
Ein Herz für Männer
von
Heide John
Seiten: (ca.) 258
Erscheinungsform: Neuauflage
Erscheinungsdatum: 13.12.2012
ISBN: eBook 9783942822206
Format: ePUB und MOBI (ohne DRM)
Autor

Seit einigen Jahren schon wohnt Meta Staudt in einem Kölner Mietshaus und mit der Zeit hat sie ihre Mitbewohner so richtig kennen, hassen und lieben gelernt. Denn in diesem ganz normalen Wohnhaus gibt es alles, nur keine Anonymität. Affären, Ehekräche und das unüberhörbare Liebesleben ihrer Nachbarin gehören genauso zur Normalität wie Hilfsbereitschaft und echte Anteilnahme. Leise brodelt es hinter jeder Wohnungstür – egal, ob bei der lauten Großfamilie Gröllmann oder dem stets freundlichen Herrn Tellur, der sich um seine behinderte Schwester kümmert. Doch dann haben die Mieter eine Idee: ein Hausfest – mit höchst fatalen Folgen ...
Details
- Titel
- Ein Herz für Männer
- Untertitel
- Roman
- Autor
- Heide John
- Seiten
- 258
- Erscheinungsform
- Neuauflage
- Preis (eBook)
- 4,99 EUR
- ISBN (eBook)
- 9783942822206
- Sprache
- Deutsch
Leseprobe
Meta
Nun küss mich doch endlich! Aber nein, noch ein Sätzchen und noch eins.
»Ach, und von Claudia habe ich dir auch nichts erzählt …«
»Claudia?«, fragte ich ratlos, »von welcher Claudia?«
»Ach, Meta, die Kleine mit den langen blonden Haaren – die alle Jungs so klasse fanden.«
Es handelte sich also vermutlich um eine unserer ehemaligen Klassenkameradinnen. Leider konnte ich mich beim besten Willen nicht an Claudia erinnern. Genauso wenig übrigens wie an die vielen anderen Leute, deren Leben mir Barbara in diesen beiden Tagen in Hannover detailliert geschildert hatte. Mir schwirrte der Kopf. Mit wie vielen Namen und Lebensgeschichten hatte mich diese Quasselstrippe eigentlich bombardiert? Mit zehn, zwanzig, fünfzig? Egal. Ich war mir jedenfalls absolut sicher, dass ich mindestens vier Tage brauchen würde, bis ich all die Klatschgeschichten aus meinem Kopf herausgefiltert und in der Schublade »Vergiss es« abgelegt haben würde. Abgelegt im Fach für unwichtige und unangenehme Erlebnisse.
Zum Glück rollte mein Zug ein. Erwartungsgemäß warf Barbara mir ihren Körper entgegen. Küsse, feuchter Atem, vorgetäuschte Innigkeit. Brust an Brust. Wonderbra an Standardmodell. Barbara verfügte über im Fitnessstudio gestylte Kräfte und drückte mich heftig, gerade so, als wäre ich ihre Geliebte, die jetzt keinesfalls in den Zug, sondern sonst wo einsteigen sollte. Ihre Körperkraft war allerdings das einzig männliche Attribut an dieser fehlfarbig blondierten Plaudertasche. Ich nahm mir vor, mich für den Rest meines Lebens daran zu erinnern, dass meine Kindheitsfreundin wesentlich besitzergreifender war als jeder Mann, der bislang meinen Weg gekreuzt hatte.
»Ach, Meta«, stöhnte Barbara, »wie schrecklich, dass du schon wieder fahren musst.«
Wie oft hatte ich dieses »ach« gehört? »Ach, Meta«, jeden zweiten Satz leitete die Neunundzwanzigjährige im Jackie-O-Kostüm mit dieser unsäglichen Floskel ein.
Zögernd – bloß nicht zu viel Enthusiasmus in die Stimme legen – antwortete ich: »Tja, Barbara, so geht alles …«
Und wie immer ließ sie mich nicht ausreden. Bereits mein zweites Wort war falsch und musste unbedingt korrigiert werden: »Ach, Meta, Bärbel, nicht Barbara.«
Natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Cirka 780 Mal hatte Barbara mich in den beiden Tagen, die ich bei ihr in Hannover verbracht hatte, darauf hingewiesen, dass sie sich nun Bärbel und nicht mehr Barbara nannte.
»Bärbel«, erwiderte ich betont gelassen: »Ich muss einsteigen, sonst fährt der Zug ohne mich ab.«
»Das wäre nicht das Schlechteste, Meta, dann würde ich dich einfach in den Golf packen und wieder mitnehmen. Ich finde es schauderhaft traurig, dass du schon wieder fahren musst. Es war nämlich ein ganz, ganz tolles Wochenende. Beim nächsten Mal besuche ich dich in Köln. Ganz bald.«
Das klang natürlich nur in meinen Ohren wie eine Drohung, und selbstredend fragte Barbara nicht, ob ich das Wochenende auch »ganz, ganz toll« fand, denn Zweifel passten nicht in ihr Repertoire. An dem Satz »Bleib bloß, wo du bist«, erstickte ich fast, aber ich wahrte die Form, schließlich bin ich ein höflicher Mensch.
»Du kannst mich ja bei Gelegenheit mal anrufen, tschüss, Barb… Bärbel.«
Sie drückte mir noch einen dritten überaus feuchten Kuss auf den linken Mundwinkel. Dann stand ich endlich auf dem Trittbrett.
»Winke, winke«, schrie sie.
»Ciao«, schrie ich zurück. Oh, ich war ihr entronnen! Was für ein riesengroßes Glück.
Ich versuchte, mich und meine kleine blaue Reisetasche von der ersten bis zur zweiten Klasse durchzuschlagen. Der Zug war ziemlich voll, aber ich wollte unbedingt ein Raucherabteil finden und möglichst eines, wo ich allein sitzen konnte. Bloß nicht reden. Dann wurde es auch noch eng. Eine Frau mit Kinderwagen blockierte den Gang. Umständlich kramte sie in ihrem überdimensionierten Bree-Rucksack. Vermutlich suchte sie ihre Platzreservierungskarten. Es gibt nichts Umständlicheres als Mütter mit kleinen Kindern.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, um meinem Ziel, ebenfalls einen Sitzplatz zu finden, endlich näher zu rücken, aber sie schüttelte nur den Kopf und wühlte in aller Ruhe weiter.
Drei Waggons weiter fand ich endlich ein relativ leeres Abteil. In den nächsten drei Stunden wollte ich aus dem Fenster starren, ohne auch nur einem einzigen Menschen mein Gehör schenken zu müssen. Erleichtert ließ ich mich auf den Sitz plumpsen.
Kaum hatte ich mich bequem zurechtgerückt, fragte ich mich, wie ich mir das hatte antun können. Was für eine bodenlose Dummheit, fast dreihundert Kilometer in die Vergangenheit zu reisen, nur um eine alte Freundin zu besuchen. Wenn ich brav in meiner gemütlichen Wohnung unterm Dach geblieben wäre, hätte ich an diesem Montagmorgen garantiert bessere Laune gehabt. Aber nein, ich hatte mich verlocken lassen. Und das hatte ich nun davon: Ich war von Grund auf erschöpft und fühlte mich, als hätte ich an zwei aufeinander folgenden Tagen am Köln-Marathon teilgenommen und jeweils die Bestzeit erzielt.
Vorrangig hatte es an Barbaras penetranter Überzeugungskraft gelegen. Schon als Teenager war sie mehr als hartnäckig. Sie bettelte, flehte, drohte und gab keine Ruhe, bis sie das bekam, was sie haben wollte. Daran hätte ich mich erinnern sollen, als Barbara mich vor vier Monaten – nach jahrelanger freundschaftlicher Abstinenz – anrief. Ich war maßlos überrascht, als mir an einem ungemein friedlichen Sonntagvormittag Anfang Februar eine weibliche Stimme durch den Hörer entgegen schallte, die in einer ziemlich hohen Stimmlage flötete: »Hey, hab ich dich endlich!«
Unbeholfen antwortete ich: »… wer hat mich?«
»Du bist die Meta«, sagte die Frau.
Das war mir keinesfalls neu, und mit den Worten »stimmt genau« reagierte ich weniger ironisch, als ich es mir gewünscht hätte und fragte ratlos und ungeschickt: »Und wer bist du?«
»Du musst raten!«
Zwei Dinge sind mir wirklich verhasst. Lange Telefonate und sinnlose Ratespiele. Jeder, der mich kennt, weiß das. Also schloss ich daraus, dass mich die Frau am anderen Ende der Leitung nicht besonders gut kannte. Noch bevor ich den Mund erneut öffnen konnte, überfiel mich ihr zweiter Satz.
»Ach, Metalein, erkennst du meine Stimme wirklich nicht?«
Die Stimme erschien mir immer noch fremd, aber das »Ach« und auch das »Metalein« kamen mir sehr bekannt vor. Barbara, meine ehemals beste Freundin Barbara Wollmacher. Bereits im fünften Schuljahr pflegte sie jeden Satz mit einem »Ach« einzuleiten, und ab der siebten Klasse mutierte ich zum »Metalein« oder, wenn ich Glück hatte, zu »Metalina«.
»Barbara?«, flüsterte ich erstaunt.
»Bärbel«, antwortete sie. »Ich nenne mich jetzt Bärbel, aber, Gratulation und Glückwunsch, du hast es prompt erfasst.«
Komische Umkehrung, hatte ich damals spontan gedacht, Bärbel passt besser zu einem jungen Mädchen und Barbara passt besser zu einer Frau. Aber logischerweise bleibt die Wahl des Rufnamens jedem selbst überlassen. Doch überrascht war ich wirklich. Seit mindestens fünf Jahren hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
Während unserer Schulzeit waren wir allerbeste Freundinnen. Barbara tat keinen Schritt ohne Meta und Meta keinen ohne Barbara. Wir fuhren morgens mit dem gleichen Bus zur Schule, wir saßen meistens in derselben Bank, wir machten nachmittags gemeinsam unsere Hausaufgaben (wenn wir sie machten) und gingen beinahe allabendlich ins Jugendzentrum oder in die Disco. Oft schliefen wir sogar in einem Bett. Bei ihr oder bei mir. Wir schrieben uns Buchstaben auf den Rücken und lasen auf diese Weise ganze Sätze, die direkt aus dem Herzen der anderen kamen und schwer auszusprechen waren. Zur gleichen Zeit entdeckten wir unsere Körper, und es gab nur wenige Gedanken, die ich vor Barbara verbarg. Busenfreundinnen eben.
Inzwischen habe ich festgestellt, dass Beziehungen zu Männern niemals die Intensität und vielleicht nicht einmal die Qualität erreichen können, die Mädchenfreundschaften auszeichnet. Wobei man sich, glaube ich zumindest, im weiteren Verlauf seines Lebens auch niemandem mehr so unbedingt und hemmungslos öffnet wie der ersten, allerbesten Freundin.
Nur zwei Dinge haben uns damals voneinander unterschieden: Ich war besser in der Schule, und Barbara hatte mehr Chancen bei den Jungs. Zur Strafe litt sie allerdings ständig unter massivem Liebeskummer. Zwei Mal beschloss sie sogar, nicht mehr leben zu wollen. Sobald ihre Mutter am Morgen die Wohnung verlassen hatte, rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie sich jetzt umgehend die Pulsadern aufschneiden würde. Ungewaschen sprang ich in die Klamotten und auf meine heiß geliebte Zündapp. An diesen Vormittagen zeigte Barbara mir stolz die kaum sichtbaren Ritzer mit den Rasierklingen, die sie vom jeweiligen Liebhaber ihrer Mutter stibitzt hatte. Sie weinte lange und ausgiebig, ich tröstete sie, wir lagen uns in den Armen, streichelten uns Kopf und Rücken und beschlossen auf ewig zusammenzubleiben, zur gleichen Zeit Kinder unterschiedlichen Geschlechts in die Welt zu setzen, damit diese sich später ineinander verlieben konnten. Seelenverwandtschaft. Unser Nachwuchs sollte die Rolle einnehmen, die uns versagt blieb. Ich würde einen Sohn zur Welt bringen und Barbara eine Tochter. Die beiden würden, sobald sie halbwegs erwachsen waren, ein traumhaftes Liebespaar abgeben.
Ich hatte »Paul und Virgine«, diese großartige Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert gelesen, und obwohl mir klar war, dass sich die Zeiten geändert hatten und dass weder Barbara noch ich wichtig oder außergewöhnlich genug waren, um von der Gesellschaft verstoßen zu werden, dachten wir uns eine moderne Version dieser Legende aus. Unsere Kinder würden im zivilisierten 21. Jahrhundert erwachsen werden und eine ideale Partnerschaft erleben dürfen. Und wir beiden lebens- und welterfahrenen Mütter würden uns von Zeit zu Zeit einen Mann gönnen, um unsere sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Dass Sex wichtig ist, hatten wir nämlich von Barbaras Mutter gelernt, die uns ab unserem vierzehnten Lebensjahr gerne und ausführlich darüber belehrte, wie wichtig Männer für Frauen sind.
»Sex macht schön«, pflegte sie zu sagen.
Auf Erika Wollmacher traf dieser Satz allerdings nicht unbedingt zu, denn Erika wurde nicht schöner, sondern lediglich älter. Barbaras Eltern waren geschieden, und wenn Tochter Barbara den jeweiligen Freunden erstmals vorgestellt wurde oder wenn Restaurantbesuche anstanden, durfte ich dabei sein.
»Dann können sich die Mädchen auch unterhalten«, kicherte Erika und blinzelte ihrem Lover verheißungsvoll zu.
Das hieß natürlich nichts anders als »dann ist der lästige Teenager beschäftigt, und wir haben mehr Zeit für uns.«
Barbaras Mutter war eine egoistische und strenge Frau, der man deutlich anmerkte, wie sehr sie sich auf die Zeit freute, wo Barbara endlich aus dem Haus sein würde. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich fest davon überzeugt, dass Erika Wollmacher für die Mutterschaft nur wenig geeignet und überdies nymphomanisch veranlagt war.
Erikas einzige Tochter Barbara hatte viel von ihrer Frau Mama geerbt. Während unserer Schulzeit galt sie als äußerst begehrenswert, und das war zugegebenermaßen nicht leicht für mich. Sie war nicht wirklich hübscher und erst recht nicht klüger als ich. Später begriff ich, dass die Jungs ihre Kleinmädchen-Allüren niedlich und anziehend fanden. Barbara war weich, nachgiebig, ein bisschen naiv – und sie versprach, eine »richtige Frau« zu werden. Ganz im Gegensatz zu mir.
Von Zeit zu Zeit war ich neidisch auf Barbaras weibliche Attitüden, meistens dann, wenn meine Mutter mahnend ihre Stimme erhob und zischte: »Meta, für ein junges Mädchen bist du viel zu spröde.«
Nichtsdestotrotz: Schon damals hätte ich um nichts in der Welt mit Barbara tauschen mögen. Schließlich konnte ich bei den Gesprächen mit unseren Klassenkameraden und Freunden stets mithalten – außer wenn es um Sport ging –, und zum Glück bewies mir jeder Blick in den Spiegel, dass mein Gesicht im Gegensatz zu Barbaras kein gefälliges Durchschnittsgesicht war.
