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Dem Tod geweiht

©2012 0 Seiten

Zusammenfassung

Im südenglischen Badeort Brighton geht ein Serienmörder um. Davon ist nicht nur Detective Chief Inspector Dorothy Marley überzeugt. Auch die Klatschpresse hat den Killer zur Stärkung ihrer Auflagen für sich entdeckt. Zwei Frauen sind dem so genannten »Brighton-Würger« bereits zum Opfer gefallen: die wohlhabende Immobilienmaklerin Christine Gordon und eine alternde Gelegenheitsprostituierte namens Margaret Penhalligan. Beide wurden an öffentlichen Plätzen gefunden – erdrosselt und lediglich mit einem Paar Ringelsocken bekleidet. Wie die Ermittlungen ergeben, war ihnen ihr Tod zuvor schriftlich angekündigt worden – mit einem Kärtchen, wie es Pathologen an die Zehen von Leichen binden. Darauf ist sowohl die Todesart als auch der Zeitpunkt des Ablebens vermerkt. Für Dorothy Marley wird der Fall schon bald zur Bewährungsprobe für ihre Beförderung zum Superintendent. Immer wieder hat sie mit den Anfeindungen von Chief Inspector Peter Bloomfield zu kämpfen, ihres Konkurrenten um den Posten. Schließlich scheint die Situation zu eskalieren: Denn in derselben Nacht, als Dorothy zum Palace Pier gerufen wird, um eine weitere nackte Tote in Augenschein zu nehmen, hat auch ihr Bruder Robert, ein ebenso erfolgreicher wie unzufriedener Kriminalschriftsteller, eine Morddrohung erhalten ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

I

Leitartikel aus The Sun,

28. August 1983:

Höchststrafe im Fall Barnes

Heute um 14.00 Uhr fällte Lord Oberrichter Leonard Belloc im Londoner Schwurgericht Old Bailey das Urteil über den mutmaßlichen Frauenmörder Brian Barnes (23). Barnes war Ende letzten Jahres der brutalen Vergewaltigung und Ermordung der 20- jährigen Renee White aus Long Weldon, Suffolk, angeklagt und ins Londoner Untersuchungsgefängnis Pentonville überführt worden, wo er ein halbes Jahr auf seinen Prozess wartete (wir berichteten). Obgleich der Angeklagte nach wie vor seine Unschuld beteuert, spricht die Beweislast eindeutig eine andere Sprache. Nach nur zweistündiger Beratungszeit gelangten die Geschworenen zu einem einmütigen Urteil: »Schuldig im Sinne der Anklage«. Der Lord Oberrichter erklärte in seinem Schlusswort an den Angeklagten: »Sie sind von einer zwölfköpfigen Jury Ihrer Landsleute eines widerwärtigen Verbrechens für schuldig befunden worden, und ich darf sagen, dass ich an der Richtigkeit dieser Entscheidung keinerlei Zweifel habe.« Die Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude quittierte das Urteil der Jury (fünf Männer und sieben Frauen) mit Beifall und Jubelrufen. Barnes wird noch in dieser Woche von London ins Parkhurst-Gefängnis auf der Isle of Wight verlegt. R. Ρ D.

Artikel im Provinzblatt The Weldon & District Weekly News,

25. Juli 2000:

Mutmaßlicher Mörder aus Haft entlassen

Vor 18 Jahren ereignete sich in unserem Bezirk ein grausiges Verbrechen. Die meisten unserer Leser werden sich noch an die Einzelheiten erinnern: Das Opfer, die 20-jährige Tochter des Ehepaars White aus Long Weldon, war während eines Zeltlagers im Jahre 1982 geschändet und erdrosselt worden. Der mutmaßliche Täter, ein damals 22 Jahre alter Hilfsarbeiter in Evans' Sägewerk, wurde schnell ermittelt und zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt. Dieser Mann ist nun wieder auf freiem Fuß. Nach Angaben des örtlichen Constables kehrt er geläutert in seinen Heimatort zurück. Bürgermeister Billy Evans appelliert daher an die Bevölkerung, dem Straftäter bei der Integration ins normale Dorfleben keine Steine in den Weg zu legen. Des Weiteren kündigte er an, dem entlassenen Sträfling wieder einen Arbeitsplatz im Sägewerk zur Verfügung stellen zu wollen. Reverend Peter Cotton ließ gestern verlauten, dass er am kommenden Sonntag um 10.00 Uhr in der Gemeindekirche St. Michael's einen Willkommensgottesdienst abhalten wird. Bericht: Steven Andrews.

Kurzmeldung des Brighton Evening Argus,

Donnerstag, 27. Juli 2000:

Frauenmörder kehrt nach 18 Jahren in die Freiheit zurück

[Newport, Isle of Wight] Brian Β., vor 18 Jahren des Mordes an einer jungen Frau in Suffolk überführt, wurde am vergangenen Dienstag wegen guter Führung vorzeitig aus dem Η. M. P. Parkhurst entlassen. Während der letzten sieben Jahre hatte B. die Bibliothek der Haftanstalt geleitet und sich der Gefängnisleitung zufolge insbesondere durch vorbildliches Verhalten seinen Mitinsassen gegenüber ausgezeichnet. R. Ρ D.

II

Mittwoch, 26. Juli 2000, 22.50 Uhr.

Nach der Besuchszeit am Nachmittag hatte James entschieden, dass für ihn nun die Zeit gekommen sei zu gehen. Zeit, Abschied zu nehmen. Und als er den Computer jetzt ausschaltete, den Stuhl ordentlich unter den Schreibtisch schob und den Freizeitraum verließ, war er sehr zufrieden mit seiner Entscheidung. Sehr zufrieden und erleichtert.

Im ganzen Haus herrschte Stille, und auf dem Flur war keine Menschenseele zu sehen. Er zählte die Neonröhren an der Decke, während er den hellen Korridor entlang zum Treppenhaus ging, so wie er sie auch immer gezählt hatte, wenn er in die entgegengesetzte Richtung hinauf zu seinem Zimmer gegangen war: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig … Zwei mehr als in der anderen Richtung, stellte er fest, als er bei der Tür anlangte. Sie war nicht verschlossen. Er stieß sie auf und trat ins Treppenhaus, wo ihm der Geruch von Bohnerwachs in die Nase stieg. Obwohl es auf allen Etagenfluren nach Bohnerwachs roch, war der Geruch hier noch einmal stärker; ein Geruch, den er mochte, der ihn an zu Hause erinnerte – an seine Mutter in ihrer Schürze, wie sie jeden Samstag auf den Knien den Boden schrubbte …, an Jenny, seine Schwester, und an den Tag vor achtzehn Jahren, als sie beide in den Schuppen hinter dem Haus gegangen waren, um das Seil zu holen … Mama hatte nicht lange leiden müssen, nicht annähernd so lange wie Daddy, vom Krebs zerfressen, nicht annähernd so lange wie er selbst. Ein heftiger Schlag auf den Kopf, das Seil am Treppengeländer festgezurrt. Ein Sturz, ein Ruck, dann war es vorbei. Sie strampelte nicht einmal.

Auf dem Weg zur Waschküche, einem riesigen weißen Raum im Keller, wo sich grün schimmernde Wäscheleinen wie Telegrafendrähte im Zickzack von einer Seite des Raumes zur anderen zogen, kam ihm niemand entgegen. James löschte alle Lichter hinter sich, als er eintrat, und schloss die Tür von innen ab.

Um an die Leine zu kommen, musste er auf einen wackligen Holzschemel steigen. Mit der rechten Hand löste er sie sehr schnell und geschickt von den beiden Haken, zwischen denen sie gespannt war, und legte sie zu einem doppelten Strang zusammen. Sein linker Arm machte ihm wie immer Schwierigkeiten, doch es gelang ihm schließlich, die beiden Enden der Wäscheleine zwischen Daumen und Zeigefinger einzuklemmen und einen Knoten hineinzuknüpfen. Er nahm die Leine noch einmal doppelt – vier Stränge würden sein Gewicht tragen, überlegte er –, formte eine Schlinge und band das andere Ende an einem Haken an der Wand fest. Dann stieg er wieder auf den Schemel, den er ganz nah an die Wand geschoben hatte, hielt die Schlinge mit den Fingern offen, schlüpfte mit dem Kopf hindurch und zog sie in seinem Nacken fest.

Er lauschte einen Moment lang, als er irgendwo in der Ferne ein Geräusch hörte. Schritte, eine Tür fiel schwer ins Schloss.

Die Stille kehrte zurück, und er stieß den Schemel beiseite. Seine Füße traten Luft. Ein krampfartiges Zucken durchlief seinen Körper – nur wenige Sekunden lang –, bis der Frieden kam.

Dann hing er still.

ERSTER TEIL

Die Briefe & der Tod

1

9. September 2000, 23.35 Uhr.

Das Fernsehbild flimmerte.

»Kein Schriftsteller lügt«, sagt Robert Marley. Er sitzt in einem bequem aussehenden roten Sessel mit hoher Lehne. Die Studiokulisse ist in Gelb gehalten, einer Farbe, die ihm zuwider ist. Sein Gesicht wird in Großaufnahme gezeigt, während er spricht. Streifen laufen über den Bildschirm. »Wir erzählen Geschichten, nichts weiter. Geschichten, die für uns in gewisser Weise die Wahrheit bedeuten.« Die Kamera schwenkt zu Edward Carson, seinem Interviewpartner.

»Sie schreiben über Verbrechen und sehen eine Wahrheit darin?« Carson setzt ein breites, einstudiertes Lächeln auf. Es ist ein hohles, desinteressiertes Lächeln – das Lächeln einer Maschine. Er spricht in die Kamera: »Ist das nicht beinahe ein Schuldeingeständnis?« Eine absichtliche Pause, gerade lange genug, um bemerkt zu werden. »Eine Frage zum Abschluss, Mr. Marley – was tun Sie, wenn Sie nicht gerade schreiben?«

Marley in Großaufnahme. »Ich schlafe, Mr. Carson«, sagt er ohne Zögern. Kameraschwenk zum Publikum, Applaus und die allmählich lauter werdende Musik des Abspanns. »Ich schlafe für immer.«

Robert Marley nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher aus. Er hasste Auftritte vor großem Publikum. Carson & Co gehörten zu einer Welt, die er zutiefst verabscheute – einer unehrlichen Welt. Wenn er seine Geschichten schrieb, war er allein, und das war gut so. Der gesamte Schreibprozess war etwas sehr Persönliches. Es gab niemanden, der sie beide störte. Nur die Geschichte und der Autor. Es war eine Art Vertrag. Die Wichtigkeit von Lesungen und Promotionsveranstaltungen ließ sich nicht von der Hand weisen (beides war notwendig, wenn er wollte, dass die Leute seine Bücher kauften), doch lieben musste er die Publicity deshalb noch lange nicht.

Das Telefon läutete. Es war zwanzig vor zwölf.

Du lieber Gott, Mama, dachte er. Marley stand auf und ging ins Arbeitszimmer hinüber, wo das Telefon stand. Sicher hatte sie ihn in dieser verdammten Show gesehen und wollte ihm nun mitteilen, wie ungemein brillant er wieder gewesen war.

Er nahm den Hörer ab.

»Beeson & Beeson Bestattungen.« Er hatte es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, sich nach neun Uhr abends mit einem Fantasienamen zu melden. »Richard Beeson am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Du stirbst, du Schwein!«, flüsterte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

Es war eine leise, sehr melodische Stimme, und einen grotesken Moment lang überlegte Marley, ob seine Mutter wohl in der Lage wäre, einen solchen Satz über die Lippen zu bringen. Er entschied sich dagegen.

»Was?«, war alles, was ihm als Antwort einfiel. Wäre er eine Frau gewesen, hätte er vermutlich zur Trillerpfeife gegriffen – ein Rezept gegen obszöne Anrufer. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, seine Schwester Dorothy habe ihm einmal davon erzählt.

»Am 31.11. dieses Jahres«, sagte die Stimme. Dann knackte es in der Leitung. Ein lang gezogener Summton war zu hören.

Marley stand noch eine ganze Weile am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, starrte den Hörer an und horchte auf den leisen, klagenden Summton, der in seinen Ohren beinahe wie schweres Atmen klang.

Dann legte er auf und wählte die Nummer seiner Schwester.

2

Die Luft war eisig und schneidend, und der auflandige Wind trug die sprühende Gischt als feinen Nebel bis weit auf die Promenade hinauf. Chief Inspector Dorothy Marley vermochte das Salz auf ihren Lippen zu schmecken, als sie atemlos die Stufen auf der Ostseite des hell erleuchteten Palace Piers zum Strand hinuntereilte und die wilden Böen ihren offenen Mantel aufblähten. Weiter unten brachen sich die meterhohen Wellen brüllend an den stählernen Stützpfeilern des Piers und rollten angriffslustig gegen die Steinbarrieren, ehe sie träge über den grobkörnigen Sand ins Meer zurückglitten. Als sie auf die Gruppe von geschäftig herumhuschenden Menschen zuschritt, die batteriebetriebene Lampen aufstellten und das ihr so vertraute gelbe Absperrband ausrollten, begann es zu nieseln. Es roch nach Schnee. Hatten die Leute vom Wetterdienst nicht einen milden, beinahe mediterranen Herbstabend versprochen, 15 Grad Celsius und trocken? Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie sich irrten.

Der Mord war der Sussex Constabulary vor weniger als 40 Minuten gemeldet worden. Ihr Department war schnell, das wusste sie; trotzdem überraschte sie die Gegenwart all der Beamten. Insgeheim rügte sie sich für ihre Verspätung. Sie hatte in der Wanne gelegen, Händel gehört und nach der Auseinandersetzung mit ihrer Kollegin Angela an alles andere als an ihren Job gedacht, als der Anruf sie erreichte.

»'n Abend, Chief«, hörte sie eine Stimme neben sich. Es war Ralph Cloud, ihr Sergeant und Schatten. Ralphie war ihr mächtig ans Herz gewachsen; sie fand ihn irgendwie niedlich in seiner tollpatschigen, jungenhaften Art. Dorothy nannte ihn manchmal Clouseau …

»Hi, Schatz«, sagte sie. Sie strich ihm im Vorbeigehen beiläufig übers Kinn.

