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Leah

Eine Liebe in Hamburg

©2012 0 Seiten

Zusammenfassung

In der Wohnung des Rentners Johannes Bluhm am Hamburger Grindelhof lagern Kartons gefüllt mit seinen Tagebüchern, die er als Heranwachsender in den Jahren 1928 bis 1941 geschrieben hat. Immer freitags bekommt er Besuch von seinem Enkel Bernhard, der als Einziger von der Existenz der Aufzeichnungen weiß und sie mit zunehmender Atemlosigkeit liest. Diese Schilderungen, ergänzt durch Gespräche zwischen den beiden, eröffnen dem jungen Mann ein Bild jener Zeit, in der alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens Schritt für Schritt ausgehebelt wurden, bis schließlich das pure Grauen die Menschen beherrschte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wir werden ewig leben

 

 

Mittwoch, 8. April 1928

Heute habe ich von Großvater ein Tagebuch bekommen. Es ist rot und dick und hat Seiten mit Linien. Es ist sein Geburtstagsgeschenk für mich, weil ich ja schon schreiben kann. Aber ich muss nicht jeden Tag etwas schreiben, sagt er, nur wenn ich will. Mama und Papa sagen, Jungen brauchen kein Tagebuch, das haben nur Mädchen. Sie haben mir einen Osterhasen aus Blech geschenkt. Weil mein Geburtstag an Ostern ist. Er hat einen Schlüssel im Rücken, den man aufziehen kann. Und er hat blaue Ohren und lacht. Er ist lustig. Morgen schreibe ich wieder. Großvater hilft mir, aber ich kann schon viel selber schreiben. Er radiert die Fehler aus und macht sie richtig.

 

 

Donnerstag, 9. April 1928

Wir waren gestern bei Leah. Weil sie am selben Tag Geburtstag hat wie ich und genau so alt ist wie ich. Nämlich sechs. Ihre Mutter hat uns eingeladen – mich und Mama dazu. Ich musste mich waschen vorher und den neuen Pullover anziehen. Und Haare kämmen. Die Lieblings mögen keine kaputten Sachen, hat Mama gesagt. Sie sind anders als wir, da muss alles heil sein. Leah hat einen Kaufmannsladen bekommen, wir haben damit gespielt. Und sie hat ein neues Kleid. Ihre Mutter und meine Mama haben zusammen Tee getrunken. Das tun sie nur an unserem Geburtstag, sonst macht meine Mama bei Leahs Mutter sauber. Wir waren nicht lange da, weil dann anderer Besuch gekommen ist.

 

 

Sonnabend, 5. Mai 1928

Mama hat mich heute wieder mitgenommen zu den Lieblings. Damit ich nicht allein sein muss. Großvater war nämlich nicht zu Hause. Ich habe mit Leah gespielt in ihrem Zimmer. Das ist groß, und man sieht die Elbe. Leah sagt, ihre große Schwester hat jetzt einen Freund zum Ausgehen und Tanzen, aber sie hat mich. Für immer. Und ich sie. Wir haben gelacht, und ihre Mutter hat ins Zimmer geguckt und gesagt, ihr seid ja so lustig, und dass sie auch mal lustig sein möchte. Da haben wir gesagt, sie soll mitspielen mit uns, aber sie musste in die Küche. Als meine Mama fertig war mit Saubermachen, sind wir zu Fuß nach Haus gegangen an der Elbe entlang. Es war so warm wie im Sommer und die Leute waren aufgeregt. Manche rannten herum.

 

*

 

Wie fast jeden Freitagabend saß ich, Bernhard Bluhm, neben meinem Großvater, Lehnstuhl neben Lehnstuhl, mit Blick aus dem Fenster. Alles war wie immer: Draußen begann es zu dämmern, die Flasche Rotwein leerte sich, Johannes – so heißt mein Großvater, Johannes Bluhm – musste seine Zigarre in kürzer werdenden Abständen neu anzünden. Nur eines war anders als sonst: Heute ließ er mich zum ersten Mal in seinen Tagebüchern lesen. „5. Mai 1928,“ sagte ich und legte das Tagebuch aus der Hand, „war das der Tag, an dem es in Altona fünf Tote gab bei den Straßenschlachten?“

