnte ein Weber. Da suchten wir uns die Stoffe aus.‹ Der Fremdenführer tadelte mich verärgert: ›Warum lassen Sie sich überhaupt von mir herumführen, wenn Sie alles schon kennen?‹ Ich sagte nur: ›Ich habe hier gelebt. Vor der Katastrophe.‹ Für mich gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Ohne die geringste Unsicherheit führte ich meinen Mann zum Haus des früheren Nachbarn Epidius Immeneus – und da stand die Inschrift groß auf der Mauer: ›Abluat unda pedes …‹ Der Diener soll die Füße des Gastes waschen …

Für mich war das ein Schock. In diesem Augenblick fand ich auch die Erklärung für mein furchtbares Erschrecken, sobald der Name Pompeji erwähnt wurde: Ich erlebte, als geschähe es gerade jetzt, mein qualvolles Sterben im Aschenregen noch einmal. Ich sah und fühlte mich als kleines Mädchen. Plötzlich, am helllichten Tag, wurde es über Pompeji Nacht. Dichter als Schneeflocken fiel Asche vom Himmel. Meine Eltern versuchten, mit mir an die Küste zu fliehen. Ich saß auf einem Holzkarren zwischen den überstürzt geretteten Habseligkeiten, presste ein Tuch vor Mund und Nase und erstickte fast. Die Asche klebte in den Haaren, auf der Haut, brannte schrecklich in den Augen. Da stürzte der Karren um. Ich fiel auf die Straße, versuchte aufzustehen und den Eltern nachzueilen. Ich hörte sie noch rufen. Ich schrie nach der Mutter, aber dann bekam ich keine Luft mehr. Die giftige Luft schnürte mir den Hals zu. Ich erstickte …«

Vera M'Pessa bekannte später: »Die Einsicht in frühere Schicksale hat mir geholfen, mein jetziges Leben einigermaßen zu begreifen. Ohne dieses Wissen müsste mir alles, was ich erlebe und durchmache, sinnlos vorkommen.«

Die Schauspielerin hat in vier europäischen Ländern in mehreren hundert Filmen mitgespielt – aber immer nur neben den großen Stars. Sie durfte niemals die Prinzessin selbst spielen, obwohl es ihr an Schönheit und Talent nicht gefehlt hat. »Es war wie ein Fluch«, sagt sie, »ich wurde immer wieder, oftmals in letzter Sekunde, zurückgesetzt.« So war sie unter anderem Double von Martine Carroll. Und sie durfte viele »Große« synchronisieren. Mehr nicht. Vera M'Pessa spricht perfekt sechs Sprachen, darunter Russisch und Französisch.

Zuletzt lebte die Schauspielerin fast vergessen, arbeitslos, ohne eigene Wohnung in München von 330 Mark Sozialhilfe. »Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich wahrscheinlich schon längst aufgegeben. Aber so stehe ich es durch. Das alles hat seinen Sinn – aus den früheren Leben.« Das war ihre Überzeugung, obwohl ihr Leben eine einzige Misere gewesen war:

Zwei zerbrochene Ehen; ein einziges vergebliches, verzweifeltes Streben nach Ruhm und Karriere; zuletzt nicht einmal mehr ein eigenes Zuhause. Alle Habseligkeiten lagerten in Kisten verpackt in einer Lagerhalle, die Bücher, die Wäsche, die Kostüme, Kleider, Bilder und Andenken aus Zeiten, die noch von Hoffnung geprägt waren …

Soll ein solches Leben einen Sinn ergeben?

Deutlicher gefragt: Lässt sich eher ein Sinn erkennen, wenn man an die Wiedergeburt glaubt?

Solche Fragen aber lösen gleich eine ganze Fragenlawine aus: Wie ließe sich denn das »Erinnern« des kleinen Mädchens, sein so heftiges Reagieren beim Hören der Namen Pompeji und Vesuv anders, plausibler erklären als mit einer Wiedergeburt? Woher konnte später die junge Frau wissen, an welchem Haus die merkwürdigen »Hausregeln« des »Nachbarn« standen – Sätze, die das Kind im Fiebertraum gesprochen hatte. Sollte es wirklich solche Zusammenhänge über Jahrtausende hinweg geben, wie sie hier dargestellt wurden: einstmals hochmütig, herrschsüchtig – heute deswegen dazu verdammt, immer hintanzustehen?

Oder lässt sich vieles nicht ganz einfach damit erklären: Das Leben der unglücklichen Schauspielerin musste so verlaufen, weil die Wahrsagerin es so vorhergesagt hatte – und weil daraufhin alles in nahezu mechanischem Erfüllungszwang abrollen musste: Das ständig gegenwärtige Wissen, hätte die Frau auch noch so energisch versucht, es zu verdrängen: »Du wirst es nie schaffen, weil du abbüßen musst!« – dieses Wissen blockierte jeden Erfolg schon im Ansatz. Sie hatte keine Chance.

Noch drängender aber schließlich die Frage: Und wozu sollte nun dieses schwere Schicksal gut gewesen sein? Was konnte die Schauspielerin für sich selbst »abtragen«? Hat sie trotz aller Ergebenheit in das schwere Geschick – oder nicht gerade damit – nicht neue Schuld auf sich geladen, so dass, gibt es dann eine Wiedergeburt, die nächste Inkarnation möglicherweise noch düsterer ausfallen müsste?

Jeder dritte Mensch glaubt an die Wiedergeburt

Tatsache ist: Wer an die Wiedergeburt glaubt, ist kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend auch im Abendland längst kein Einzelgänger mehr. Professor Jan Stevenson, Psychiater und Direktor der parapsychologischen Abteilung an der Universität von Virginia, der namhafteste Wissenschaftler, der sich bislang der Erforschung der Wiedergeburt widmete, stellte bereits 1976 fest: »Jeder fünfte Westeuropäer glaubt an eine Seelenwanderung!« Inzwischen sind die Zahlen sprunghaft angestiegen, so dass man etwa von folgenden Verhältnissen ausgehen darf: Nimmt man die Menschen aller Religionen und aller Ideologien zusammen, ergibt sich eine ziemlich gleichmäßige Dreiteilung: Ein Drittel aller Menschen glaubt nicht an ein Weiterleben nach dem Tod, sondern geht davon aus, dass mit dem Tod, ebenso wie beim Tier, das ganze Leben zu Ende ist.

Ein Drittel erwartet nach dem Tod die Aufnahme in den Himmel oder in das Paradies. Nicht alle von ihnen sind aber bereit, zugleich auch an eine ewige Verdammnis, an die Hölle, zu glauben. Doch für fast alle ist es selbstverständlich, dass das irdische Leben ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis darstellt.

Das letzte Drittel glaubt an die Wiedergeburt, wobei dieser Begriff eine Fülle sehr unterschiedlicher Vorstellungen umfasst. Wiedergeburt, das kann ebenso eine ganz persönliche Wiederkehr bedeuten, wie auch das erneute Leben-Müssen in einem Tier oder in einer Pflanze. Die Unterschiede zwischen der Auffassung in westlichen Kulturkreisen und fernöstlichen Religionen und Philosophien sind so groß, dass man eigentlich schon nicht mehr von ein- und derselben Sache sprechen kann.

War noch bis vor kurzem in christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften die Diskussion über eine mögliche Wiedergeburt tabu, so versuchen heute immer mehr Christen und Mohammedaner, die Wiedergeburt mit ihrem Glauben in Einklang zu bringen. Viele Zeitgenossen glauben nicht unbedingt an die Wiedergeburt, halten sie aber immerhin für möglich. Um an die Wiedergeburt zu glauben, muss man kein Buddhist, kein Hindu sein. Man kann an einen Gott glauben – oder auch ihn leugnen. Die Wiedergeburt ist gewissermaßen der Glaube an eine natürliche, rein diesseitige Ewigkeit, die zunächst keinen Schöpfergott und auch keinen Erlösergott braucht. Im Glauben an die Wiedergeburt können sich deshalb selbst Christen und Materialisten treffen, ohne dass sich beide allzu weit aus ihrer Glaubensheimat entfernen müssten. Die Vorstellung der Wiedergeburt scheint sich tatsächlich auch weit besser als alle anderen religiösen Glaubenswahrheiten mit modernster Wissenschaft in Einklang bringen zu lassen: Wiedergeburt ist nicht nur das irdische Lebensprinzip: Alles, was existiert und lebt, hat sich entfaltet, wird heranreifen, verwelken und neu erstehen. Alles, was ist, war schon einmal. Dieses Gesetz gilt auch für das große kosmische Geschehen: Jede Welt wurde aus dem Tod einer alten Welt »geboren«. Nichts geht auf ewig verloren, nichts ist letztlich zerstörbar. Geboren werden, sterben, wiedererstehen – so dreht sich unentwegt das Rad des Universums. Der Glaube an die Unzerstörbarkeit ist tatsächlich einleuchtender als der an das Verlöschen für immer.

Die Frage ist nur – und hier scheiden sich die Geister: Was bleibt unzerstörbar – und in welcher Form?

Ohne Zweifel überdauern die Atome und selbst manche Moleküle meiner Körpersubstanzen meinen Tod. Wenn sich der Körper auflöst, bilden sich chemisch neue Substanzen. Und irgendwann werden diese »Teile« von mir auch wieder neuem Leben angehören. Der biologische Kreislauf setzt sich fort.

Doch das ist nicht die Wiedergeburt, von der wir sprechen. Die Wiedergeburt setzt voraus, dass dann, wenn der Körper stirbt, das, was ihn bis dahin am Leben hielt, wie immer man dieses Lebensprinzip bezeichnen mag, ob »Energiebündel«, ob Seele, ob Geist, mit Bewusstsein weiterlebt. Das, was nach dem Tod noch existiert, muss also von sich sagen können: »Ich bin noch da.« Und: »Ich werde zurückkehren und erneut einen Körper beseelen.« Ob dieser unsterbliche Teil von mir nur ein Lebensfunke ist, der beliebige persönliche Färbungen annehmen kann – oder ob es sich um meine ganze Persönlichkeit handelt, die nur das sterbliche »Kleid«, den Körper, ausgezogen hat, nach wie vor aber einen andersartigen, identischen Körper besitzt, das ist eine zweitrangige, im Moment unwichtige Frage.