Jetzt, wo wir beide fast dreißig Jahre alt sind, begreife ich erst, wie glücklich ich sein darf, mich auf eine andere Art und Weise entwickelt zu haben. Wenn man es bösartig ausdrücken wollte, könnte man sagen, dass Barbara bis zum heutigen Tag nichts anderes ist als ein spätpubertierendes Weibchen.
Eigentlich lächerlich, und doch habe ich mich damals tagelang über diese Kussgeschichte aufregen können. Offenbar konnte Barbara nämlich besser küssen als ich. Zumindest lag sie immer unglaublich lange in den Armen dieser ebenfalls von der Pubertät gebeutelten Knaben und knutschte heftig und ausdauernd, während ich spätestens nach zwei Minuten nach Luft und Distanz rang und meinen Mund wieder von dem dieser Michaels, Pauls oder Achims zu lösen versuchte.
Torsten hieß der Widerling, der mir meine Unfähigkeit sogar persönlich bestätigt hat. Er war der Einzige, den ich nach Barbara küsste. Es war nämlich ein ehernes, felsenfest in meinem Kopf verankertes Gesetz, mich niemals in jemanden zu verlieben, der zuvor mit Barbara zusammen war. Wie recht ich damit hatte, wurde mir durch meine kurze Liaison mit Torsten nachhaltig bestätigt. Ich war ziemlich verliebt in dieses attraktive Großmaul und litt Qualen der Eifersucht in den zwei Wochen, wo Bärbel mit ihm herumschmuste. Dann interessierte Torsten sich plötzlich für mich, und ich konnte diesem pickellosen, wortgewandten Knaben schlichtweg nicht widerstehen. Großzügig verzieh ich ihm die Knutschereien mit Barbara, zumal er mir bereits am ersten Tag erzählte, dass er über Barbara nur versucht hätte, an mich ranzukommen. Das erschien mir zwar nicht unbedingt logisch, weil wir Torsten gemeinsam in der Disco kennen gelernt hatten, aber ich wollte ihm nur allzu gerne glauben und fuhr an diesem Abend allein nach Hause. Ich fiel ausnahmsweise nicht in Barbaras Bett und sie nicht in meins, und ich war sehr, sehr glücklich.
Für den nächsten Nachmittag hatte Torsten mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich zog meine beste Jeans und mein engstes T-Shirt an und begriff in der ersten Stunde, was der Knabe wollte. Mit mir ins Bett. Nichts anderes. Ich sagte ihm, dass mir das zu schnell ginge. Er fragte zuerst, ob ich etwa noch Jungfrau sei, was ich, ohne rot zu werden, bejahte, und anschließend, wann ich denn bereit wäre, mit ihm zu schlafen. Ich erwiderte, das würde von der Intensität unserer Beziehung abhängen, und ich ginge davon aus, es könne ungefähr in einem halben Jahr so weit sein. Torsten lachte. Ich freute mich über seine Fröhlichkeit, aber leider hatte ich ihn missverstanden.
»Das ist doch nicht dein Ernst«, prustete er.
»Doch, doch«, wisperte ich zärtlich und versuchte, ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu streichen.
Und wenn ich hundert Jahre alt werde: Das vergesse ich nie! Der gute Torsten stand unverzüglich auf und fauchte, ich solle doch nicht so zickig sein, schließlich sei die Virginität (das Wort musste ich später im Wörterbuch nachschlagen) nichts Heiliges und eine Meta keine Maria.
Wir stritten, und unser Wortwechsel endete mit den bereits erwähnten und vielleicht wahren, auf jeden Fall aber verletzenden Worten: »Ich dachte, du wärst etwas fixer, dann kann ich ja auch Barbara noch mal anbaggern. Was das Küssen angeht, ist die auf jeden Fall um einiges talentierter als du.«
Da kam auch ich endlich auf die Füße, straffte die Schultern, riss mich zusammen und hielt die Tränen zurück, bis ich mich mit meinem Mofa auf dem Nachhauseweg befand. Leer geweint und stinkwütend fuhr ich direkt zu Barbara. Ich drängte sie in ihr Zimmer.
»Hast du etwa mit ihm geschlafen, du dumme Kuh?«
Barbara war verwirrt.
»Mit wem?«, stotterte sie.
»Mit Torsten, du Ziege«, herrschte ich sie an.
Meine beste Freundin zögerte kurz und raunzte: »Na, fast«.
Damit wusste ich genug. Also nur die üblichen Petting-Geschichten, nichts weiter.
»Besten Dank«, schnaubte ich und rannte zum zweiten Mal an diesem Tag davon. Barbaras Auskunft beruhigte mich und stellte mich fürs Erste zufrieden, sie war also auch noch nicht weiter als ich.
Dennoch, ein paar Tage knackte ich daran, dass Barbara offenbar einen Vorzug hatte, den ich nicht besaß, und einzig und allein dieser Gedanke führte dazu, dass ich noch in der gleichen Woche mit irgendeinem Kerl ins Bett ging. Holger hieß er, wenn ich mich richtig erinnere, aber das war unwichtig. Er war mir gleichgültig. Alles war mir gleichgültig. Wichtig war einzig und allein: Ich wollte vor Barbara mit einem Mann geschlafen haben. Deshalb war ich auch bereits eine knappe Stunde nach meiner Entjungferung bei ihr, um mit meinem Vorsprung zu prahlen.
Und das ist mir auch gelungen! Barbara starrte mich entgeistert an: »Du hattest versprochen, wir machen das gemeinsam.«
Ich lachte aus vollem Hals, obwohl mir ein ganz anderes Gefühl in der Kehle steckte. »In einem Bett am besten, ja? Ein gemischtes Doppel, was?«
Barbara war entsetzt. Derart heftige Reaktionen war sie von mir nicht gewohnt. Ich weiß es bis heute nicht genau, aber es könnte sein, dass dieses unschöne Erlebnis die erste ernst zu nehmende Kerbe in unsere Freundschaft schlug.
Direkt nach dem Abitur war ich nach Köln gezogen, um dort Biologie zu studieren. Barbara blieb in Hannover und machte eine Lehre als Großhandelskauffrau. Anfangs telefonierten wir häufig, aber zumindest mir entging nicht, dass wir uns zunehmend mehr voneinander entfernten. Ich fand sie oberflächlich und entwickelte eine stoisch verschwiegene Abneigung gegen ihre unsäglichen Liebesgeschichten, die sie mir am Telefon in epischer Breite zu schildern pflegte. Eines Tages beschloss ich, sie einfach nicht mehr anzurufen, aber Barbara stellte erneut ihre Beharrlichkeit unter Beweis, schrieb Kärtchen und Briefe und besprach meinen Anrufbeantworter mit Erlebnissen aus ihrer Berufs- und Freundeswelt.
Das dauerte so lange, bis sie Michael kennen lernte. Michael nahm ihre ganze Liebe und offenkundig auch ihre gesamte Freizeit so sehr in Anspruch, dass sie mich langsam aus dem Gedächtnis verlor. In den ersten beiden Jahren ihrer Beziehung kamen noch die obligaten Glückwunschkarten zum Geburtstag und zum Weihnachtsfest. Weil ich darauf nicht reagierte, blieben auch die nach einer Weile aus.
Seit meiner Jungmädchenzeit hat sich eine ganze Menge verändert. Spätestens seit der Geschichte mit Torsten glaube ich, dass Männer das schwächere Geschlecht sind. Ich gehe von Zeit zu Zeit mit einem ins Bett und habe sogar Spaß daran. Aber es gibt unendlich viele Dinge, die mich viel mehr interessieren als das klassische Rein-Raus-Spiel. Allerdings kann ich unumwunden zugeben, dass ich mich heutzutage lieber mit einem guten Lover beschäftige, als auch nur eine Stunde mit Barbara zu verbringen. Und ich muss gestehen, dass ich bislang nicht besonders viel Glück mit meinen Beziehungen hatte.
Jedenfalls hatte ich in den letzten fünf Jahren nur noch selten an sie gedacht. Ich war erwachsen geworden, stets beschäftigt und hatte hier in Köln viele sympathische Leute kennen gelernt. Aber immer wenn mir Barbara in den Sinn kam, dachte ich mit einer gewissen Rührung an sie und unsere gemeinsame Zeit. Schließlich hatte ich beinahe meine gesamte Jugend mit ihr verbracht.
In den Stunden, die Barbaras erstem Anruf folgten, war von dieser Rührung nur noch wenig übrig geblieben. Schon dieses Geplänkel mit »Ach« und »nicht Barbara, Meta, sondern Bärbel« hätte mich vorsichtig stimmen , müssen. Wir plauderten beiläufig über dieses und jenes, über ihre Mutter und meine, über Michael, über ihre Arbeit – und wir beschlossen, uns in näherer Zukunft wiederzusehen. Für mich konnte diese »nähere Zukunft« allerdings auch im übernächsten Jahrzehnt liegen. Ich bin da nicht so.
Meine Einstellung änderte sich im Wonnemonat Mai, weil mein Selbstwertgefühl zu dieser Zeit leider ziemlich angeschlagen war. Wenige Tage vor Weihnachten war meine Beziehung zu Bernd in die Brüche gegangen. Und das, obwohl ich Bernd, mit dem ich zwei Jahre lang zusammen war, liebte und vielleicht sogar immer noch liebe. Es kommt mir selbst verdächtig vor: Immer wenn ich an ihn denke oder von ihm rede, gerate ich ins Schwärmen. Der gute Bernd konnte auf Menschen eingehen, er konnte Fragen stellen, er war ziemlich beweglich, was das Leben und die Welt anging, und er zeigte seine Gefühle. Mein Exfreund Bernd verfügte über eine Form von sozialer Intelligenz, die man bei Männern selten antrifft. Auch Bernd ist Biologe, aber einer mit Feingefühl. Kein reiner Experimentator. Ein neugieriger Zeitgenosse. Trotzdem ging es nicht gut mit uns beiden. Wahrscheinlich klingt es befremdlich, aber kurz vor meinem neunundzwanzigsten Geburtstag fühlte ich mich plötzlich eingeengt. Von einem Tag auf den anderen entwickelte sich in mir das Gefühl, eine so enge Beziehung zu einem Mann müsse zwangsläufig auf eine Hochzeit und zwei Kinderchen hinauslaufen. Keins von beiden passte in meinen Lebensplan. Dazu fühlte ich mich schlichtweg nicht reif genug. Bernd hingegen wollte Sicherheit, er strebte nach diesem klassischen »auf immer und ewig«. Ich ging immer häufiger aus, ohne ihm zu sagen, wohin ich gehen würde. Bernd begriff nicht, dass ich ihm damit etwas sagen wollte, dass ich versuchte, auf diese Art und Weise meine Angst vor zu wenig emotionaler Distanz auszudrücken und meinen Wunsch nach mehr Freiheit artikulierte. Aber wenn etwas nicht den gängigen Beziehungsklischees entsprach, die seine glücklich verheirateten Eltern ihm und seinen Geschwistern vorgelebt hatten, weigerte mein Ex sich standhaft, dies auch nur in den Grundzügen zu akzeptieren. Als ich anfing, von einer offenen Beziehung zu reden, was so viel bedeuten sollte wie: Jeder schläft vorläufig, mit wem er will, schaute Bernd mich ratlos und fragend an – und begann mit seiner Form des Entzugs. Ohne dass ich es wollte, verabschiedete er sich innerlich von mir. Mir war nach einem freiheitlichen Miteinander, nach einer lockeren Beziehung, nach mehr Eigenständigkeit, und ich wollte anders leben als unsere spießigen Eltern. Paradoxerweise strebte ich gleichzeitig danach, dass Bernd mich festhalten und beschützen sollte, dass er mir sagen würde, unsere Beziehung sei völlig anders als die anderer Leute, sie sei einmalig und unauflöslich. Inzwischen glaube ich, dass ich vor allem darauf wartete, dass er mir befehlen würde, endlich mit dem blödsinnigen Gequatsche aufzuhören, weil Bernd und Meta das perfekte Paar und füreinander geschaffen seien. Jeden Satz könnte ich dem Mistkerl heute vorgeben. Aber ich hatte ihn gekränkt und verunsichert mit meinem Vorschlag, und er sagte nichts von all dem. Er entzog sich. Er verweigerte jedes Gespräch über diese Themen. Und ich schwieg ebenfalls. Wir kochten bei mir oder bei ihm, wir sprachen über die Uni, wir gingen ins Kino, wir luden Leute zum Essen ein, und nach einem weiteren halben Jahr war es vorbei. Befriedete Langweile. In scheinbar gegenseitigem Einvernehmen trennten wir uns. Ich litt unter der Trennung, aber ich war zu stolz, um erneut auf Bernd zuzugehen, meine idiotischen Vorschläge zurückzunehmen und ihn darum zu bitten, uns eine zweite Chance zu geben.
Stattdessen tröstete ich mich mit dem schönen Jens. Und diese fischblütige Null hatte es gewagt, mir nach knapp vier Monaten den Laufpass zu geben. Obwohl all das, was zwischen Jens und mir in den wenigen Wochen unserer Affäre geschehen war, rein gar nichts mit großer Liebe zu tun hatte – und auch ich, ehrlich gesagt, oft mit dem Gedanken gespielt hatte, Schluss zu machen war ich entsetzt. Äußerlich genügte der schöne Jens sämtlichen Ansprüchen, aber in Bezug auf ein partnerschaftliches Miteinander war er ein absoluter Versager. Jens ging es einzig und allein um aktive Unternehmungen, bei denen der Sport im Mittelpunkt stand: Joggen im Stadtwald, Schwitzen beim Squash, gymnastische Übungen in seinem oder meinem Bett. Für mich und mein Leben interessierte er sich einen feuchten Kehricht. Emotional hatte ich mich sechzehn Wochen lang in der Diaspora befunden, allein gelassen mit mir und meiner Gefühlswelt.
Aber als dieser Kretin mich eines schönen Nachmittages beim Joggen am Adenauer Weiher mit dem Satz überfiel, »sorry, Meta, aber ich hab mich unsterblich verknallt«, war ich nicht nur sauer, sondern vor allem maßlos enttäuscht. Und plötzlich war ich keinesfalls bereit, Jens widerstandslos aufzugeben. Es ist ja im Leben leider oft so, dass man genau das haben will, was man nicht haben kann. Obwohl ich genau wusste, wie irrational (um nicht zu sagen dämlich) mein frisch aufgekeimtes Verlangen nach diesem egomanischen Rohling war, kämpfte ich eine geschlagene Woche darum, ihn zurückzugewinnen. Aber da war nichts zu machen!
Jens ließ sich zu einer Abschiedsgala in meinem Bett unterm Dach herab, küsste mich anschließend gönnerhaft auf die Stirn, warf ein lässiges »du bist echt ne tolle Frau, Meta, aber gegen wahre Liebe ist eben kein Kraut gewachsen« in meine Richtung und verließ meine Wohnung. Ich hätte mir ob meiner eigenen Blödheit in den Allerwertesten treten können und warf bedauerlicherweise spontan meine Lieblingsvase gegen die Wohnungstür.