Johannes zuckte die Achseln. „Wie viele weiß ich nicht“, antwortete er. „Aber zwei davon waren Bekannte meiner Mutter, Clara. Sie hat davon erfahren, als wir zu Hause ankamen. Wir kamen fast zur gleichen Zeit heim wie mein Großvater Friedrich. Er erzählte es ihr. Er war gerade in Altona gewesen, um Holz für seine Werkstatt zu besorgen. Er hat Glück gehabt, dass er nicht mitten hinein geraten ist in die Prügeleien. Die Braunen und die Roten haben diesmal nicht nur mit Stuhlbeinen aufeinander eingeschlagen, sondern es wurde geschossen. Zum ersten Mal. Friedrich konnte sich gerade noch in die ‚Hirschquelle’ retten, das Lokal der Kommunisten. Jetzt waren sie alle auf der Straße, die Braunen hatten sie hinausgetrieben. Am Ende sah die Straße aus wie nach einem Krieg. Nicht nur die Roten bluteten, auch drei Nazis blieben liegen. Unter den Roten waren zwei Freunde von Clara. Friedrich hat sie erkannt, aber die Polizei ließ ihn nicht an sie heran. Einer lebte noch, hat er gesagt. Der ist erst später gestorben.“

„Was hat Clara gemacht?“

„Sie ist sofort wieder los, hat Friedrich gebeten, bei mir zu bleiben, bis Vater von der Schicht im Hafen nach Hause kam. Wir sind dann in Großvaters Werkstatt gegangen hinten im Garten. Er war immer noch der beste Tischler in Blankenese und hatte viel zu tun, obwohl er eigentlich schon aufgehört hatte zu arbeiten. Er restaurierte Möbel. Meine Eltern konnten das Geld gut gebrauchen.

Wir haben nicht viel gesprochen im Gegensatz zu sonst. Er hat eine Zigarette nach der anderen geraucht, der kleine Raum war völlig verqualmt. Friedrich hat ein Tischbein gedrechselt und gesagt, heute wollen wir mal nicht reden, ich solle etwas in mein Tagebuch schreiben und es ihm dann später zeigen.

„Von den Ausschreitungen hast du nichts geschrieben“, stellte ich mit einem Blick ins Tagebuch fest.

„Nein, ich habe das alles ja auch nicht gleich verstanden. Ein Sechsjähriger, der zwar schon schreiben, aber ansonsten gerade über die Tischkante gucken kann – was stellst du dir denn vor! Mir ist das erst später alles erklärt worden. Außerdem war ich noch ausgefüllt von unserem Nachmittag bei den Lieblings. Ich sah Leah zwar häufig, aber nicht jeden Tag. Meine Mutter hat dreimal pro Woche bei den Lieblings sauber gemacht, Wäsche gewaschen und Einkäufe erledigt, aber ich durfte nicht jedes Mal mit. Das war schließlich ein wirklich vornehmer Haushalt, eine der ersten Adressen in Hamburg. Alte Reeder-Dynastie. Die Herrschaften, sagte Clara immer. Wir wollen die Herrschaften nicht über Gebühr beanspruchen. Und das aus ihrem Mund, als Kommunistin!„

„Wie sah Leah aus?“

„Ich weiß nicht mehr, wie sie wirklich aussah. Es gibt kein Foto aus der Zeit. Aber wenn ich sie sah, wurde mir warm, am ganzen Körper. Von Anfang an war das so. Und wir kannten uns sozusagen seit dem Tag unserer Geburt, Ostern 1922, wir kamen beide im Tabea-Krankenhaus in Blankenese zur Welt. Wie sie aussah? Sie war klein, zart, hatte dickes schwarzes Haar, große dunkle Augen. Wenn Leah mich beim Spielen ansah, konnte ich mich manchmal nicht mehr bewegen. Es war wie eine Lähmung. Ja, unter ihrem Blick wurde ich bewegungsunfähig. Aber ich litt nicht dabei, im Gegenteil. Ich wollte, dass sie mich immer so ansah. Und wenn ich ihr das sagte, legte sie ihre kleine weiße Hand auf meine und antwortete: Das tue ich ja. Ich sehe dich an, so lange du willst, solange wir leben. – Das wird dauern, wir werden ewig leben, sagte ich. – Keiner lebt ewig, antwortete sie. Nicht hier auf der Erde. – Ist mir egal wo, sagte ich und rührte mich nicht. Sie ließ ihre Hand auf meinem Arm liegen, als ihre Mutter hereinkam und uns einen Teller mit Weihnachtskeksen brachte. Beim Hinausgehen strich sie jedem von uns über den Kopf. Ihr beiden werdet ewig leben, sagte sie. Guten Appetit, die hat Ida gebacken.“

„Ich dachte, Ida war dement?“ warf ich ein.