Dorothy sah, dass Dr. Miliner, der Polizeiarzt, neben dem weißen, leblosen Bündel, dem all der Trubel galt, im feuchten Sand kniete. Er war ein großer, gertenschlanker Mann mit kurz geschorenen grauen Haaren, der die sechzig bereits überschritten hatte. Sie trat von hinten an ihn heran, berührte ihn leicht an der Schulter. »Hallo, Doktor. Die Kollegen von der Spurensicherung scheinen sich ja mächtig ins Zeug gelegt zu haben.« Sie ließ sich neben ihn sinken. »Was haben wir?«

»Weibliche Leiche«, sagte Miliner. »Zirka zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt.«

»Erdrosselt, wie die anderen beiden?«

»Erstickt. Keine Würgemale in diesem Fall.« Miliner deutete auf zwei leicht unterblutete Druckstellen im Gesicht der Toten. Er erhob sich. »Der Tod trat durch gewaltsames Verschließen von Mund und Nase ein; vor allerhöchstem ein bis zwei Stunden, würde ich sagen.«

»Starb sie hier?« Dorothy ließ ihre Blicke über den nackten Leichnam wandern. Lediglich die Füße steckten in Pumps. Die Brustwarzen der Leiche waren versteift, hellblondes Schamhaar kräuselte sich im Wind zwischen den gespreizten Beinen der Toten.

»Ihr Sergeant fand Schleifspuren.« Miliner entledigte sich umständlich seiner Gummihandschuhe. »So, wie es aussieht, wurde sie in einer öffentlichen Toilette getötet – keine fünfzig Meter von hier. Wie in den beiden vorherigen Fällen fand kurz vor oder kurz nach Eintritt des Todes Geschlechtsverkehr statt.«

»Spermaspuren, Doktor?«

»Keine. Nichts. Gar nichts.« Miliner warf die Handschuhe in seine schwarze, klobige Tasche. »Sie hat ihren gerechten Teil vom Leben noch nicht gehabt, nicht wahr?«

Dorothy schwieg. Warum, fragte sie sich, sprachen nur alle in Floskeln? Es war jedes Mal dasselbe, wenn ein junger Mensch starb. Was war denn schon der gerechte Teil vom Leben? Das Mädchen war schön. »Haben Sie ihr die Augen geschlossen, Dr. Miliner?«

»Nein. Sie waren geschlossen.«

»Hat ihr Mörder sie geschlossen? Kann man das sagen?«

»Ich fürchte, nein, Inspector.«

Dorothy stand ebenfalls auf. Heller Sand haftete an den Knien ihrer Hosenbeine. Ein toter Mensch sah sehr, sehr friedlich aus. Nichts in seinem Gesicht verriet, welche Schrecken und Ängste er in den letzten Minuten ausgestanden hatte. Leichen waren entspannt. Entspannt wie ein Körper nach dem Sex. Was hatte Dennis Nilsen, der Londoner Muswell-Hill-Mörder, bei seiner Festnahme gesagt? ›Die Leiche ist der schmutzige Teller, der vom Festmahl übrig bleibt.‹ War dies hier ein Festmahl gewesen? Sie wusste es nicht. Hatte der Mörder in diesem Fall beim Akt des Tötens Lust verspürt? Warum hatte er getötet? Und hatte er sich nachher die Hände gewaschen?

»Chief?« Es war Sergeant Cloud. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern betrachtete ihren Mund. »Ich sollte Ihnen etwas zeigen.«

Es war eine öffentliche Toilette, wie jede andere in Brighton oder Hove. Allerdings war sie mit einer besonderen Haltevorrichtung für behinderte Personen ausgestattet worden. Chromfarbene Griffe befanden sich zu beiden Seiten der geräumigen Kabine. Der geflieste Boden war feucht. Es roch nach Urin und Desinfektionsmittel.

»Wer hat sie eigentlich gefunden?«, fragte Dorothy. Cloud konsultierte sein Notizbuch, obwohl er Fakten gewöhnlich immer im Kopf hatte. »Ein junger Kerl namens Roger Abony. Ein Stadtstreicher«, fügte er hinzu. »Dachte wohl erst, sie sei auf Drogen. Seiner Aussage zufolge hat er sich neben sie gesetzt und sie angesprochen, weil er hoffte, mit ihr liefe noch was.«

Sie nickte beinahe abwesend. »Was wollten Sie mir zeigen?«

»Sehen Sie das da?« Cloud wies auf zwei parallele schwarze Abriebspuren rechts und links vor der Toilettenschüssel. Ein Stück weiter im Gang waren noch mehr. Diese überschnitten sich jedoch und bildeten ein sternförmiges Muster. »Dr. Miliner sagt, es habe …« Cloud räusperte sich. »Es habe, nun ja, Verkehr stattgefunden.«

Der Spurensicherer Breckinridge mit seinem geheimnisvollen Tatortköfferchen hatte sicherlich jeden Winkel dieses Raumes bereits genauestens unter die Lupe genommen; da konnte es nicht schaden, wenn sie hier jetzt ebenfalls ein bisschen herumtrampelte und einstige Spuren verwischte.

Dorothy versuchte sich vorzustellen, wie der Mord verübt worden war. Der Täter musste sein Opfer zu Boden gezwungen haben. Vermutlich war er von hinten in sie eingedrungen. Aber was hatte er mit ihren Kleidern gemacht? Sie ins Meer geworfen? Bislang waren sie noch nicht gefunden worden.

»Cloud?« Sie ließ sich breitbeinig vor der Toilettenschüssel in die Hocke sinken.

»Ja, Sir?« Ihr Sergeant errötete im grellen Schein der Neonröhren. »… äh, entschuldigen Sie, Madam.«

»Kommen Sie her. Setzen Sie sich hinter mich. Na machen Sie schon.«

Auf Sergeant Clouds Stirn begann Schweiß zu perlen. »Ich weiß nicht recht, Chief«, sagte er.

»Setzen Sie sich hinter mich.« Sie beobachtete eine ganze Weile, wie Cloud sich zierte. Sie hörte sein verlegenes Räuspern, das ungeschickte Klappern seiner Schuhe auf den schlüpfrigen Fliesen. Dann verlor sie die Geduld: »Verdammt noch mal, Cloud! Tun Sie, was ich Ihnen sage! Setzen Sie sich hinter mich und legen Sie mir beide Hände auf den Mund.« Sie sah auf ihre Schuhspitzen. Obgleich sie flache Schuhe trug, stimmten die Abriebspuren mit der Position ihrer Schuhe überein. Um nicht nach vorn umzukippen, musste sie sich an den Chromgriffen festhalten, als sich der Sergeant hinter ihr niederließ und sein Gewicht ihren Körper nach vorne drückte. Ihre Füße glitten augenblicklich ab. Zwei dunkle Schlieren entstanden. Dorothy nickte nachdenklich.

»Okay!« Sie sprang so abrupt auf die Füße, dass Cloud das Gleichgewicht verlor und sich prompt auf den Hosenboden setzte. Sie drehte sich zu ihrem Sergeant um, der sich leise fluchend aufrappelte. Mit der rechten Schulter gegen die Wand gelehnt, meinte sie dann: »Wenn er sie in diese Position gezwungen hat, warum hat sie sich nicht gewehrt?« Sie blickte zu Boden, betrachtete die Schlieren, die sie hinterlassen hatte, und dann die Vielzahl der sich überlagernden Spuren. »Er muss ein verdammt gut aussehender Mann sein. Oder in gewisser Weise hilflos wirken. Ich denke, sie ging freiwillig mit ihm in diese Toilette. Sie hatten Geschlechtsverkehr. Als sie merkte, was wirklich gespielt wurde, strampelte sie um ihr Leben, aber da war es natürlich zu spät. Was denken Sie?«

Sergeant Cloud rauschte der Kopf. Nie war er Chief Inspector Marley körperlich dermaßen nahe gewesen. Seine Ohren schienen zu glühen.

»Ja«, sagte er blinzelnd. »Ja, genau das denke ich.« Dann beeilte er sich, hinaus in die schützende Dunkelheit zu kommen.

»Da oben muss es doch von Menschen nur so gewimmelt haben«, meinte Dorothy, als sie und Cloud über die Promenade zurück zum Fundort der Leiche gingen; vorbei an verrammelten Softeisständen und Crêpesbuden und den bei Tage so gemütlichen kleinen Cafés unter den Arkaden, die jetzt nach Geschäftsschluss kalt und abweisend wirkten. Wie der Mörder das tote Mädchen unbemerkt vierzig Meter weit von der Toilette bis zu den Stützpfeilern hatte schleppen können, war ihr ein Rätsel. Sie schaute nachdenklich zu den Lichtern des Piers hinauf.

»Wir haben den ganzen Zirkus absperren lassen«, sagte Cloud, der seinen Mantelkragen aufstellte und erfolglos mit den im Wind flatternden Enden seines Schals kämpfte, die ihm immer wieder ins Gesicht schlugen, während er gleichzeitig versuchte, mit Chief Inspector Marley Schritt zu halten. »Ein halbes Dutzend Kollegen nimmt die Aussagen der Leute auf. Da kann niemand runter, ehe er uns nicht seine Geschichte erzählt hat.«

Endlich erreichten sie die jahrhundertealte Eisenkonstruktion des Piers, wo es ein wenig windgeschützter war. An einem der Pfeiler blieben sie stehen. Neben ihnen bereiteten zwei Constables den Leichnam der unbekannten Toten für den Abtransport vor. Über ihnen war das hämische Kreischen der Lachmöwen zu hören.

»Angenommen, Sie wären der Mörder des Mädchens, Cloud.« Dorothy strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Was hätten Sie nach der Tat mit der Leiche gemacht?«

Der Sergeant musste nicht lange überlegen. »Sie liegen gelassen natürlich. Viel zu riskant, sie von dort wegzubringen.«

»Ja, das sehe ich genauso. Aber aus irgendeinem Grund hat er das Risiko trotzdem in Kauf genommen. Warum?«

»Möglicherweise wollte er einfach sichergehen, dass sie gleich gefunden wird.« Cloud zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Was schließen Sie denn daraus?«

»Ich möchte wissen, ob er es nicht vielleicht sogar darauf anlegte …« Dorothy brach ab. Sie erkannte den stämmigen Mann im Regenmantel bereits von weitem. Selbstbewusst wie immer kam er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu, den rechten Arm zum Gruß erhoben. Richard Parsons Dadd, der verdammte Reporter vom Evening Argus. Einen Meter vor ihnen blieb er stehen.

»Sergeant.« Ein kurzes Nicken in Clouds Richtung. Die Hände in den Hosentaschen, lächelte er Dorothy an. »Hallo, Miss Marley«

»Chief Inspector Marley« Sie gab sich spröde – wie immer, wenn sie ihn traf. Zugegeben, er sah nicht schlecht aus.

Dunkles Haar, blaue Augen, energisches Kinn, und er war kräftig gebaut. Doch sie konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sich jemand für unwiderstehlich hielt. Und dieses Fräulein-Getue mochte sie schon gar nicht. »Sie haben hier nichts zu suchen, Richard. Ich muss Sie bitten …«

»Ach Gott, Dorothy, nun seien Sie doch nicht so. Ich mache doch auch bloß meine Arbeit.« Sein Lächeln verschwand, und mit betroffener Miene sah er den Beamten dabei zu, wie sie den schmalen Körper behutsam auf eine Bahre legten und mit schwarzem Gummituch bedeckten. Dann wurde die Leiche mittels zweier elastischer Gurte fixiert. »Sie ist noch so furchtbar jung.«

»Fast noch ein Mädchen«, sagte Dorothy leise und schaute ihm in die Augen. Sie waren von einem klaren, wässrigen Blau. Unweigerlich musste sie an ihre erste Begegnung vor einem Dreivierteljahr beim Wohltätigkeitsball im Rathaus denken. Dadd hatte sie aus den Klauen eines langweiligen, aufgeblasenen Anwalts gerettet, indem er sich frech als ihr Verlobter ausgegeben hatte. Der Abend war geradezu traumhaft verlaufen. Sie war einem Menschen begegnet, der auf den ersten Blick ihrer kindlichen Vorstellung von einem perfekten Lebenspartner entsprach: gut aussehend, weltoffen, humorvoll. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre noch am selben Abend mit ihm ins Bett gegangen. Bis … ja, bis er ihr eröffnet hatte, dass er als Polizeireporter für die Sun tätig gewesen war, ehe er London den Rücken gekehrt und seine neue Stelle als Chefredakteur beim Brighton Argus angetreten hatte. Mehr war nicht nötig gewesen, um die Seifenblase zerplatzen zu lassen. Tägliche Observation durch die Klatschpresse war das Letzte, was sie in ihrem Job gebrauchen konnte. Damit standen sie automatisch auf verschiedenen Seiten. Sie konnte sich noch sehr genau an seine Reaktion erinnern – oder besser an den Mangel von Reaktion. Denn er hatte ihr einfach nur nachgeblickt, als sie ihm unvermittelt ihr Sektglas in die Hand gedrückt und ihn mitten im Saal stehen gelassen hatte. Stumm und etwas irritiert, mit diesen wässrig blauen Augen …

»Hören Sie mich? DO-RO-THY!« Die Worte drangen erst allmählich zu ihr durch, wie ein weit entferntes Horn in dichtem Nebel. »Ja, was?« Verwirrt schüttelte sie die Gedanken ab und straffte sich. Offenbar hatte sie ihn die ganze Zeit über angestarrt.

Dadd musste ein Grinsen unterdrücken. »Ich sagte: Wir haben es also mit einem weiteren Opfer des Würgers zu tun.«

Mit zusammengekniffenen Augen funkelte sie ihn an. »Wir?« Was bildete er sich bloß ein?