In diesem Sinn sprach man früher von der Seelenwanderung: Das, was von mir bleibt, das sich als »Ich« begreift, wandert von einem Dasein in einem Körper aus Fleisch und Blut zum nächsten. Diese Wanderung führt möglicherweise einem Ziel, der Vollendung im Nirwana, entgegen. Oder sie ist die ewig gleichbleibende Wiederholung, das Spiel von Werden und Vergehen, dem nichts in der Natur entfliehen kann.

Reinkarnation – Rückkehr in ein körperhaftes Leben, setzt ein anderes Leben, ein rein geistiges Leben, voraus, das unsterblich und unzerstörbar ist. Das, was von sich »Ich« sagen kann, wäre also zeitweise lebendig im »Fleisch« und zeitweise frei existierend außerhalb eines biologischen Organismus, wahrscheinlich auch außerhalb unserer dreidimensionalen, von Raum und Zeit begrenzten Welt. Statt von der geistigen »Seele« könnte man heute auch von einem »energetischen Prinzip« sprechen. Da Energie unzerstörbar ist, da so hoch entwickelte Energien wie das Denken sicher auch nicht leicht wandelbar sind, könnte tatsächlich auch der reine Materialist unter diesen Voraussetzungen an eine Unsterblichkeit glauben. Er dürfte sich nur nicht länger durch das Wort »Seele« und den Begriff »Geist« als Gegenpol des Körpers irritieren lassen.

Das ist ein wesentlicher Teil der Faszination, die von der Idee der Wiedergeburt ausgeht: Sie macht so vieles einsichtig, plausibel, verstehbar. Sie vermag selbst tiefste Glaubensgräben scheinbar mühelos zu überbrücken, so als gäbe es plötzlich zwischen den einzelnen Glaubensvorstellungen überhaupt keine gravierenden Unterschiede mehr. Es sieht so aus, als müsste man sich nur mit der Tatsache der Wiedergeburt vertraut machen, und schon wären alle Welträtsel einigermaßen zufriedenstellend gelöst. Ganz so einfach ist es selbstverständlich nicht. Und es stimmt auch nicht, was immer wieder als Tatsache hingestellt wird, dass das Wissen um die Wiedergeburt die ursprüngliche, natürliche Urreligion gewesen sei, die im Abendland nur unter dem Druck der Kirchen verlorenging.

Im Hades gab es keine Geistseelen

Richtig ist wohl, dass es in vielen alten Religionen die Vorstellung eines Weiterexistierens nach dem Tod gegeben hat. Doch dieses Dahinvegetieren im Hades der alten Griechen oder im Scheol der Juden war eben kein Weiterleben. Genau das, was auf Erden das Leben ausgemacht hatte, fehlte: Die Seele, das »energetische Prinzip«. Die leblosen, blutleeren Gestalten, die den Tod überdauert hatten, waren bewusstlos. Sie konnten sich nicht mehr äußern. Man könnte also sagen: Ähnlich wie in modernen Intensivstationen war bei Menschen, die nur noch durch Maschinen am Leben erhalten werden, in der vorchristlichen Unterwelt die Seele des Verstorbenen nicht mehr vorhanden.

Unklar ist, ob die Verstorbenen darauf warteten, zu neuem Leben erweckt zu werden. Wenn, dann wäre das eine ganz andere Wiedergeburt, nämlich die Rückkehr des schon einmal verstorbenen Körpers ins Leben, nicht die Rückkehr der Seele in einen neuen Mutterschoß, um in einem neuen »Gewand« zu leben. Homer hat diese Vorstellung in Verse gefasst: Als Odysseus auf seiner Irrfahrt in den Hades gelangt, begegnet er dort seiner verstorbenen Mutter. Um sich mit ihr, der Leblosen, unterhalten zu können, muss er erst ein Schaf schlachten und ihr dessen Blut zu trinken geben. Nach Genuss des Blutes beginnt sie zu leben, wird sie fähig, zu sprechen, ihre Gefühle zu äußern, zu denken, sich mit ihrem Sohn über Künftiges und Vergangenes zu unterhalten.

Anders gesagt: Da es keine intakten überlebenden Seelen dieser Verstorbenen gab, konnte es auch keine Wiedergeburt geben – bestenfalls eine Wiederbelebung.

Ein Beispiel, das deutlich macht, wie unerlässlich der Rückblick in die Geschichte ist. Einmal gilt es Missverständnisse auszuräumen, die immer weitergegeben werden. Zum anderen können wir unsere heutige Situation nur dann verstehen, wenn wir die Tradition kennen, die uns prägt.

Wiedergebeburt ja – aber keine Reinkarnation

Eine der wichtigsten Quellen, der unser christlicher Glaube entstammt, ist die ägyptische Religion.

Weil ein griechischer Schriftsteller fälschlicherweise behauptete, die Ägypter hätten an eine Reinkarnation geglaubt, liest man immer wieder davon. Diese Annahme ist aber unsinnig. Wozu hätten die Ägypter dann ihre leblosen Körper einbalsamieren, über ihnen gigantische Grabmäler errichten sollen – über leeren Hüllen, die nicht mehr bedeuten als ein altes, untauglich gewordenes Kleid, das man wegwirft?

Nein. Für die Ägypter vor 4000, 5000 Jahren war das irdische Leben eine einzige Vorbereitung auf den Augenblick des Todes, dem Anfang des eigentlichen Lebens. Sterben war gleichbedeutend mit dem Hinaustreten in das »volle Licht des Tages«, ein Bild, das an das Leben vor und nach der Geburt erinnert: Mit der Geburt wird der Mensch frei, das Licht zu sehen, sich in Raum und Zeit zu bewegen. Mit dem Tod tritt er aus jeder zeitlichen und räumlichen Begrenzung hinaus in das wahre Licht, das keine Sonne und keine Sterne mehr braucht, keine Zeit und keinen Raum mehr kennt. Doch dieses neue, unbegrenzte, lichterfüllte Leben ist noch nicht der Himmel, nicht die Befreiung von Kampf und Bewährung. Die Bewährungsprobe beginnt nun erst.

Der Gestorbene kommt zunächst vor ein Gericht, dem 42 Richter Vorsitzen. Über dem Gericht thront Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Herz des Verstorbenen wird gewogen. Kann der Verstorbene vor dem strengen Gericht nicht bestehen, wird er in die Duat, die Unterwelt, verbannt, wo er bis in alle Ewigkeit in der Finsternis verbleiben muss.

Wird er dagegen vom göttlichen Gericht akzeptiert, dann mischt sich die irdische Natur mit göttlicher Natur. Noch ist er kein unsterblicher Gott, aber doch von göttlichem Wesen. Er besitzt wieder einen Körper, der dem Aussehen nach seinem irdischen Körper völlig identisch ist, ein exaktes Abbild. Dieser Körper ist, wie sein irdischer, sterblich und behaftet mit den einstigen »Schatten«, nämlich mit den speziellen Leidenschaften, Lastern, Schwächen – und mit ganz natürlichen Bedürfnissen. Deshalb braucht der Verstorbene die Opfer der Hinterbliebenen als Nahrung. Bleibt sie aus, muss er sterben – diesmal endgültig, ohne Hoffnung auf Auferstehung oder Wiedergeburt.

Der immaterielle, aber doch aus irgendeiner Substanz bestehende Körper im Jenseits ist nicht die Seele, sondern wiederum nur eine Hülle, in der gleich mehrere Seelen wohnen. Nur die drei höchsten von ihnen sind unsterblich.

Doch auch der Körper kennt keine räumlichen und zeitlichen Grenzen mehr, ist keinen physikalischen Gesetzen mehr unterworfen. Er kann sich frei zwischen Himmel und Erde bewegen, gedankenschnell an jedem gewünschten Ort auftauchen und wieder verschwinden, jede gewünschte Gestalt annehmen und augenblicklich gegen eine andere eintauschen.

Gerade die neu gewonnene Freiheit und Wandelbarkeit aber bilden für den Verstorbenen hüben wie drüben das eigentliche Risiko: Er muss höllisch aufpassen, dass er niemals vergisst, wer er wirklich ist. Sobald er nämlich seinen Namen vergisst, nicht mehr weiß, wie er in seiner ursprünglichen Gestalt aussieht, löscht er sich selbst aus. Deshalb – und nicht etwa aus dem Glauben an die Auferstehung des Fleisches heraus – wird der tote Körper einbalsamiert, stattet man die Grabkammer mit persönlichen Gegenständen, mit Bildern und Inschriften aus, errichtet man über dem Grab ein mächtiges Bauwerk: Der Verstorbene braucht einen Fixpunkt auf der Erde, zu dem er zurückkehren, an dem er sich orientieren, sein Gedächtnis jederzeit auffrischen kann: Das bin ich! Und wozu lebt der Mensch überhaupt? Der Sinn des Lebens und die Aufgabe des Verstorbenen ist es, den toten Göttern das Leben und die kosmische Ordnung wiederzubringen. Am Anfang der Zeiten gab es nach altägyptischer Vorstellung nämlich eine unvorstellbare kosmische Katastrophe, vergleichbar dem Sturz des Engelfürsten Luzifer im Christentum. Damit ist die Harmonie verlorengegangen, das Böse ist in der Welt. Die Götter, allen voran Osiris, Gott und Urvater der Menschen in einem, dämmern als Mumien dahin und warten darauf, dass die Menschen kommen, die Sterne wieder in die rechten Bahnen lenken und die Ordnung im Kosmos wiederherstellen.

Das ist aber nicht ganz so einfach. Denn das Jenseits ist voller Dämonen, gegen die der Verstorbene kämpfen muss – nicht mit Schwert und Speer, sondern mit magischen Kräften.