„Erstens gab es dieses Wort damals noch nicht, also konnte sie es auch nicht sein. Und zweitens konnte Ida sehr wohl ein paar Dinge. Genau gesagt zwei, und das erstklassig: Weihnachts-Kekse backen und Henkel annähen. Deshalb gab es bei den Lieblings rund ums Jahr frische Weihnachtskekse, und niemand lief mit abgerissenem Henkel in der Jacke herum. Ich übrigens auch nicht.“

„Sie hat auch deine Henkel angenäht?“

„Ja. Leah hat sogar manchmal meinen Henkel absichtlich abgerissen. Damit ihre Großtante sich freut. Dann sind wir zu Idas Zimmer hinauf gestiegen und haben ihr die Jacke gegeben. Sie hat mich angestrahlt und Leah gebeten, ihr das Nähzeug zu holen. Ich war dann immer einen Moment allein mit ihr im Zimmer. Ein großer Raum mit dem schönsten Blick auf den Fluss von allen Zimmern dieses riesigen Hauses. Leider hatte sie meistens die schweren dunklen Vorhänge zugezogen. Es roch dort sauer, obwohl alles sauber war. Manchmal zog sie mich zu sich heran und sagte mir, was für ein netter Junge ich sei. Dann war der Geruch besonders stark. Leah beeilte sich deshalb mit dem Nähzeug. Wenn sie ins Zimmer zurückgelaufen kam, war es wie eine Befreiung für mich. Es war nicht nur der Geruch, Leahs Großtante war mir unheimlich. Dann wollen wir mal deinen Henkel anmachen! rief sie voller Vorfreude. Sie strahlte dabei wie eine junge Frau, dabei war sie 83. Wenn sie mir die reparierte Jacke später wieder aushändigte, sah sie wieder deutlich älter aus. Und auch ein wenig traurig. Clara hat von diesen Dingen zum Glück nichts gewusst. Sie wäre außer sich gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass eine Dame aus dem Hause Liebling ihrem Sohn die Henkel annäht.“

 

*

 

Freitag, 12. Juni 1931

Papa hat mich heute mitgenommen auf seiner Barkasse. Wir haben die Hafenarbeiter von den Landungsbrücken zu ihrer Werft gebracht. Und andere sind mit uns denselben Weg über die Elbe zurück gefahren. Dann haben wir wieder welche zu anderen Werften gefahren, und dann wieder welche zu den Schiffen, die ausladen müssen. Ich habe bei Papa im Steuerhaus gestanden. Es war windig. Alle Arbeiter kennen Papa. Sie haben mit ihm geredet über die neuen Prügeleien in Altona und in Hamburg, aber Papa hat nicht viel dazu gesagt. Bist wohl einer von denen, hat ihm einer zugerufen. Papa hat so getan so, als hätte er es nicht gehört. Ich bin die ganze Schicht mitgefahren. Von der Elbe aus kann man Leahs Haus sehen. Papa hat es mir gezeigt, es liegt weit oben am Hang. Wie hoch, das merkt man erst vom Wasser aus. Und auch wie groß es ist. Die anderen Häuser in Flottbek sind auch schön, aber viel kleiner.

 

*

 

„War dein Vater nie bei den Kommunisten?“ fragte ich.

„Doch, bevor er und Clara heirateten. Sie haben sich dort bei den Partei-Tanzabenden kennengelernt. Sie war aber nie Mitglied. Und er ist kurz nach meiner Geburt ausgetreten, als sie in das Haus im Blankeneser Treppenviertel zogen, das Großvater gehörte. Nachdem er verwitwet war, hatte er dort genug Platz für uns alle.“

„Und warum ist Karl aus der Partei ausgetreten?“

„Er hat es mir nie erklärt. Ich glaube, dass ihm das Paramilitärische nicht behagte, dieses Hierarchische. Bei Clara war das wohl auch so. Was ihr am meisten gegen den Strich ging, war dieses Männertum. Darüber habe ich die beiden oft streiten hören. Sie regte sich über die Kerle auf, die die Frauen als Stullenschmiererinnen und Kaffeekocherinnen für die Parteiabende ansahen. Die halten uns für dumm wie Meerschweinchen, rief sie. Entschuldigung, sagte sie dann zu Gregor, unserem Meerschweinchen, das in seinem Käfig unter dem Küchentisch saß. Und dann funkelte sie meinen Vater an, als wäre er auch so einer, der meint, nur die Männer könnten die Welt retten. Er wusste in solchen Situationen  nicht, was er sagen sollte. Er war dann völlig hilflos. Er liebte seine Familie und tat alles dafür, dass es zuhause keinen Zank und Streit gab. Er war friedlich und harmoniebedürftig. Er war alles andere als ein Angeber. Klar, dass er um die Nazis erst recht einen weiten Bogen machte.“