»Habe ich nun recht oder nicht?«

»Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass es sich um denselben Täter handelt. Ja.« Ihr Tonfall war eisig, als sie fortfuhr: »Sicher ist das allerdings nicht. Und ich habe keine Lust, morgen den Argus aufzuschlagen und panikmachende Mutmaßungen darin zu finden, Richard. Haben Sie mich verstanden?«

»Es würde mir wesentlich leichter fallen, wenn Sie mal mit mir essen gingen.«

Cloud beäugte Dadd voller Misstrauen. So attraktive Männer waren ihm nicht geheuer. Erst recht nicht, wenn sie ganz offensichtlich versuchten, sich an Chief Inspector Marley heranzumachen. Und seine Stimme klang vielleicht eine Spur zu aggressiv, als er sagte: »Ich denke, Sie gehen jetzt besser, Mr. Dadd.«

»Schon gut, Sergeant.« Beruhigend legte Dorothy ihm die Hand auf den Arm. »Mr. Dadd ist uns stets eine große Hilfe gewesen. Und ich schätze, er ist ganz versessen darauf, Ihnen zu erzählen, wie er die letzten vierundzwanzig Stunden verbracht hat.« Damit wandte sie sich um und ging lächelnd durch den knirschenden Sand davon, während die beiden Männer ihr verdutzt nachschauten und eine Ladung Vogelkot auf Sergeant Clouds Schulterpolster niederprasselte.

In den Streben über ihnen lachten kreischend die Möwen.

3

Emily Boyd warf ihre rabenschwarze Lockenpracht in einer letzten rhythmischen Abwärtsbewegung zurück, hielt ein paar Sekunden inne und machte dann mit sanfter Gewalt die Hände los, die ihr Gesäß noch immer umklammerten. Sie glitt von seinen Hüften herunter und ließ sich seufzend neben ihn aufs Bett rollen.

Er lag völlig entspannt da. Schweigend, wie immer – den Blick starr zur Decke gewandt, ohne zu blinzeln, so, als sei er beim Vollzug des Aktes gestorben. Nur sein Atem verriet, dass er noch lebte.

Mechanisch streifte Emily die geringelten blauen Socken ab, die er jedes Mal mitbrachte. Ein Fetisch, dessen Bedeutung ihr über all die Jahre verborgen geblieben war.

»Renee?« Mit geschlossenen Augen drehte er sich zu ihr um.

»Ja, mein Schatz?« Emily verstand ihr Handwerk.

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben.« Die Augen nach wie vor geschlossen, streckte er die Hand nach ihren Brüsten aus, fuhr mit seinen Fingern sanft die köstlichen Rundungen entlang. Dann, plötzlich, schlug er die Augen auf, lächelte, als er sich über sie beugte und liebevoll ihren Nabel küsste. »Er kann dir nichts anhaben, Liebling, solange ich bei dir bin.«

Er kam seit vielen Jahren zwei- bis dreimal die Woche zu ihr, und ihr Zusammensein glich mittlerweile so sehr einem Ritual, dass Emily seine ersten Tränen bereits spüren konnte, noch ehe sie auf ihren Bauch fielen oder sein leises Schluchzen an ihre Ohren drang.

»Er kann dir nichts anhaben«, wiederholte er.

»Schon gut«, sagte Emily »Es ist schon gut.« Sie schob ihren rechten Arm unter seinen Nacken, umarmte und drückte ihn zwischen den Kissen. »Er kann mir nichts anhaben.« Sie sah ihn an, die Lippen leicht geöffnet. Er tat ihr so entsetzlich leid. Sie war selbst den Tränen nahe, als sie ihm zuflüsterte: »Ich liebe dich, Pete. Ich habe dich immer geliebt.«

Sein Brustkorb bebte. Und dann begann er zu weinen, laut und hemmungslos wie ein Kind.

4

Das Polizeihauptquartier in der John Street glich selbst zu solch vorgerückter Stunde noch einem Wespennest. Es schien, als hätten sich in dieser Nacht sämtliche Polizisten der Brighton Division im Erdgeschoss des Gebäudes versammelt, um zu einer Art Staffellauf anzutreten.

Als Dorothy gegen Viertel nach eins die Vorhalle betrat, war Inspector Lawrence gerade auf dem Weg nach Hause oder hinaus in den nächtlichen Krieg. Mit einem mechanischen Nicken eilte er an ihr vorbei zur Tür, einen Stapel Akten unter dem rechten Arm. Vier oder fünf Constables in Uniform erhielten von einer ebenfalls uniformierten Kollegin Dienstanweisungen – die üblichen, ungeliebten Aufgaben, mutmaßte Dorothy: randalierende Club- und Discobesucher in ihre Schranken weisen, Obdachlose aus Bankvorräumen vertreiben und natürlich auch immer ein Auge auf die Prostituierten haben, die ihrem Gewerbe unter freiem Himmel in den verdreckten Seitengassen der Altstadt nachgingen. Während der letzten anderthalb Jahre hatte sich Dorothy besonders um Letztere bemüht. Hatte versucht, ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass es widersinnig war, die Frauen festzunehmen und vor den Magistrate's Court zu schleifen, wo sie der Richter mit einer Geldbuße belegen und anschließend erneut in die Nacht hinausschicken würde. Doch niemand schien sich Gedanken darüber zu machen, wie viele weitere Freier vonnöten waren, um das Bußgeld aufzubringen.

Sie ging an den blinkenden Pfeilen der Aufzüge vorbei zum Treppenhaus. Dorothy konnte Fahrstühle nicht ausstehen, seit sie als Kind einmal über mehrere Stunden hinweg in einem gefangen gewesen war.

Im zweiten Stock stieß sie die doppelte Glastür auf und marschierte zügig den schmucklosen Flur hinunter, an dessen Ende sich ihr Büro befand.

Es war spät. Ihre Augen waren gerötet und brannten. Sie war müde. Doch es half nichts. Denn wenn sie den Würger, der seit gut anderthalb Monaten die Stadt mit seinen Briefen und Morden in Angst und Schrecken versetzte, wirklich dingfest machen und sich im Wettstreit um den Posten des Superintendents gegen Chief Inspector Bloomfield behaupten wollte, musste sie die Augen offen halten; Tag und Nacht. Nicht, dass ihr an einer Beförderung sonderlich viel lag. Im Grunde wollte sie lediglich mit allen Mitteln verhindern, dass dieser Choleriker die Stelle bekam. Sollte Bloomfield, der eigentlich aus London stammte (und nach ihrem Dafürhalten auch besser dort geblieben wäre), tatsächlich das CID übernehmen, dann Gnade ihnen Gott. Der Mann war die personifizierte Frauenfeindlichkeit. Da konnte man die Kriminalabteilung auch gleich einem wütenden Ajatollah unterstellen.

Das kleine Büro, das sie sich mit ihrem Sergeant teilte, war finster und stickig. Dorothy ließ die Tür angelehnt, nachdem sie eingetreten war. Sie vermied es, das grelle Deckenlicht einzuschalten, knipste stattdessen die Lampe auf ihrer Seite des Schreibtisches an, ging dann zum Fenster hinüber und öffnete das Oberlicht.

Sie blieb am Fenster stehen, starrte in die Nacht hinaus und auf die William Street hinunter. Ihr Gesicht, das sich geisterhaft durchsichtig in der Scheibe spiegelte, zeugte von zu wenig Schlaf und zu viel Sorgen.

Farblos war das Wort, das Dorothy als Erstes in den Sinn kam, als sie ihr transparentes Spiegelbild bemerkte. Derselbe Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen, als sie sich heute Abend im Spiegel betrachtet hatte. Farblos.

Ihr Haar war glatt und rötlich, nicht rot; die Farbe ihrer Augen grünlich, nicht grün. Je länger sie sich betrachtet hatte, umso mehr war sie sich vorgekommen wie ein verwässertes Aquarell, bei dem lediglich die Proportionen stimmten.

Sie zwang sich, das Geisterbild zu ignorieren, richtete ihren Blick auf einen Punkt jenseits der Scheibe. In der Ferne konnte sie die schlafenden Victoria Gardens erkennen und weiter südlich die Lichter des Royal Pavilion mit seinen orientalischen Zwiebeltürmchen. Der vor mehr als anderthalb Jahrhunderten im Auftrag des exzentrischen König George IV erbaute Palast war heutzutage eines der bedeutendsten Wahrzeichen der Stadt. Der alte George, im Volksmund auch »der geschmacklose Prinny« genannt, hatte seiner merkwürdigen Ideen wegen bei zeitgenössischen Gegnern und Feinden als verrückt und gefährlich gegolten. Doch war er wirklich verrückt gewesen?

Verrückt und gefährlich.

Was hieß es denn, verrückt zu sein, fragte sie sich. Konnte jemand verrückt sein und Schönes damit erschaffen? Soweit sie sich erinnerte, hatte S.T. Coleridge den Bau als »Lustschloss« bezeichnet, »stolz und kuppelschwer …«

Verrückt und gefährlich – dieselben Adjektive, mit denen sie eher den Würger von Brighton beschrieben hätte.

Verrückt und gefährlich.

Dorothy seufzte. Übermüdet stieß sie sich von der Fensterbank ab.

Völlig ausgelaugt sank sie auf den Stuhl am Schreibtisch. Sah man von dem kurzen Entspannungsbad am Abend ab, hatte sie sich seit fast achtundvierzig Stunden keine Erholung mehr gegönnt. Dorothy versuchte, sich zu sammeln, sich auf etwas anderes als das übermächtige Verlangen ihres Körpers nach Schlaf zu konzentrieren, und für eine Weile war ihr Geist so leer wie die zerdrückte Packung Digestives-Kekse auf dem Platz ihres Sergeants. Eine Zeitlang betrachtete sie das heillose Durcheinander aus gestapelten Aktenmappen und Fotos. Alles in ihrem Blickfeld erschien ihr mit einem Mal riesenhaft vergrößert und doch gleichzeitig meilenweit entfernt zu sein. Sie registrierte jeden Krümel, jedes noch so winzige Staubkorn, die Spinnweben – dort, wo ihre Tischplatten sich berührten –, bemerkte den halben Marsriegel, den Cloud liegen gelassen hatte; angebissen vor Tagen, Wochen, Monaten …

Erst als sie den Druck des Bleistiftspitzers spürte, dessen scharfe Kanten sich schmerzhaft in ihre Stirn bohrten, stellte Dorothy fest, dass sie eingenickt war. Ruckartig richtete sie sich auf, schlug sich in rascher Folge ein paar Mal mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie musste sich verdammt-noch-mal zwingen, an den Fall zu denken: die Briefe, die toten Frauen.

All das nagte an ihr wie eine schlimme, bislang unbekannte Krankheit, die einen von Tag zu Tag mehr und mehr auszehrte, einen allmählich auffraß, ohne dass man den Grund dafür kannte. Da waren die Symptome, die Schmerzen … Deren Ursache zu finden war zunächst Dorothys dringlichste Aufgabe.

Mit einer Stimme am Telefon hatte alles begonnen.

Anonyme Anrufe bei alleinstehenden Frauen waren keine Seltenheit – wohl eher die Regel. Irgendwo gab es immer eine Handvoll Spinner, die sich an der Angst und dem Entsetzen anderer aufgeilten. Handfeste Drohungen dagegen waren wesentlich seltener. Die wirklich explizite Ankündigung eines Mordes aber hatte es in Brighton noch nie zuvor gegeben.

Eine verstörte alte Dame aus Portslade-by-the-Sea, die dort einen kleinen Zeitschriftenladen führte, hatte Ende Juli um Polizeischutz ersucht, da sie ihrer Aussage zufolge Morddrohungen erhalten habe. Superintendent Bless hatte daraufhin eine Polizistin nach Portslade geschickt, um sie zu beruhigen. (»Sagen Sie der alten Schachtel, sie soll sich keine Sorgen machen. Wahrscheinlich fehlen ihr bloß die Enkel.«) Arbeit an der Bevölkerung nannte er das. Sein Motto lautete: Gib ihnen das Gefühl, wir seien ausschließlich für sie da, und alles ist in bester Ordnung.

Aber es war nicht alles in bester Ordnung – ganz und gar nicht. Denn innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich die Zahl derjenigen, denen ihr baldiges Ableben telefonisch angekündigt worden war, auf 56 erhöht. Und Bless war nicht mehr in der Lage gewesen, jedem Einzelnen einen Constable zu schicken. Seither war kein Tag vergangen, an dem niemand einen solchen Anruf gemeldet hätte. Gegenwärtig stand die Zahl der belästigten Personen irgendwo bei 350. Damit nicht genug: Nacheinander (davon ging Dorothy zumindest aus) war einigen von ihnen, wie zur Bestätigung, mit der Post ein großer brauner Briefumschlag zugestellt worden. Darin hatte sich jedes Mal ein rechteckiges, auf einer Seite abgerundetes Kärtchen befunden – ein Kärtchen aus dünnem Karton, wie es Pathologen gewöhnlich an die Zehen gewaltsam Verstorbener banden –, und darauf waren in altmodischer Maschinenschrift sowohl die Todesart als auch Ort und Zeitpunkt des Ablebens vermerkt.

Dann war der erste Mord geschehen.

Dorothy zog eine der blauen Mappen aus dem Stapel vor sich und klappte den Pappdeckel auf. Die Akte enthielt neben diversen Fotos vom Tatort und dem Bericht des Coroners auch einen Lageplan vom Fundort der Leiche im Stadtpark The Level. Die Tatsache, dass die Tote in einem Gebüsch unweit der einzigen öffentlichen Toilette des Parks gefunden worden war, entging Dorothy nicht. Ein verliebt herumturtelndes Pärchen hatte den nackten Leichnam rein zufällig entdeckt. Das Opfer war lediglich mit einem Paar Socken bekleidet gewesen.

Dorothy überflog den Bericht des Polizeiarztes: Vergewaltigt und erdrosselt, hatte Miliner geschrieben. Keine Spermaspuren. Seiner Ansicht nach hatte der Mörder vermutlich ein Kondom benutzt. Sie blätterte weiter. Name: Christine Gordon. Alter: 43. Beruf: Immobilienmaklerin. Familienstand: geschieden.

Sie hob eines der Fotos auf. Es zeigte den Leichnam Christine Gordons, wie er zwischen den abgestorbenen braunen Büschen lag – die Arme parallel zum Körper, das linke Bein ausgestreckt, das rechte über einem Ast angewinkelt. Ihr Kopf war zurückgefallen; die Augen geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet, so, als sei sie während eines Picknicks einfach eingenickt.