Anschließend war meine Selbstachtung völlig im Keller, ich fühlte mich hundsmiserabel, und einzig und allein aus diesem Grund kam mir Bärbels Vorschlag gar nicht so unrecht. Vielleicht würde mir ein bisschen Ablenkung gut tun.
Nachdem Barbara also ungefähr fünfzehn Mal angerufen hatte, ließ ich mich darauf ein, Anfang Juli in meine alte Heimatstadt zu fahren. Meine Jugendfreundin hatte mich sogar so weit gebracht, die Rückfahrt auf Montagmorgen zu legen. 6.00 Uhr früh. Was für ein Wahnsinn!
Aber dann hatte ich es endlich geschafft! Kurz vor 9.00 Uhr war ich wieder dort, wo ich hingehörte. Einer der für Köln typischen Taxifahrer beförderte mich vom Bahnhof nach Hause.
»Schönet Wetter, wat Fräulein, da freun mir uns aber …«
Immer zu einem Schwätzchen bereit, diese Deutsch-Griechen, Deutsch-Türken, Deutsch-Kölschen. Ich blieb einsilbig, obwohl ich diese unverbindlichen Schwätzchen eigentlich liebe, aber ich hatte mein Redepulver verschossen und mochte den Mund nur noch öffnen, um Ja oder Nein zu sagen.
Das änderte sich rapide, als ich aus dem Taxi stieg und direkt Fritz Lessander, unserem Hausbesitzer, in die Arme lief. Diesen Mann fand ich schon bei unserer Begegnung anziehend. Er wirkte souverän, gebildet und sah ziemlich gut aus. Als Gespiele oder Partner kam er natürlich keinesfalls in Frage, zumal er viel zu alt für mich war. Aber er löste wie immer ein leichtes Beben in mir aus, und in seiner Gegenwart wurde ich, wie so oft, verlegen.
Er wünschte höflich »Guten Morgen« und ließ es sich nicht nehmen, mich zu fragen, wie es um meine Befindlichkeit stünde.
»Äh, gut«, stotterte ich und errötete. »Und wie geht es Ihnen, Herr Lessander?«
»Danke, ebenfalls gut.«
Das war garantiert eine Lüge, denn er machte einen gestressten Eindruck, und ich bildete mir ein, ein paar neue Krähenfüße zu sehen, die vergangene Woche noch nicht da waren.
»Sie gehen also hinein und nicht wie sonst um diese Uhrzeit hinaus, Frau Staudt?«
»Was?«, fragte ich und korrigierte mich sogleich. »Wie bitte?«
»Sie betreten das Haus, obwohl Sie sonst um diese Uhrzeit zur Universität gehen, meine Liebe, und Sie haben nicht einmal eine Tüte mit Brötchen in der Hand, die auf einen freien Tag und ein ausgedehntes Frühstück schließen lassen würde.«
Wie aufmerksam von ihm!
»Ich war übers Wochenende verreist, Herr Lessander, und heute habe ich frei«, antwortete ich und bemerkte verärgert, dass ich mich benahm, als wäre ich vor kurzem fünfzehn Jahre alt geworden.
»Wie schön, dann genießen Sie Ihren freien Tag, Frau Staudt. Bis bald.«
Und schon war er entschwunden. Keinen der Hausbewohner traf ich so häufig im Flur wie Fritz Lessander. Stets richtete er das eine oder andere freundliche Wort an mich, und es imponierte mir, dass er nie über das Wetter redete. Eine Bemerkung wie »was für ein Wetter heute!«, die ich regelmäßig mit »na, immer noch besser als gar keins« kommentiere, kam in Lessanders Wortschatz nicht vor.
Ich stellte meine Tasche im Flur ab, um bei meiner Schwester Jill zu klingeln, aber dann fiel mir ein, dass Alexander um diese Uhrzeit noch zu Hause sein würde, und ich ließ es bleiben. Auf eine Begegnung mit meinen Schwager hatte ich keine Lust, zumal er unter Garantie darüber lästern würde, wie gut es die modernen Frauen hätten, die keiner geregelten Beschäftigung nachgehen mussten. Jill würde ich abends ohnehin treffen. Montags gingen wir nämlich gemeinsam zum Yoga in die Flandrische Straße.
Nachdenklich stiefelte ich unser prächtiges Treppenhaus mit den Buntglasfenstern hinauf und schaute im Vorübergehen auf die Türen der Menschen, mit denen ich unter einem Dach lebe. Unter dem wohl geformten Dach der Wiedstraße 4. Einem mehr oder minder anonymen Mehrfamilienhaus in Köln. Eine Adresse, eine Hausnummer. Sonst nichts!
Sonst nichts? Anonym? Nein, das kann man so nicht sagen! Ich weiß, wer hier wohnt. Kenne alle Namen, alle Gesichter, alle Bewohner und plaudere mit jedem, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Was ich nicht weiß, denke ich mir. Nicht umsonst interessiere ich mich, seit ich denken kann, für die Psychologie meiner Mitmenschen.
Im Erdgeschoss wohnen die prolligen Gröllmanns, bei denen sich vermutlich jeder hier insgeheim fragt, wie sie in dieses »Bessere-Leute-Haus« geraten sind. Allerdings macht Heinz Gröllmann uns den Hausmeister. Im ersten Stock links wohnt meine Schwester Jill mit ihrem Mann Alexander Marz. Immer wenn ich die beiden gemeinsam erlebe, werden mir sämtliche Vorteile meines Single-Daseins bewusst. Rechts von ihnen wohnt der etwas biedere Kurt Tellur mit seiner behinderten Schwester Elsie. Er verhält sich ihr gegenüber stets unglaublich nett und fürsorglich, und ich wüsste allzu gern, wie er dazu gekommen ist, sich um seine Schwester zu kümmern. Aber all meinen vorsichtigen Fragen nach seinen und Elsies Eltern ist er bislang geschickt ausgewichen. Über ihnen wohnt Fritz Lessander nebst Gattin Hilde, die einen überaus gepflegten Eindruck macht, bei der ich aber das Gefühl nicht los werde, dass sie dem Alkohol oder irgendwelchen Stimmungsaufhellern zuspricht. Links von Lessanders leben die beiden entzückenden Lesben Tara Schrat und Klara Merker. Tara ist hier in Köln eine lokale Größe, sie moderiert bei KPR2 den täglichen Radiotalk. Im dritten Stock logiert Katharina Legrand, die sich mit aller Kraft ihrem Alterungsprozess widersetzt, mit ihrem jungen Galan August Perle, den auch ich nicht von der Bettkante stoßen würde, wenn er mir nicht bei den meisten Gesprächen im Hausflur vermitteln würde, dass er die Intelligenz nicht gerade mit Löffeln gefressen hat, wie man so schön sagt. Das mag aber auch daran liegen, dass diese auffällige alte Dame über ein unglaubliches Charisma verfügt. Neben ihr wirkt jede andere Person blass und unbedeutend.
Eine der im Verhältnis zu den anderen kostengünstigeren Wohnungen unter dem Dach bewohne ich. Links von mir lebt Clarissa Salz, die ähnlich aufdringlich ist wie meine gute Bärbel, mit der ich mich aber in den letzten beiden Jahren angefreundet habe, weil sie trotz ihrer häufig penetranten und nervigen Nachfragerei eine sympathische und hilfsbereite Person ist. Tja, und rechts von mir wohnt die wunderschöne und nicht immer leise Fußpflegerin Inka Brabant.
Es ist eine sehr bunte Mischung von normalen Menschen, die diesem Wohnhaus Leben einhaucht. Obwohl, ganz normal sind sie eigentlich nicht, wie sich in diesem in jeder Hinsicht heißen Sommer herausstellte.
Irmgard Gröllmann
Als Meta Staudt und Fritz Lessander vor dem Haus standen und plauderten, befand sich Irmgard Gröllmann wie jeden Morgen auf ihrem Aussichtsposten. Sie hatte den grünen Wohnzimmervorhang im Erker ein Stück zur Seite geschoben und ein schweres Brokatkissen auf die Fensterbank gelegt, das ihren üppigen Busen stützte. Eher gelangweilt starrte sie auf die Wiedstraße, bis sie Lessander und Meta erspähte. Der erste Gedanke, der ihr in den Sinn kam, war: »Sieh mal einer an, was die Studentin aus dem Obergeschoss für rote Bäckchen kriegt, nur weil der alte Charmeur ihr ein paar freundliche Wörtchen flüstert. Da heißt es aufpassen, Mädel, sonst steigt dem dein frisches Fleisch so in die Nase, dass ihm die Pfötchen zucken.«
Neugierig schob sie ihren Oberkörper ein gutes Stück nach vorne, passte aber auf, dass sie nicht zu sehr ins Blickfeld geriet. Denn darauf achtete Irmgard mit peinlicher Sorgfalt: Ihr Ausguck war sicher, und nur sehr aufmerksame Beobachter, die gründlich und zweimal hinschauten, konnten sie entdecken. Bei aller Neugier wollte Irmgard stets eine gewisse Form von Sitte und Anstand wahren. Und alles und jeden zu beobachten gehörte nun einmal nicht zu den Dingen, die man als anständig und wohlerzogen zu bewerten pflegte. Hätte Irmgard sich verhalten können, wie es ihren ureigenen Bedürfnissen und ihrer Anlage entsprach, hätte sie das Fenster bis zum Aber selbst in dem traditionsreichen Arbeiterviertel in Gelsenkirchen, wo Irmgard ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, war sie häufig damit konfrontiert worden, dass man sich über ihre Mutter aufregte oder lustig machte.
»Die hat wohl nichts Besseres zu tun«, lästerten die Leute, oder: »Die sollte mal besser auf ihre Blagen aufpassen, vor allem auf die Kleene, die sich jetzt schon mit die Kerle rumtreibt.«
Mit »die Kleene« war sie, Irmgard, gemeint gewesen, die früh in die Pubertät gekommen war und bereits im zarten Alter von dreizehn Jahren für die großen, von ihr übertrieben angeschwärmten Jungen aus der Nachbarschaft die Beine breit machte. Der Grund dafür war allerdings nicht das blanke Vergnügen gewesen, das die Nachbarn dem Mädchen unterstellten, sondern ihr Elternhaus und ihr ungestilltes Bedürfnis nach Liebe, Zuneigung und ein bisschen Zärtlichkeit. Der Vater fuhr mit dem LKW durchs Land, und die Mutter war mit der Erziehung ihrer vier Kinder total überfordert und griff zur Flasche, sobald sie sich unbeobachtet glaubte. Der ständige Rauschzustand, in den sie sich durch den billigen Korn oder Weinbrand aus den Flachmännern vom Konsum, Edeka oder notfalls vom Kiosk versetzte, führte dazu, dass Irmgards Mutter jeden, der an ihrem Fenster vorbeikam, hemmungslos angequatscht und, was noch schlimmer war, ausgefragt hatte.
Irmgard war diese Marotte als Kind mehr als peinlich gewesen. Dass das Nichtvorhandensein eines wie auch immer gearteten Schamgefühls damit zu tun hatte, dass ihre Mutter soff, begriff sie erst viele Jahre später, als diese längst an einer Leberzirrhose erkrankt war und im Krankenhaus qualvoll vor sich hin starb.
Bombenfest hatte Irmgard hingegen daran geglaubt, dass einer ihrer Freunde sie über kurz oder lang aus diesem lieblosen Haushalt befreien würde, indem er sie als weiß gekleidete Braut über die Schwelle einer funkelnagelneu eingerichteten Wohnung tragen würde. Frauen heirateten, und damit sie geheiratet wurden, mussten sie sich dem potenziellen Kandidaten zuvor eben hingegeben haben. Schließlich wollte niemand die Katze im Sack kaufen. So hatte Irmgard zumindest all die verschlüsselten Botschaften in den Zeitschriften gedeutet, die sie ausgiebig studierte, wenn sie ihre Mutter alle drei Wochen zum Friseur begleiten durfte. Auf ihre Haare hatte Irmgards Mutter nämlich stets höchsten Wert gelegt, selbst als ihre Kleidung zunehmend eintöniger und schmuddeliger wurde. In ihren letzten Lebensjahren trug sie selten etwas anderes als ein kleinkariertes Kittelkleid. Aber den Friseurbesuch vergaß sie niemals. Waschen, schneiden, legen.
Wenn Irmgards Vater einmal wöchentlich einen Zwischenstopp in Gelsenkirchen einlegte, forderte er sein Gattenrecht ein. Sein Geschnaufe war in dem Zimmer, das die drei Ältesten sich teilten, nicht zu überhören, und auch auf das aufgeregte Geschnatter ihrer Mutter konnten die Kinder sich schon früh einen Reim machen.
Erst mit sechzehn dämmerte Irmgard, dass sie falschen Ideen nachgehangen hatte: Die Jungs buhlten zwar um sie, weil sie hübsch, sexy und leicht zu erobern war, aber es ging ihnen letztendlich nur darum, Irmgard aufs Kreuz zu legen. An eine Hochzeit dachte keiner der um einige Jahre älteren Knaben. Im Gegenteil: Zwei Tage nach ihrem siebzehnten Geburtstag sagte einer ihr offen ins Gesicht: »Eine Hure wie dich wird garantiert keiner heiraten. Nie und nimmer.«
Mit einundzwanzig hatte sich dieser Satz bewahrheitet, der Irmgard zwar erschreckt, an dessen Treffsicherheit sie aber trotzdem nicht' geglaubt hatte. Ihre Schwestern, selbst die jüngste, waren längst verheiratet, ihre Klassenkameradinnen ebenso. Nur für sie war auch in weiter Ferne kein Ehemann in Sicht. Dumm war Irmgard nun wirklich nicht, deshalb überlegte sie, was zu tun sei, und beschloss, ein neues Leben zu beginnen. Sie zog nach Köln, fand einen Job als Fabrikarbeiterin bei der Wicherath AG und ging lediglich samstags mit einer ihrer Arbeitskolleginnen zum Tanzen in die Satory-Säle. Dort lernte sie drei Monate später Heinz kennen. Den kleinen, unscheinbaren Heinz, der so schüchtern war, dass Irmgard ein geschlagenes halbes Jahr brauchte, bis sie ihn so weit ermutigt hatte, dass er vorsichtig nach ihrem Busen griff.
Ihr Traummann war Heinz Gröllmann gewiss nicht, aber er war fleißig, verständnisvoll und heiratswillig. So traten die beiden im Jahr darauf in den heiligen Stand der Ehe. Irmgard hatte ihrem Heinz gestanden, dass sie keine Jungfrau mehr war. Und der kleine Heinz hatte zwar bedauert, dass ihm das lang ersehnte Vergnügen einer Entjungferung in der Hochzeitsnacht versagt bleiben sollte, aber er hatte es akzeptiert, weil er nie im Leben damit gerechnet hatte, eine so rassige Frau wie Irmgard heimführen zu dürfen. Genau wie Irmgards Vater arbeitete Heinz als LKW-Fahrer. Aber im Gegensatz zu ihm beklagte Heinz sich nie über seinen harten Job, obwohl er oft mehr als vierzehn Stunden hinter dem Lenkrad saß.