„Es muss schwierig für ihn gewesen sein, unter den Hafenarbeitern nicht Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen“, sagte ich und blätterte in den Seiten des Tagebuchs. „Ein Jammer, dass keine Fotos drin sind.“

„Einen Fotoapparat hatten wir nicht, viel zu teuer! Clara arbeitete nicht nur bei den Lieblings als Zugehfrau, sondern putzte noch bei zwei anderen Familien in Flottbeker Villen. Trotzdem war am Monatsende meist Ebbe im Haushaltsportemonnaie. Der kleine Gemüsegarten hinter unserem Haus ernährte uns dann. Die Lieblings – ja, die fotografierten. An den Wänden in der Eingangshalle hingen Fotos von Familienmitgliedern neben mächtigen Ölschinken. Der Beeindruckendste zeigte Eliah Liebling, der die Reederei Ende des 19. Jahrhunderts groß gemacht hatte. Er hing der Eingangstür gegenüber, er begrüßte sozusagen die Eintretenden. Er lächelte gütig, trug die Kippa auf seinem kahlen Kopf und einen Gebetsschal über dem Arm.“

„Aber allzu fromm waren die nicht, oder?“

„Sie gehörten nicht gerade zu den eifrigsten Synagogengängern, aber sie hielten sich an alle Feier- und Fastentage, und auch an die Essensvorschriften. Außerdem hat Leahs Vater, Samuel, die jüdische Gemeinde fast allein finanziert. Zumindest sagte Leahs Mutter das einmal vorwurfsvoll zu ihm, als ich zufällig mit im Raum war. Das stimmt aber nicht ganz, alle reichen jüdischen Familien übertrafen sich an Großzügigkeit gegenüber ihrer Gemeinde.“

„Cäcilia hat all das in ihrem Haushalt mitgemacht?“

„Eher halbherzig. Sie war keine Jüdin, und sie war auch keine Christin. Aber wenn man einen Juden heiratete, wusste man halt, was damit verbunden war. Sie hat das alles wie eine Familientradition betrachtet und wohl in erster Linie ihrem Mann zuliebe mitgemacht. Clara hat einmal zu mir gesagt, Leahs Mutter ist wie ich, die hat ihre eigenen Gedanken. Heute scheint mir, dass die beiden mehr miteinander gesprochen haben, als ich damals mitbekam. Meine Mutter war für Leahs Mutter mehr als eine Zugehfrau.“

„Und Leahs Vater, was hat deine Mutter über ihn gesagt?“

„Wenig, der war selten da, oft auf Geschäftsreisen. Clara hatte keine Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Wenn er mal für längere Zeit in Hamburg war, hatten sie das Haus ständig voller Gäste, sie gaben Empfänge, Gesellschaften,  Musikabende. Alle wichtigen Hamburger gingen bei ihnen ein und aus. Samuel Liebling hatte ja auch noch diese Bank gegründet, und während die Gäste tanzten – sie hatten dann eine Musikkapelle im Salon – zog er sich mit einigen Freunden in sein Büro zurück, und es wurde Geschäftliches besprochen. Zumindest hat Clara das erzählt, die zu solchen Anlässen oft als Küchenhilfe engagiert wurde und manchmal auch die Gäste bei Tisch bediente.

Auf jeden Fall war Leahs Vater zu uns Kindern sehr freundlich, er liebte seine Töchter, er machte ständig Späße, sobald er Kinder sah. Am liebsten vertauschte er die Anfangsbuchstaben von Wörtern und freute sich, wenn wir darüber lachten. Er kannte dutzende von solchen Sätzen wie: Ich muss schnell in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald. Ich mochte am liebsten: Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern schlapper klangen.

Auch zu mir, dem Sohn seiner Zugehfrau, war er liebenswürdig und zuvorkommend, als wäre ich ein Freund der Familie. Ja, das war vielleicht das Auffälligste an ihm: Er sprach mit uns Kindern wie mit Erwachsenen. Wenn er etwas zu mir sagte, dachte ich manchmal, er meint mich gar nicht, und habe mich umgesehen, ob ein Erwachsener hinter mir steht. Aber er hat mich gemeint. Einmal erzählte Leah ihm, dass meine Mutter böse auf mich wäre, weil ich wieder idiotische Sachen gemacht hatte. So nannte Clara es immer, wenn ich zum Beispiel einen ganzen Nachmittag lang versuchte zu zählen, wie viele Stufen die Treppen des Süllbergs haben und jedes Mal zu einem anderen Ergebnis kam. Samuel Liebling sah mich ernst an und sagte dann eindringlich: ,Es kann sehr lohnend sein, idiotische Dinge zu tun, junger Mann. Weiter so!’