Dorothy selbst hatte sich um das Umfeld der Toten gekümmert, ihren in Arundel lebenden Eltern die schreckliche Nachricht überbracht, den Exmann, Geschäftsfreunde und Kunden befragt, während Mrs. Gordons Apartment in der Queens Road von Cloud unter die Lupe genommen worden war. Dort hatte der Sergeant auch den großen braunen Umschlag auf dem Schreibtisch beim Computer gefunden; aufgerissen, und daneben jenes Kärtchen aus dünnem Karton: Verstorben am: 12. August 2000. Geschätzter Todeszeitpunkt: 22 Uhr 30. Todesursache: Erdrosseln. Die Frau war sehr wohlhabend gewesen, hatte keine Feinde gehabt …

Nur eine Woche später hatten sie Margaret Penhalligan, eine Prostituierte von 48 Jahren, in einer verschlossenen Kabine der Damentoilette im Pub The Druid's Head entdeckt. Der Inhaber war zur Sperrstunde auf die Leiche gestoßen. Wie Mrs. Gordon war sie bis auf ein Paar Socken unbekleidet gewesen. Dr. Miliner hatte auch diese Leiche untersucht: Erdrosselt, vergewaltigt, keine Spuren von Sperma. Sie hatte allein in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in der Old Shoreham Road gelebt, und einer Nachbarin zufolge waren ihre Eltern Vorjahren bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen. (»Von ihrer Sippe is' keiner mehr da, um sie zu begraben. Alle selbst schon unter der Erde.«) Freunde? Ein Mann? (»Männer! Ja! Früher jede Menge. Hat rumgehurt wie 'ne rollige Katze. Aber Freunde? War ja immer nur für sich, seit sie diesen Internetanschluss hatte. Außer wenn sie sich mal wieder die Kante gab und einen von diesen abgerissenen Typen aus dem Pub anschleppte. In letzter Zeit wurden's allerdings weniger. Aber man soll nichts Schlechtes sagen über die Toten, was?«) Eine ledige Frau ohne Verwandtschaft oder engere Freunde. Eine Frau, die niemand vermissen würde – bis auf ihre männliche Kundschaft natürlich.

Und in der Wohnung der Toten ein weiterer brauner Umschlag mit einem weiteren dünnen Pappkärtchen. Auch Mrs. Penhalligan war ihr Tod im Voraus angekündigt worden. Merkwürdig nur, dass sich keine der beiden Frauen an die Polizei gewandt hatte. Ihre Namen standen definitiv nicht auf der stetig wachsenden Liste.

Der Killer schien jedes Mal äußerst umsichtig vorgegangen zu sein, denn die kriminaltechnischen Untersuchungen hatten rein gar nichts ergeben. Kein Speichel, kein Sperma. Da wäre es beinahe ein Wunder gewesen, hätte er seine Fingerabdrücke auf den Umschlägen hinterlassen. Stockley Breckinridge hatte sie in seinem Labor alle untersucht. Sie waren mit der Post gekommen und natürlich mit Abdrücken nur so übersät; darunter die der Empfänger. Die meisten anderen stammten höchstwahrscheinlich von Postangestellten, einige vermutlich aus dem Geschäft, wo der Umschlag gekauft worden war. Wie Breckinridge Dorothy erklärt hatte, wäre es reine Zeitverschwendung, jeden einzelnen Fingerabdruck einer bestimmten Person zuordnen zu wollen. Wonach er suchte, waren Übereinstimmungen. Den Abdruck nämlich, der sich auf mehr als einem Umschlag fand und der zwangsläufig dem Absender gehören müsste. Diese Übereinstimmungen gab es aber nicht. Zu guter Letzt hatte Breckinridge die Briefmarken abgelöst und sie auf verwertbare Speichelreste getestet – leider ebenso erfolglos.

Welche Motivation mochte wohl hinter den scheußlichen Taten des Würgers stecken? Anrufe und Briefe. Vergewaltigung und Mord. Verrückt und … gefährlich.

Das sind nur die Symptome, Dorothy, dachte sie wieder, während sie sich zwei Fotos ansah, die die leere Damentoilette des Druid's Head zeigten; aufgenommen, nachdem die Leiche fortgebracht worden war. Du musst die Ursache finden.

Verrückt und gefährlich?

Es klopfte an der Tür.

»Ja?« Sie ließ die Fotos sinken und wandte sich um.

Es war Constable Rowan Bellowes, der seinen blonden Wuschelkopf ins Zimmer steckte. Er hielt einen dampfenden Pappbecher in der rechten Hand. »Ich hab noch Licht in Ihrem Büro gesehen, Chief Inspector, und ich dachte, Sie könnten vielleicht einen Kaffee vertragen.«

»Oh, Sie sind ein Engel.« Dankbar nahm Dorothy den Becher entgegen. »Gibt's was Neues?«

»Ein, zwei Dinge, nichts Weltbewegendes«, meinte Bellowes. »Der Chef war ziemlich schlechter Laune wegen seines Termins in Lewes.« Das war Bless eigentlich immer, wenn ihn der Chief Constable für eine außerordentliche Besprechung herbeizitierte.»Unser ›Herrgott‹« … Damit war zweifellos Bloomfield gemeint. »… hat die ganze Etage verrückt gemacht, weil er seine Schlüssel suchte. Na ja, und Sie haben mal wieder ein Strafmandat wegen Falschparkens erhalten.« Er grinste über das ganze Gesicht. »Das dritte diese Woche. Ich hab's Ihnen auf den Schreibtisch gelegt. Außerdem soll ich Ihnen von Dr. Miliner ausrichten, dass er im Leichenschauhaus auf Sie wartet.«

»Jetzt?« Sie sah auf die Uhr. Es war gleich zwei.

Constable Bellowes breitete unschuldig die Arme aus. »Er meinte, es sei vielleicht wichtig. Sagte, Sie könnten hinkommen, wenn Sie wollen. Er wäre sowieso die halbe Nacht dort. Ach – und Ihr Bruder hat angerufen.«

Sehr schön, dachte Dorothy, die nicht daran zweifelte, dass das wirkliche Leben in Roberts Elfenbeinturm Einzug gehalten hatte. Robert konnte allerdings – im Gegensatz zu Dr. Miliner – bis morgen warten. Sie würde ihn sicherlich im Jury's Out treffen, wo er, seiner versponnenen Künstlernatur gemäß, ohnehin jeden Nachmittag eine Schaffenspause einlegte.

Dorothy trank ihren Kaffee aus und warf den zerknüllten Pappbecher achtlos in den überquellenden Papierkorb. »Besser, ich fahre gleich hin.« Sie schob den Stuhl zurück. »Übrigens – nochmals danke für den Kaffee.« Und im Weggehen drückte sie dem Constable einen Kuss auf die Wange.

Mit dem Wagen waren es nur etwa fünf Minuten bis zum Krankenhaus. Dorothy parkte ihren Vauxhall Corsa so nah wie möglich am beleuchteten Eingang der Notaufnahme, denn um diese Zeit konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Auch ohne den Würger war Brighton nachts nicht ungefährlich. (Verrückt und gefährlich.) Zu viele zwielichtige Gestalten trieben sich gerade in der Nähe von Krankenhäusern oder auf verlassenen Parkplätzen herum.

Es war keine wirkliche Angst, die sie verspürte, als sie nun ausstieg, den Wagen abschloss und die knapp zehn Meter bis zu den elektrischen Schiebetüren der Anmeldung zurücklegte. Nur dieses unbestimmte Gefühl von Unbehagen, das stets von ihr Besitz ergriff, wenn sie bei Dunkelheit auf sich allein gestellt war. Zwar verfügte Dorothy über ausreichende Erfahrung in Selbstverteidigung, bezweifelte jedoch, dass sie ihr jetzt – übermüdet, wie sie war – gegen einen potenziellen Angreifer noch von sonderlich großem Nutzen wäre.

Zweimal betätigte sie den Knopf der Nachtglocke. Wartete, während hinter ihr in den Büschen, die den menschenleeren Parkplatz umstanden, vernehmlich der Wind rauschte. Sie blickte über die Schulter zurück. Dann knackte es in der Gegensprechanlage, und der erlösende Signalton des Türöffners erscholl.

Dorothy musste sich ihre Erleichterung eingestehen, als die Milchglastüren (nach einer Ewigkeit, wie es ihr vorkam) endlich surrend auseinanderglitten und sie in die warme, beruhigende Luft der Notaufnahme trat. Zielstrebig, und vor lauter Übermüdung beinahe wie automatisiert, marschierte sie die grell erleuchteten, scheinbar endlosen Korridore entlang, bis sie schließlich an eine schwere Feuerschutztür mit der Aufschrift PATHOLOGIE gelangte, wo sie die Treppen nach unten nahm. Nach weiteren drei oder vier Minuten fand sie sich in den kargen, gekachelten Hallen von Dr. Miliners kühlem Reich wieder.

»Ah! Inspector Marley.« Miliner hob zur Begrüßung die Hand.

Dorothy kannte ihn seit vielen Jahren. Bei ihrem Eintreten hatte er auf einem dreibeinigen Hocker neben dem mittleren der fünf Edelstahltische gesessen, an denen er tagtäglich seine Obduktionen vornahm. Ein weißes Laken bedeckte den Leichnam darauf. Die übrigen Sektionstische waren leer, glänzten poliert im Neonlicht.

Der Pathologe legte das Diktiergerät, in das er seine Befunde gesprochen hatte, beiseite und erhob sich ächzend. Strahlend machte er ein paar Schritte auf Dorothy zu; sichtlich erfreut, einem lebendigen Menschen zu begegnen. »Wie schön, dass Sie noch kommen konnten.«

»Was haben Sie denn Wichtiges für mich?«, fragte sie ohne lange Vorrede. »Ich bin verdammt müde.«

»Oh, ich weiß, es ist spät.« Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und vielleicht hätte es bis morgen Zeit gehabt …«

»Nein, schon gut.« Dorothy mühte sich ein Lächeln ab. Immerhin war sie nicht der einzige Mensch auf Erden mit einem Schlafdefizit; auch Miliner sah aus, als könne er ein paar Stunden Ruhe gebrauchen. »Tut mir leid, wenn es so geklungen hat, als sei es mir zu viel gewesen herzukommen, Doktor Miliner. Ich bin wirklich für jeden Hinweis dankbar. Schießen Sie los.«

»Dieses Mädchen vom Strand«, sagte er, indem er mit der ausgestreckten Hand auf den leblosen Körper unter dem Laken deutete. »Ich glaube, ich habe sie identifiziert.«

»Sie wissen, wer sie ist?« Dorothy sah ihn ein wenig ungläubig an, die Stirn in Falten gelegt. »Ja, kannten Sie das Mädchen denn?«

»Nein, natürlich nicht. Aber sie trug eine Art Ausweis bei sich – gewissermaßen; ich fand ihn, als ich ihr die Schuhe auszog.« Er winkte ab. »Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen.«

Dorothy sah ihm dabei zu, wie er das gestärkte Laken sorgfältig umschlug und die Füße der Toten entblößte. An der rechten großen Zehe baumelte ein Kärtchen aus dünnem Karton. Miliner streifte sich einen Einweghandschuh über und drehte es so, dass Dorothy es lesen konnte.

Name: Cotton, Rosalind. Verstorben am: 9. September 2000. Geschätzter Todeszeitpunkt: 22 Uhr 20. Todesursache: Ersticken.

»Verstehe«, sagte sie. Unverkennbar dieselbe alte Maschinenschrift. Diesmal hatte es sich der Killer also nicht nehmen lassen, dem Opfer seine Visitenkarte höchstpersönlich anzuheften. »Würden Sie es mir bitte einpacken, Doktor, für die Spurensicherung?«

Miliner tat, wie ihm geheißen, löste die Schnur und schob das Kärtchen in einen durchsichtigen, wiederverschließbaren Plastikbeutel, den er ihr mit spitzen Fingern reichte.

»Die Angaben stimmen alle, nehme ich an?«

»Soweit sie meinen Tätigkeitsbereich betreffen, ja«, entgegnete Miliner. »Ob Rosalind Cotton nun der tatsächliche Name der Toten ist, werden Sie feststellen müssen, fürchte ich. Das herauszufinden, übersteigt bei weitem meine Kompetenzen.« Dann schnippte er mit den Fingern. »Da ist noch etwas. Sie hat einen Bluterguss hinter dem linken Ohr, daher nehme ich an, der Mörder schlug sie mit einem stumpfen Gegenstand zu Boden, bevor er sie tötete.«

»Haben Sie eine Ahnung, womit er sie niedergeschlagen haben könnte?«

»Da kommt alles Mögliche in Frage. Ein in einen Strumpf gewickelter Stein, ein Sandsack möglicherweise … Jedenfalls nichts, was härter ist als ein Gummiknüppel.«

»Sagen Sie mal, Dr. Miliner, stammen diese Kärtchen eigentlich aus der Pathologie des Krankenhauses – irgendeines Krankenhauses?«

»Sie sind aus herkömmlicher Pappe ausgeschnitten worden. Und das nicht mal besonders ordentlich. Wir dagegen bestellen sie bei einem Großhändler.« Der Gerichtsmediziner betrachtete einen Augenblick schweigend seine Fingernägel und meinte dann: »Wenn ich der Verrückte wäre, Chief Inspector Marley, glauben Sie mir, ich hätte mich wenigstens um Authentizität bemüht.« Und onkelhaft legte er ihr die Hand auf den Rücken. »Wollen wir zusammen hinausgehen, was meinen Sie?«

Dorothy nickte nachdenklich.

Ein Zettel am Zeh.

5

Die Nächte waren das Schlimmste, ein dumpfer Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen. Unruhig wälzte er sich im Halbschlaf herum, registrierte unterschwellig, dass die sorgsam ausgerichtete Gummiunterlage verrutscht war und Falten geworfen hatte, sodass sie ihn drückte. Sobald sich die Dunkelheit herabsenkte und er die Augen schloss, vermochte er sie zu sehen.

Schläfst du, Pete?

Ihr schwarzes Haar. Ihren ungetrübten, mädchenhaften Blick. Das Lodern unschuldiger Verlockung in ihren Augen, wenn sie ihn von unten her ansah. Ihr grenzenloses Vertrauen.

Nein, ich kann nicht mehr schlafen.

Und diesmal log er nicht. Nein, es war kein Schlaf – seit Tausenden von Jahren war es das nicht mehr gewesen –, nur ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen; verschüttet unter einer Flut von Alkohol, so, als triebe sein Geist ohne jegliche Kontrolle tief unter dem Meeresspiegel mit den Gezeiten …

Wo bist du, Pete? PETE?