Das irdische Leben besteht deshalb darin, sich auf diesen Kampf vorzubereiten. Es genügt nicht, anständig, ehrlich, fromm zu leben. Man muss sich darüber hinaus mit Sprüchen und mit einer Festigung des Willens und des Selbstbewusstseins gegen die bösen Mächte wappnen. Die Totenbücher enthalten entsprechend magische Formeln, die man zeitlebens auswendig lernt, um sie nach dem Tod aufsagen zu können. Man bittet beispielsweise darum, nach dem Verlassen des irdischen Körpers, wieder sprechen und sich an alles Wichtige erinnern zu können. Und man macht sich Mut mit markigen Sprüchen: »Heil dir, meine Seele! Siehe, ich setze mein irdisches Dasein fort. Ich lebe. Ich bin magisch gerüstet, voller Kraft … Ich bin im Besitz einer unsterblichen Seele und eines unbesiegbaren Willens …«

Das ist eine ganz andere »Seelenwanderung« als die fernöstlicher Religionen. Der Verstorbene kann zwar in einer Art Ätherleib zur Erde zurückkehren, sich auch ständig hier aufhalten, wenn er das wünscht, doch er kehrt offensichtlich nicht zu einem Leben in Fleisch und Blut zurück.

Wiedergeburt – wenn der Verstorbene versagt

In der altägyptischen Heilsvorstellung gibt es dennoch keine leibliche, sondern eine rein geistige Wiedergeburt – und doch findet sich eine ganze Fülle interessanter Parallelen zu fernöstlichen Lehren, wie sie beispielsweise im »Tibetanischen Totenbuch« dargelegt sind.

Das Alter dieser Schrift ist nicht mehr festzustellen. Wir besitzen heute die Fassung des buddhistischen Lehrers, Klostergründers und Wundertäters Padmasambhawa. Er kam im Jahre 747 n. Chr. von Indien nach Tibet, um dort seine Heilslehre zu verkünden. Sein »Bardo Thödol«, sein Totenbuch, vergrub er kurz vor seinem Tod bei den Gampa-Hügeln in Zentraltibet.

Einer seiner Schüler, Karma-Lingpa, der »wiedergeboren« war, hat sich angeblich an das Versteck erinnert und das Buch wieder ausgegraben.

Es richtet sich an Hinterbliebene, an Menschen, die mit dem Tod konfrontiert sind. Als wäre er »drüben« gewesen und hätte selbst alles miterlebt, schildert der Autor, was den Menschen nach dem Sterben erwartet, was er empfindet, welche Ängste, Verwirrungen, Anfechtungen ihn plagen und welchen Risiken er ausgesetzt ist. Den Hinterbliebenen wird gesagt, wie sie dem Verstorbenen helfen können, damit er »drüben« seinen Weg findet: »Zunächst«, so erklärt es der Autor dem, der an der Bahre eines Toten steht, »musst du wissen, dass der Verstorbene nach dem ›Ausschleudern des Bewusstseins‹ aus seinem Körper sein volles Bewusstsein wiedererlangt hat. Er ist also da, kann dich sehen, hören, deinen Schmerz erfassen. Aber: Obwohl sein Verstand neunmal klarer ist als zu Lebzeiten, hat er noch nicht begriffen, dass er tot ist. Um ihn herum ist alles so hell, so klar, so lebendig, dass er nicht verstehen kann, warum ihn keiner mehr wahrnimmt, ihm keiner mehr Antwort gibt. Denn: selbst wenn er blind und taub und stumm gewesen wäre: Jetzt kann er sehen, sprechen, hören.

Du musst ihm also klar und deutlich wiederholt sagen: ›Du bist gestorben. Du lebst nicht mehr. Doch fürchte dich nicht, es kann dir nichts mehr zustoßen. Das einzige, wovor du dich hüten musst, ist die Angst, die deinem eigenen Herzen entspringt. Nur sie kann für dich noch zur Gefahr werden. Bleib also ganz ruhig und geh deinen Weg mit Fassung!‹«

Sobald der Verstorbene begriffen hat, was mit ihm geschehen ist, was angeblich eine gewisse Zeit dauert, geht er voller Verzweiflung von dannen.

»Du darfst ihn aber auch jetzt nicht allein lassen. Denn nacheinander treten ihm erst freundliche, dann immer bösartigere Gestalten gegenüber. Sie existieren nicht wirklich, sondern nur in der Einbildung des Verstorbenen. Das musst du ihm zurufen. Sage ihm also: ›Das alles ist nur ein Spuk! Fürchte dich nicht. Alles, was du siehst und was du erlebst, existiert nicht von sich aus, sondern kommt aus deinem Herzen. Es sind ›Gedankengestalten‹, geschaffen von deinen Vorstellungen, Wünschen, Befürchtungen, Begierden und Ängsten. Was immer dir in den Sinn kommt, nimmt augenblicklich Gestalt an. Denke deshalb nicht an Übles, hab keine Angst, sondern erinnere dich an die Wahrheiten, die dir auf Erden beigebracht worden sind!‹«

Und weiter: »›Du darfst dich jetzt von Bösem nicht abschrecken und von Verlockendem nicht anziehen lassen, sonst verfehlst du deinen Weg und musst abstürzen in Niederungen und Unvollkommenheiten. Mit dem Erkennen geht die Befreiung einher. Begreife es, Sohn aus edler Familie: Diese Gestalten und Bereiche existieren nirgendwo als in den vier Richtungen deines Herzens. Nun treten sie aus dem Innern deines Herzens hervor und erscheinen vor dir. Jene Bilder kommen von nirgendwo anders her. Sie sind das ursprüngliche, unbeeinflusste Spiel deines Geistes. Erkenne sie als solches!‹«

Auch das muss der Hinterbliebene dem Verstorbenen immer wieder beschwörend mitteilen. Denn in der Auseinandersetzung mit den »Gedankengestalten« entscheidet sich dessen Zukunft: Erliegt er einer Gefahr, verfällt er einer Verlockung, dann stürzt er augenblicklich auf eine tiefere Seinsebene. Und dann werden die Probleme immer größer und bedrängender. Je tiefer er sinkt, desto stärker wird schließlich der Wunsch, wiedergeboren zu werden, wieder einen Körper aus Fleisch und Blut zu besitzen. Und weil auch dieser Wunsch sogleich nach Verwirklichung schreit, heißt die letzte Hilfe, die Hinterbliebene einem Verstorbenen geben können, Gebet und Beschwörung, er möge wenigstens in der richtigen, wohlhabenden, glücklichen Familie wiedergeboren werden: »›Bemühe dich, das Wirken des guten Karma zu verlängern. Das ist besonders wichtig. Vergiss es nicht! Sei nicht abgelenkt! Diese Zeit ist die Trennlinie zwischen dem Aufsteigen und dem Absteigen. Das ist der Augenblick, in dem du durch das Abgleiten – eines Moments der Achtlosigkeit wegen – endlos leiden wirst. Das ist die Zeit, in der du durch vollkommene Sammlung für immer glücklich werden kannst. Bringe deinen Geist zur völligen Sammlung! Nun ist der Augenblick zum Schließen des Schoßeingangs gekommen. Schließe den Schoßeingang! Leiste Widerstand …! O Sohn edler Familie, zu dieser Zeit werden Vorstellungen von Männern und Frauen in der Liebesvereinigung vor dir erscheinen. Siehst du sie, dann trete nicht dazwischen, sondern erinnere dich und meditiere über den Mann und die Frau als der Guru und seine Gefährtin. Sammle deine Gedanken, dann wird der Schoßeingang sicherlich für dich verschlossen …‹«

Am Ende also – die Wiedergeburt, aber sie ist nicht unumgänglich, nicht unvermeidbar. Nicht jeder muss wiedergeboren werden, sondern nur der, der zeitlebens sein Wünschen, Sehnen, seine Vorstellungen nicht unter Kontrolle brachte, so dass sie nach seinem Tod als »Gedankengestalten« lebendig werden und ihn zurückziehen. Wenn er dagegen die Angst bezwingt, den Wunschbildern und Verlockungen widerstehen kann, dann darf er »drüben« bleiben und in höhere Seinsebenen aufsteigen.

Die Parallelen zu den Vorstellungen der Ägypter in der Pharaonenzeit sind offensichtlich: Hier wie dort beginnt ein besseres, vollkommeneres Leben erst nach dem Tod; dieses Leben ist aber nicht einfach die Glückseligkeit oder Verdammnis, sondern jetzt muss sich erst zeigen, ob die seelische Verfassung, die man aus dem irdischen Leben mitbringt, ausreicht, oder ob man zurück muss. Zurück heißt in diesem Fall: Rückkehr in ein Leben mit einem Körper aus Fleisch und Blut, dort: Verbannung in die Unterwelt.

Die alte Bibel: kein Jenseits, keine Wiedergeburt

Moses, der große Gesetzgeber und Führer des jüdischen Volkes, der überragende Prophet, der sein geknechtetes Volk um 1250 v. Chr. befreite und durch die Wüste in die neue Heimat führte, war am ägyptischen Königshof und ganz sicher auch in der Religion der Pharaonen erzogen worden. Vieles hat er übernommen, als er seinem Volk, das bis dahin nur vage religiöse Vorstellungen besaß, seinen Glauben mitteilte. Doch in zwei Punkten unterscheidet er sich grundlegend von den Ägyptern: Für ihn gibt es nur den einen Gott Jahwe. Und: Er verliert nicht ein einziges Wort über das, was nach dem Tod kommen könnte.

Der alte jüdische Glaube ist die einzige Religion der Welt, die mit Gott einen Bund, einen Vertrag schließt – und trotzdem von ihm nicht einmal andeutungsweise ein Versprechen auf ein ewiges Leben bekommt. Der »Vertrag« beschränkt sich einzig und allein auf das irdische Leben. Jahwe verspricht seinem Volk wiederholt: Wenn ihr euch an meine Gebote haltet, wenn ihr mir treu seid, keinen anderen Göttern dient, dann wird es euch hier auf Erden gut gehen. Dann dürft ihr im Wohlstand leben, dann werdet ihr viele Kinder haben und braucht euch nicht vor Feinden, vor Unglück, Krankheit oder sonst einem Übel zu fürchten. Darüber hinaus wird den Juden nichts weiter versprochen.