Einmal verblüffte er uns, als er im Vorbeieilen – er wollte zu seinem Wagen, um in die Firma zu fahren, der Chauffeur hielt bereits die Tür auf – zu Leah und mir sagte, ob wir eigentlich schon den Termin für unsere Hochzeit festgelegt hätten. Und ob es eine jüdische oder eine kommunistische Hochzeit werden solle. Ihm sei es egal, er würde in jedem Fall das Fest ausrichten. Es war uns ungeheuer peinlich, denn wir gingen davon aus, dass außer uns niemand wusste, dass wir später heiraten wollten. Leah wurde knallrot, und als er sie tröstend hochhob und sagte, es wäre schon in Ordnung, er sei stolz auf seine Tochter, einen so guten Fang gemacht zu haben, fing sie an zu weinen.“

Ich sah Johannes lange an. „Wie alt wart ihr da?“

„Wenn ich richtig rechne: neun. Die Nazis hatten die Bürgerschaftswahl 1931 in Hamburg verloren. Meine Eltern feierten das Ereignis mit Freunden in unserer Küche. Und es war das Jahr, in dem Friedrich, mein Großvater, starb. Wenige Tage vor seinem Tod, der völlig überraschend kam, gab er mir noch an einem Abend das Tagebuch zurück, nachdem er die Fehler ausradiert und verbessert hatte, und sagte, von nun an lese er nicht mehr darin. Ich sei kein kleines Kind mehr, meine Gedanken gingen niemand etwas an, auch ihn nicht. Das hat mich in dem Moment sehr verletzt. Als er das merkte, fügte er schnell hinzu, es sei aber vor allem deshalb, weil ich fast keine Fehler mehr beim Schreiben machte. Ich bräuchte seine Korrekturen nicht mehr.“

„Welches ist die erste Eintragung, den er nicht mehr gelesen hat?“ fragte ich und blätterte in dem Tagebuch.

„Die vorletzte. Dann war das Buch voll, und er schenkte mir ein neues zum Weiterschreiben. Das war dann sozusagen sein Abschiedsgeschenk.“

„Welches ist es?“ fragte ich und zog den Karton zu mir heran. Johannes suchte kurz in den abgegriffenen Tagebüchern und zog dann eines heraus. „Dieses hier“, sagte er. „Ich habe nach Friedrichs Tod eine Weile nicht geschrieben. Und als ich dann wieder damit begann, waren die Eintragungen anders. Ich war anders, alles war anders. Mein Großvater hat mir sehr gefehlt. Aber ich hatte ja Leah.“

Die größte Lüge der Welt

 

 

Freitag, 2. Oktober 1931

Großvaters Werkstatt ist heute geräumt worden, und wir haben seine Werkzeuge verkauft. Mama will ihre Waschküche hier einrichten, damit sie nicht länger in der Küche die Wäsche waschen muss. Es kamen genau so viele Leute wie zu Großvaters Beerdigung. Alle haben sich etwas ausgesucht von seinem Werkzeug und von seinem Holz und dafür bezahlt. Mama hat für alle Kaffee gekocht. Es war so voll, dass Papa manchmal nicht alle Leute gleichzeitig in den Schuppen hinein lassen konnte. Sie haben fast alles gekauft. Die Puppenwiege aus Holz, die noch nicht fertig war, ist dageblieben. Die Leute, die sie bestellt haben, sind nicht gekommen. Nun darf ich sie behalten als Andenken. Ein paar Bretter sind auch noch da. Sonst ist alles leer.

 

*

 