Da war er wieder, jener verängstigte Ausdruck auf ihrem Gesicht – eine Mischung aus purem Entsetzen und Ungläubigkeit –, als die Erkenntnis sie traf, als Vertrauen und Hoffnung mit einem Mal wie riesige vereiste Spiegel barsten und die Scherben flogen.

Pete! Oh Gott! NEIN! Peeeete!

Dies war der Moment, an dem bei ihm die Tränen flössen. Er spürte, wie sie ihm über die Wangen liefen, konnte nichts dagegen tun, sosehr er es sich auch wünschte. Sie kamen einfach, während er schlief. In dem Punkt waren sie wie die Träume.

Die Nächte waren das Schlimmste.

Psss… Pssss… Pssssss… Pipi machen, Pete …

Aber manchmal war es auch das Erwachen.

6

»Hi, Dotty« Es war Constable Angela Robinson, die am folgenden Morgen um Viertel vor zehn in Chief Inspector Dorothy Marleys Büro erschien; die Augen niedergeschlagen, wie jemand, der einen dummen Fehler begangen hat, aber nicht recht weiß, wie er ihn wieder ausbügeln soll. Sie kaute an ihrem linken Daumennagel und sah aus, als wolle sie sich am liebsten in ihrer blauen Uniform verkriechen. »Wegen der Sache gestern …«

Dorothy blickte von den Protokollen der Zeugenaussagen auf, die Ralph Cloud ihr vor etwa einer Stunde auf den Tisch gelegt hatte, und seufzte.

Diese ›Sache gestern‹ – Angelas strikte Weigerung nämlich, sich für den Wochenenddienst einteilen zu lassen – war kein einmaliger Vorfall gewesen. Es war auch die Sache von letzter Woche, letztem Monat, letztem Jahr und hatte sich in jüngster Zeit zu einem ernsten Problem ausgewachsen. Seit Angela Robinson vor gut einem Jahr von der Kent-Police-Force in Maidstone nach Brighton gewechselt und ihr als Constable zugeteilt worden war, gab es zwischen ihnen ständig Auseinandersetzungen wegen des Dienstplans. Denn Angela, die ihren schwer kranken Bruder nach jahrelanger häuslicher Pflege, wie sie ihr einmal erzählt hatte, schließlich in einem Heim bei Hawkhurst hatte unterbringen müssen, bestand starrköpfig darauf, ihn jedes Wochenende zu besuchen. Dass Angela und sie sich auch privat nahestanden, machte es für Dorothy nicht unbedingt einfacher – das berufliche Problem wurde dadurch nur zur persönlichen Streiterei.

Dorothy drehte sich zu Angela um. »Wir werden uns darüber unterhalten müssen, Angie.« Sie beugte sich auf ihrem Bürostuhl vor. »Bitte, versteh mich nicht falsch. Es ist ja nicht so, dass ich kein Verständnis für deine Situation habe. Im Gegenteil – ehrlich.«

»Es war dumm von mir, so zickig zu sein.« Angela errötete. »Ich war einfach überreizt. Es tut mir schrecklich leid.«

»Das muss es nicht.« Dorothy hätte die Vorgesetzte heraushängen lassen können, so wie Bloomfield und selbst Bless es oftmals taten. Doch einen Untergebenen wegen einer solchen Entgleisung zu tadeln oder gar herunterzuputzen, das war nicht ihr Ding. Stattdessen sagte sie: »Weißt du, ich kann mir gut vorstellen, wie schlimm das für dich sein muss, ihn in diesem Heim zu haben.« Sie stand auf, nahm Angelas Hände. »Du möchtest, dass es ihm gut geht. Und das ist vollkommen verständlich. Er ist dein Bruder. Er liegt dir am Herzen. Ich nehme an, für meinen würde ich dasselbe tun.«

Angela schluckte und nickte. »Trotzdem …«

»Trotzdem kommen wir nicht drum herum, es zu klären. Wir müssen es klären. Ein für alle Mal. Denn du hast auch ein Leben außerhalb dieses Pflegeheims.«

»Ja, ich weiß, das sagt Robert auch immer.«

»Und du hast einen Job zu machen, Angie. Einen sehr verantwortungsvollen dazu. Das darfst du nicht vergessen. Okay?«

»Okay«

»Okay. Komm her.« Und sie legte ihre Arme um die große schlanke Frau mit den dunklen Haaren, rieb ihr mit der flachen Hand über den Rücken. »Wir werden versuchen, den Dienstplan so zu gestalten, dass du so oft wie möglich an den Wochenenden zu ihm kannst, hm?«

»Danke dir, Dotty.«

»Schon in Ordnung.« Sie ließ sie los. »Und jetzt nichts wie ran an die Arbeit, ehe uns Bloomfield so sieht.« Sie musste beinahe lachen. »Sonst hält er uns noch für …«

»Lesben«, sagten sie wie aus einem Mund und lachten lauthals, verstummten jedoch sogleich, als die Tür aufging und Ralph Cloud mit einem dicken Aktenordner unter dem Arm hereinspazierte. Über seiner linken Braue klebte ein Heftpflaster, was bei Ralphie nichts Ungewöhnliches war. Selten sah man ihn ohne irgendeine Art von Blessur, um die er einen Verband gewickelt oder auf die er ein Pflaster geklebt hatte. Cloud zog Verletzungen an wie ein Magnet. Dorothys schlimmste Befürchtung war, dass er eines Tages nicht zum Dienst erscheinen würde, weil er sich morgens beim Rasieren die Kehle durchgeschnitten hatte.

»Störe ich bei etwas?« Der Sergeant blieb im Türrahmen stehen. Augenscheinlich hatte Cloud ihr Lachen schon auf dem Flur gehört.

»Wir sprachen eben über … die Zeugenaussagen«, ließ Dorothy mit einem Zögern in der Stimme verlauten.

Angela sah sie mit gerunzelter Stirn an. Und dann, während sie verlegen an ihren schulterlangen Locken herumzupfte und Cloud ein schiefes Lächeln schenkte, sagte sie: »Nicht ganz, Ralph. Wir haben über meinen Bruder geredet.«

»Und über Bloomfield«, fügte Dorothy hinzu.

Cloud gewann langsam den Eindruck, dass sich die Kolleginnen über ihn lustig machten. Er nickte übertrieben langsam, marschierte zu seinem Platz hinüber und knallte den Ordner auf den Schreibtisch. »Die beiden zusammen müssen ja ein echter Brüller sein.« Er zog eine Schublade auf und warf den Ordner hinein. »Haben Sie sich inzwischen die Zeugenaussagen angesehen, Chief?«

»Klar, Schatz.« Und das hatte Dorothy in der Tat. Sie gaben nicht allzu viel her. Scheinbar hatte zur fraglichen Zeit niemand vom Pier aus nach unten geschaut, niemand etwas Verdächtiges beobachtet, niemand den Transport der Leiche bemerkt. Die meisten der zweiundachtzig von Cloud befragten Personen waren entweder zu sehr mit dem intensiven Studium der körperlichen Vorzüge ihrer Urlaubsbekanntschaften beschäftigt gewesen, um noch etwas anderes als Lippen, Schenkel und Brüste wahrzunehmen, oder aber derart betrunken gewesen, dass sie sich kaum noch ihrer eigenen Namen entsannen.

Einem Mr. Boyle war seinen Angaben zufolge gegen Viertel vor zehn ein junges Liebespaar aufgefallen, das sich am Stand der Computer-Astrologen wegen ihrer nicht zusammenpassenden Sternzeichen in die Haare gekriegt hatte. Die junge Frau war hysterisch geworden und in Tränen ausgebrochen, als der Computer für mit ihr harmonierende Partner jedes andere Sternzeichen ausgespuckt hatte, nur nicht das ihres gegenwärtigen Freundes. Der arme Kerl war daraufhin von ihr geohrfeigt worden, als habe er allein das schlechte Ergebnis zu verantworten. Danach hatte sie ihn zornig weiter zu den Computer-Graphologen gezerrt, um ihr Schicksal ein zweites Mal herauszufordern.

Dann war da die Aussage einer über neunzigjährigen, gichtgeplagten Dame auf Krücken, deren Gebiss klapperte (das hatte Ralph mit Bleistift an den Seitenrand geschrieben): Sie war auf einen Mann in grauem Mantel, kariertem Schal und weichem, tief in die Stirn gezogenem Filzhut aufmerksam geworden, der auf der Promenade einen alten Rollstuhl mit quietschenden Rädern vor sich hergeschoben hatte. Man musste wahrlich kein Psychologe sein, um sich die Sehnsucht der Frau nach einem fahrbaren Untersatz zu erklären; und die Kleidung des Mannes stammte geradewegs aus einem Agatha-Christie-Roman.

Ganz besonders viel versprechend, dachte Dorothy nicht ohne Sarkasmus, war die Aussage eines blinden Mannes, der beim Pinkeln über die Brüstung am Ende des Piers, hinter einer der Kirmesbuden das leise Stöhnen zweier Männer vernommen hatte.

Sämtliche Aussagen waren zwischen zehn und fünfzehn Zeilen lang. Die umfangreichste hatte Richard Dadd abgeliefert; sie umfasste ganze fünfzehn Seiten! Dorothy legte keinen Wert darauf, sie zu lesen.

»Wobei haben Sie sich das denn eingefangen, Ralph?«

Angelas Frage riss Dorothy augenblicklich aus ihren Gedanken. Sie sah zu ihrem Sergeant hinüber, der reflexartig seine Augenbraue betastete, während er sich nebenher an der Schreibtischschublade zu schaffen machte.

Das Schubfach krachte zu.

»Autsch!« Beim Schließen hatte Cloud sich den rechten Daumen geklemmt. »Verdammter Mist!« Er fluchte verhalten, fuchtelte wild mit der Hand in der Luft herum und steckte den lädierten Finger schließlich in den Mund. »Sparen Sie sich Ihre Kommentare.«

»Ich bin schon zufrieden, wenn Ihnen der Kopf nicht abfällt, Clouseau«, meinte Dorothy in scherzhaftem Ton. »Wenigstens nicht, bevor wir diesen Fall hinter uns haben.«

»Machen Sie sich nur lustig über mich.« Cloud grunzte missbilligend. »Zumindest habe ich ihre Adresse herausbekommen.«

»Wessen Adresse?«, fragte Angela. »Die von Rosalind Cotton, selbstverständlich. Dreiundzwanzig Jahre alt. Arbeitete als Tänzerin in verschiedenen Nachtclubs.« Er blickte triumphierend in die Runde. »Wir haben einen Bericht über sie. Das Mädel ist vor einem Dreivierteljahr aktenkundig geworden: Verdacht auf Prostitution. Wohnte in der Kemp Street.«

Kemp Street. Dorothy war plötzlich unbehaglich zumute. »Wo?«

Cloud wiederholte den Namen der Straße. »Ist nicht allzu weit vom Bahnhof …«

»Ich bin nicht blöde, Cloud«, unterbrach sie ihn barsch. »Ich weiß, wo diese verdammte Straße ist!« Kemp Street, dachte sie. Ausgerechnet.

7

Robert Marley starrte missmutig den pulsierenden Cursor auf dem Bildschirm seines Laptops an und begutachtete die wenigen Zeilen, die er während der letzten halben Stunde geschrieben hatte:

»Nein, ganz sicher nicht!«, entrüstete sie sich. »Das können Sie mir nicht anhängen. Ich war den ganzen Abend über mit Malcolm zusammen.« Die wütende Patricia Weatherstorm erinnerte Miriam an einen Kochtopf oder einen kleinen Vulkan; sie bildete sich sogar ein, aus Patricias Ohren Dampf entweichen zu sehen. »Fragen Sie ihn doch, wenn Sie wollen.« Sie wandte sich ab.

Marley blies die Wangen auf, stützte resigniert den Kopf in beide Hände. Verdammt, dachte er. Die Personen bewegten sich so schwerfällig wie riesige Zinnsoldaten durch seinen Roman. Und dieser idiotische Name erst: Patricia Weatherstorm. Aber was Besseres war ihm nicht eingefallen. Hätte er die hinterhältige Giftmörderin etwa Mary Miller nennen sollen? Wohl kaum. Bei einem so verdächtig unverdächtigen Namen wüsste ja gleich jeder Bescheid. Und wie wäre es mit Alice Trigger? Klang nicht übel, hätte er an einem Western geschrieben. Für einen Thriller taugte die gute Alice nicht. Da musste schon was Mondäneres her. Loveday Brooke vielleicht? Nein, die gab es schon. Außerdem gehörte sie zu den Guten.

Er blieb bei Weatherstorm, nahm einen Schluck aus dem Teebecher neben sich und schrieb:

»Aber er hat Sie doch angerufen. Das wollen Sie doch nicht leugnen, oder?«

Natürlich hatte er angerufen. Letzte Nacht.

Er tippte:

»Angerufen! Angerufen!«, kreischte Patricia. Sie wurde puterrot im Gesicht und löste sich vor Miriams Augen zischend in Luft auf …«

Marley stöhnte. »Großer Gott …« Was schrieb er da nur für einen Schwachsinn. Er schaltete den Computer aus, ohne auf Speichern zu klicken, stand vom Schreibtisch auf und massierte auf dem Weg in die Küche angestrengt seine Nasenwurzel.

Der Kühlschrank knurrte vernehmlich, als er das Eisfach öffnete und eine Dose Heineken herausnahm; bereits die vierte an diesem Morgen. Wenn er so weitermachte, würde er sicher noch zum Alkoholiker werden. Aber vielleicht war er das ja schon. Seit diesem Anruf gestern Abend hatte er jedenfalls ohne Bier nicht eine einzige brauchbare Zeile mehr zu Papier gebracht – mit Bier allerdings auch nicht.