Zehn Monate später kam ihre erste Tochter zur Welt, und Irmgard, die sich auch früher nie um Verhütung gekümmert, sondern stets auf ihr Glück vertraut hatte, wunderte sich. Zehn bis zwanzig Schäferstündchen und hopps war ein Kind im Bauch. Was der kleine, kräftige Heinz so alles auf den Weg brachte …
Aber auch als verheiratete Frau geriet Irmgard schnell ins Trudeln. Kaum war die kleine Janine auf der Welt, genügte ihr Heinz nicht mehr. Sie fand es schrecklich langweilig und unbefriedigend, in der kleinen Wohnung mit dem plärrenden Kind eingesperrt zu sein, und ließ sich knapp sieben Monate später auf ein Verhältnis mit Heinzens Speditionschef ein.
Walter Zochert versprach der schönen Irmgard das Blaue vom Himmel, obwohl sich schnell zeigte, dass er nicht einmal in der Lage war, seine Bierkästen selbst in die Wohnung zu schleppen. Aber Irmgard vertraute Zocherts blumigen Worten, verließ Heinz, wurde erneut schwanger, ließ sich scheiden, brachte ihre zweite Tochter zur Welt und fühlte sich unglücklicher als jemals zuvor. Ihr neuer Lebensgefährte war ein Tyrann, der nicht einmal davor zurückschreckte, sie zu verprügeln. Als Zochert sich das erste Mal an Janine vergriff, handelte sie umgehend, packte einen kleinen Koffer und klingelte bei ihrem Ex-Mann Heinz, der inzwischen mit einer Polin liiert war. Die Polin bekam einen Tausender in die Hand gedrückt, was Irmgard für zu großzügig und den Verhältnissen nicht angemessen hielt, und wurde aus der Wohnung gewiesen.
Heinz warf seiner Frau in all den Ehejahren, die noch folgen sollten, die unglückselige Geschichte niemals vor. Er akzeptierte auch die zweite Tochter, Carmen, die ihrem Speditionspapi Zochert wie aus dem Gesicht geschnitten war, und behandelte sie wie sein leibliches Kind. Heinz Gröllmann wechselte die Arbeitsstelle und fand, weil er kräftig und ausdauernd war, einen Job als Kopfschlächter im Ehrenfelder Schlachthof. Jede Nacht um zwei verließ er die Wohnung und ging dieser wahrlich unangenehmen, aber gut bezahlten Tätigkeit nach. Weil das Geld trotzdem hinten und vorne nicht reichte, schlief er am frühen Vormittag zwei Stunden und begab sich dann zu seinem zweiten Arbeitsplatz, einem innerstädtischen Parkhaus.
Über den Speditionschef wurde nie wieder gesprochen. Heinz war so glücklich, Irmgard wieder bei sich zu haben, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um ihr ein angenehmes Leben zu ermöglichen.
Vor ziemlich genau sechzehn Jahren hatte er die ehemalige Besitzerin des Hauses in der Wiedstraße 4 davon überzeugen können, ihn als Hausmeister einzustellen und ihm im Gegenzug die schöne Gartenwohnung im Erdgeschoss zu überlassen. Seine Mutter hatte vierzig Jahre lang für die alte, allein stehende Dame geputzt. Trotz des Standesunterschiedes hatte man sich gemocht, und der kleine Heinz durfte seine Mami oft begleiten, wenn sie den herrschaftlichen Haushalt der netten alten Dame in den Meister-Proper-Zustand versetzte.
Dem arroganten Lessander hingegen war er, Gröllmann, vom ersten Tag an ein Dorn im Auge, das wusste Heinz, aber die alte Dame hatte beim Hausverkauf vertraglich festlegen lassen, dass Gröllmann Hausmeister auf Lebenszeit sei und auch das ewige Wohnrecht besaß. Lessander waren die Hände gebunden, Gröllmanns konnte er nicht auf die Straße setzen, so gern Lessander das auch getan hätte – zumal die jüngste Tochter der dicken Irmgard den neuen Hauseigentümer von Zeit zu Zeit an eine Geschichte erinnerte, die er lieber vergessen hätte.
Aber Heinz Gröllmann, der von diesem Geheimnis genau so wenig ahnte wie von vielen anderen, war zufrieden. Er hatte für sich und seine Familie ein hübsches Heim geschaffen, er hatte sich mit seiner Arbeit arrangiert und dachte beim Auseinandernehmen der Rinderköpfe längst nicht mehr daran, dass sie einmal zu lebendigen Tieren gehört hatten. Außerdem war er stolz auf seine drei – wenn auch frechen, so doch wohlgeratenen – Töchter, und selbst seine Liebe zu Irmgard, die in den letzten Jahren gewaltig aus der Form geraten war, war nur geringfügig kleiner geworden. Für Heinz Gröllmann war die Welt in Ordnung.
Für seine Frau Irmgard galt das leider nicht. Ihre höheren Ambitionen waren unbefriedigt geblieben, schlimmer noch, sie schämte sich in Grund und Boden, wenn jemand vom Beruf ihres Mannes erfuhr. In ihren Augen war das Schlachten von Tieren die ekelerregendste Tätigkeit der Welt. Sie beließ es dabei, Heinz als Parkwächter und Hausmeister darzustellen, und hoffte, dass er auf seinen nächtlichen Fahrten zum Schlachthof von niemandem gesehen wurde. Ihre Töchter waren mit der Zeit dem Lauf der Natur entsprechend zunehmend selbstständiger geworden und verbrachten die meisten Nachmittage außer Haus.
Trick, Track und Truck, wie Heinz die drei nannte, waren ein reizendes Gespann. Obwohl ihr Altersunterschied jeweils ungefähr zwei Jahre betrug, gingen sie extrem freundschaftlich und beinahe gleichberechtigt miteinander um. Als sie klein waren, bestand Irmgards größtes Vergnügen darin zu beobachten, wie schön die drei Mädels miteinander spielten. Janine, die Älteste, war inzwischen siebzehn Jahre alt. Sie lenkte die Geschicke ihrer Schwestern und bestimmte, was zu tun war. Sobald die Jüngste laufen konnte, wurde sie von den anderen beiden als Spielgefährtin akzeptiert. Die Großen erklärten der Kleinsten die Welt, so wie sie sie verstanden, und auch aus diesem Grund hatte die kleine Marie einen riesigen Vorsprung vor ihren Altersgenossinnen. Hübsch waren die drei außerdem, aber die Schönste und Klügste war unbenommen die inzwischen fast dreizehnjährige Marie. Kein Wunder, dachte Irmgard, sie hatte ja auch den besten Erzeuger. Voller Wehmut erinnerte Irmgard sich daran, wie Fritz Lessander ihr kurz nach dem Kauf des Wiedstraßenhauses den Hof gemacht hatte. Na ja, den Hof gemacht? Wenn sie ehrlich war, entsprach das eigentlich nicht der Wahrheit.
Irmgard war es gewesen, die Lessander an einem Nachmittag im September in die Gröllmannsche Wohnung gezogen hatte, um ihm eine angeblich feuchte Stelle an der Schlafzimmerwand zu zeigen, die unbedingt ausgebessert werden musste. Der neue Hausbesitzer hatte einen Blick auf das Ehebett geworfen, sie in seine Arme gezogen und war spornstreichs zur Tat geschritten. Die schöne Irmgard hatte nichts dagegen. Absolut gar nichts. Wie stolz war sie gewesen, als Lessander an den nächsten beiden Nachmittagen erneut bei ihr klingelte.
Dann aber ging er ihr plötzlich und ohne Grund aus dem Weg. Irmgard lauerte ihm auf, machte ihm schöne Augen, und als das nichts half, verlegte sie sich aufs Betteln und Drohen. Aber da drohte ihr auch Lessander. Er würde Heinz alles erzählen, hatte er mit diesem klaren, kalten Gesichtsausdruck gesagt und dann würden sie ausziehen müssen und könnten sehen, wo sie blieben. Das wirkte!
Irmgard ließ ihn fortan in Ruhe. Als sie ihre Schwangerschaft bemerkte, hegte sie nicht den leisesten Zweifel daran, dass Lessander der Vater des ungeborenen Kindes war, und freute sich im Stillen unbändig darüber. Zwischen Tür und Angel erzählte sie ihm davon, aber er lachte sie aus, behauptete, er sei sterilisiert, und beschimpfte sie als gewiefte Lügnerin.
Aber irgendwann würde der reiche Fritz sich zu diesem Kind bekennen, daran glaubte Irmgard mit jedem ihrer fünf Sinne. Die Stimme des Blutes würde sich melden, und dann würde alles gut. Zumal er ja mit seiner Frau Hilde keine Kinder hatte. Oh ja, die hübsche kleine Marie würde einmal dieses prachtvolle Haus erben, und dann würde Irmgard Gröllmann der überheblichen Mietermischpoke zeigen, wer die Herrin im Haus war.
Bis es endlich so weit war, galt es allerdings, sich in Geduld zu üben, und das ging eben am besten mit all den köstlichen kleinen und größeren Leckereien, die es an jeder Ecke zu kaufen gab – und die für Irmgard den Stellenwert hatten, den für ihre Mutter der Alkohol gehabt hatte. Beruhigende, kleine Seelentröster. Auf diese Weise blieb Irmgard Gröllmann zwar nüchtern im Geist, aber ihr ehemals schöner Körper verbarg sich inzwischen unter unzähligen Fettschichten, und statt des ehemals niedlichen herzförmigen Kinns wabbelten nur zwei wenig ansehnliche Fettwülste zwischen Mund und Hals. Irmgard erwachte jeden Morgen mit dem Gedanken, dass sich auch dieser Zustand später verändern ließe. Wenn sie erst einmal frei über die gewiss stattlichen Mieteinnahmen verfügen konnte, würde sie saunen, schwimmen, turnen und sich täglich von einem Masseur und einer Kosmetikerin verwöhnen lassen. Tja, dachte Irmgard bei sich, Naschereien machten eben dick und Sperma ebenfalls. So betrachtet, war die kurze Affäre mit Fritz Lessander ein riesengroßer Glücksfall, der sich langfristig bezahlt machen würde.
Jill und Alexander Marz
Während Irmgard Gröllmann im Fenster lag und auf Sensationen lauerte, saßen Jill und Alexander Marz am Frühstückstisch.
»Ich will heute auf jeden Fall noch zum Friseur«, sagte die attraktive Jill in das allmorgendliche Schweigen hinein.
»So«, murmelte ihr Gatte und fixierte weiterhin den Stadtanzeiger.
»Das interessiert dich wohl überhaupt nicht«, stichelte sie und ahnte sogleich, dass ihr Versuch, ein harmloses Gespräch in Gang zu bringen, einmal mehr am falschen Thema gescheitert war.
»Doch, doch«, antwortete er geistesabwesend und starrte weiterhin stur auf die Neuigkeiten aus Köln und dem Rest der Welt.
»Dann guck mich doch endlich mal an«, erklärte Jill bemüht freundlich und lächelte ihn an.
Genau das tat er. Und was er sah, gefiel ihm genauso gut wie vor vier Jahren, als er Jill zum ersten Mal begegnet war. Ihr schmales Gesicht mit den sanften Zügen und den erstaunlich blauen Augen war auf außergewöhnliche Art und Weise schön. Weiche brünette Locken, die leicht rötlich schimmerten, umrahmten ihr Gesicht und gaben ihm etwas Verletzliches. Alexander schaute seine Frau gerne an, obwohl er wusste, dass sie es überhaupt nicht mochte, wenn er sie musterte, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Warum müssen Frauen ständig reden, fragte er sich zum tausendsten Mal, warum musste man ständig Belanglosigkeiten austauschen, um sich zu vergewissern, dass die Paarwelt in Ordnung war? Warum war das Schweigen, die Ruhe im täglichen Miteinander für Frauen offenkundig ein Signal dafür, dass sie nicht geliebt wurden? Nur weil sie in diesen Momenten keinen Anteil an den Gedanken ihres Partners hatten? Männer denken viel häufiger an gar nichts, als Frauen wahrhaben wollen. Und sie lassen sich nur ungern dabei stören. Aber das konnte Jill sich genauso wenig vorstellen wie all die anderen Frauen, die ihn in den letzten fünfzehn Jahren mit der Frage »Liebling, was denkst du?« gequält hatten. Seiner Meinung nach verfolgte Jill mit ihrem unaufhörlichen Geplapper über Gott und die Welt einzig und allein den Zweck, dass er keinen Gedanken fassen konnte, an dem sie keinen Anteil hatte.
»Und?«, unterbrach Jill seine Überlegungen.
»Und was?«, fragte er.
»Findest du nicht auch, dass ich dringend zum Friseur muss?«
»Mir gefällt es so, wie es ist«, widersprach er wenig überzeugend.
»Weil es dir ganz egal ist, wie ich aussehe«, provozierte sie ihn, und ihr war klar, wie ungerecht diese Behauptung war.
»Natürlich ist mir das nicht egal«, erwiderte er prompt. »Geh nur zum Friseur, wenn du Lust dazu hast.«
Jill fauchte ihn an: »Wie großzügig von dir!«
Mist, nun glaubte sie wohlmöglich, er hätte auf den Fünfziger angespielt, den dieser Friseurbesuch kosten würde. Seit drei Monaten war Jill arbeitslos, und er bestritt den Lebensunterhalt für sie beide. Was wirklich kein Problem war, denn als leitender Angestellter beim großen Kölner Versicherungskonzern LKV verdiente er wahrlich nicht schlecht.
Jillwar ebenfalls Versicherungskauffrau und hatte für ein kleineres Konkurrenzunternehmen gearbeitet. Im Gegensatz zu ihm hatte sie keinen Spaß an ihrer Arbeit, lehnte sich aber auch nicht wirklich dagegen auf. Der Job war halbwegs in Ordnung gewesen, bis ihr ein neuer Chef vor die Nase gesetzt worden war, den sie vom ersten Tag an widerwärtig fand. Und wenn Jill jemanden nicht leiden konnte, ließ sie es ihn spüren. Zwei Monate lang machten sich beide den Arbeitstag wo es nur ging zur Hölle, aber naturgemäß zog die kleine Angestellte den Kürzeren. Unter einem fadenscheinigen Grund flatterte ihr die fristgerechte Kündigung ins Haus. Alexander hatte ihr vorgeschlagen, den Fall vors Arbeitsgericht zu bringen, aber dazu hatte Jill keine Lust. Auch den Job bei der LKV, den er ihr dank seiner guten Beziehungen umgehend besorgte, schlug sie aus. Die Zeiten, wo sie sich mit der Berechnung von Bezügen herumärgerte, sollten endgültig vorbei sein. Jill war entschlossen, einen besseren Job zu ergattern, einen, der mit Menschen zu tun hatte und wirklich Spaß machte. Noch war sie nicht zu alt für einen beruflichen Wechsel. Ihr fehlte lediglich noch eine klare Vorstellung davon, was das für eine Arbeit sein könnte. Irgendwas beim Fernsehen oder in der Werbung vielleicht. Aber bis sie sich mit Elan in die Arbeitssuche stürzen konnte, musste sie zunächst einmal wissen, was sie wollte, und das brauchte eben seine Zeit. Wenn sie allerdings ganz ehrlich mit sich selber war, wusste sie auch, dass sie höchstens noch ein Jahr arbeiten würde, dann nämlich wollte sie ihr gesamtes Leben einer viel, viel wichtigeren Angelegenheit widmen.