„Nein, er ist nicht krank gewesen“, sagte Johannes. „Ich habe aber irgendetwas gespürt in den Wochen vor seinem Tod. Er veränderte sich. Ich war ja fast täglich bei ihm im Schuppen. Manchmal nur für einige Minuten, an manchen Tagen mehrere Stunden. Er arbeitete immer weniger, hielt sogar Ablieferungstermine nicht ein. Dafür erzählte er umso mehr. Wenn ich hereinkam, fragte er: ‚Setzt du dich zu mir?’ Und kaum hatte er mich auf die Werkbank gehoben ­– dort saß ich am liebsten, denn dann konnte ich durch das kleine Fenster den Fluss und die Schiffe sehen – begann er zu reden. Er war immer schon erzählfreudig gewesen, im Gegensatz zu meinem Vater, der sich auf die notwendigsten Mitteilungen beschränkte. Sehr zum Ärger Claras übrigens. ‚Ich bin zwar nicht immer Friedrichs Meinung, eigentlich nie, aber wenigstens kann man mit deinem Vater reden’, beschwerte sie sich manchmal bei meinem Vater. Karl saß meistens stumm am Küchentisch und las nach dem Abendessen die Blankeneser Rundschau, bevor er in die ‚Dockenhudener Stuben’ ging, um mit seinen Barkassenführer-Kollegen Doppelkopf zu spielen. Das tat er fast jeden Abend. Endlich ist er weg, die Quasselstrippe, sagte Clara, und schleppte den Topf mit der Kochwäsche herein. Ich ging dann rüber zu Großvaters Werkstatt, weil ich den heißen Dampf in der Küche nicht riechen mochte.“

„Worüber habt ihr geredet?“

„Er hat mich alles Mögliche gefragt, über die Schule, über meine Freunde, über mein Leben. Er war der einzige, der mich je gefragt hat, wie es mir geht. Und wenn alles, was ich antwortete, zu seiner Zufriedenheit war, legte er mir die Hände auf die Schultern, sah mich an und sagte mit ganz ernstem Gesicht: ‚Die Dinge sind doch so geregelt, dass der Arsch nicht aus der Hose kegelt’. Ein paar Sekunden lang beherrschte ich mich, und dann fing ich so an zu lachen, dass ich fast von der Werkbank fiel. Das war mein Lieblingssatz! Er wusste natürlich, dass ich darauf wartete, dass er ihn sagen würde. Das schönste dabei war, dass er diesen Satz mit so viel Ernst und Würde vortrug.“

„Und was war in seinen letzten Wochen anders als sonst?“

„Er hat mir viel über seine eigene Kindheit erzählt. Davon, dass er einmal den Kaiser gesehen hatte, als er Hamburg besuchte und extra ein Bahnhof für diesen Anlass gebaut worden war. Der Dammtor-Bahnhof. Dass seine Eltern Kaiser Wilhelm verehrt hatten, und er selbst auch, dass er eine große Kiste voller Zinnfiguren besaß, eine davon war der Kaiser auf seinem Pferd. Aber in seinen letzten Wochen begann er auch viel über seine Gedanken zu erzählen. Es waren Monologe, manchmal bin ich beinahe eingeschlafen dabei, weil ich vieles nicht verstand. Er gab mir Holz in die Hand und sagte, ich solle meine Augen schließen und es fühlen. Der Baum sei irgendwann ausgesät worden, sei gewachsen, hätte alles gesehen, was in seiner Umgebung geschah. Auch wie Männer mit Äxten kamen, um ihn zu fällen. Aber das hätte den Baum nicht gestört. Denn der hätte gewusst, dass sein Holz gebraucht würde und sich gewünscht, dass etwas Schönes und Gutes daraus gemacht würde. Deshalb würde er jedem Stück Holz, dass er kauft, um es zu bearbeiten, ein paar Tage Zeit lassen, damit es sich an ihn gewöhnen könne. Er sprach sogar mit dem Holz und erzählte ihm, was er aus ihm machen würde. ‚Einmal hat deine Mutter das gesehen, als sie unvermutet hereinkam’, sagte er. Ich fühlte mich unbehaglich, als sie mich ansah. Aber dann sagte sie: Du sprichst sogar mit deinem Holz, warum spricht dein Sohn nicht mit mir?’ Friedrich wusste, dass meine Eltern nicht immer glücklich miteinander waren.

‚Das Holz muss immer wissen, was mit ihm geschieht, sonst lässt es sich nicht gut bearbeiten.’ schärfte er mir ein. ‚Man muss langsam und behutsam damit umgehen.’ Er könne auch zwei Stühle oder mehr pro Tag machen wie andere Tischler, sagte er. Aber er wolle das nicht. Die langsame Arbeit sei die wichtigere, sagte er. Aber immer weniger Menschen hätten Respekt vor dem Holz. Das sei schlecht. Als nächstes würden sie dann aufhören, Respekt voreinander zu haben. So wie es jetzt draußen geschähe. Dabei deutete er auf die Schuppentür, so als wären wir in der einen Welt, und draußen sei eine andere. ‚Die da draußen sind allmählich so verrückt, dass der Normale wie der Verrückte erscheint’, erklärte er mir. ‚Irgendwann denkt man selbst, man ist nicht mehr normal, nur weil die anderen verrückt werden. Verstehst du, man tut das Richtige, aber alle anderen halten es für falsch.’ Er wolle das nicht noch einmal miterleben. Und er hoffe, dass mir das erspart bliebe. ‚Es gibt immer ein paar Leute, die sich die Dinge ausdenken, und allen anderen widerfährt es dann’, sagte er. Er wusste wahrscheinlich, dass ich nicht verstand, was er meinte, aber er wollte es mir trotzdem sagen. Und er wollte mir sagen, dass er sich dem entziehen würde.“

„Glaubst du, er hat Selbstmord begangen?“ fragte ich.