Man könnte ergänzen: Die jüdische Religion ist die einzige der Welt, die nicht über den Tod hinausgeht.

Das wäre selbstverständlich ein Widerspruch in sich. Denn es gehört zu jeder Religion, ja, es macht geradezu ihr Wesen aus, dass sie über den Tod hinausweist. Dort, wo das Leben mit dem Tod endet, wird jede Religion überflüssig.

Dennoch glaubten und glauben auch die Juden an ein Weiterleben nach dem Tod. Sie kennen beispielsweise zwei »Höllen«: den Scheol, als Unterwelt mit dem Hades vergleichbar, ein Schattenreich, in dem die Verstorbenen mehr oder weniger leblos dahindämmern. Und die Gehenna, den Ort der endgültig und ewig Verdammten.

Doch durch viele Jahrhunderte war das Leben nach dem Tod für sie einfach kein Thema. Man glaubte an Gott Jahwe und hatte grenzenloses Vertrauen zu ihm, ohne weitere Fragen zu stellen. So gesehen war ihr Glauben wohl größer als der aller anderen Völker.

Erst sehr viel später, vielleicht hundert, zweihundert Jahre vor Christus, begannen die Schriftgelehrten und die Priesterschaft über den »Himmel« nachzudenken und heftig zu streiten, ob es ein Weiterleben nach dem Tod gibt und wie es aussehen könnte. Es ist deshalb müßig, darüber zu spekulieren, ob es bei den Juden die Vorstellung einer Wiedergeburt gab oder nicht. Der eine mag daran geglaubt haben, der andere nicht. So oder so hätte das den eigentlichen Glauben nicht im Geringsten berührt. Einen direkten Hinweis jedenfalls auf einen Glauben an die Wiedergeburt gibt es im Alten Testament nicht.

Johannes – der wiedergeborene Elias?

Ähnliches galt ursprünglich wohl auch für den christlichen Glauben. In den Schriften des Neuen Testamentes, in Aussagen Jesu finden sich dennoch Passagen, die man sehr wohl als Zeugnis des Glaubens an die Wiedergeburt deuten könnte.

So hatte beispielsweise in den letzten Sätzen des Alten Testaments der Prophet Malachias angekündigt, bevor der Messias komme, werde der Prophet Elias zurückkehren: »Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elias. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.« (Malachias 3, 23-24)

Es darf deshalb nicht verwundern, dass sich Jesus' Apostel und Jünger fragten: Wenn Jesus tatsächlich der Messias ist, dann muss Elias auch zurückgekommen sein.

Die Evangelisten erzählen freimütig über diesen Zweifel.

Zuerst hatten die geistlichen Behörden zu Johannes dem Täufer geschickt, der in der Wüste Alarm schlug: »Kehrt um, tut Buße. Das Himmelreich ist nahe!« Sie ließen anfragen: »Wer bist du?« Johannes bekannte: »Ich bin nicht der Messias« (Johannes 1,20) – »und auch nicht Elias.«

Nun fragte Jesus seine Jünger: »Für wen halten die Leute mich?« Er bekam zur Antwort: »Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elias, wieder andere für Jeremias oder sonst einen Propheten.« Er forschte weiter: »Und ihr, was meint denn ihr?« Da fasste sich Petrus ein Herz und sagte: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Matthäus 16, 15) Dieser Antwort wegen wird er selig gepriesen: »Selig bist du, Simon, Sohn des Barjona. Denn nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel.« (Matthäus 16, 17) Aber wo blieb dann der angekündigte Elias?

Jesus behauptete, Johannes der Täufer ist es: »Wenn ihr es gelten lassen wollt«, sagt er zu den Jüngern des Johannes, »ja, er ist Elias, der wiederkommen soll. Wer Ohren hat, der höre.« (Matthäus 11, 14-15)

Das hört sich schon nach Wiedergeburt an. Der Prophet Elias hatte in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts vor Christus gelebt. Allerdings, den Berichten der Bibel zufolge ist er nicht gestorben, sondern im feurigen Wagen in den Himmel abgeholt worden, ohne zuvor den Tod gekostet zu haben.

Womit sich die Frage stellt, ob man auch wiedergeboren werden kann, ohne zuvor gestorben zu sein?

Gleiches Schicksal – als Zeichen der Wiedergeburt?

Auffallend ist, dass Johannes der Täufer und der Prophet Elias – abgesehen von der »Himmelfahrt« des einen und der Enthauptung des andern – ein nahezu identisches Schicksal hatten, und sich offensichtlich auch ihrem Charakter nach mehr als nur ähnlich waren.

Elias musste sich pausenlos mit König Ahab von Israel (873-853 v. Chr.) anlegen – seiner Frau Isebel wegen.

Die Königin verführte das jüdische Volk zu den Götzen Baal und Aschera. Sie ließ 450 Baals-Propheten ins Land kommen und den Götzen heilige Stätten auf den Bergen errichten. Elias verkündete als Strafe eine verheerende Dürrekatastrophe und wurde als Terrorist und Volksschädling verfolgt. Schließlich ließ er sich mit den Baals-Propheten auf einen Wettkampf ein: Einer gegen 450, wer hat den stärkeren Gott? Die Schlachtopfer der Götzendiener blieben unbeachtet, während sein Opfer in Flammen aufging, obwohl er kübelweise Wasser darüber gießen ließ.

Elias tötete die falschen Propheten und zog sich damit den gesteigerten Hass der Königin zu. Wieder musste er sich in der Wüste vor ihr und ihren Häschern verstecken.

Johannes der Täufer lebte ebenfalls nur in der Wüste, ernährte sich von wildem Honig und Heuschrecken und rief zur Buße auf. Seine Auseinandersetzung hatte er mit dem Landesfürsten Herodes Antipas, der seit 4v.Chr. als Vasall der Römer über Galiläa und Peräa herrschte. Und wieder ging es um eine Frau, diesmal um Herodias. Herodes hatte die Tochter seines Halbbruders Aristobulos seinem Halbbruder Philippus weggenommen. Das war nach dem mosaischen Recht eines der scheußlichsten Verbrechen. Deshalb tadelte ihn Johannes öffentlich als Ehebrecher, der sein Amt und seine Macht schändlich missbraucht habe.

Auf Betreiben von Herodias ließ der Fürst ihn in den Kerker werfen. Doch das genügte Herodias nicht. Selbst vom Kerker aus hatte Johannes noch zuviel Einfluss auf Herodes. Dieser besuchte ihn nämlich im Kerker und diskutierte mit ihm. Herodias überlistete ihren Mann. Als ihre Tochter Salome vor ihm und seinen Gästen tanzte und er, trunken von ihrer Schönheit, versprach, sie dürfe sich wünschen, was immer sie wolle und wäre es das halbe Königreich, überredete Herodias ihre Tochter: Verlange das Haupt des Täufers!

Legt die Ähnlichkeit der Schicksale vielleicht doch die Wiedergeburt nahe?

Wiedergeburt aus »Wasser und Geist«

Jesus sprach wiederholt und sehr direkt von der Wiedergeburt und machte sogar die ewige Seligkeit davon abhängig. Allerdings sprach er nicht von der Wiedergeburt im »Fleisch«, sondern von der Wiedergeburt »aus Wasser und Geist«. So sagte er zum Pharisäer, der ihn heimlich nachts besuchte, um mit ihm zu diskutieren: »Amen, amen ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.« Nikodemus entgegnete ihm: »Wie kann ein Mensch, der schon alt geworden ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden?« Jesus antwortete: »Amen, amen ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch. Was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.« (Johannes 3, 1-13)

Entsprechend formuliert der Evangelist Johannes im Prolog zu seinem Evangelium: »Allen, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.« (Johannes 1, 12-13)

Gewiss, hier ist die Rede von einer Wiedergeburt – aber nicht von der Reinkarnation. Hier geht es nicht um die Frage, ob ein Mensch nur ein einziges Mal oder mehrere Male als Kind zur Welt kommt.

Viele andere Aussagen der Bibel, und zwar des Alten wie des Neuen Testamentes, widersprechen ganz eindeutig dem Glauben an die Wiedergeburt. Wer in der Bibel Zeugnisse für die Wiedergeburt finden will, der muss Aussagen aus dem Zusammenhang reißen, um sie entsprechend zu interpretieren. Die Lehre der Bibel insgesamt spricht unmissverständlich von der Einmaligkeit des Lebens, von der Erlösung, von der Heimkehr der Verstorbenen in den Himmel. Daran lässt sich nicht herumdeuteln. Das Alte Testament kannte keine Zweiteilung des Menschen in einen sterblichen Leib und in eine unsterbliche Seele. Deshalb konnte es auch keine realistische Vorstellung einer Wiedergeburt geben.

Das Neue Testament, die Lehre von Jesus Christus, verspricht die Auferstehung des Körpers, also die Wiederherstellung des ganzen ursprünglichen Menschen. Allein dieses Versprechen schließt die Reinkarnation aus. Denn schließlich: In welchem der vielen verschiedenen wiedergeborenen Körper sollte am Ende die Seele leben? Nur ein einziger Körper kann auferstehen. Der Körper nämlich, der zusammen mit der Seele den einmaligen, unwiederholbaren Menschen ausmachte. Das ist christliche Lehre.

Von den Griechen kam die Vorstellung von der Seele im »leiblichen Kerker«

Probleme mit der Frage der Wiedergeburt sind im christlichen Glauben erst aufgetaucht, als das Gedankengut der großen griechischen Philosophen in die Theologie einsickerte.

Die erste Vorarbeit dazu haben bereits die griechisch gebildeten Apostel Johannes und Paulus geleistet. Denn sie brachten in den Glauben die Vorstellung des gespaltenen Menschen ein, der zusammengesetzt ist aus der reinen, »heiligen« und unsterblichen Seele – und dem verderblichen, »sündigen«, niedrigen Trieben ausgelieferten Leib – ein Bild, das den alten Juden völlig fremd war.