In den letzten zwölf Wochen hatte Jill deutlich gemerkt, wie sehr ihr Mann es schätzte, wenn sie zu Hause war. Abends stand das Essen auf dem Tisch, Jill wusch und bügelte, saugte und putzte. Alles, was sie zuvor in Arbeitsteilung erledigt hatten, war nun zu einem einsamen Pflichtprogramm geworden, das sie sich selbst auferlegt hatte. Gegen diese Form der traditionellen Rollenverteilung war überhaupt nichts einzuwenden, fand Alexander, solange beide glücklich damit waren. Glücklich oder auch nur zufrieden war Jill allerdings nicht. Ganz und gar nicht.
Dann such dir doch einen neuen Job, und hör endlich auf, diesen Berufsberührern meine sauer verdienten Moneten in den Rachen zu werfen, dachte Alexander, wenn Jill sich beklagte, war aber zu rücksichtsvoll, um diesen Satz auszusprechen.
Das war es nämlich: Jill Marz genoss es, wenn der Friseur ihr Haar wusch, schnitt, kämmte und wenn der Föhn wie ein warmer Wind über ihre Kopfhaut streichelte. Jill liebte es, wenn sich ein anderer Mensch ausschließlich mit ihr und ihren Bedürfnissen beschäftigte. Und genau diese Funktion erfüllten der Friseur, die Kosmetikerin und auch der Masseur, den sie seit zwei Monaten dreimal wöchentlich aufsuchte.
»Aber Jill«, lächelte Alexander vermittelnd, »Du weißt doch, mein Geld ist auch dein Geld.«
»Aber Jill«, äffte sie ihn nach. »›Du kannst tun und lassen, was du willst‹. Aber glaube bloß nicht, ich würde nicht merken, wie wenig recht es dir ist, wenn ich dein Geld für Dinge ausgebe, die du für unnötig hältst. Obwohl sie nicht unnötig sind, denn letzten Endes willst ja auch du eine attraktive Frau haben.«
Auch du?, schoss es ihm durch den Kopf. Wer denn noch? Der Friseur?
Jill biss in ihr Marmeladenbrötchen und beschloss im gleichen Moment, netter zu ihm zu sein. Alexander reagierte nämlich stets auf ihre Stimmungen. War sie gut gelaunt und freundlich, so war er es ebenfalls. Sobald sie registrierte, dass er den Leitartikel zu Ende gelesen hatte, versuchte sie es erneut.
»Alexander …«
Er sah auf und fragte: »Ja, Schatz?«
»Weißt du was? Ich lasse heute meinen Yoga-Kurs sausen und wir gehen im Tapas essen.«
»Wir haben am Wochenende ziemlich viel Geld ausgegeben, Jill, wir sollten ein bisschen sparsamer sein und brav zu Hause essen.«
Jill zauberte ihr verführerischstes Lächeln auf ihre Lippen. »Alex, wir müssen so viel besprechen …«
Dann setzte sie den Augenaufschlag ein, den er so süß fand. »Außerdem ist heute der Tag … na du weißt schon!«
Was antwortete der Kerl?
»Jill, ich dachte wir hätten das Thema vorläufig abgehakt! Und überhaupt, was hat das mit einem Essen im Tapas zu tun?«
Jill nahm sich vor, nicht aufzugeben: »Alex, man muss doch in Stimmung kommen!«
»Ich muss nicht in Stimmung kommen!«, konterte er.
»Das soll wohl ein Witz sein, Alexander. Du bist nie richtig in Stimmung.«
»Tja Jill, seit mein Sexualverhalten von deinem Ovulationskalender abhängig ist …«
Das stimmte ganz und gar nicht. Ihn auf dieses Thema anzusprechen, hatte Jill sich allerdings bis zum heutigen Tag nicht getraut. Es war irgendwie zu intim, und außerdem trug Jill sich mit der Angst, dass dabei etwas ans Tageslicht kommen würde, was besser im Verborgenen bliebe. So wisperte sie lediglich: »Aber, ich möchte doch so gerne …«
»Wir haben doch bereits Hunderte von Malen darüber gesprochen, Jill, es ist zu früh für ein Kind. Wir müssen uns zuerst eine stabile Rücklage schaffen, damit wir eine sichere finanzielle Basis haben. Kinder sind teuer.«
»Ich werde spätestens nach einem halben Jahr wieder arbeiten gehen, Alex«, versuchte sie ihn zu besänftigen, obwohl sie ihr Kind so früh garantiert nicht in fremde Hände geben würde.
»Jill, mach dir nichts vor. Mit einem Säugling im Arm kannst du nicht arbeiten.«
Sie erweiterte ihre Lüge: »Wir könnten uns eine Kinderfrau besorgen. Ich bin fast siebenundzwanzig, so viel Zeit haben wir nicht mehr, Alexander.«
»Jill, das Thema nervt. Du weißt genau, dass du dann nur arbeiten würdest, um die Kinderfrau zu bezahlen.«
Alexanders Blick fiel auf seine edle Armbanduhr, die er nicht einmal zum Schlafen ablegte. »Kurz nach neun, ich muss los.«
»Ja, ja«, maulte sie. »Wenn es ernst wird, musst du gehen. Wie immer. Aber fahr nur, du fleißiger kleiner Angestellter. Ich denke heute über meine Zukunft nach. Über meine Zukunft mit einem anderen Mann. Es gibt bestimmt Tausende von Männern, die nichts lieber täten, als eine Familie zu gründen.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Alexander und grinste. »Es gibt Tausende von Männern, die nichts lieber täten als mit Jill Marz eine Familie zu gründen. Vergiss bei deinen Überlegungen aber bitte nicht, dass du bereits verheiratet bist.«
Darauf gab es keine Antwort.
Alexander stand auf und griff nach seinem Schlüssel, der ordentlich auf dem Sideboard lag.
»Bis heute Abend, Massa«, spottete sie, aber auch dieser Spaß ging daneben.
»Mach es uns nicht so schwer, Jill, ja?«
»Nein«, antwortete sie ernst. »Tschüss denn.«
Er warf sich das Jackett über die Schultern und schloss leise die Wohnungstür.
Da stand sie nun, bedrängt von dem Gefühl, alles falsch zu machen. Es stimmte, sie war unzufrieden und fühlte sich nicht ausgelastet. Wie an jedem Morgen nahm sie sich vor, am Samstag auf jeden Fall die Stellenanzeigen durchzusehen und sich so bald wie möglich einen Termin beim Arbeitsberater geben zu lassen. Aber im Grunde fehlte ihr die Energie dazu. Mit ihrem angeschlagenen Selbstbewusstsein war es schlichtweg unmöglich, sich einem potenziellen Arbeitgeber als Beste aller Bewerberinnen zu präsentieren. Da konnte man allenfalls zum Friseur, zum Masseur und zur Kosmetikerin gehen und sich darüber freuen, dass man gut aussah und dass wenigstens diese Leute einen äußerst freundlich und zuvorkommend behandelten. Wie hatte sie es früher geliebt, gelassen und mit Muße ihr Gesicht zu betrachten, während der Friseur an ihren Haaren herumschnippelte. Inzwischen verbrachte sie viel Zeit vorm Spiegel. Viel zu viel. Noch mehr Zeit verbrachte sie mit den ausgefeilten Berechnungen ihres Monatszyklus. Aber es klappte trotzdem nicht.
Die täglichen Arbeiten im Haushalt waren schnell erledigt. Ihre anfänglich raffinierten Menüs waren deftigen Durchschnittsgerichten gewichen, die Alexander ohnehin lieber aß als die ausgefeilten Haute-Cuisine-Menüs aus Elle, Vogue und Mademoiselle.
Ihre wenigen Freundinnen arbeiteten tagsüber und waren ihr bei diversen abendlichen Treffen in den letzten Wochen mit ihrem unsäglichen Geplapper über ihre ach soo interessanten, aber auch sooo stressigen Jobs ziemlich auf die Nerven gegangen. Die einzige Ausnahme bildete ihre Schwester Meta. Aber Meta schrieb an ihrer Doktorarbeit, arbeitete an der Uni und hatte viel weniger Zeit für Jill und ihre Probleme als früher. Lediglich montags gingen die beiden Frauen mit schöner Regelmäßigkeit gemeinsam zum Yoga-Kurs. An den meisten anderen Abenden zog Jill es vor, zu Hause zu bleiben und sich mit Alexander vor dem Fernseher zu langweilen. Oder besser gesagt: Während sie sich durch die Programme zappte, las der bildungsbeflissene Alexander ein gutes Sachbuch.
Ihre ehemals beste Freundin Ulrike hatte Alexander vor knapp fünf Jahren im Ortsverein der FDP kennen gelernt, wo Alexander sich für lokale Belange engagierte, und ihr in den allerhöchsten Tönen von diesem Mann vorgeschwärmt: »Dieser Kerl ist einfach vollkommen. Gut aussehend, durchtrainiert, höflich, liebenswürdig, weltgewandt – und er kann zuhören, Jill, wirklich zuhören. Das wird der Vater meiner Kinder, Jill, so viel ist sicher.« Ulrike war hin und weg. Ihre gesamte Energie investierte sie fortan in die Eroberung ihres Traumprinzen. Der jedoch gab sich spröde, obwohl er mit Ulrike ins Kino, ins Theater und auch zum Essen ins Restaurant ging.
Bei Ulrikes Geburtstagsparty – die sie, um Alexander zu beeindrucken, als gewaltiges venezianisches Spektakel mit Kostüm- und Maskenzwang aufgezogen hatte –, durfte auch Jill dieses männliche Wunder in Augenschein nehmen. Überraschenderweise steuerte Alexander schon nach kurzer Zeit zielsicher auf sie zu, was ihr gewaltig imponierte, weil Ulrike nach gängigen Kriterien noch attraktiver war als sie. Er drückte ihr ein Glas Prosecco in die Hand und begann umgehend zu plaudern. Sympathisch hatte sie ihn gefunden, ja, und auch ziemlich ansehnlich. Nicht mehr und nicht weniger. Zum ersten Tanz zog er sie in seine Arme, und weil Jill das zornige Funkeln in Ulrikes Augen nicht entgangen war, beschloss sie bereits nach zwei Stunden, sich zu verabschieden und die Party zu verlassen. Von Ulrike zu verabschieden, wohlgemerkt, nicht von Alexander Marz. Aber der aufmerksame Mann hatte sie im Auge behalten und folgte ihr in den üppig dekorierten Wohnungsflur. »Willst du schon gehen?«
»Ich muss«, hatte sie geantwortet.
»Dann gehe ich auch«, lächelte Alexander und griff nach seiner Jacke.
»Das kannst du nicht machen«, stammelte sie. »Ulrike hat …«
Alexander hatte sie einfach unterbrochen. »Ich habe meine Wahl getroffen, Jill.«
An diesem Abend war es ihr gelungen, ihn abzuschütteln, indem sie schnell in ein Taxi gesprungen war. Aber am nächsten Tag hatte er ihre Telefonnummer herausgefunden, und sie hatte seine Einladung zum Essen angenommen, obwohl sie sich überrumpelt fühlte und es ihr überhaupt nicht gefiel, Ulrike zu hintergehen.
Inzwischen war Jill davon überzeugt, dass Alexander sie damals über den Tisch gezogen hatte. Dieses selbstsichere Gebaren und sein massives Vorgehen ohne Rücksicht auf Verluste hätte sie schon bei der ersten Begegnung stutzig machen sollen.
Allerdings war dieser erste Abend mit dem gut aussehenden und redegewandten Alexander ausgesprochen nett verlaufen. Und von diesem Tag an hatte Jill Staudt einen neuen Freund – und eine alte Freundin weniger.
Nach vier Monaten bat Alexander sie, seine Frau zu werden, und in einer romantischen Anwandlung stimmte Jill zu. Obwohl sie da natürlich längst wusste, dass ihr zukünftiger Gatte ein ausgesprochen lausiger Liebhaber war. Sex gehörte schlichtweg nicht zu seinen Hobbys. Man hatte ihn eben. Am besten einmal im Monat nach einem ausgedehnten Bad. Und wenn es schnell ging, war das in Alexanders Augen kein Fehler. Man war den biologischen Druck losgeworden, hatte sich sozusagen entlastet, und genau das war für ihn der eigentliche Sinn und Zweck des Beischlafs. In der Brigitte hatte Jill letzthin zufällig gelesen, dass Männer seiner Altersgruppe alle sechzig Sekunden an Sex denken. Auf Alexander Marz traf das keinesfalls zu. Meistens kamen derartige Gelüste ihm nur in den Sinn, wenn eine Frau ihn durch eine erotisch eindeutige Aufforderung anmachte.
Jill, die mit anderen Männern vor ihm durchaus ihren Spaß gehabt hatte, tröstete sich im ersten Jahr ihrer Ehe damit, dass ihr Mann lernfähig und vielleicht sogar lernwillig wäre und sie ihm alle wesentlichen Dinge beibringen könne. Inzwischen hatte sie es sich selbst eingestehen müssen: Alexander war unbelehrbar.
Dabei hatte sie ihn einige Wochen vor der Hochzeit mit dem Liebesalphabet getestet, einem unfehlbaren Gradmesser für die sexuelle Vorstellungskraft und Leistungsfähigkeit des jeweiligen Liebhabers. Eine sehr erfahrene Freundin hatte ihr davon erzählt, und Jill fand den Wahrheitsgehalt des Tests unschlagbar.
Man sagte im Stillen das Alphabet auf, und der Liebesgefährte musste wie beim allseits beliebten Stadt-Land-Fluss »Stopp« sagen. Passend zu dem Buchstaben, der laut ausgesprochen wurde, musste er einen gewagten Ort nennen, an dem das Liebesspiel stattfinden konnte oder, als Variante, eine sexuelle Wunschvorstellung äußern. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er einen Ort nennen sollte. Und Jills Versuch, Alexander zu testen, verlief folgendermaßen. Jill warf ein »A« in den Raum und machte es ihm leicht, indem sie auf sein gemurmeltes »Stopp« mit »S« antwortete.
Gelangweilt lächelnd sagte Alexander »Sex«.
Jill beschloss, ihm eine weitere Chance einzuräumen, und schmachtete zärtlich: »Ist das ein Ort, Liebling?«
»Das nicht«, erwiderte Alexander, nicht im Geringsten irritiert.
»Wir versuchen es noch einmal, Schatz«, meinte Jill, die zu dieser Zeit noch sehr geduldig war. Erneut gab sie ihm ein »S« vor.
»S… ähmm S«, überlegte Alexander. Er brauchte so viel Zeit, dass Jill zu der felsenfesten Überzeugung gelangte, er würde mit einer glänzenden Idee aufwarten.
Da lächelte Alexander sie an wie ein Schulkind und sagte: »Schlafzimmer.«
Damit wusste Jill Bescheid. Ihr Glaube daran, dass Menschen, die keine Phantasie haben, auch nicht zärtlich sein können, bewahrheitete sich in den nachfolgenden Monaten.