Wiederholt hatte Marley versucht, Dorothy zu erreichen. Ihr Mobiltelefon war jedoch wie immer ausgeschaltet gewesen. Er fragte sich, wofür sie überhaupt eines besaß, wenn sie es niemals einschaltete. Waren Polizisten nicht sogar dazu verpflichtet, immer und überall erreichbar zu sein? Dotty bildete da offensichtlich eine Ausnahme, denn auch auf der Wache war sie nicht zu sprechen gewesen. Sicher, er hätte jedem x-beliebigen Polizisten von dem Anruf erzählen können, aber das wäre ihm ein wenig unangenehm, ja, peinlich gewesen. Der Gedanke, dass sich die halbe Brighton Police im Pub das Maul über den »berühmten Krimiautor« zerriss, weil der wegen eines idiotischen Anrufs gleich die Hosen voll hatte, behagte ihm nicht sonderlich. Da wartete er lieber, bis er seine Schwester sah.

Außerdem bringt er nur Frauen um, sinnierte Marley. Und dann: Jedenfalls waren es bislang ausschließlich Frauen gewesen. Doch das konnte sich ändern. Was, wenn der Killer genug von ihnen hatte und sich nun dem vermeintlich starken Geschlecht zuwandte? Es kam durchaus vor, dass ein Serientäter plötzlich seine Vorgehensweise änderte, zu einer anderen Tatwaffe griff oder sich aus einer Laune heraus auf männliche statt weibliche Opfer verlegte. Beispiele gab es genug; die Kriminalgeschichte war voll davon.

Marley schüttelte sich. Er riss den Verschluss der Heineken-Dose auf und schlurfte mit dem Bier ins Arbeitszimmer zurück, wo er erneut den Teebecher füllte.

Am 31. November, hatte der Anrufer gesagt. Bis dahin blieben ihm immerhin noch zweieinhalb Monate. Einerseits ein sehr beruhigender Gedanke, aber andererseits: Wer erwartete schon Aufrichtigkeit von einem Mörder? Möglicherweise diente das ferne Datum nur dazu, ihn in falscher Sicherheit zu wiegen – in Wahrheit konnte er also stündlich dran sein!

Hinzu kam, dass sein Haus ziemlich einsam an der Küste lag. Als er es vor fünf Jahren vom Erlös seines ersten Buches Irrende Wahrheit (ein Überraschungserfolg, durch den er in Großbritannien und den USA quasi über Nacht berühmt geworden war) gekauft hatte, da war es ihm in seiner Abgeschiedenheit als Domizil ideal vorgekommen. Keine lauten Nachbarn weit und breit, die sich unentwegt stritten, keine schreienden Kinder, und vor allem keine keifende Mrs. Deutsch, seine ehemalige Vermieterin, die allwöchentlich mit ausgestreckter Hand ungefragt in seiner Souterrain-Wohnung in Kemptown aufgetaucht war; entweder um ihre Wuchermiete einzutreiben oder um ihm wegen der übervollen Müllsäcke (»Papier! Was machen Sie bloß mit all dem Papier? Und immer in meinen Müll. Was denken Sie sich eigentlich dabei? Gar nichts wahrscheinlich!«) die Hölle heiß zu machen. Diese Frau war ein Drachen gewesen, eine Medusa, wie sie im Buche stand, das Schreckgespenst eines jeden Mieters. Sie hatte einen Zweitschlüssel besessen und manchmal morgens um sieben neben seinem Bett gestanden, um sich über den erbärmlichen Zustand seiner zwei feuchten Zimmer auszulassen. Vor ihr hatte er immer ein wenig Angst gehabt. Damals war er froh gewesen, ihrem Machtbereich endlich entronnen zu sein. Jetzt kam ihm diese Abgeschiedenheit nicht mehr ganz so ideal vor – außer für einen Mörder vielleicht, der ihn in der selbst gewählten Einsamkeit ungestört quälen und töten konnte, ohne dass auch nur eine Menschenseele davon Kenntnis nahm.

Du lieber Gott, Marley, dachte er, deine Schwester hat vollkommen recht. Du machst dir einfach zu viele Gedanken.

In diesem Moment spazierte Tabby, Marleys zahnlose, rotbraune Katze, majestätisch zur Tür herein und strich ihm ein paar Mal schnurrend um die Beine, um sich dann den vermutlich wichtigeren Dingen im Leben einer Katze zuzuwenden. Mit einem Satz war sie auf Marleys Bürostuhl und kletterte von dort behände auf den Schreibtisch weiter, wo sie elegant den Laptop und einen Stapel Manuskriptseiten umschiffte und sich vor dem Fenster zusammenrollte – den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, den Blick gelangweilt auf das ruhige Meer, den Bootssteg am verlassenen Strand oder einfach ins Katzen-Nichts gerichtet.

»Hey, Tabby.« Er trat neben den Schreibtisch und schaute gleichfalls zum Fenster hinaus. Das Meer lag so ruhig da wie ein Spiegel. Am Horizont kreuzte ein winziger Dreimaster. Ohne die Katze anzusehen, meinte Marley: »Wir sind in Schwierigkeiten. Man hat uns bedroht, und wir können unsere Schwester nicht erreichen. Meinst du, wir sollten hinfahren und sehen, wo sie steckt?«

Tabbys Antwort bestand lediglich aus einem trägen Blinzeln. Für die Probleme und Ängste ihres Ernährers schien sie nicht allzu viel übrig zu haben.

»Du könntest wirklich ein bisschen mehr Interesse zeigen«, murmelte Marley und nahm einen Schluck Bier aus dem Teebecher. Aber diese Katze zeigte ja nicht mal Dankbarkeit.

Marley hatte Tabby im letzten Winter bei sich aufgenommen. Die Katze war Mitte Dezember aus dem Nirgendwo in seinem Garten aufgetaucht, hatte sich im tiefen Schnee – unweit der Hintertür – eine Höhle gegen die Kälte gegraben und ihn jeden Morgen so lange zitternd und aus flehenden Augen angeblickt, bis er sie letztendlich hereingelassen und ihr eine Schale Katzenfutter hingestellt hatte. Marley, der sich nie für einen ausgesprochenen Tierfreund gehalten hatte, war extra nach Brighton gefahren, um dem verwahrlosten Ding eine Dose Whiskas zu kaufen. Vielleicht, hatte er damals gedacht, war dieser Anflug von Barmherzigkeit eine Folge des Alters, so wie auch jene Art von liebevoller Milde, die einstmals strenge Väter oft im Umgang mit ihren Enkeln an den Tag legten, eine Folge des Alters war.

Aber Marley war erst vierunddreißig, und Enkel sagten wenigstens Opa. Tabby dagegen strafte ihn mit Nichtbeachtung. Trotz der warmen Kuscheldecke im Wohnzimmer, des Kratzbaums in der Küche und des in schöner Regelmäßigkeit gefüllten Fressnapfs ging sie egoistisch ihrer eigenbrötlerischen Katzenwege.

Marley stand noch immer neben dem Schreibtisch am Fenster (der Dreimaster war mittlerweile verschwunden – oder gesunken), als es an der Tür schellte.

Der Mörder, schoss es ihm durch den Kopf. Und er suchte seinen Arbeitsplatz nach einer Waffe ab. Als er jedoch keine fand, schnappte er sich kurzerhand die Katze. Das maunzende und sich wehrende Wollknäuel unter den Arm geklemmt, stieg er die knarzende Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

Durch das schmale Fenster neben der Haustür sah er Richard Dadds Wagen in der Einfahrt stehen. Er setzte Tabby auf den Boden, ehe er die Sicherheitskette aushakte, die beiden Schlösser entriegelte und die Tür einen Spaltbreit öffnete.

»Hi, Richard.« Marley war erleichtert, den Reporter des Evening Argus zu sehen. Der wäre sicherlich der letzte Mensch, dem es in den Sinn käme, ihn ermorden zu wollen. »Komm rein.«

»Hey, Bob.« Dadd bedachte ihn mit prüfenden Blicken, als er zögernd eintrat. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, selbstverständlich.« Marley war ein bisschen blass um die Nase, als er sagte: »Ich hatte nur jemand anderen erwartet.«

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Tabby schien das anders zu sehen. Sie baute sich fauchend vor Dadd auf, den Schweif hoch aufgerichtet. Dann huschte sie schleunigst davon.

»Das Biest mag mich nicht.«

»Das Biest sagt nicht mal danke.«

»Bist du wirklich okay? Du siehst verdammt schlecht aus, Bob«, sagte Dadd.

Marley schloss die Haustür und wies zur Treppe. »Ich fühle mich auch verdammt schlecht«, entgegnete er grummelnd. Und während er ihn ins Wohnzimmer hinaufführte: »Da habe ich doch wohl das Recht, schlecht auszusehen.«

»Hast du etwa getrunken?« Oben angekommen, sah ihn Dadd besorgt und mit zusammengezogenen Augenbrauen an, den Kopf zur Seite geneigt.

»Ein paar Biere.«

»Es ist noch nicht mal Mittag.«

»Ich kann die Uhr lesen, Dick, glaub mir.«

Dadd ließ seinen Blick in stummer Bestürzung durchs Zimmer schweifen. Überall am Boden lagen Bücher und Zeitschriften herum, sie stapelten sich auf Sesseln, Tischen und Stühlen und auf dem abgewetzten roten Sofa. Marleys Wohnung kam ihm vor wie eine Studentenbude kurz vor den Klausuren – nur wesentlich größer. Sogar der Fernseher musste als Papierablage herhalten. »Wenn du ein Problem hast …«

»Setz dich hin«, sagte Marley bestimmt. Er hatte genug gehört. »Und spiel hier nicht den Moralapostel.« Rasch klaubte er ein paar Bücher vom Sofa auf, suchte nach einer freien Stelle und stapelte sie schließlich vor einer der drei mächtigen Glastüren, die die Stirnseite des Zimmers beherrschten und auf die sonnenbeschienene Hochterrasse hinausführten. »Ich habe einen Abgabetermin für mein nächstes Buch. Meinem Agenten habe ich vorgelogen, ich käme damit wunderbar voran, es schriebe sich fast von allein …« Er verstummte. »Die Wahrheit ist: Ich habe nicht einmal fünfzig Seiten davon fertig.« Und seufzend plumpste er in einen der beiden Wohnzimmersessel. »Darüber hinaus …«

»Darüber hinaus was?«

»Nichts.« Marley war nicht danach, über den Drohanruf und seine Ängste zu sprechen. Nicht, solange er Dotty nicht erreicht hatte. »Hast du meine Schwester in den letzten Tagen gesehen?«

»Ja. Gestern am Palace Pier. Sie haben wieder eine Frauenleiche gefunden. So wie es aussieht, derselbe Täter.« Dadd stützte, auf dem Sofa sitzend, die Ellenbogen auf die Knie und lehnte sich vor. »Ich war dort, um Recherchen für den Argus anzustellen. Aber sie hat mich abblitzen lassen. Statt eine Story zu bekommen, habe ich ihrem Sergeant meine Lebensgeschichte erzählen müssen. Stell dir vor, der Kerl hat mich bis fast halb drei festgehalten und mich mit seinen lächerlichen Fragen malträtiert, als sei ich wirklich verdächtig.« Er senkte kopfschüttelnd den Blick, starrte die polierten Spitzen seiner Schuhe an. Mit leiser Stimme sagte er: »Ich glaube, Dorothy kann mich nicht ausstehen.«

»O ja, das glaube ich auch.«

»Danke, vielen Dank, Bob. Du hast das Talent, einen richtig aufzubauen.«

»Nein, mal im Ernst.« Marley streckte die rechte Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. »Ich kenne Dotty. Sie mag dich, wirklich. Sie kann sich nur nicht auf dich einlassen.«

»Ach, und wie soll ich das ändern?«

»Gib deinen Job auf.«

»Du bist verrückt.« Dadd lachte.

»Das sagt Dotty auch immer.« Marley grinste unglücklich. »Da seid ihr wenigstens in dem Punkt einer Meinung.«

»Nach allem, was man so hört, kommst du ja mit der kleinen Robinson auch nicht gerade weiter, was?«

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Beziehung zu Angela war in der Tat alles andere als unproblematisch. Denn während Dotty sich offensichtlich vor Verehrern kaum retten konnte, schien Amor, was ihn betraf, nur jede Menge Giftpfeile aus seinem Köcher zu ziehen.

Manchmal wünschte er, er wäre nicht zu dieser Party ins Jury's Out gegangen – vermutlich wären sie sich dann niemals über den Weg gelaufen. Eigentlich hatte er auch gar keine Lust dazu gehabt, aber Dotty hatte ihn überredet. (»Ach komm, Robert, stell dich nicht so an. Das wird sicher lustig. Sie ist eine neue Kollegin, die ihren Einstand feiert. Sie wird dir gefallen. Die anderen kennst du doch alle. Außerdem musst du kommen, ich hab nämlich schon ein bisschen mit dir angegeben.«) Dotty hatte recht behalten. Die Party war lustig geworden, nur etwas laut für seinen Geschmack. Und die neue Kollegin hatte ihm gefallen.

Angela wirkte anfangs ein wenig steif und befangen, daher gab Marley sich alle Mühe, sie in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln.

»Herzlichen Glückwunsch, Constable Robinson. Und – danke für die Einladung.« Er reichte ihr die in Zellophan eingewickelte Flasche, die er mitgebracht hatte. »Alles Gute in Ihrem neuen Job.«

»Oh – Jack Daniels.« Sie betrachtete sein Mitbringsel, als handle es sich um einen Schierlingsbecher. »Danke sehr. Den hab ich noch nie probiert.«

»Dann schlage ich vor, Sie vermeiden ihn auch in Zukunft«, sagte er lächelnd. »Der ist nur für die ganz, ganz schlechten Tage. Ich hoffe, Sie kommen niemals in die Verlegenheit, ihn öffnen zu müssen.«

Sie lachte. Ein gutes Zeichen.

»Wo haben Sie gearbeitet, ehe Sie hierher nach Brighton kamen?«

»In Maidstone«, sagte sie. »Und Sie schreiben Kriminalromane, habe ich gehört. Ich frage mich immer, wie man zu so einem Beruf kommt?«

»Ganz einfach: Ich habe nichts anderes gelernt.« Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Außerdem gibt es doch nichts Schöneres, als jeden Tag ein paar Leute umzubringen, habe ich recht?«

Als Angela ihn daraufhin nur entsetzt anstarrte und »Das ist nicht komisch, Mr. Marley!«, sagte, brach die Frau von Inspector Lawrence, die neben ihnen am Tisch lehnte und beinahe ebenso betrunken war wie Marley, in schallendes Gelächter aus.