Vor allem Paulus, der die Urformen christlicher Theologie geprägt hat, machte den menschlichen Zwiespalt deutlich: »Wir wissen, dass das Gesetz vom Geist bestimmt ist. Ich aber bin Fleisch, das heißt, verkauft an die Sünde … Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen … Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden. Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?« (Römer 7, 14-25)

Das ist die Weltanschauung Piatos (427-347 v. Chr.). Der Schüler des Sokrates und Lehrer des Aristoteles hat mit großer Leidenschaft sein ganzes Leben lang versucht, die unsterbliche Seele mit logischen Schlussfolgerungen zu beweisen und das Leben im sterblichen Leib nur als »Schatten«, als Abbild des eigentlichen Lebens darzulegen. Seiner Meinung nach – und das ist bestimmend geworden für die Denkweise des Abendlandes – kann der Mensch überhaupt nur deshalb über Gott., die unsterbliche Seele und die Ewigkeit nachdenken, weil er von Gott und vom Erleben der Unsterblichkeit eine – wenn auch unvollständige – Erinnerung besitzt. Er hat Gott erlebt, die eigene Unsterblichkeit erfahren – vor diesem Leben in der Sterblichkeit, das nur ein unvollständiges Abbild der eigentlichen Wirklichkeit ist. Die unsterbliche, von Natur aus reine Seele ist gegenwärtig im Kerker des vergänglichen, unreinen, sündhaften Leibes »eingesperrt« und sehnt sich nach der Erlösung von diesem Gefängnis.

So erklärt Plato im »Phaidon«: Die Verunreinigungen der Seele sind eine so schwere Last, dass sich die Seele immer wieder zur Erde zurückgezwungen fühlt.«

Das klingt fast genauso wie die Erklärung über die Wiedergeburt im Tibetanischen Totenbuch: Die Übermacht des sündigen Fleisches zwingt zur Rückkehr in eine neue Inkarnation. Wiedergeburt ist das Ergebnis des Versagens.

Plato lehrt, der Wiedergeborene bekäme sein künftiges Schicksal nicht von irgendeiner Macht zudiktiert, sondern erwähle es sich selbst aus, entsprechend seinen Neigungen, seinen Idealen und Vorstellungen. Doch diese Wiedergeburt ist keine natürliche Notwendigkeit. Im Idealfall wird sie überflüssig. Und am Ende einer ganzen Reihe von Inkarnationen steht auf alle Fälle das körperlose, rein geistige Leben am himmlischen Wohnort des Friedens. Eine imponierende Vorstellung. Nicht übersehen darf man dabei, dass diese Annahme die Menschen letztlich dazu führte, sich fortan als gespalten zu empfinden und sich eine Leibfeindlichkeit entwickelte, die einer Geringschätzung des irdischen Lebens und einer Verleugnung körperlicher, sinnlicher Bedürfnisse und Wünsche gleichkam. Das Resultat waren notgedrungen unendlich bedrückende Beklemmungen und zahllose psychische Erkrankungen.

Um es noch einmal zu betonen: Ursprünglich christlich ist diese Vorstellung nicht, auch wenn sie fortan das Abendland beherrschen sollte.

Dass Jesus Christus etwas ganz Einmaliges, zuvor Unvorstellbares versprochen hat, nämlich eben nicht ein rein geistiges Leben im Himmel, sondern die Auferstehung des Fleisches, ein ewiges Leben des ganzen, ungeteilten Menschen, das ist im christlichen Glauben völlig in den Hintergrund gedrängt worden.

Paulus versuchte, den Widerspruch zu lösen. Auf der einen Seite sagte er: »Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott … Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die sündigen Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben.« (Römer 8, 7-13)

Dann aber erklärt er andererseits die Auferstehung des Körpers: »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben. Das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche. Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden zur Unvergänglichkeit auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. Denn dieses Vergängliche muss sich mit der Unvergänglichkeit bekleiden und dieses Sterbliche mit der Unsterblichkeit.« (1. Korinther 15, 50-53)

Das heißt aber doch: Der Körper wird zwar auferstehen – aber nicht mehr in Fleisch und Blut, sondern in einer neuen, unsterblichen, ewigen Form.

Von der »Maske« zur »Lebensrolle«

Noch ein zweites philosophisches Gedankenbild hat das Christentum von den großen griechischen Denkern übernommen. Es ist der Begriff der Person. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, an dem sich alle Reinkarnationsvorstellungen kreuzen, weshalb hier ausführlicher darauf eingegangen werden muss.

Persona, das war ursprünglich im Sprachgebrauch der Griechen und Römer die Maske, die der Schauspieler vor sein Gesicht hielt, um damit in seine »Rolle« zu schlüpfen. Hinter der Maske blieb er unverändert der, der er immer gewesen war. Doch in all seinen Äußerungen, mit seinem Schicksal, seiner Freude, seinem Leid, war er nun nach außen hin ein ganz anderer geworden. Anders das Aussehen, anders das Gebaren, anders die Sprache und die Gestik, nicht wiederzuerkennen.

Man konnte mit anderen Worten dank der »persona« sein eigentliches Wesen vorübergehend, aber eben nur vorübergehend, verändern, konnte gewissermaßen eine Spielart dessen liefern, was man eigentlich war und konnte.

Durch den Philosophen Cicero (106-43 v. Chr.), vielleicht auch schon früher, hat der Begriff »persona« eine deutliche Sinnerweiterung erfahren. Der römische Philosoph verstand darunter nicht mehr nur die Maske des Schauspielers, sondern die Lebensrolle, die jeder Mensch nach seiner Geburt zu spielen hat. Als Person wäre demnach jede Inkarnation wiederum etwas Vergängliches, etwas Äußerliches, das mit seinem eigentlichen, unveränderlichen Wesen nichts zu tun haben muss und auch nicht mit ihm verwechselt werden darf. Anders gesagt: Jede neue Inkarnation verkörpert auch eine neue Person, so dass man den Wiedergeborenen nicht an seiner typischen Art, seinem unverwechselbaren Charakter wiedererkennen kann. Er tritt nicht als dieselbe Figur im zweiten und dann im dritten Akt eines Stückes auf, sondern er kommt wieder als ein ganz anderer. In neuer Verkleidung, nach außen hin eine bisher unbekannte »Maske«.

Wir werden später sehen, dass die »Person« im fernöstlichen Denken ähnlich vorgestellt wird. Mit der vordergründig neuen Person, die nicht mit dem wahren Wesen identisch ist, wird dort auch erklärt, warum man sich im Regelfall nicht an frühere Inkarnationen erinnern kann. Mein jetziges Leben ist eine andere Rolle als jene, die ich in früheren Leben spielte. In dieser Inkarnation soll ich nicht meine »Person« verändern, sondern ich muss das, was sich hinter der Maske verbirgt, weiter entfalten, um dereinst geläutert und frei von »Personen« in das Nirwana einkehren zu können.

Ausgehend von der griechischen Philosophie hat das früheste Christentum bereits den Begriff der Person genau in ihr Gegenteil gekehrt. Person war fortan – und ist auch heute in unserem Verständnis nicht mehr eine »Rolle«, sondern die höchste individuelle Form des Lebens. Ein Tier beispielsweise kann einen bestimmten Charakter, ein typisches Wesen mit wunderbaren Eigenschaften besitzen – aber es kann keine Persönlichkeit sein. Voraussetzungen für die Person ist nämlich Bewusstsein, also die Fähigkeit, sich als »Ich« zu begreifen, freie Willensentscheidungen zu treffen, ein Gewissen zu besitzen und damit zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Der Begriff Person ist demnach den Menschen vorbehalten – und in überhöhter Weise Gott, der in einer Wesenheit drei in sich völlig selbständige Personen vereinigt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gerade deshalb kann nach christlichem Verständnis Gott eben nicht eine Urenergie sein, ein zerfließender, alles umfassender Urgeist, der zugleich alles Leben beseelt, so dass jeder von uns den göttlichen Funken in sich trägt. Damit würde ihm ja die höchste Form der Existenz abgesprochen: die Person. Gott muss deshalb seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen gegenüberstehen und darf nicht mit ihr verschmelzen. Und auch der Mensch, sein Geschöpf, kann nach seinem Tod nicht einfach in Gott einfließen, in ihn zurückkehren, sondern er bleibt sein Gegenüber, sein Partner, der von ihm Geliebte.

Das ist tatsächlich der wichtigste und entscheidendste Unterschied zwischen abendländischem und fernöstlichem Denken: Hier steht am Anfang der Schöpfergott, der seine Welt geschaffen und die Menschen als seine Partner erwählt hat. Dort gibt es keiner Anfang und kein Ende, keinen Schöpfer und kein Geschöpf – sondern nur das ständige Werden und Verwandeln. Gott und das Universum sind letztlich untrennbar eins.

Origenes und die Kaiserin Theodora

Es versteht sich von selbst: Sobald die Zerlegung des Menschen in unsterbliche Seele und sterblichen Leib, in einen guten und einen schlechten Teil begonnen hatte, setzten auch im Christentum Überlegungen über die Möglichkeit der Wiedergeburt ein, die zuvor ja unmöglich, widersinnig sein mussten. In den ersten fünf nachchristlichen Jahrhunderten ist die Wiedergeburt sehr lebhaft diskutiert worden. Manche der sogenannten Kirchenväter haben sich für sie stark gemacht.

Der bedeutendste, jedenfalls der mit dem größten Einfluss auf die christliche Theologie, war der Kirchenvater Orígenes (etwa 185-254). Er besaß eine hervorragende griechische Bildung und baute die griechische Philosophie systematisch in die Theologie ein. So kam er zu der Annahme, die auch schon bei Plato angeklungen war, die menschliche Seele müsse schon von Ewigkeit her existieren und könne nicht, wie das auch heute noch in der christlichen Kirche gelehrt wird, bei jeder Zeugung von Gott neu geschaffen werden. Deshalb lehrte er: »Gott hat alle Seelen im Augenblick der Schöpfung geschaffen, als reine Geister. Durch einen Sündenfall sind manche dieser Seelen gestürzt und als Menschen in das Fleisch verbannt worden. Das menschliche Schicksal wird entsprechend bestimmt von der Größe der Verfehlung im vormenschlichen Leben. Nach dem Tod kommt die Seele, die ihre Schuld nicht ganz abtragen konnte oder die neue Schuld auf sich geladen hat, in das Läuterungsfeuer. Sobald sie ganz rein geworden ist, darf sie nach und nach die Stufen immer höherer Geistigkeit wieder emporsteigen, bis sie zuletzt zu Gott zurückkehren kann.