Nun trug sie seit fast vier Jahren den eher lächerlichen Nachnamen Marz, und momentan fühlte sie sich wie das ewig missmutige Anhängsel eines erfolgreichen Mannes. All die Eigenschaften, die ihn zu einem richtigen Kerl machten, wie Ulrike es damals ausgedrückt hatte, gingen zu ihren Lasten. Die gute Ulrike hatte zu ihrem eigenen Glück im Gegensatz zu ihr nie erfahren müssen, was Alexander zu einem richtigen Kerl fehlte. Hartnäckig, zielorientiert, unnachgiebig, fleißig und gefühllos, das war er.
Aber trotz seiner offenkundigen Mängel schaffte Jill es einfach nicht, aus seinem übermäßig langen Schatten herauszutreten, und verlor jeden Tag ein bisschen mehr von ihrer ursprünglichen Kraft. Alles war falsch gelaufen. Sie hatte sich einfangen lassen, und es existierte nicht einmal die minimale Aussicht darauf, dass er sich ändern konnte oder ändern wollte.
Seit letztem Sommer versuchte sie, eine andere Form von Sinn in ihr Leben zu bringen. Wenn sie ein Kind bekäme, wäre ihr Leben ausgefüllt, und dann hätte sie auch jemanden, mit dem sie zärtlich sein könnte. Denn im Grunde fehlten ihr die liebvollen Berührungen wesentlich mehr als der Sex.
Aber auch gegen die normalste Sache der Welt sträubte Alexander sich. Ich könnte längst schwanger sein, dachte Jill wie so oft. Seit Monaten schon, seit Jahren sogar. Früher haben wir auch nicht aufgepasst. Wenn das Kind erst mal da wäre, würde Alexander sich bestimmt freuen und ein guter Vater sein. Das war bei den meisten Männern, die kein Kind wollten, ganz genauso. So stand es zumindest in den Frauenzeitschriften, die Jill bei ihren Friseurbesuchen verschlang. Außerdem glaubte sie zu wissen, dass Alexander sich im Grunde auch nach einem Kind sehnte, sonst würde er das Thema Verhütung gewiss nicht ausschließlich in ihre Hände legen. Obwohl er da seit neuestem eine andere Methode anwendete, die Jill ganz und gar nicht behagte.
Alexander behauptete zwar, er würde den Coitus interruptus aus hygienischen Gründen bevorzugen, aber Jill ahnte, dass es ihm nicht hur um die Fleckenlosigkeit der Bettwäsche ging. Und exakt aus diesem Grund wurde sie vermutlich nicht schwanger.
Jeden Monat gab sie sich dem äußerst schwierigen Unterfangen hin und verführte ihren Mann punktgenau am Tag ihres Eisprungs. Am einzigen Tag, wo es funktionieren konnte, wie ihr Frauenarzt behauptete. Nicht am Tag vorher, nicht am Tag nachher, sondern genau an diesem Tag. Er hatte ihr übrigens auch mitgeteilt, dass mit ihr gynäkologisch alles in Ordnung sei: »Frau Marz, es wäre gut, wenn Ihr Mann einen Urologen aufsucht, um die Anzahl und die Beweglichkeit seiner Spermien untersuchen zu lassen.«
Alexander beim Urologen? Unvorstellbar! Warum begriff dieser Mann bloß nicht, dass erst ein Kind eine Familie komplett machte, wo er doch schon in so vielen anderen Hinsichten versagte? Für Jill stand fest, dass sie ihr Leben keinesfalls als kinderlose Frau fristen wollte, und wer konnte wissen, ob es in ein paar Jahren klappen würde? Ein Leben lang arbeiten? Und wofür? Für nichts! So wie ihre Schwester Meta, die keinesfalls und nie und nimmer ein Kind haben wollte, wie sie in der Vergangenheit bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betont hatte, würde Jill keinesfalls leben wollen. Bei aller schwesterlichen Liebe fand sie nämlich, dass Meta sich schon seit einiger Zeit relativ zickig verhielt. Intellektuell oder irgendwie altklug war ihre ältere Schwester, seit Jill denken konnte, aber jetzt hatte sie außerdem so was Verbissenes. Da war so ein Zug um ihren rechten Mundwinkel, fast ein bisschen verhärmt.
Alexander fand das allerdings nicht. »Deine Schwester ist eine tolle Frau, Jill. Klug, attraktiv und unterhaltsam«, hatte er schon mehr als einmal gesagt.
Und das grenzte im Grunde an Schwärmerei: »klug, attraktiv, unterhaltsam.« Dieser Chauvi, dachte Jill, sollte er sich doch mit Meta zusammentun, wenn er sie so klasse fand, dann könnten sie gemeinsam alt werden und sich für ihre jahrzehntelang gescheffelten Penunzen im Altenheim zu Tode pflegen lassen. Jills Leben würde anders aussehen. Glücklich, zufrieden, erfüllt. Ja, erfüllt! Nur Kinder bringen das Herz zum Lächeln, hatte ihr Ausbilder, Fred Kaiser, gesagt, und der wusste, wovon er sprach, weil er vier liebreizende Kinderchen hatte. Schade eigentlich, dass der Gute bereits verheiratet war. Denn das war ein Mann, wie er im Buche stand. Erfolgreich, charmant und gebildet. So einen Mann müsste man haben, nicht so eine kinder- und körperfeindliche Nulpe, dachte Jill und beschloss, ernsthaft auf Brautschau zu gehen, wenn Alexander sich nicht in naher Zukunft um sie und die aktive Familienplanung kümmern würde.
Jill starrte in den Badezimmerspiegel und sah hinter der schönen Fassade die ersten Anzeichen des zunehmenden Verfalls. Und die Angst, spätestens mit fünfzig alle paar Monate in depressive Zustände zu verfallen wie ihre Mutter, streckte ihre mächtigen Fühler nach ihr aus. Ich muss mich zusammennehmen, beschloss Jill, und mich aus diesem Netz befreien. Am liebsten würde ich das Rad der Zeit zurückdrehen und einfach dort wieder anfangen, wo ich vor meiner Ehe aufgehört habe.
Sie beschloss, ihre drei Jahre ältere Schwester um Rat zu fragen. Wenn die kluge Meta ihr empfehlen würde, sich von Alexander scheiden zu lassen, damit sie sich – solange noch Zeit war – auf die Suche nach einem geeigneten Kindsvater machen könnte, würde sie alle notwendigen Schritte in die Wege leiten. Und wenn nicht? Tja, dann würde sie sich etwas Anderes überlegen, um Schwung in ihr Leben zu bringen. Aber nun würde sie zunächst duschen, sich schick machen, zum Friseur gehen und vielleicht dieses wunderbare Duschgel von KL kaufen.
Meta
Kaum war ich oben in meiner hübschen kleinen Wohnung angelangt, warf ich mich auf das Sofa, schob mir mein Lieblingskissen unter den Kopf und ließ das Wochenende vor meinem geistigen Auge Revue passieren, denn die Erinnerung ist schließlich immer noch die beste Form der Verarbeitung. Also, was hatte ich in den vergangenen beiden Tagen erlebt?
Pünktlich um 16.15 Uhr war mein Zug in Hannover eingelaufen. Am Telefon hatte ich Barbaras Stimme nicht sofort erkannt, rein äußerlich gab es allerdings nicht den geringsten Zweifel. Da stand Barbara Wollmacher – und erstaunlicherweise hatte sie sich in den letzten sieben Jahren kaum verändert. Ihre langen Haare waren fein säuberlich aufgesteckt, blaue Schatten deckten das Augenlid von der Wimper bis zur Braue, und dieses kleine türkisfarbene Kostüm hätte sie, wenn sie damals das Geld für dieses bestimmt nicht preiswerte Kleidungsstück gehabt hätte, auch vor sieben Jahren tragen können. Bereits bei unserer ersten Begegnung erdrückte sie mich beinahe. Außerdem flössen Barbara wahre Sturzbäche der Wiedersehensfreude aus den Augen.
Mit einem weißen Golf, natürlich ein Diesel (»Weißt du, Michael sagt immer, es geht nichts über einen Diesel«), fuhren wir zu ihrer Wohnung. Kastanienstraße, nördlicher Stadtrand, ein hässliches Dreifamilienhaus, dritter Stock, 6 5 Quadratmeter, bürgerliches Ambiente. Barbara und Michael hatten sich eingerichtet. Man merkte, dass die beiden seit geraumer Zeit einer geregelten Berufstätigkeit nachgingen, und es war unübersehbar, dass ihre Wohnung eine langsame, aber stetige Entwicklung vom Ikea-Ambiente zum Stilmöbel-Design hinter sich gebracht hatte.
Barbara und Michael arbeiteten bei derselben Großhandelskette. (»Ach, weißt du, wir haben uns damals bei einem Lehrgang kennen gelernt. Michael saß in der dritten Reihe, und ich fand ihn von Anfang an total süß.«) Am achten Mai vor genau acht Jahren hatten sie zum ersten Mal miteinander gesprochen, erfuhr ich, obwohl ich es so genau gar nicht wissen wollte. Eine halbe Stunde später hatte ich sogar in Erfahrung gebracht, dass Michael aus »ganz kleinen Verhältnissen« stammte, (»Sein Vater ist Schuster, weißt du«), und ich war genauestens darüber informiert, wie hart Michael schon während seiner Schulzeit gearbeitet hatte. Zeitungen austragen und so.
Ein hübscher Junge, dieser Michael, hatte ich spontan gedacht, als ich ihren Freund dann kennen lernte, aber viel mehr konnte ich selbst nach diesem Wochenendbesuch nicht über ihn sagen; denn Michael durfte in der Regel nur bestätigen, was Barbara zur Sprache brachte.
Barbara kochte Kaffee für uns drei. Unter selbstbezüglichen Lobpreisungen, die halbstündlich mit dem Satz »Sag doch auch mal was, Michael« garniert wurden, präsentierte sie ihren selbst gebackenen Kuchen. Man hätte glauben können, es handele sich hierbei um ihre Abschlussprüfung im Konditoreiwesen. Michael begriff nicht sofort, dass er sich zur Qualität des Kuchens äußern sollte, und fragte, was ich denn so treiben würde.
Barbara guckte den Mann ihres Herzens strafend an und bellte streng: »Michael, das hab ich dir doch schon hundert Mal erzählt, Meta studiert Biologie.«
Auf diese Weise wurde der arme Junge bereits bei seinem ersten ernsthaften Versuch, sich an unserem Gespräch zu beteiligen, in seine Schranken gewiesen. Ich sagte nichts, wunderte mich allerdings darüber, dass Barbara glaubte, ich würde nach all den Jahren immer noch studieren. Und just in diesem Moment erinnerte ich mich plötzlich auch wieder an ihre Reaktion, als ich kurz vor dem Abitur davon sprach, Biologin werden zu wollen. »Was, so ein stinklangweiliges, staubtrockenes Fach wie Bio willst du studieren? Ach, Meta, das würde ich mir aber noch mal überlegen!«
Ich bin mir relativ sicher, dass ich Barbaras Worte bezüglich meiner Berufsvorstellung nahezu wortgetreu im Gedächtnis habe. Als ich auf Bio beharrte, war das Thema »Und was wirst du?« für alle Zeiten beendet. Wir sprachen über Barbaras Lehre oder ehemalige Freunde und Freundinnen, aber über mein Studium sprachen wir nie wieder. Wenn Barbara allerdings geahnt hätte, dass ich schon damals wild entschlossen war, Kriminalbiologin zu werden, wäre sie bestimmt neugieriger gewesen. Die Beschäftigung mit genetischen Fingerabdrücken und die Analyse von Insekten auf Leichenfunden ist zwar manchmal nicht besonders appetitlich, dafür aber hochinteressant. Die unscheinbarsten Hinterlassenschaften am Tatort, wie ein winzigkleiner Blutspritzer, ein einzelnes Haar, ein kleiner Tropfen Speichel oder eine minimale Menge Sperma, können einen Täter eindeutig überführen. Aber mir mangelte es selbst bei unseren seltenen Telefonaten an der Lust, Barbaras Interesse durch aufregende Fallbeispiele zu wecken. Außerdem hatte ich im ersten Semester ein paar nette Leute kennen gelernt, mit denen ich zunehmend mehr Zeit verbrachte und verbringen wollte. Barbaras Michi-Geschichten und ihr Großhandelsgewäsch langweilten mich zunehmend.
Für den ersten Abend in Hannover war ein Essen bei Barbaras Lieblingsitaliener vorgesehen: »Du, das ist der beste Italiener in ganz Hannover. Giovianni macht eine Pizza, von der träumst du noch fünf Tage später.«
Ich träumte nie vom Essen, kam aber wiederum nicht dazu, einen Kommentar abzugeben, denn Barbaras Augen glitten musternd über mein Outfit.
»Willst du dich etwa nicht umziehen, Meta?«
Nein, wollte ich nicht. Ich schüttelte verneinend den Kopf.
Michael erhob sich vom Sofa, und sein unvermitteltes Aufstehen erübrigte eine ausführliche Bemerkung zu diesem Thema.
Barbara wendete sich ihrem Liebsten zu und erklärte unmissverständlich: »Du kannst sitzen bleiben und die Sportschau gucken, das wird heute nämlich ein klassischer Mädchenabend.«
Gespannt wartete ich auf Michaels Reaktion.
Da antwortete er: »Ja, ja ich weiß, ich will nur schnell aufs Klo.«
Und wie reagierte Barbara? Kaum zu glauben, aber sie schnaubte wahrhaftig: »Michi, das musst du dir für später aufheben. Dein Herzliebchen muss sich jetzt zuallererst ein bisschen aufmischen, damit auch andere Männer was von ihrer Schönheit haben.«
»Aber wir gehen doch auch sonst immer zusammen …«, erwiderte Michael zaghaft.
Ich verkniff mir das Lachen.
»Pssscht, Michi«, hatte das Bärbelchen geflötet. »Keine Intimitäten ausplaudern.«
Mich schaudert es jetzt noch bei der Vorstellung, dass Michael auf der Klobrille sitzen durfte, während Barbara ihre Augenlider bläute.
Dann hatte Michael uns mit dem Golf in die Innenstadt gefahren, damit Barbara etwas trinken konnte. Auf der Fahrt stellte ich überraschenderweise fest, dass ich mich in Hannover nicht mehr auskannte, obwohl ich dort zehn wichtige Jahre meines Lebens verbracht hatte. Mein Vater war 1978 nach Hannover versetzt worden, er sollte hier eine Bankfiliale leiten. Im Jahr darauf starb er an einem Herzinfarkt. Mutter entschloss sich, solange hier zu bleiben, bis Jill und ich Abitur gemacht hätten, damit wir nicht schon wieder umgeschult werden mussten, und dann zurück nach Vechta zu ziehen, wo ihre beiden Schwestern lebten. So war es dann auch. Ich machte das Abi, zog nach Köln, und knapp vier Jahre später war auch Jill mit der Schule fertig und wollte ebenfalls unbedingt nach Köln ziehen. Gemeinsam hatten wir drei die große Wohnung ausgeräumt, die Möbel verteilt und waren anschließend mit zwei gemieteten Umzugswagen in verschiedene Richtungen gefahren …
Giovanni begrüßte uns mit Handschlag. »Das ist also deine beste Freundin aus Köln. Kompliment, sie ist beinahe so hübsch wie du.«
Damit war alles genau wie früher, aber ich wunderte mich nicht mal darüber, dass Barbara sogar ihren Lieblingsgastwirt mit unwichtigen Details aus ihrem Privatleben versorgte.