„Nein. Er ist einfach morgens nicht mehr ausgewacht, lag wie schlafend in seinem Bett, atmete nicht mehr. Clara fand ihn so. Sie hatte nach ihm gesehen, als er nicht zum Frühstück erschien. Sie rief Karl und mich rauf in Friedrichs Zimmer. Wir standen im Türrahmen und sagten kein Wort. Es war die größte Stille, die ich je erlebt hatte. Und mir ging dabei der Satz durch den Kopf, den er am Abend zuvor im Schuppen gesagt hatte, mehr zu sich selbst, als zu mir: ‚Die größte Lüge ist, dass wir in bestimmten Momenten die Macht über uns verlieren und unser Leben dann vom Schicksal gelenkt wird. Das ist die größte Lüge der Welt.’

„Und – siehst du das heute auch so, wo du selbst in seinem Alter bist?“

„Er hatte viel gesehen in seinem Leben. Aber nicht so viel wie ich noch sehen sollte. Ich weiß es nicht, Bernhard. Es hat Momente gegeben, da habe ich an das Schicksal geglaubt. Sonst wäre ich verrückt geworden. Man kann das Gefühl nicht immer ertragen, für alles selbst verantwortlich zu sein. Aber man muss es versuchen. Denn man bestimmt sich durch das, was man macht. Sonst bestimmen andere, wer du bist.“

 

*

 

Montag, 28. 12. 1931

Ich habe Leah die Puppenwiege aus Holz am Tag vor Weihnachten geschenkt. Sie war mein Weihnachtsgeschenk. Mama hat sauber gemacht und Leas Mutter beim Schmücken des Hauses geholfen. Erst wollte sie nicht, dass ich Leah die Wiege schenke, aber ich habe nicht nachgegeben. Wir sind mit der S-Bahn hingefahren, weil sie zu schwer ist, um sie den weiten Weg zu tragen. Außerdem hat es geregnet. Bei Lieblings im Haus sah es schon aus wie Weihnachten. In der Halle stand ein Tannenbaum bis zur Decke. Eigentlich machen die Juden das nicht, hat Mama gesagt. Aber Leahs Mama möchte es so. Bei uns war die Küche geschmückt mit einem Baum, der neben der Tür stand. Wir waren Weihnachten nicht sehr froh, weil Großvater nicht dabei war. Er hat sonst immer die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Diesmal hat Mama das gemacht, aber sie hat öfters Pause gemacht, weil sie weinen musste. Und dann hat sie aufgehört und gesagt, ‚das stimmt ja sowieso alles nicht.’  Aber wir haben trotzdem noch den Braten gegessen.

 

*

 

„Warum habt ihr überhaupt Weihnachten gefeiert, wenn deine Eltern gar nicht christlich waren?“ fragte ich Johannes.

„Mir zuliebe, glaube ich. Und auch, um in der Nachbarschaft nicht aufzufallen. In jedem der kleinen Häuser im Treppenviertel brannten die Tannenbaumkerzen, egal wie arm die Leute waren – ein Baum musste sein. Clara hat sich gelegentlich darüber aufgeregt, aber dann hat sie doch immer wieder einen besorgt. Nach dem Essen hat Karl sich dann verabschiedet, um zu seinen Kumpels in die ‚Dockenhudener Stuben’ zu gehen. Da war es Weihnachten immer besonders voll. Das Fest war dann für mich vorbei. Ich habe mit meinen neuen Buntstiften gemalt und durfte länger aufbleiben als sonst. Aber das war’s auch schon.“