Eine nicht uninteressante Mischung aus christlicher, fernöstlicher und griechischer Glaubensvorstellung – aber keine Wiedergeburtslehre. Denn den Thesen des Orígenes fehlt der wichtigste Bestandteil: die Reinkarnation, das wiederholte Lebendigwerden im Fleisch. Orígenes hielt an der Einmaligkeit des menschlichirdischen Lebens fest. Er forderte lediglich eine Vorexistenz der Seele, entsprechend ihrem Weiterleben nach dem Tod.

Damit hat er allerdings das eigentliche Hindernis, das dem Glauben an die Wiedergeburt im Wege stand, die Erschaffung der Geistseele bei jeder Zeugung, beseitigt und dem Glauben an die Wiedergeburt neue Nahrung gegeben. Von Alexandrien, der Hochburg der Bildung, aus entfaltete sich der Origenismus, der unter anderem auch die Wiedergeburt lehrte.

Um dieser Lehre Einhalt zu gebieten, verurteilte die christliche Kirche unter Papst Vigilius und auf Betreiben des Kaisers Justinian im Jahre 543 einige Lehrsätze des Orígenes, speziell seine These von der Präexistenz der Seele: »Wenn jemand behauptet oder glaubt, menschliche Seelen würden schon vor der Menschwerdung existieren … sei er verdammt …« So heißt es unmissverständlich im Edikt des Kaisers »gegen Orígenes«. Das heißt aber: Wer daran glaubt, seine Seele hätte schon vor der Zeugung existiert, der schließt sich selbst aus der Glaubensgemeinschaft der Kirche aus. Damit ist indirekt auch die Wiedergeburt verurteilt worden. Denn wenn die Seele vor der Menschwerdung nicht existiert haben kann, dann kann sie auch nach dem Tod nicht auf eine neue Inkarnation warten.

Es stimmt: Bei jener Verurteilung im Jahre 543 und bei der Übernahme des Dekrets durch das 5. allgemeine Konzil in Konstantinopel im Jahre 553 ist manches nicht mit rechten Dingen zugegangen. Papst Vigilius (537-555) wurde beispielsweise gewaltsam von Rom nach Konstantinopel gebracht. Doch sein Sträuben richtete sich nicht gegen die Verurteilung der Wiedergeburt, sondern gegen die Herabsetzung des verehrten Kirchenvaters Orígenes. Und er hatte etwas dagegen, dass sich Kaiser Justinian und seine sehr energische und einflussreiche Frau Theodora als die eigentlichen Häupter der Kirche und als Hüter des rechtmäßigen Glaubens aufspielten. Vigilius hat die Verurteilung der Vorexistent der Seele unterschrieben – und er befand sich dabei in vollem Einklang mit den meisten Konzilsvätern, die sich in Konstantinopel versammelt hatten.

Die wiederholt geäußerte Behauptung ist also falsch, die christliche Kirche habe bis ins 6. Jahrhundert an die Wiedergeburt geglaubt, bis eine übereifrige Kaiserin den Papst einem Günstling zuliebe zwang, sie zu verurteilen.

Indem die christliche Kirche die Thesen des Orígenes verurteilte, unternahm sie absolut nichts Neues, dies war kein Kurswechsel. Ganz im Gegenteil: Das Konzil von Konstantinopel hat, wie immer es dort zugegangen sein mag, die traditionelle Glaubenslehre der Kirche bestätigt und nunmehr verbindlich für alle Gläubigen festgehalten: Christentum und Wiedergeburt sind zumindest über weite Strecken hinweg unvereinbar.

Auch wenn das viele Befürworter der Wiedergeburt, die sich zugleich zum Christentum bekennen und die immer wieder versuchen, beide Heilsvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen, nicht wahrhaben wollen: Letztlich bleibt ein unüberbrückbarer Widerspruch: Hier der persönliche Gott, der sich jedem einzelnen seiner Geschöpfe zuwendet, der es kennt, beim Namen nennt, der es in seiner Einzigartigkeit liebt – und der sogar seinen eigenen Sohn auf die Erde hinunterschickt, um jeden einzelnen zu erlösen – dort der namenlose, unfassbare, gesichtslose Urgeist, der sich im Universum verströmt und wieder sammelt, der den ausgeschickten Tropfen seines Wesens erst wieder aufnehmen kann, wenn er sich in unendlich mühseligem, unendlich oft wiederholtem Bemühen absolut gereinigt hat.

Hier Gnade und Barmherzigkeit – dort unbestechliche, vielleicht sogar grausame Gerechtigkeit.

Hier Erlösung durch Gott – dort Selbsterlösung.

Es kann keinen Zweifel geben: Abraham, Moses und Christus haben niemals und nirgendwo von Wiedergeburt gesprochen. Es ist deshalb abwegig, wenn in neueren Büchern über die Wiedergeburt wiederholt behauptet wird, die christliche Kirche habe ab dem 3. Jahrhundert systematisch alle Bibelstellen, die die Wiedergeburt behandelten, ausgemerzt oder bewusst falsch übersetzt. Solche Behauptungen sind angesichts moderner Bibelforschung, der ältere Quellen zur Verfügung stehen, völlig unhaltbar.

Wiedergeburt – durch Jahrhunderte kein Thema

Nach dem Konzil von Konstantinopel blieb das Thema Wiedergeburt für Christen tabu – gleichermaßen übrigens wie für die Mohammedaner. Die Kirchen hatten es in diesem Punkt nicht einmal besonders schwer, die Einheit im Glauben zu bewahren. Fast könnte man sagen: Für die Vorstellung der Wiedergeburt konnten sich die Menschen in unserer Heimat nicht erwärmen. Es war kein Druck von oben nötig, um Wiedergeburtsideen auszulöschen.

Auch die Reformatoren befassten sich eigentlich nicht mit der Wiedergeburt – so als müssten sie unterdrücktes, seit Jahrhunderten verschüttetes Glaubensgut freilegen. Es stimmt nicht, wie begeisterte Verfechter der Wiedergeburt glauben machen wollen, dass der Glaube an die Wiedergeburt die ursprüngliche, die natürliche, jedem Menschen unbewusst einverleibte Religion ist, die im Abendland nur gewaltsam von anderen Theorien verdrängt wurde. Für die Wiedergeburt haben sich in der westlichen Welt bis in das 18./19. Jahrhundert hinein immer nur Randgruppen, einzelne interessiert. Dabei fungierte die christliche Glaubenslehre gewiss als fester Riegel, der die Menschen davon abhielt, über die Fragen der Wiedergeburt überhaupt nachzudenken oder gar »Erinnerungen« von Kindern an frühere Leben die geringste Bedeutung zuzumessen. Die heutige Stellung der christlichen Kirchen zur Wiedergeburt ist nicht mehr so einheitlich und so klar ablehnend wie früher, zumal die Unsterblichkeit der Seele weithin ins Zwielicht geraten ist. Viele Theologen, vor allem in den evangelischen Kirchen, aber auch manche in der katholischen, sind zurückgekehrt zum alttestamentarischen Menschenbegriff vom unteilbaren Menschen. In Anlehnung an moderne psychosomatische Erkenntnisse lehnen sie eine unsterbliche Seele ab. Ihrer Meinung nach ist der Tod vollständig für den ganzen Menschen. Das ewige Leben wird also nicht automatisch durch die unsterbliche Seele garantiert, sondern nur, weil Gott es uns Menschen versprochen hat, weil er uns, vorausgesetzt wir haben entsprechend seinen Geboten gelebt, zu einem neuen, diesmal ewigen Leben »auferweckt«, also praktisch neu schafft.

Wenn es aber keine unsterbliche Seele gibt, dann kann es auch keine Wiedergeburt geben. Dann gibt es ja nichts, überhaupt nichts, das wiedergeboren werden könnte.

Demgegenüber hält die katholische Kirche in ihrer offiziellen Lehrmeinung auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil daran fest, dass der Mensch aus zwei Substanzen besteht, aus Leib und Seele: »In Leib und Seele eins [unteilbares Wesen] vereint der Mensch durch seine Leiblichkeit die Elemente der stofflichen Welt in sich: Durch ihn erreichen sie die Höhe ihrer Bestimmung und erheben sie ihre Stimme zu freiem Lob des Schöpfers … Der Mensch irrt aber nicht, wenn er seinen Vorrang vor den körperlichen Dingen bejaht und sich selbst nicht nur als Teil der Natur oder als anonymes Element in der menschlichen Gesellschaft betrachtet; denn in seiner Innerlichkeit übersteigt er die Gesamtheit der Dinge. In diese Tiefe geht er zurück, wenn er in sein Herz einkehrt, selbst unter den Augen Gottes über sein eigenes Geschick entscheidet. Wenn er daher die Geistigkeit und Unsterblichkeit seiner Seele bejaht, wird er nicht zum Opfer einer trügerischen Einbildung, die sich von bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen herleitet, sondern erreicht er im Gegenteil die tiefe Wahrheit der Wirklichkeit.« So formuliert es der offizielle Konzilstext.

In einer Erklärung der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre, das ist die kirchliche Behörde des Vatikans, die über die Reinheit des Glaubens wacht, heißt es noch deutlicher: »Die Kirche hält an der Fortdauer und Subsistenz eines geistigen Elements nach dem Tod fest, das mit Bewusstsein und Willen ausgestattet ist, so dass das ›Ich des Menschen‹ weiterbesteht, wobei es freilich in der Zwischenzeit seiner vollen Körperlichkeit entbehrt.«

Und die katholische Kirche hält ebenfalls am Dogma aus dem Jahre 553 fest, das die Existenz der Seele vor der Zeugung als Irrglaube verdammte. Damit ist es auch heute unmöglich, die katholische Glaubenslehre mit dem Glauben an die Wiedergeburt in Einklang zu bringen.