Im Laufe des Abends taute Angie jedoch merklich auf und war (nach einigen Gläsern Pernod mit Cola) dazu übergegangen, ihn beim Vornamen zu nennen. Sie standen vertraulich an der Theke zusammen und tranken – Marley natürlich wie immer viel zu viel –, als er sie fragte: »Sagen Sie mal, Angela, wollen Sie mich heiraten?«

»Was?« Sie stellte abrupt ihr Glas hin.

»Das war ein Scherz.«

»Ach so.«

Und nach einer Weile: »Haben Sie eigentlich einen festen Freund?«

Sie antwortete nicht darauf. Kein Wort über Tony. Nicht an diesem Abend.

Nichtsdestotrotz ließ sie sich später von ihm im Taxi nach Hause begleiten. Doch seinem ungeschickten Versuch eines Gutenachtkusses auf der Treppe vor ihrer Haustür wich sie aus.

»Wissen Sie was, Angie?« Er musste sich mit beiden Händen am Treppengeländer festhalten, um nicht umzufallen. »Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, ich habe mich in Sie verknallt. Wenn es stimmte, fänden Sie das schlimm?«

»Sie sind ja völlig betrunken, Robert.« Sie lächelte verlegen. »Sie wissen doch überhaupt nichts von mir.«

Doch er wusste genug. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Seither war beinahe ein Jahr vergangen. Mittlerweile wusste Marley, dass Angie ihn mochte, seine Gefühle vielleicht sogar erwiderte, doch sosehr er sich auch bemühte, er kam einfach nicht richtig an sie heran. Immer stand ihnen ihr kranker Bruder im Weg, in dessen Pflege sie vollends aufzugehen schien. Für einen weiteren Mann sei da einfach kein Platz, wie sie stets hinzufügte, wenn sie ihn zum x-ten Mal daran erinnert hatte, dass schon ihre Ehe mit Tony daran zerbrochen war. Tony. Die erste große Liebe: Tony, der Wunderknabe. Marley kannte ihn überhaupt nicht; trotzdem – zum Teufel mit ihm! Die Tonys dieser Welt konnten ihm sämtlich gestohlen bleiben. Denn er war Robert! Und er war anders! Wie oft hatte Marley versucht, ihr dies zu erklären und dass auch sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren das Recht auf ein eigenes Leben hatte, aber Angie wollte nichts davon hören. Warum nur machte sie es ihm so verdammt schwer?

»Oder …«, hakte Dadd vorsichtig nach, »habt ihr etwa schon …?«

Marley knirschte mit den Zähnen. Das war wirklich ein Thema, über das er jetzt ganz und gar nicht reden mochte. »Willst du ein Bier?«, wich er ihm aus. »Ich hab welches im Kühlschrank.«

»Wie du weißt, trinke ich nicht.«

»Das ist sehr löblich.« Marley stand auf und schickte sich an, in die Küche zu gehen. »Du hast aber doch nichts dagegen, wenn ich es tue?«

Dadd enthielt sich einer Antwort und wartete, bis Marley mit einer Dose Heineken in der Hand zurückkam. Als Marley sich gesetzt hatte, sagte Dadd: »Die Letzte wurde erstickt, nicht erdrosselt. Allem Anschein nach hat der Würger seinen Modus Operandi geändert.«

»Soll vorkommen«, meinte Marley »Wart's ab. Es dauert nicht mehr lange und er bringt Männer um.«

»Was glaubst du, warum er sie tötet?«

»Was weiß ich?« Hinter Marleys Stirn begann sich allmählich ein dumpfer Schmerz breitzumachen, und er rieb mit den Fingerspitzen seine Schläfen. »Ich bin Schriftsteller, kein Polizist. Frag meine Schwester.«

»Hör auf damit«, meinte Dadd. »Ich weiß, dass du dir Gedanken darüber machst. Du schreibst über solche Sachen. Du bist selbst verdreht genug, um …«

»Der Würger zu sein?«, beendete Marley den Satz.

»Dir all das Zeug auszudenken, meine ich. Du hast eine Theorie, stimmt's? Was ist er deiner Ansicht nach für ein Mensch?«

»Ein mit einer eingebildeten göttlichen Mission betrauter Psychopath vielleicht.«

»Ist das dein Ernst?«

»Weiß nicht. Schon möglich. Es kann so vieles dahinterstecken.« Marley nippte an seinem Bier. Es schmeckte ihm nicht mehr. Dennoch behielt er es in der Hand. Die angenehm kühle Dose gegen die Stirn gepresst, meinte er nachdenklich: »Nachdem er sie umgebracht hat, zieht er sie bis auf die Socken aus, vergewaltigt sie. Die Kleider nimmt er jedes Mal mit.« Er nahm das Heineken herunter und stellte es auf den Couchtisch. »Denkbar wäre aber auch, dass die Socken gar nicht den Frauen gehören, sondern dass der Killer sie mitbringt. Nimm das erste Opfer zum Beispiel: Die Immobilienmaklerin. Attraktiv, beruflich erfolgreich. Was trägt eine solche Frau? In Minirock und Seidenstrumpfhosen könnte ich sie mir sehr gut vorstellen. Aber in Socken? Die würde sich doch in Ringelsöckchen nicht mal beerdigen lassen.«

»Das letzte Opfer trug allerdings Schuhe«, wandte Dadd ein. »Keine Söckchen.«

»Trotzdem. Ein Fußfetischist, würde ich sagen.«

»Und warum nimmt er dann die übrigen Kleider an sich?«

»Weil ihm kalt ist?«

»Red keinen Unsinn.«

Unterdessen hatte sich Tabby unbemerkt angeschlichen und sprang mit einem mächtigen Satz auf die Anrichte neben dem Sofa, wo sie es sich zwischen den Büchern bequem machte. Ihre hypnotischen gelben Augen waren auf den Reporter gerichtet, die Spitze ihres buschigen Schwanzes zuckte nervös.

»Deine Katze macht mir Angst.«

Marley hörte gar nicht hin. Ihm war nämlich gerade ein weiterer und – wie er fand – sehr plausibler Grund dafür eingefallen, weshalb der Mörder den Frauen die Socken angezogen haben könnte. »Er kann ihren Anblick nicht ertragen«, verkündete er beinahe fröhlich. »Das ist es!«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Überleg doch mal. Er zieht ihnen die Socken an, nicht, weil er Füße so abgöttisch liebt, sondern im Gegenteil: weil er sie hasst.«

Im selben Augenblick sprang Tabby unvermittelt von der Anrichte herunter direkt vor Dadds Füße – zahnlos fauchend und mit peitschendem Schweif blieb sie vor seinen glänzenden schwarzen Lackschuhen sitzen.

»Ich glaube«, sagte der Reporter, »das hat er mit deiner furchtbaren Katze gemein.«

»Nein«, versicherte Marley grinsend. »Da gehe ich jede Wette ein – meine furchtbare Katze hasst den ganzen Richard Dadd.«

8

Die Haustür war weiß gestrichen. Auf dem Gehsteig vor dem Treppenabsatz lag ein Dreikantholz. Rosalind's Cottage stand in stolz geschwungenen blauen Buchstaben auf dem handbemalten Porzellanschild über der Klingel.

Das Haus in der Kemp Street wirkte trotz der frisch renovierten blauen Fassade gleich beim ersten Anblick abstoßend auf Dorothy. Das mochte daran liegen, dass sie mit dieser Straße mehr verband als andere.

Ihr Vater war selbst Polizist in Brighton gewesen, und dies war der Ort, an den man ihn in seiner letzten Nacht gerufen hatte, damit er eine vermeintliche Rangelei zwischen Jugendlichen beendete. Obgleich sie damals erst sechzehn gewesen war, vermochte Dorothy sich noch so genau an das Läuten des Telefons zu erinnern, als wäre es gestern gewesen. Sie hatten beim Abendessen gesessen und den bevorstehenden Urlaub besprochen. Ahnungslos, hungrig und voller Pläne. Er hatte Bereitschaftsdienst gehabt, war losgefahren und nie wiedergekommen. Kollegen hatten seine Leiche am nächsten Morgen an der Küste gefunden, mit einer Kugel im Hirn. Und obgleich es eine Handvoll Verdächtiger gab, war niemand je für dieses Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden.

In Ausübung seiner Pflicht verstorben, hatte es im Kondolenzschreiben des Chief Constable geheißen. Verstorben, dass sie nicht lachte; das klang, als habe er während der Bürostunden einen Herzinfarkt erlitten.

Seit jener Nacht, in der ihr Vater ums Leben gekommen war, hatte sie gewünscht, sie könnte ihn eines Tages rächen. Ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Robert ging es ebenso. Im Laufe der Jahre hatte jeder auf seine Weise eine Möglichkeit gefunden, das Geschehene für sich zu verarbeiten. Robert war Autor geworden und bereitete seine Erinnerungen mittels kalter, gefühlloser Kriminalromane auf. Dorothy dagegen hatte einen anderen Weg gewählt, den realistischeren, wie sie meinte. Sie war zur Polizei gegangen, um solche Dinge, wie sie ihrem Vater zugestoßen waren, zu vereiteln. Sie hatte sich für die Wirklichkeit entschieden. Robert dagegen war ein unverbesserlicher Fantast. Ein Mann, der ihrer Meinung nach Gott spielte. Sosehr sie ihren kleinen Bruder auch liebte, seine Beschäftigung mit dem fiktiven Verbrechen kam ihr vor wie eine immerwährende Flucht vor der Wirklichkeit. In seinen Romanen war alles so einfach. Er hielt die Fäden der Geschichte in der Hand, legte all die falschen Fährten, während er seine wahren Absichten hinter sorgsam versteckten Hinweisen verbarg, und führte die Personen herum, als seien es hölzerne Schachfiguren, nur um mit ihrer Hilfe letztendlich ein vorher kalkuliertes Ziel zu erreichen. So etwas gab es in der Wirklichkeit nicht. In ihren Augen war das Betrug. (Und Dorothy wurde nicht müde, ihm dies zu sagen, wenn er ihr wie immer seine ersten Rohentwürfe vorlas.) Das Leben war anders, weit weniger vorhersehbar. In der Wirklichkeit existierten keine solchen klar abgesteckten Grenzen von Gut und Böse. Daher waren Roberts Romane für sie durchsichtiger als Transparentpapier. Nach den ersten zwanzig, spätestens dreißig Seiten kam sie ihm jedes Mal auf die Schliche.

»Chief?« Sergeant Cloud, der hinter ihr und Constable Angela Robinson gestanden hatte, machte einen Schritt vorwärts und tippte Dorothy auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«

»Oh, ja, ja. Klar.« Dorothy drückte unverzüglich den Klingelknopf. »Ich musste nur gerade an den Brighton-Torso-Fall denken«, log sie und bemerkte, wie ihre Ohren heiß wurden. »Das war im Nachbarhaus, glaub ich.«

»Nummer zweiundfünfzig, ganz richtig«, sagte Cloud. »Allerdings in den Vierzigern. Wir sollten uns vielleicht erst mal auf die Gegenwart konzentrieren.«

Die Tür wurde ihnen von einem blassen Mädchen mit violetten, kurz geschnittenen Haaren geöffnet, das eine löchrige Jeans und ein grünes, offensichtlich selbst gefärbtes T-Shirt trug. Dorothys Einschätzung nach war die junge Dame gerade mal 15, allerhöchstem 17 Jahre alt. Sie hatte die Arme eng über der flachen Brust verschränkt und schaute die drei Erwachsenen irritiert an. Ihr Blick huschte zwischen ihnen hin und her wie eine kleine verschreckte Maus, die sich einer ganzen Schar von Katzen gegenübersah. »Ja, bitte?«

»Hi, ich bin Dorothy Marley.« Den Chief Inspector behielt sie vorerst lieber für sich, um das Mädchen nicht in Panik zu versetzen. »Und wer bist du?«

»Hey, Mann. Sind wir hier im Kindergarten, oder was?« Das Mädchen kniff feindselig die Augen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich erkenne eine Horde Bullen, wenn ich sie seh. Also, wenn Mum euch geschickt hat, um mich wegzuholen, dann macht nicht so ein Affentheater, ja? Ich bin kein Baby mehr!«

Wow, dachte Dorothy, da haben wir ja ein richtiges Schätzchen erwischt. Doch sie sagte: »Hör zu, Süße, ich kenne deine Mum nicht; und ehrlich gesagt, ist sie mir im Augenblick auch völlig egal. Wir ermitteln in einem Mordfall. Also, wie heißt du?«

»Paula«, sagte das Mädchen. Aus ihren Armen schien plötzlich alle Kraft gewichen zu sein. Sie baumelten wie verdorrte Zweige an ihr herab. Dorothy wusste nicht, was Paula mehr aus der Fassung gebracht haben mochte – das schlichte Wörtchen ›Mordfall‹ oder die Tatsache, dass sich die Polizei nicht für die Belange von Paulas Mutter interessierte. Das Mädchen blinzelte, wackelte ein paar Mal schwach mit dem Kopf, als könne sie so ihre Gedanken ordnen, und sagte: »Es ist doch nicht wegen Rosie, oder?«

Sergeant Cloud räusperte sich lautstark.

»Dürfen wir erst mal reinkommen?«, fragte Dorothy.

»Ja«, sagte Paula und wies mit einer schwachen Handbewegung ins Haus. »Aber es ist nicht sehr ordentlich.«

»Das macht nichts.« Dorothy folgte ihr – Angela und Ralph im Schlepptau – durch den engen Hausflur ins Wohnzimmer.

Überall an den Wänden hingen gerahmte Fotos. Schnappschüsse zumeist: Rosalind vor einem Bus inmitten einer Gruppe von Teenagern. Rosalind mit wehendem Haar auf einer Bruchsteinmauer. Ein Bild gefiel Dorothy besonders. Es zeigte die Verstorbene in einem kleinen Ruderboot, das am Ende eines Landungsstegs festgemacht hatte, vielleicht am Ufer des River Dart aufgenommen. Sie saß zwischen zwei anderen Mädchen mit asiatischem Aussehen und trug eine zu große Kapitänsmütze auf dem Kopf, die nicht so recht zu ihrem hautengen blauen Stretchkleid passen wollte, lächelte augenzwinkernd in die Kamera. Momentaufnahmen vergangenen Glücks.