Als wir dann endlich mit unserem Aperitif am Tisch saßen, fragte Barbara zu meinem grenzenlosen Erstaunen, was mein Studium machen würde. Ich teilte ihr kurz mit, dass ich seit zwei Jahren an meiner Doktorarbeit schreiben, diese im kommenden Jahr abschließen würde und eine halbe Forschungsstelle an der Uni hätte.
»Kannst du denn davon überhaupt leben? Oder gibt deine Mutter dir noch was dazu?«, fragte sie wissbegierig.
Ach Bärbelchen, dachte ich, wenn du wüsstest. Lehraufträge an der Universität sind zwar rar, aber auch ganz gut bezahlt.
»Ja«, antwortete ich schlicht.
Da wollte sie es genau wissen.
»Und wie viel verdienst du?«
Ich sagte es ihr, und Barbara leitete ihre maßlose Verwunderung mit einem »Nein!« ein.
»Doch, doch«, erwiderte ich bescheiden lächelnd.
»Das ist aber ziemlich ungerecht«, mahnte Barbara und zog die Augenbrauen hoch. »Dann verdienst du nämlich genauso viel wie ich, obwohl du garantiert weniger arbeitest als ich, und ich schon viel länger im Job bin als du.«
Ich ersparte mir, sie darauf hinzuweisen, dass ich nur eine halbe Stelle hatte, also im Grunde beinahe doppelt so viel verdiente wie sie. Mir war gleich klar, dass Michael noch in der gleichen Nacht im Bett zugeflüstert bekommen würde, dass ich keine arme Studentin, sondern eine gut verdienende Doktorandin war.
Barbaras Frageeifer zum Thema Beruf war damit erschöpft. Lächelnd fragte sie noch nach, ob ich einen Freund hätte, was ich verneinte, worauf sie nahtlos zum Schwerpunkt des Abends, »mein Michi«, überging und Michaels Vor- und Nachteile auf dem Tischtuch ausbreitete.
Während ich eine eher durchschnittliche Lasagne verzehrte, berichtete sie mir vertraulich von ihrem Kinderwunsch und von Michaels Ängsten, was die Gründung einer Familie betraf.
»Ach, weißt du Metalein, er stammt aus einer kinderreichen Familie (und war der Älteste), und als Ältester (wusste ich es doch!) musste er immer auf die Kleineren aufpassen. Außerdem waren sie ziemlich arm, weil der Vater als Schuster natürlich nicht viel verdiente, und deshalb meint Michael, es wäre besser, wenn wir noch ein paar Jahre warten. Ich will aber nicht mehr warten. Schließlich werde ich in sechs Wochen Dreißig, und ich möchte nicht aussehen wie eine Oma, wenn ich mein Kind zur Schule bringe. Außerdem heiße ich lang genug Wollmacher, Michaels Nachname ist viel klangvoller …«
Sie unterbrach sich: »Sag mal Meta, willst du eigentlich Kinder?«
»Keinesfalls«, log ich energisch.
»Na ja, dachte ich mir«, entgegnete Barbara. »Aber ich will ein Kind und zwar bald.«
»Ein Mädchen«, ergänzte ich.
»Natürlich ein Mädchen. Mädchen sind viel anhänglicher als Jungs.«
Auch diesen Satz ließ ich unkommentiert. Aber wenn sie jetzt einen einzigen Satz über unseren alten Kindertraum, von meinem Paul und ihrer Virgine, gesagt hätte, hätte ich ihr das ganze vorhergegangene Geplänkel verziehen.
Aber Barbaras Sinn für romantische Erinnerungen war wenig ausgeprägt; sie ging stracks wieder zu dem Sujet »Barbara als Mutter« über. Ich erfuhr, dass sie nicht mehr arbeiten wollte, »wenigstens bis der kleine Schatz in der Schule ist«, und entwickelte vollstes Verständnis für sämtliche Befürchtungen, die Michael bezüglich der Familiengründung hegte.
Gegen Mitternacht gähnte ich auffällig, aber erst mein in Worte gefasster Wunsch, nun schlafen gehen zu wollen, weckte Barbaras Aufmerksamkeit.
»Was, du bist müde? Ausgerechnet du, wo du doch früher immer so eine Nachteule warst.«
Keine Frage, sondern eine Feststellung!
»Ja, Bärbelchen«, scherzte ich. »Wir werden alle nicht jünger.«
Diesen Satz fand sie komisch, und mit einem kurzen Wink lockte sie Giovanni an unseren Tisch, der sich bald darauf mit drei Grappas und breitem Grinsen näherte. Er zwängte seine italienische Fülle neben Barbara, lobte meinen schönen Mund, war aber ansonsten in der nächsten halben Stunde ausgiebig damit beschäftigt, Barbara den Hof zu machen. Und ich begriff, weshalb das Barbaras Lieblingslokal war. Kleine Aufmerksamkeiten von Männern waren für Barbara so etwas wie ein Lebenselixier. Auf diese Weise holte sie sich die Bestätigung, die sie brauchte. Den Nektar des Selbstbewusstseins. Und mit so einem wie Giovanni ließ es sich eben gut flirten. Allerdings ist ein Mann wie Giovanni für eine Frau mit Grundsätzen absolut ungefährlich. Denn Barbara würde sich selbstverständlich niemals mit einem Ausländer einlassen.
Also ich habe wirklich nichts gegen Ausländer, Meta. Als platonische Freunde, ja. Von Herzen gern sogar. Aber als Lebensgefährten? Ich bitte dich! Im Leben nicht. Du weißt doch, die Kulturkreise sind viel zu unterschiedlich. Ich will ja nicht, dass meine Kinder unter dem grassierenden Rassismus leiden müssen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie genau das gesagt hätte, und deshalb hatte ich beinahe Lust, sie auf dieses Thema anzusprechen. Aber dann ließ ich es doch, wozu sollte ich mich mit Barbara zu später Stunde auf sinnlose Diskussionen einlassen?
Gegen zwei Uhr durfte ich mich endlich auf das von Michael gemütlich hergerichtete Sofa flüchten. Ich kuschelte mich unter das Plumeau und sann auf Ausreden. Wie konnte ich plausibel erklären, dass ich einen Tag früher als geplant zurückfahren musste? Leider fiel mir nichts ein, und ich nahm mir vor, den nächsten Tag einfach über mich ergehen zu lassen, Barbara und Michael vormittags zu einem Museums- und abends zu einem Theaterbesuch zu überreden und alle meine Kräfte dafür einzusetzen, Barbara möglichst wenig Gelegenheit zu – wie nannte sie es? – intimen Gesprächen unter Frauen zu geben.
In einer Hinsicht war es mir sogar gelungen, meinen nächtlichen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Sonntags waren wir im Museum. Zwar nur kurz, aber immerhin. Eine Stunde der ruhigen Bildbetrachtung war mir vergönnt. Ein Theaterbesuch kam natürlich nicht in Frage.
»Du bist ja nicht so weit gefahren, um wildfremden Menschen zuzuhören, Metalein, oder?«
Nein, natürlich nicht, Bärbel! Also kochte der brave Michi am zweiten Abend für uns. Und das Essen war wirklich lecker. Ein häuslich-talentierter Duckmäuser. Es stellte sich heraus, dass der hübsche Michael ziemlich nett und auch nicht blöd war, viel zu schade für Barbara.
Jedenfalls habe ich die Stunden gezählt. Jede Minute hätte ich auf meiner silbernen Armbanduhr verfolgen wollen, wenn ich nicht bereits im Verlauf meiner kleinstädtischen Jugendjahre gelernt hätte, dass es ungezogen ist, ständig auf die Uhr zu starren.
Ich zog das Kuschelkissen unter meinem Kopf hervor und knuddelte es mit beiden Händen. Wieder einmal hatte ich etwas begriffen.
Man kann diese Mädchenfreundschaften nicht pflegen. Time goes by. Die Zeit vergeht. Die Menschen, die Dinge, die Situationen verändern sich. Lösungen sind angesagt. Das heißt überall da, wo es keine Lösungen gibt, muss es Loslösungen geben. Abtrennungen. Verarbeitung der Vergangenheit. Die neuen Geschichten haben längst begonnen und fordern ihre Rechte. Das Verlassen von Menschen ist legitim. Innerliche und äußerliche Abschiede sind erlaubt. Denn jeder kann tun und lassen, was er will. Ich lebe mein eigenes Leben, und dort ist kein Platz für überholte Freundschaften. Auch wenn diese Erkenntnis oft schmerzhaft ist.
Ich stellte das Sofakissen an seinen ursprünglichen Platz zurück und machte in Gedanken ein Häkchen hinter meine hannoveranischen Wochenenderlebnisse. Automatisch kam mir Jens in den Sinn. Was hatte meine kleine Schwester gesagt, als ich ihr erzählt hatte, dass Jens mich wegen einer anderen Frau verlassen wollte?
»Sei bloß froh, dass du den loswirst! Der ist nun wirklich ziemlich beschränkt. Dumm, stark, wasserdicht, wie man so schön sagt.«
Und um mich aufzuheitern, hatte Jill mir einen Witz erzählt: »Pass auf, Meta! Ein hübscher blonder Mann trifft beim Joggen eine Fee. Die lächelt ihn verheißungsvoll an und sagt, er habe drei Wünsche frei. Der Typ überlegt und wünscht sich dann eine Flasche Bier, die niemals leer wird. Zack, hat er die Flasche in der Hand, trinkt daraus – und tatsächlich, sie füllt sich wieder. Der Schönling ist begeistert. Da fragt ihn die Fee nach seinem zweiten Wunsch. Wieder denkt er längere Zeit nach und antwortet dann: Ich nehme noch so eins.«
Jill wartete auf mein Lachen, das ausblieb, um dann zu ergänzen: »Und genau so einer ist Jens!«
»Aber Jens trinkt so gut wie nie Alkohol«, antwortete ich irritiert.
»Mensch, Meta, du bist so was von humorlos«, schleuderte mir meine kleine Schwester entgegen, und weil ich mich ohnehin blöd und unverstanden fühlte, hätte mich diese taktlose Bemerkung fast zum Heulen gebracht.
Inzwischen hatte ich den Witz verstanden, und an diesem Montagmorgen war ich erstmals froh darüber, dass Jens mir die Entscheidung aus der Hand genommen hatte. Nicht von so einem Ignoranten abhängig sein zu müssen, konnte sich nur positiv auf mein Leben auswirken. Jetzt war Platz für etwas Neues – und beim nächsten Mal würde ich mich garantiert nicht auf einen derart gefühllosen Typen einlassen. Ich schwor mir, mich nie wieder so dumm zu verhalten und einen liebenswerten Mann durch blöde Vorschläge zu vergrätzen, wie ich es bei Bernd getan hatte. Es gab richtige, tief greifende und tief gründende Liebesgeschichten. Das spürte ich beispielsweise jedes Mal, wenn ich den jungen August Perle und seine Freundin Katharina Legrand im Haus traf, die sehr liebevoll miteinander umgingen. Und auch bei Klara Merker und Tara Schrat war unübersehbar, dass die beiden Frauen ein perfekt aufeinander eingespieltes Liebespaar waren. Die Blicke, die sie einander schenkten, obwohl sie sich gerade mit einer dritten Person unterhielten, konnten einen fast neidisch machen. Eine solch innige Vertrautheit war selbstredend auch zwischen Mann und Frau möglich. Zwischen mir und dem großen Unbekannten.
Für mich sollte jedenfalls umgehend ein neues Zeitalter anbrechen. Ich hatte zwei Trennungen und ein grauenhaftes Wochenende überlebt. Ich war wieder zu Hause und in diesem Moment einigermaßen zufrieden mit mir und der Welt.
Damals konnte ich natürlich noch nicht wissen, dass mich alle Geschehnisse der nachfolgenden Wochen wesentlich stärker aus meiner altvertrauten Lebensbahn werfen würden, als das Geplänkel mit Bärbel, das den Schrecken einleitete.
Das Nachdenken hatte mich hungrig gemacht. Ich erhob mich und ging zum Kühlschrank. Weil ich dort nur eine Tube Mayo und eine alte Packung Speisequark fand, beschloss ich, zum Bäcker um die Ecke zu gehen, um mir sämtliche Zutaten für ein ordentliches Frühstück zu besorgen. Dann würde ich den Rest des Tages geruhsam verlaufen lassen.
Klara Merker und Tara Schrat
»Jetzt lass doch endlich die Katze in Ruhe, und komm wieder ins Bett.«
Klara warf das Laken zurück und streckte erwartungsvoll ihre Arme aus.
»Ich gehe schnell unter die Dusche, dann komme ich, okay?«
»Diese ewige Wascherei«, stöhnte Klara. »Steh doch zu deinem Körper und diesen wunderbar wohlriechenden nächtlichen Ausdünstungen. Komm her, Muckelchen, ich will deine Träume riechen.«
»Wenigstens Zähneputzen, Klara, ja?«
»Und mit Mundwasser gurgeln; husch, husch, die Achselhöhlen auswischen und die reizende Scham reinigen …«
»Du bist unmöglich, Klara Merker, weißt du das?«
»Natürlich weiß ich das, mein Goldstück«, entgegnete Klara. »Schließlich und endlich sagst du mir das mindestens dreimal täglich.«
»Okay, überredet und bereit zum ungeputzten Angriff. Wappne dich, und mach dich auf etwas gefasst, mein Herzliebchen.«
Tara stürzte sich aufs Bett und umarmte Klara mit einer Heftigkeit, die man diesem zierlichen Wesen auf den ersten Blick garantiert nicht zugetraut hätte.
»Ich liebe dich, Tara«, flüsterte Klara nun vollends besänftigt.
»Ich liebe dich auch, Klara. Wie der Baum die Blätter, der Himmel die Sterne und das Meer die Wellen.«
Das war der kitschige, kleine Kindervers mit dem die beiden sich ihre Liebe tagtäglich aufs Neue bestätigten. Ich brauche dich, hieß das, ich kann ohne dich nicht sein, ohne dich bin ich ein Nichts – nein, weniger als ein Nichts. Die beiden Frauen waren eine Symbiose eingegangen. Tara und Klara. Klara und Tara. Die Ähnlichkeit ihrer Namen amüsierte sie und führte zu ständigen Reimspielereien, an denen beide großen Spaß hatten.
»Tara und Klara wandern durch die Sahara, Tara und Klara spielen Scarlett O’Hara, aber nicht so sehr, denn sie lieben sich viel mehr. Im Glück schwelgen Klara und Tara, was ihnen fehlt, ist ein Baby – ein Baby namens Sara.«
Das Leben war ein Spiel, ein perfekt zusammengesetztes Puzzle aus Zufällen und guten Gelegenheiten, die es zu nutzen galt. Beide nahmen sich, was sie brauchten, und beide waren unendlich froh, einander getroffen zu haben. Ihr Privatleben strotzte vor Harmonie, und auch im Beruf standen sie mit Leidenschaft und Erfolg ihre Frau.