Zwar hat sich die Vorstellung der Christen von Himmel und Hölle gegenüber früher ganz deutlich geändert. Niemand glaubt heute mehr an den Himmel, der sich als ein bestimmter Ort darstellt, an dem man sich wohl fühlen kann, oder an die Hölle als ein riesiges Feuer, in dem man auf ewige Zeiten schreckliche Verbrennungsqualen erleiden müsste. Man sagt heute etwa: Der Himmel ist das Leben mit Gott, die Hölle das Leben ohne Gott. Der Mensch, der sich ein Leben ohne Gott gewählt hat, wird dies im ewigen Scheitern erreichen. Er wird in Ewigkeit nichts anderes wollen. Würde er sich zu Gott bekehren wollen, könnte er dies gewiss auch tun. Doch das ist gerade das Wesen der Hölle: Er ist in seiner Lebensrichtung versteinert. Die Uhr ist stehengeblieben. Doch ganz gewiss schlittert keiner fahrlässig in diese Hölle hinein. Dem steht die Liebe Gottes entgegen.

Diese Vorstellung ist nicht mehr sehr weit vom Glauben an die Wiedergeburt entfernt. In beiden Fällen ist der Zugang zu Gott abhängig vom Erreichen der Vollkommenheit. Nach der christlichen Lehre muss dazu ein einziges Leben ausreichen, doch gibt es »drüben« noch eine Möglichkeit, am Ort der Reinigung die letzten Unvollkommenheiten abzulegen. Nach der Vorstellung der Wiedergeburt werden in immer neuen Inkarnationen neue Chancen geboten.

So gibt es heute auch Stimmen wie etwa die des evangelischen Theologen Adolf Köberle, die eine Wiedergeburt unter bestimmten Voraussetzungen nicht für unmöglich halten, sie als »Regelfall« aber ablehnen: »Wenn Gott der Herr ist über alle Elemente im Himmel und auf Erden, wenn er in seiner Freiheit Verstorbene beauftragen kann, Lebenden in Stunden der Gefahr Wink, Weisung und Warnung zu geben, Vorgänge, die aus der Zeit der beiden großen Kriege glaubwürdig bezeugt sind, dann wollen wir es nicht von vornherein ausschließen, dass der Herr des Alls auch ein verstorbenes Leben zu neuem Auftrag auf die Erde senden kann.

Solche Möglichkeiten aber bleiben im Bereich seiner Freiheit. Daraus die Allgemeingültigkeit der Reinkarnation abzuleiten und darüber das Mysterium der erbarmenden göttlichen Liebe abzubauen oder auch nur zu schmälern, dazu kann sich christliche Verkündigung und Seelsorge nicht bereit finden.«

Um noch einmal ganz deutlich herauszustellen, was der Idee der Wiedergeburt vom christlichen Glauben her entgegensteht:

1. Der christliche Gott ist dreifaltig, d.h., er umfasst drei Personen. Er steht hinter der Schöpfung, die nicht ein Teil von ihm ist, sondern sein Werk.

2. Als Geschöpf Gottes – nicht als sein Teil – ist jeder Mensch einmalig und besitzt nur ein irdisches Leben. Erst mit diesem Leben beginnt seine Ewigkeit. Sie kann zu Gott führen, doch das muss nicht so sein. Dank seines freien Willens kann er sich gegen dieses Lebensziel entscheiden und damit seinen Weg verfehlen.

3. Jeder Mensch braucht die Erlösung, doch er kann sich nicht selbst erlösen, indem er kleinlich jede Schuld abträgt, er ist bereits erlöst. Christus ist Mensch geworden, um allen Menschen die Erlösung anzubieten. Denn Gott ist gnädig und barmherzig.

4. Hat der Mensch sein Ziel erreicht, kehrt er nicht in Gott zurück, von dem er ausgegangen ist, sondern er wird als sein geliebter Partner zu ihm zurückkehren. Er ist nicht der Tropfen, der in das Meer eintaucht, sondern er ist das Kind, das vom Vater – oder auch von der Mutter, denn Gott ist beides – in die Arme geschlossen wird.

5. Das ewige Leben ist nicht nur geistig. Nach der Vollendung wird der Mensch wieder zum ganzen Menschen, mit Leib und Seele. Auch der Körper, der einzige, einmalige Leib, wird auferstehen.

Das heißt aber auch, dass wir dieses irdische Leben nicht als etwas Minderwertiges missachten dürfen. Der Körper ist kein »Kerker«, dem man möglichst bald entfliehen müsste, kein lästiges Kleid, das keiner Pflege und Sorgfalt bedürfte, sondern möglichst bald wieder abgelegt werden sollte. Der Mensch besteht nicht nur aus Geist, sondern auch aus Fleisch und Blut.

Und zwar für immer.

Unsere Vorfahren dachten und glaubten ganz anders

Die christlichen Missionare, die hauptsächlich von Irland her in unsere Heimat kamen, um diesen Glauben zu verkünden, hatten es überaus schwer, die Germanen und Kelten von der neuen Heilslehre zu überzeugen. Denn diese Menschen hatten vom Leben und von dem, was danach kommen könnte, völlig andere Vorstellungen. Schon der römische Feldherr Julius Cäsar (100 bis 44 v. Chr.) berichtete seinen verblüfften Landsleuten nach Hause – und das war sicherlich nicht nur ein Versuch, die bitteren Verluste und die endlose Dauer seines Kriegs in Germanien zu entschuldigen –, diese Menschen seien besonders tugendhaft und im Kampf unvergleichlich todesmutig, weil sie das Sterben nicht fürchteten, sondern an die Wiedergeburt glaubten.

Fast zweihundert Jahre später bestätigte der Geschichtsschreiber Appian diese Feststellung: »Die Hoffnung, wiedergeboren zu werden, ist in den Herzen der Germanen fest verwurzelt.«

Beide, Cäsar und Appian, hatten, soweit wir das heute überhaupt noch wissen und begreifen können, recht und zugleich unrecht. Für Germanen wie für Kelten war der Glaube an ein Weiterleben eine unbezweifelbare Selbstverständlichkeit – und zwar an ein Weiterleben als Mensch auf dieser Erde, nicht als Geist irgendwo in den Sphären. Doch ihre Wiedergeburtsvorstellung unterscheidet sich grundlegend von all unseren geläufigen Vorstellungen, von der fernöstlichen Reinkarnationsidee ebenso wie von den modernen Vorstellungen in westlichen Kulturkreisen. Wenn wir versuchen wollen, uns hineinzudenken, dann müssen wir uns zuerst von dem Begriff »Person« frei machen. Denn diesen Begriff kannten unsere Vorfahren nicht. Für sie dürfte er geradezu unvorstellbar gewesen sein. Entsprechend konnte es für sie auch nicht die Frage geben, ob ein Verstorbener als die Person, die er einst gewesen war, zurückkehren würde. Wenn es bei ihnen einen mit der Person vergleichbaren Begriff gegeben hat, dann war es jener der Sippe, man könnte auch sagen der Familienart. Sie blieb für immer erhalten durch alle Generationen. Jeder, der starb, wurde zum Samen für ein neues Familienmitglied und begann in ihm wieder zu leben.

Entsprechend blickten die Germanen nicht zum Himmel. Denn die Eltern, Großeltern waren nicht zu den Göttern emporgestiegen. Sie waren zur Erde zurückgekehrt, in den Schoß der Natur, um aus ihr neu geboren zu werden. Was hätten sie bei ihren düsteren Göttern suchen sollen? Sie waren Wesen einer anderen Welt, furchteinflößende Gestalten, die man zumindest zeitweise hasste, die man gnädig stimmen musste, um ihren Bosheiten zu entgehen. Man konnte sie nicht lieben. Es gab nicht die geringste Sehnsucht, mit Wotan, Thor, Freya oder anderen Asen, Wanen, allesamt unberechenbar düstere Gestalten, einstmals am selben Tisch zu sitzen.

Nein. Der »Himmel« der Germanen und Kelten war weder die Asenburg noch die Walhalla, in der die Helden in alle Ewigkeit weiterkämpften – ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, denn sie waren ihrer Tüchtigkeit wegen von den Göttern in Dienst genommen. Statt dessen erwartete man am Ende der Zeiten das »Goldene Zeitalter im schönsten Hain unter Göttern und Menschen«, ein Naturparadies, in dem es stets Frühling und Herbst zugleich sein würde, in dem man sicher wäre vor den Übergriffen der Götter und in ewigem Frieden und ewiger Freude leben dürfte.

Nichts von Befreiung der Seele vom Körper – sondern pralles Leben auf einer besonders gesegneten Erde!

In dieses »Land der Jugend und der Lebenden« werden alle nach dem letzten schweren Winter gelangen, nachdem die Sterne auf die Erde stürzen, die Welt zuerst im Feuer verglüht, danach in eisiger Kälte erstarrt. Yama, der erste Mensch, der Urvater der Menschheit und König der Unterwelt, wird rechtzeitig heraufsteigen, um die Überlebenden in seiner Feste, die er gegen Kälte und Unwetter errichtet hat, durch die Katastrophen zu retten – eine geradezu modern anmutende Vorstellung: Zerstörung des irdischen Lebensraumes durch Nuklearsprengkraft, mit nachfolgender eisiger Nacht …

Ihr Herz war bei den Ahnen

Die Verstorbenen weilen bei Yama – oder auch Yima –, dem Adam der nordischen Völker, in der Unterwelt, im Schoß der Erde. Sie sind nicht gestorben. Oder besser gesagt: Der Tod ist kein Verlöschen, sondern nur eine andere Form des Schlafs und der Bewusstlosigkeit. Irgendwann werden sie aufwachen. Und dann kehren sie zurück ins Leben. Für jeden, der stirbt und nach dem Leben zur Erde zurückkehrt, um sich dort auszuruhen, wird ein Verstorbener lebendig und wiedergeboren. Er steigt hinauf auf die Erde, kehrt zurück in seine Familie, in der er einstmals lebte.