Im Wohnzimmer angekommen, sagte Paula: »Sie können sich hinsetzen, wenn Sie mögen.« Was die Haushaltsführung betraf, schien das Mädchen äußerst strenge Maßstäbe anzulegen, denn die eingangs von ihr angesprochene Unordnung beschränkte sich auf einen Korb unerledigter Bügelwäsche unter dem Fenster. Alles war blitzsauber. Nirgends ein Körnchen Staub.

Rechts und links der Tür stand je ein braunes Ledersofa, mit knallbunten Decken und Kissen darauf. Der Tür gegenüber befand sich ein elektrischer Kamin mit künstlichen Kohlen, auf dessen Sims die verschiedensten Nippessachen angeordnet waren: Ein kleines, schwarzes Kätzchen aus Gips räkelte sich neben einer ausgefallenen bunten Teekanne in seinem Körbchen, dann ein Elefant aus Elfenbein, ein rotwangiger Schäfer aus Holz, dem eine lange Pfeife im Mund steckte, und ein Briefbeschwerer mit Wintermotiv – jene Kugeln, in denen ein richtiger Schneesturm tobt, wenn man sie schüttelt. Den meisten Platz nahm indessen ein niedriger runder Tisch in der Mitte des Zimmers ein. Stühle, geschweige denn Sessel, gab es keine.

Paula ließ sich im Schneidersitz vor dem Kamin nieder, nachdem Cloud und Angela nebeneinander auf dem Sofa rechts der Tür Platz genommen hatten.

Dorothy setzte sich neben das Mädchen auf den Boden. »Rosalind Cotton ist deine Schwester, nicht wahr?«

»Wollen Sie was trinken?«, fragte Paula ausweichend. Sie fuhr sich zerstreut mit den Händen durchs Haar, bis es in alle Himmelsrichtungen abstand. »Ich glaub, wir haben Whisky, Rum und so'n Zeugs.« Sie blinzelte nervös, als Angela ihr Angebot mit einem traurigen Kopfschütteln quittierte und Cloud, die Lippen zu dünnen Strichen zusammengepresst, seinen Notizblock hervorholte. »Cola ist aber auch da«, fuhr sie hastig fort. »Und Orangensaft und Wasser.«

Dorothy gewann den Eindruck, als redete Paula bloß, um keine Stille einkehren zu lassen, um den schrecklichen Moment hinauszuschieben, da man ihr zwangsläufig erzählen würde, dass es sich bei der Toten, die die Polizei in der vergangenen Nacht am Strand gefunden hatte, um Rosie handelte. Dorothy war sicher, dass das Mädchen ahnte, wenn nicht gar wusste, weshalb sie hier waren. Die Bullen standen schließlich nicht ohne triftigen Grund plötzlich bei einem vor der Tür.

»Bist du ihre Schwester?«, wiederholte sie.

»Nein.«

»Wie lautet dein vollständiger Name?«

»Paula Finn.«

»Und wie alt bist du?«

»Fünfzehn. Na ja, eigentlich erst vierzehn«, setzte sie sofort hinzu. »Aber ich hab bald Geburtstag.«

»Wann denn?«

»Im November.« Das genaue Datum blieb sie ihnen schuldig.

»Dachte ich's mir doch«, warf Ralph Cloud ein. »Ein richtiges Skorpionmädchen.« Und er stach Angela Robinson beinahe ein Auge aus, als er unvorsichtigerweise mit seinem Bleistift herumgestikulierte.

»Keine Ahnung.« Paula zuckte mit den Schultern und sah ihn herablassend an. »Ich glaub an diesen Scheiß nicht.«

Cloud schob beleidigt die Unterlippe vor.

Dorothy fand, dass es langsam Zeit wurde, wieder zum Thema zurückzukehren. Sie fragte: »Hast du gehört, was gestern Nacht am Pier geschehen ist?«

Schweigen.

Und dann nach einer ganzen Weile: »Rosie ist sicher bei diesem Sean. Das ist ihr Freund, müssen Sie wissen.« Paula klang nicht so, als sei sie sehr überzeugt von dem, was sie sagte. Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser. »Ein Vollidiot. Bei ihm ist sie manchmal – wenn er sie denn abholt, heißt das. Hat 'ne Glatze. Ich weiß nicht, was Rosie an dem findet. Der ist sicher schon vierzig oder so. Na ja, mir kann's eigentlich gleich sein. Ich hab sowieso 'nen Schlüssel. Da kann ich hier immer rein.«

»Ich fürchte, wir haben keine guten Nachrichten, Paula.« Für diese abgegriffene Floskel hätte Dorothy sich am liebsten die Zunge abgebissen. Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus, doch Paula schüttelte sie ab.

»Meine Eltern lassen sich scheiden«, sagte sie zusammenhanglos. »Da ist zu Hause ständig Stress angesagt. Aber hier darf ich tun und lassen, was ich will. Rosie lässt mich sogar ihren Computer benutzen. Chatten, mailen – was man eben so macht. Nur an ihre Mails darf ich nicht 'ran, in dem Punkt ist sie ziemlich streng. Aber sonst … Sie sagt immer: ›Paula‹, sagt sie immer, ›du bist 'n richtiges Genie.‹ Das ist natürlich übertrieben. Aber ich hab schon was auf dem Kasten.« Sie strahlte, als sie Dorothy ansah und fragte: »Braucht ihr Bullen nicht 'ne Website?«

»Wann hast du Rosie denn zuletzt gesehen?« Diese Frage hatte Angela gestellt.

»Ist schon 'ne Weile her. Fünf, sechs Wochen etwa.«

Angela rutschte auf die Sofakante vor. Das Kinn auf die geschlossene linke Faust gestützt, fragte sie freundlich: »Und – bist du nun mit ihr verwandt?«

»Sie ist 'ne verdammt klasse Freundin«, antwortete Paula.

Dorothy sah den Zeitpunkt für gekommen: »Und sie ist tot, Kleines«, sagte sie.

»Tot?« Das Mädchen wippte im Schneidersitz hin und her, hielt die Füße mit den Händen umklammert. »Sie kann nicht tot sein. Sie ist bestimmt bei Sean. Obwohl der sich gar nicht richtig um sie kümmert. Meist helfe ich ihr. Kauf manchmal für sie ein. Ist ja 'n ganz schöner Ritt von der North Street hier 'rauf.«

»Kannst du mir sagen, wie ihr Freund mit Nachnamen heißt?«, schaltete Cloud sich abermals ein. Den Bleistift immer noch in der Hand, balancierte er nun sein kleines Notizbuch auf dem rechten Knie. »Und seine Adresse würde ich mir auch gern notieren, wenn du sie hast.«

Paula rümpfte angewidert die Nase. »Curtis«, sagte sie und nannte Cloud eine Adresse in Rottingdean. So, wie sie es ausgesprochen hatte, klang beides wie ansteckende Krankheiten – wahrscheinlich schwarze Blattern und Pest.

»Außerdem möchten wir dich bitten«, sagte Dorothy, »uns ins Krankenhaus zu begleiten, um sie zu identifizieren.«

»Da gibt's nichts zu identifizieren.« Paula hörte auf zu wippen und starrte in die Luft. Ihre Augen glänzten feucht. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, und sie wischte sie hastig fort. »Wir haben doch noch am Tag vorher telefoniert. Sie hat gesagt, Samstag wäre okay. Und vielleicht wär noch 'ne alte Freundin von früher da, wenn ich abends käme. Dann könnten wir was zusammen kochen.«

»Weißt du, wer diese Freundin war, die Rosie erwartete?«

Paula schüttelte den Kopf. »Sie hat mir den Namen nicht gesagt, nur, dass es jemand von früher wäre.«

»Verstehe. Hielt Rosie denn normalerweise ihre Verabredungen mit dir ein?«

»Ja, meistens. Aber manchmal legt sie auch einen Zettel für mich hin, wenn ihr Freund sie abholt. Und als sie nicht da war, hab ich mir gedacht, gut, dann ist sie eben bei Glatzen-Sean. Ich denke, er hatte nur noch keine Gelegenheit, sie zurückzubringen.« Sie nickte, so, als wolle sie sich selbst von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugen.

»Nur diesmal hinterließ sie keine Nachricht für dich, nicht wahr?«

Paula sagte nichts dazu.

»Ich weiß, wie schrecklich das alles ist. Aber wir brauchen deine Hilfe, Paula.« Dorothy legte den Arm um die Schultern des Mädchens. Und diesmal wehrte Paula sich nicht. »Jemand hat deine Freundin getötet. Wir könnten gemeinsam herausfinden, wer es getan hat.«

»Sie irren sich!« Paula sprang so abrupt auf die Füße, als sei ein Sprengsatz unter ihrem Hintern detoniert. »Verdammt noch mal, das ist nicht Rosie! Das ist irgendwer anders! In der Zeitung haben sie geschrieben, die tote Frau hätte unter dem Pier gelegen. Als ich die Beschreibung von der Frau gelesen hab, da hab ich mir zuerst auch Sorgen gemacht, weil sie sonst nämlich immer hier ist, wenn ich komme. Aber dann hab ich mir das Ganze überlegt. Wie soll sie denn da hingekommen sein, ganz ohne Hilfe?«

»Was meinst du damit?«

»Na, mit dem klapprigen alten Ding von der Wohlfahrt durch den Sand und den Kies am Strand.« Ihre Hände schossen vor lauter Empörung in die Höhe. »Mit dem Scheißrollstuhl konnte sie ja allein nicht mal bis zum Waitrose-Supermarkt fahren!«

Dorothy starrte das Mädchen an.

Cloud und Angela saßen blass und wie versteinert auf dem Sofa.

Keiner von ihnen brachte einen Ton heraus.

9

»Wie oft habe ich Rose in den letzten Monaten gebeten, zu mir zu ziehen. Aber davon wollte sie ja partout nichts hören. Sie war schon vorher ein unverbesserlicher Dickschädel.« Sean Curtis – braungebrannt und muskulös – saß in Unterhemd und Boxershorts am Küchentisch seiner Fünfundvierzig-Quadratmeter-Wohnung in Rottingdean und schüttelte immer wieder fassungslos den kahl rasierten Kopf. Seine sehnigen Finger spielten nervös mit dem Kaffeebecher, den er gedankenverloren auf der verschrammten Tischplatte hin und her drehte, während er sprach. »Aber seit dem Unfall war sie total verändert. Hat sich eingebildet, ich sei nur noch aus Mitleid mit ihr zusammen – als ob ich das nötig hätte.«

Insgeheim konnte Dorothy dem nur beipflichten. Sie bezweifelte, dass es in Sean Curtis' Leben jemals einen Mangel an willigen Damen gegeben hatte. Und auch sie selbst konnte sich nicht gänzlich seiner animalischen (sie hasste das Wort zutiefst, aber es traf den Nagel genau auf den Kopf) Anziehungskraft erwehren. Er war eben genau der Typ Mann, auf den die Frauen flogen. Dreitagebart, kantiges Kinn, von Lachfältchen eingerahmte grüne Augen. Paula Finn mochte ihn Glatzen-Sean nennen; ihr jedenfalls war er auf Anhieb sympathisch gewesen.

Dorothy hatte Angela mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, Paula Finn zu Dr. Miliner ins Brighton General Hospital zu begleiten, und war dann mit Cloud nach Rottingdean gefahren, um Rosalind Cottons Freund zu befragen. Mrs. Ellison, der alten Dame, die den vermummten Mann mit dem Rollstuhl am Pier beobachtet hatte, würden sie anschließend einen Besuch abstatten.

»Wie alt sind Sie, Mr. Curtis?« Cloud, den Bleistiftstummel angriffslustig auf dem Papier, lehnte lässig an der Spüle.

»Fünfunddreißig, wieso?«

»Reines Interesse. Miss Cotton war wesentlich jünger als Sie, nicht wahr?«

Curtis rieb sich fahrig mit der Hand übers Gesicht. »Ja. Ein paar Jahre.«

»Zwölf, um genau zu sein. Ich finde, das ist eine ganze Menge.«

»Zwölf oder zwanzig – was spielt das für eine Rolle? Wir haben uns geliebt.«

Cloud wölbte skeptisch eine Augenbraue – jene, über der kein Heftpflaster klebte. »Sie sagten vorhin, Sie seien seit anderthalb Jahren mit ihr zusammen gewesen.«

»Am siebten Februar wären es zwei gewesen«, präzisierte Curtis mit leiser Stimme. Trauer und Verbitterung schwangen in seinen Worten mit. »Zwei Jahre …« Ein roter Schleier lag über seinen Augen, als er den Kopf hob, Dorothy anschaute und fragte: »Darf ich Rose noch einmal sehen, Inspector, bevor …« Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er hob das Gesicht zur Decke. Das Wort Beerdigung ging ihm nicht über die Lippen.

»Selbstverständlich.« Dorothy, die bislang in der offenen Küchentür gestanden und Cloud die Befragung überlassen hatte, glitt nun auf den zweiten freien Stuhl am Tisch und legte ihre Hände sanft auf Curtis' geballte Fäuste. Ein Mann, der gerne lachte, dachte sie, der es nicht gewohnt war, vor anderen derartige Gefühle zu zeigen, der nicht einmal im Traum damit gerechnet hätte, jemals in eine solche Situation zu geraten. »Ich wollte Sie ohnehin darum bitten, morgen im Krankenhaus vorbeizuschauen.« Ihr rechter Daumen streichelte seine weißen Knöchel, als sie ihn fragte: »Trugen Sie beide sich mit dem Gedanken zu heiraten?«

»Vor dem Unfall schon.« Er wischte sich in einer ungeschickten Bewegung die Tränen ab, lächelte beinahe. »Wir haben einige Male darüber geredet, ja.«

»Und danach nicht mehr?«, fragte Cloud spitz. Es war nicht zu übersehen, dass er sein Gegenüber nicht sonderlich ins Herz geschlossen hatte.

»Nein, danach nicht mehr sehr oft.« Curtis blies die Wangen auf. »Wie ich Ihnen schon sagte, Sergeant: Danach wollte sie mich anscheinend nicht mehr.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783942822299
DOI
10.3239/9783942822299
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Februar)
Schlagworte
Serienmörder Frauen Morddrohung England Brighton Hagemann Dem Tod geweiht hey heypublishing ebook
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Titel: Dem Tod geweiht
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