Tara liebte ihre Arbeit als Radiomoderatorin. Sie war so etwas wie die gute Tante von KPR2. »Tipps und Rat von Tara Schrat.« Täglich von 17 bis 18 Uhr. Außer sonntags. Tara kannte sich bestens aus mit allen kleinen und großen menschlichen und zwischenmenschlichen Problemen. Treffsicher, punktgenau und schlagfertig formulierte sie ihre Antworten, wenn jemand aus ihrer ständig wachsenden Hörergemeinde mal wieder eine Auskunft forderte zu Themen wie »Die erfolgreiche Bewältigung von Liebeskummer«, »Krach mit dem Nachbarn« oder »Was tun bei Blinddarmverrenkung?«
Sie gehörte zu einer aussterbenden Spezies. Tara war nämlich eine Allrounderin und kannte sich mit allen Themen des täglichen Lebens bestens aus; am besten natürlich mit der Soziologie und Psychologie der Menschen, denn das waren die Fachgebiete, mit denen sie sich schon als Kind zwangsläufig auseinander setzen musste, damit die labilen Beziehungen zwischen Mutter, Stiefvater, herrschsüchtiger Großmutter und renitentem großen Bruder nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht gerieten. Von klein auf war Tara eine clevere und zärtliche Vermittlerin gewesen. Ein gutes Wort für die Omi, ein Küsschen für Papi Nummer 2, ein halbwegs energisches Zurechtweisen des um zwei Jahre älteren Bruders, der erstaunlicherweise auf seine jüngere Schwester hörte.
Dass sie Psychologie studieren würde, war schon früh klar. Die ganze Plackerei fürs Abitur diente einzig und allein dem Zweck, einen hervorragenden Notendurchschnitt zu bekommen. Und wie alles andere, gelang Tara auch das ohne große Anstrengung.
»Meine Sonnenfrau«, nannte Klara sie. Und genau das war sie auch. Wo Tara auftauchte, schien die Sonne. Tara verfügte über die unglaubliche Gabe, Menschen zum Lächeln und zum Lachen zu bringen. Wenn Klara eine größere Gruppe von Menschen auf einer Party sah, die lauthals lachte und sich augenscheinlich großartig amüsierte, befand sich in deren Mitte vermutlich eine 1,53 Meter kleine Person: Tara Schrat. Ihre Tara, die alle Herzen im Sturm eroberte.
Während ihres Studiums hatte Tara ein Praktikum bei KPR2 gemacht, eigentlich nur, um eine völlig andere Welt kennen zu lernen, bevor sie sich der Arbeit mit sozialen Randgruppen, ethnischen Minderheiten, behinderten Jugendlichen oder zwangsneurotischen Erwachsenen zuwenden würde. Aber dann kam alles ganz anders. Der Redaktionsleiter, dem sie für die Semesterferien unterstellt war, bot ihr ein verhältnismäßig gut bezahltes einjähriges Volontariat an. Dreimal lehnte sie ab, trottete aber trotzdem Jahr für Jahr brav in den Semesterferien für sechs Wochen zum Sender. Wo man sie bereits in den zweiten Sommersemesterferien die Verkehrsnachrichten verlesen lies, weil sie eine so unglaublich wohltönende Stimme besaß. Ein Abendkurs in Sprecherziehung sorgte dafür, dass sie lernte, in den richtigen Momenten ein- und auszuatmen und ihre Stimme noch besser in den Griff zu bekommen.
Nach sechs Jahren Studium verwandelte sich die ursprünglich immense Freundlichkeit des Profs, bei dem sie ihre Diplomarbeit schreiben wollte, in massive Anbaggerei. Und weil der bebrillte, beinahe glatzköpfige Endvierziger ihre Ablehnung persönlich nahm und fortan mit bösartigen Bemerkungen, schlechten Noten und anderen Diskreditierungen um sich warf, warf auch Tara etwas: nämlich das Handtuch. Sie erklärte dem Prof deutlich und in aller Öffentlichkeit, was sie von dieser versuchten Unzucht mit Abhängigen hielt, und schaffte es, ihn – zumindest für einen kurzen Augenblick – erbleichen zu sehen. Natürlich war es schade um das Studium und den verpatzten Abschluss, andererseits tröstete sie sich damit, dass sie vieles gelernt hatte und auf die offizielle Urkunde im Grunde pfeifen konnte.
Sie rief bei KPR2 an, verlangte nach Hans Parking, dem Redaktionsleiter, und gab ihre Geschichte zum Besten. Parking wollte am liebsten stante pede einen Beitrag darüber machen, wie Professoren ihre Studentinnen aufs Kreuz legen wollen, aber das wusste Tara mit dem Hinweis darauf zu verhindern, dass sie dann umgehend zum Konkurrenzsender wechseln würde. Sie absolvierte ihr Volontariat mit Bravour.
In der Ostzone, wie Metas Oma die ehemalige DDR auch noch 1996 zu nennen pflegte, gab es in den guten alten Zeiten die »Straße der Besten«, die sich an so zentralen Punkten wie werkseigenen Kantineneingängen befand. Dort wurde allmonatlich ein Porträt der fleißigsten, findigsten und freundlichsten Mitarbeiter aufgehängt. Hätte es etwas Ähnliches im Sender gegeben, wäre zwölfmal jährlich Taras freundliches Lächeln, auf Zelluloid gebannt, ans Schwarze Brett geheftet worden. Aber KPR2 war eben kein Ostsender, und er war auch nicht McDonalds, wo ebenfalls monatlich der beliebteste Mitarbeiter gekürt wurde.
Vom Verkehrsfunk wechselte sie zu den Nachrichten, gab ein kurzes Intermezzo im Kulturressort, dann wurde sie »Tante Tara«, wie Klara sie und ihre Sendung lächelnd nannte. Und Tante Tara liebte ihre Arbeit, sie nahm sich Zeit, dachte kurz nach und formulierte anschließend einen Ratschlag, der Hörern und Zuhörern garantiert auf die Sprünge half – und sei es nur für die fünf bis zehn Minuten, die ein solches Gespräch in der Regel dauerte.
Bereits vor ein paar Jahren hatte man ihr angeboten, als Talkmasterin fürs Fernsehen zu arbeiten, aber Tara wollte nicht. Sie schätzte das Radio und bevorzugte es, anonym zu bleiben und ihr Gesicht weiterhin unerkannt durch die Straßen tragen zu können, ohne mit Fragen belästigt zu werden, die stets gleich lauteten: »Hallo, sind Sie nicht Tara Schrat?« oder »Ich hab Sie doch gestern im Fernsehen gesehen, das hat mir aber …«
Nein, so wie ihr Leben gegenwärtig verlief, war es genau richtig. Und seit sie mit Klara zusammenlebte, war auch ihr Privatleben dauerhaft von der Sonne beschienen. Manchmal machte Tara dieses Unmaß von Glück ein wenig Angst. Konnte man wirklich derart uneingeschränkt glücklich sein? Durfte man das auch? Waren es immer nur die anderen, denen ein Unglück zustieß, die von Krankheiten, Liebeskummer, Arbeitslosigkeit und Todesfällen heimgesucht wurden? Wenn Tara ein gläubiger Mensch gewesen wäre, hätte sie täglich eine Kirche besucht oder sich fünfmal täglich gen Mekka verneigt. Da sie es nicht war, wartete sie mit einem latenten Fatalismus stets darauf, dass ihr eines schönen Tages etwas Schreckliches widerfahren würde. Ihr oder Klara. Mit der sie sich derart verbunden fühlte, dass sie jeden Schmerz, der ihre Freundin betraf, körperlich nachvollziehen konnte. Alles, was Klara erlebte, erlebte Tara mit einer unglaublichen Intensität mit oder zumindest nach.
Im Gegensatz zu ihr war Klara Merker von Grund auf unstet und trotzdem pragmatisch. Klara vertrat die These, dass sie sich alles, was sie besaß, selbst erarbeitet hatte: ihre Liebe zu Tara, das tägliche Glück, ihren Job, ja, sogar ihre Nase, in die sie ihr erstes selbst verdientes Geld investiert hatte, weil ihr angeblich der Zinken, den Eltern und Ahnen ihr verpasst hatten, achtzehn Jahre lang Angst und Schrecken eingejagt hatte, sobald sie ihr Spiegelbild in Augenschein nahm – oder sich auch nur in den Pupillen ihres Gegenübers spiegelte.
Klara liebte es, tough zu sein, und pflegte dieses Image mit großem Energieaufwand. Sie arbeitete für eine große Wochenzeitung, und wenn es darum ging, über eine politisch brisante Situation, einen Giftgasunfall, eine Havarie oder eine Massenkarambolage zu berichten, stand Klara in vorderster Front: »Klar, mach ich – kein Problem.« Sie liebte das Abenteuer genauso wie das Risiko und spekulierte mit ihrem Leben wie ein Börsianer mit seinen Aktien. Alles ausprobieren, lautete ihre Devise, von allem kosten, alles beschnuppern, betasten, beriechen, beäugen. Jeder Tag konnte der letzte sein und war es nach Klaras Lebensauffassung in gewisser Weise auch.
Die einzige Konstante in ihrem unsteten Leben war ihre Freundin Tara Schrat. Für Tara kam sie am späten Abend genauso zur Ruhe wie am frühen Morgen. Wenn Tara in Klaras Nähe war – wohlgemerkt nur Tara und niemand sonst –, wurde es still in ihr und um sie herum, dann herrschte für eine kurze Zeit Frieden im aufrührerischen und umtriebigen Sein. Die kleine Tara war Klaras Zuhause, ihre Heimstatt, ihr Ziel.
Die beiden Frauen waren froh darüber, die große Wohnung in der Wiedstraße gefunden zu haben. Fritz Lessander hatte nichts dagegen gehabt, an ein lesbisches Paar zu vermieten, und die Mieter begegneten ihnen mit Toleranz oder Gleichmut. Klara Merker neigte ohnehin nicht dazu, freiwillig freundschaftliche Kontakte zu knüpfen, aber Tara war bei allen Hausbewohnern beliebt. Sie schätzte Irmgard Gröllmann und fand Kurt und Elsie Tellur so sympathisch, dass sie die Geschwister gelegentlich zum Tee einlud.
Für ihre geliebte Tara hatte Klara die Wohnung im ersten Jahr ihrer Beziehung in ein kleines häusliches Paradies verwandelt. Stuckdecken mit Putten, samtbezogene Wände im Schlafzimmer, buntverglaste Türen und sie hatte die Wohnung so aufwendig möbliert, dass sie selbst einer ägyptischen Pharaonin aller Wahrscheinlichkeit nach nicht missfallen hätte.
Klara Merker erinnerte sich gerne daran, wie sie Tara für eine ganze Woche in ein Wellness-Hotel verfrachtet und ihr vorgegaukelt hatte, sie müsse aus beruflichen Gründen nach Kairo fliegen. Statt sich dort mit irgendwelchen Konflikten zwischen Ober- und Unterägyptern herumzuschlagen, hatte sie dem gut vorbereiteten Innenarchitekten den Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt und war ebenfalls in ein Hotel gezogen.
Allerdings in eines, das nur einen Block von der Wiedstraße entfernt lag, damit sie den Fortschritt der Innenraumgestaltung vierstündlich in Augenschein nehmen konnte.
Und es war hinreißend geworden. Exakt so, wie Tara es sich ihr Leben lang gewünscht hatte, wie sie nach ihrer Rückkehr, gerührt und beglückt zugleich, fortwährend beteuerte.
Das Tollste aber war – und das steigerte Taras Freude ins Unermessliche dass Klara Zeit ihres Lebens in Wohnungen gehaust hatte, in denen sich ein Bett, eine funktionierende Dusche, ein Schreibtisch, ein PC und ein paar Bücher befunden hatten. Klara brauchte nichts! Alle Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände sollten und mussten beweglich sein, und oft hörte man sie sagen, dass sich die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg nur aus dem Grund für massive Eichenmöbel krumm gelegt hatten, weil sie vergessen wollten, wie lange sie auf der Flucht gewesen und wie instabil alle irdischen Güter waren.
»Die Flucht nach vorne«, referierte Klara, »die nichts anderes ist als die Flucht nach hinten.« Oder: »Nur, wer Ballast abwirft, ist wirklich frei.«
Und frei musste Klara sein, frei von Zwängen, frei von Vorgaben und Regeln, bis auf die Konstanten, die sich durch das Zusammenleben mit Tara ergaben. Und zu diesen Regelmäßigkeiten gehörte das morgendliche Kuscheln, das Versinken in den weichen zärtlichen Armen der anderen. Das war der allmorgendliche Wachtraum, mit dem ein neuer, guter Tag begann. Anschließend kredenzte Klara ihr ein opulentes Frühstück, wusch sich die Nacht vom Körper und startete erneut in eines ihrer Abenteuer, um abends in der Wiedstraße wieder zur Ruhe kommen zu können.
In den nächsten Wochen würde die traute Zweisamkeit der beiden Frauen allerdings erheblich gestört werden.
Kurt und Elsie Tellur
In der Wohnung der Geschwister fand wie an jedem Morgen die gleiche Diskussion statt. »Gleich kommt der Bus, beeil dich mal ein bisschen, Elsie, ja.«
»Kann nich«, stammelte Elsie, strahlte ihren Bruder mit ihrem entwaffnenden Lächeln an und puzzelte weiter.
»Nun aber los, ich muss zur Arbeit!«
»Gleich«, antwortete Elsie, ohne aufzublicken. »Nur noch das Hasi.«
»Das Hasi ist heute Abend auch noch da, Elsie. Komm jetzt bitte!«
Jeden Morgen das gleiche Theater. In Elsies Leben gab es tausend Dinge, die wichtiger waren, als den Bus zu erreichen. Weit mehr als tausend. Und jeden Morgen bat, mahnte, schimpfte und fluchte Kurt Tellur, bis Elsie endlich angezogen war, in ihrem blauen Mäntelchen steckte und mit dem Rucksack auf dem breiten Kreuz die Wohnung verließ.
»Du bist schlimmer als ein Baby, Elsie, weißt du das?«
Normalerweise brachte es sie auf Trab, wenn Kurt sie als Baby bezeichnete, aber heute schien selbst dieses Wort an ihr vorbeizurauschen.
»Der Bus fährt ohne dich, Elsie …«
»Macht nix, bleib ich hier«, antwortete sie ungerührt.
»Du kannst nicht alleine hier bleiben, das weißt du doch.«
»Kann ich doch, bin groß, Papsi«, grinste sie.
Aha, nun ging also das Papsi-Getue wieder los. Darauf reagierte Kurt ziemlich empfindlich, obwohl er genau wusste, wie ungerecht das war.
»Ich bin nicht dein Papsi, Elsie, das weißt du«, erwiderte er energischer als beabsichtigt.

Heide John
Heide John ist in Köln geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium der Germanistik arbeitete sie als freie Journalistin, Redakteurin und Lektorin. Seit 1999 schreibt sie Bücher für Kinder und Erwachsene.(c) Foto: Privat