Ein Teil der Familie ist also gerade lebendig auf der Erde, ein anderer Teil ruht unter der Erde, um neue Kraft zu sammeln. Doch beide sind auf ihre Art am Leben.

Strenggenommen – und auch in diesem Punkt waren speziell die Germanen sehr modern – gab es für sie nichts Sterbliches, sondern nur verschiedene Formen und Äußerungen des Lebens. Sie wussten, dass Fische im Wintereis erstarren und wie tot aussehen, mit der Schneeschmelze aber wieder quicklebendig werden. Sie hatten immer wieder beobachten können, dass man einen Baum eigentlich nicht umbringen kann. Wenn man ihn fällt, dann wächst alsbald aus seiner Wurzel ein neuer Trieb: Der alte Baum lebte weiter – und doch wurde daraus ein ganz neuer Baum. Vielleicht wurde er größer als der ursprüngliche, vielleicht blieb er kleiner. Doch er trug dieselben Blüten, Blätter und Früchte. Und in ihm pulsierte das ursprüngliche Leben.

Vielleicht kann man mit diesem Bild die altgermanische Wiedergeburtsvorstellung am besten erklären. Eigentlich war es gar keine Wiedergeburt, denn zuvor hatte es auch den Tod im eigentlichen Sinn nicht gegeben, selbst dann nicht, wenn der alte Baum verbrannt, wenn aus ihm Bauholz oder Waffen gemacht worden waren. Zweige und Stamm konnte man vernichten – aber nicht das eigentliche Leben. Es spross aus der Erde zu einem neuen, wenn auch nicht unbedingt identischen Leben hervor. Ja, es war sogar möglich, dass aus dem Baumstumpf zwei, drei Sprösslinge wachsen konnten, dann lebte der alte Baum in zwei oder drei neuen Bäumen weiter. Es war jedes Mal das alte Leben, das sich erneut entfaltete – und doch waren es neue Bäume, die sich vom ursprünglichen unterschieden. So darf es uns keineswegs verwundern, dass die »Wiedergeburt« bei den Germanen, die immer nur in derselben Familie stattfinden konnte, keineswegs auf eine Person beschränkt blieb. Der verstorbene Großvater konnte nicht nur in einem, sondern zugleich in mehreren Enkeln »wiedergeboren« werden. Alten Mythen zufolge scheint es für die Germanen auch selbstverständlich gewesen zu sein, dass ein Mensch gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten weilen oder seine Gestalt wie Odin wechseln konnte. Dahinter steckte nicht die Vorstellung einer Zweiteilung des Menschen in unsterblichen Geist und sterblichen Körper, sondern ein Wissen um die Ur-Lebenskraft Natur, die ihre unsterblichen Wurzeln in der Erde hat.

Schon vor 50 000, vielleicht sogar vor 70 000 Jahren haben unsere Vorfahren ihre Verstorbenen pietätvoll in schmucken Gräbern beigesetzt – nicht selten in der Haltung des Embryos: mit angezogenen Beinen, gewölbtem Rücken, die Hände über der Brust gekreuzt. Man legte sie in die Erde wie ein Samenkorn, wie ein Kind im Mutterleib, damit sie zu neuem Leben heranwachsen konnten. Der Tote war nicht fortgegangen, nicht »dahingeschieden«, sondern zurückgekehrt in den Schoß der Mutter Erde. Ihr Herz stand nur vorübergehend still, nicht für immer. Das Leben war nach wie vor zugegen, nur konnte man es nicht mehr wahrnehmen. Man gab den Verstorbenen gutes Schuhwerk, Kleidung, Waffen und Nahrungsmittel mit ins Grab – eben weil man an ein Erwachen glaubte. Wie es nach dem Schlaf, nach der Bewusstlosigkeit ein Erwachen gibt, so glaubten die Germanen an das Erwachen nach dem Tod. In späteren Jahrhunderten setzte man die Verstorbenen sogar in riesigen Gemeinschaftsgräbern bei – bis zu hundert Tote in einem Grab. Sie sollten da unten nicht allein sein, nicht auf die Gemeinschaft, die Familie verzichten müssen. Und wenn sich die Lebenden an bestimmten Festtagen sinnlos betranken, dann war auch das nur ein Versuch, in der eigenen Bewusstlosigkeit mit den Ahnen in Verbindung zu treten. Von einem Schlafenden, Bewusstlosen, Toten sagten unsere Vorfahren: »Er ist nicht ganz und gar dort, wo er gesehen wird.« Womit sie andeuten wollten: Das Leben weilt vorübergehend nicht in seinem Körper.

Eine alte nordische Erzählung, um 1150 von dem Dänen Saxo Grammaticus aufgezeichnet, gibt einen Einblick in die Jenseitsvorstellungen der Germanen – oder müsste man aufgrund moderner Einsichten sagen: Jenseitserfahrungen?

Hadings wandert mit einer Begleiterin aus einer anderen Welt durch die dunkle Unterwelt. Plötzlich gelangen die beiden an einen sonnenüberfluteten, hell erstrahlenden Ort, an dem geheimnisvolle Kräuter wachsen. Als die beiden weiterwandern, kommen sie zu einer Mauer, über die sie trotz großer Anstrengungen nicht klettern können. Zufällig hat die Begleiterin einen lebendigen Hahn bei sich. Sie schneidet ihm den Kopf ab und wirft das Tier über die Mauer. »Und sogleich zeigt der wiederbelebte Vogel durch klares Krähen, dass er wieder atmet.«

Bei den »Jenseitserfahrungen« vorübergehend klinisch toter Menschen werden wir demselben Bild erneut begegnen: Dunkler Gang oder Tunnel, Hinaustreten in die Lichtfülle, die Mauer, die nur der endgültig Tote überwinden kann, das eigentliche in Licht getauchte Leben hinter der Mauer.

Aber eines war bei den Germanen völlig einmalig: Die Unterwelt und damit auch das Sterben besaß für sie keinen Schrecken. In der Erde »lebten« die Ahnen, mit denen sie in ständiger Verbindung standen. Ihr Herz war bei ihnen, nicht bei den Göttern im Himmel. Sie blickten nach unten, nicht nach oben.

Es ist richtig: Die Welt der Germanen war erfüllt von Geistwesen, von Asen, Wanen, Zwergen, Alfen, Dämonen. Jedem Menschen war auch ein eigener Schutzgeist, eine Art »Schutzengel«, beigegeben. Fylgie, so hieß dieser persönliche Begleiter, konnte gelegentlich im Traum wahrgenommen werden. Manche besonders begabte Menschen sahen ihren Schutzgeist auch direkt als Schatten. Er konnte in die Zukunft blicken und vor Unglück warnen. Manchmal verließ Fylgie seinen Schützling und wandte sich einem anderen Menschen zu. In der Regel wechselte er vom Vater auf den Sohn über. Von diesem Augenblick an war der Verlassene vom Pech verfolgt und bösen Dämonen schutzlos ausgeliefert.

Es gab sie also, die Geister, doch die Germanen empfanden weder eine Sehnsucht, selbst zum Geist zu werden, noch hatten sie die Vorstellung eines vorübergehend rein geistigen Lebens zwischen zwei Inkarnationen. Solche Denkweise befremdete und verwirrte vor 2000 Jahren die Römer ebenso wie später die christlichen Missionare. »Diese Menschen rechnen ihre Zeit in Nächten, nicht in Tagen«, schrieb Cäsar nach Rom. Er begriff die heute kaum mehr vorstellbare – und doch absolut moderne Verbundenheit der Germanen mit ihren Ahnen und mit der Natur nicht. Die Missionare, die sich erst rund 600 Jahre nach Christus in unsere Heimat wagten, mussten förmlich die Natur erschlagen, um die Menschen zum neuen Glauben zu bekehren, und so ihren Blick von der Erde weg zum Himmel zu zwingen. Diese Bekehrung forderte viel Blut und Zwang. Wer sich endlich taufen ließ, musste den alten Göttern abschwören: »Ich schwöre ab Donar, Wotan und Sachsnot und allen Unholden, die ihre Genossen sind«, lautete die Formel. Doch damit war es nicht getan. Viel schwieriger war es für die Missionare, die Menschen von den alten heiligen Hainen, Eichen, Quellen, Felsen wegzubringen. Sie mussten die Bäume fällen, die Quellen zuschütten, die Haine verwüsten. Und sie taten das mit enormem Aufwand – ohne zu ahnen, dass sie damit den Menschen ihre Wurzeln abschnitten, sie heimatlos machten im wahrsten Sinne des Wortes.

Schon Tacitus hatte zu erklären versucht, warum Kelten und Germanen im Gegensatz zu allen anderen ihm bekannten Völkern keine Tempel besaßen, sondern ihre Gottesdienste im Freien, in geheiligten Waldlichtungen und auf Berghöhen, feierten: »Sie erachten es nicht für angemessen, die Götter in Wände einzusperren und sie nach menschlichem Aussehen zu gestalten – wegen der Größe der Himmlischen.«

Doch den nordischen Völkern ging es nicht ums »Einsperren«. Sie wussten um das Leben in der Natur, dort, wo es pulsierte, wuchs, blühte, Früchte brachte und verwelkte. Dort, wo der Blitz einschlug.

Wie armselig musste ihnen, gemessen an der lebendigen Gemeinschaft mit den Ahnen, der neue Glaube an einen Mann vorkommen, der irgendwo in einem völlig unbekannten Land gelebt hatte, der von sich selbst behauptete, er sei der Sohn Gottes, der dann aber als Verbrecher hingerichtet wurde? Wie nichtssagend musste das Versprechen sein, ihr dürft nach dem Tod mit diesem Fremden am selben Tisch sitzen – droben im Himmel.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783942822237
DOI
10.3239/9783942822237
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Februar)
Schlagworte
Tod Reinkarnation Wiedergeburt Mystik Astrologie Religion eBook hey
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Titel: Niemand stirbt für ewig
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