„Die Puppenwiege – hat Leah die gemocht?“

„Sie hat gleich ihre Puppen hinein gelegt. Ihre Mutter war fast noch begeisterter, sie ist immer wieder mit der Hand über das Holz gefahren und hat gesagt, so was könne man überhaupt nicht mehr kaufen. Großvater sei ein Genie gewesen. Diese Reaktion hat Clara sehr gefallen, das habe ich ihr angesehen. Sie war stolz. Später kam noch Leahs Vater ins Zimmer und hat auch die Wiege gelobt. Aber dann sagte er zu mir: ‚Komm Johannes, lassen wir die Damen mit ihren Puppen spielen, das ist nichts für uns.’ Er nahm mich bei der Hand und ging mit mir ins andere Ende des Hauses in sein Arbeitszimmer. Ich wollte eigentlich nicht weg von Leah und der Wiege, aber dann öffnete er die Tür eines Schrankes, der neben seinem riesigen Schreibtisch stand, und zeigte mir kleine Schiffsmodelle, die darin auf einem Regal standen. ‚Die fahren überall auf der Welt herum’, sagte er, ‚die Richtigen natürlich, diese nicht. Aber man kann die Modelle schwimmen lassen, sie gehen nicht unter. Such dir eins aus.’

Er holte einen Stuhl heran, damit ich mich darauf stellen konnte, um mir die Modelle anzusehen. Damals kam es mir vor, als wären es unendlich viele. Ich war außerstande, mich für eines zu entscheiden. ‚Ich würde dieses nehmen’, sagte er dann und nahm das größte heraus. ‚Es ist unser Neuestes, erst in diesem Jahr in Dienst gestellt.’ Er legte es mir in die Hände. ‚Es ist auf Leahs Namen getauft.’

Ich hielt es dicht vor meine Augen. Und tatsächlich: Vorn am Bug war der kleine Schriftzug zu lesen: Leah Liebling, Hamburg. ‚Danke’, sagte ich, kletterte vom Stuhl und wollte in Leahs Zimmer zurück laufen, als er sagte: ‚Dein Großvater war ein Künstler. Er war mehr als ein Tischler. Danke, dass du meiner Tochter die Wiege geschenkt hast. Weißt du, dass hier im Haus mehrere Gegenstände von ihm stehen?’ Ich sah ihn überrascht an. ‚Komm mit’, sagte er und nahm mich wieder bei der Hand. Er führte mich ins Esszimmer und deutete auf eine Anrichte. ‚Im Schlafzimmer haben wir noch zwei Schränke’, sagte er. ‚Die zeige ich dir ein andermal.’

Ich ging zu dem kleinen Geschirrschrank, streckte meinen Arm aus. ‚Fass ihn gern an, der ist nicht empfindlich’, sagte er. Ich legte eine Hand auf das blank polierte, fast schwarz glänzende Holz. ‚Das Tellerbord ist auch von ihm.’ Ich blickte hoch, sah die Gold verzierten Teller, die in dem Bord aufgereiht standen. Dann blickte ich auf das Schiff in meiner Hand. ‚Hat er auch für die Schiffe Möbel gemacht?’ fragte ich. Leahs Vater sah überrascht aus. ‚Nein, aber das wäre eine gute Idee gewesen. Vielleicht den Kapitänsschreibtisch oder das Steuerrad. Schade, dass ich nicht darauf gekommen bin.’ Dann streckte er mir die Hand entgegen, und wir gingen zurück zu Leahs Zimmer. Die Mütter hatten sich in die Küche begeben, um ihren Tee zu trinken, Leah saß auf dem Boden und drapierte Puppen in der Wiege. Ich ging zu ihr und hielt ihr das Schiff entgegen. ‚Er hat sich das mit deinem Namen ausgesucht’, sagte ihr Vater.“

„Hast du es noch?“

„Ich habe es nach dem Krieg wieder gefunden, als ich im Haus meiner Eltern nach Brauchbarem suchte“, erwiderte Johannes. „Ebenso wie die Tagebücher. Es stand im Schuppen auf einem Regal, wo ich es zuletzt abgelegt hatte.“

„Kann ich es sehen?“

Johannes schüttelte den Kopf. „Beim Umzug hierher ist es verschwunden. Zumindest konnte ich es nicht mehr finden, als ich die Kisten auspackte. Ich habe alles abgesucht, es ist weg. Aber das ist ja nun schon einige Jahre her. Ich sollte vielleicht noch einmal suchen.“

„Und das echte Schiff?“

„Wurde im Krieg für Truppentransporte genutzt. Ist versenkt worden, im Mittelmeer. Mehr weiß ich nicht“, sagte Johannes und wandte sich ab.

Ich wusste, dass gleich Tränen in seinen Augen stehen würden. Das Zeichen für meinen Aufbruch. Ich legte eine Hand auf Johannes  Arm. „Wir suchen das Schiff“, sagte ich. Er nickte, ich erhob mich, nahm die geleerte Weinflasche sowie die Gläser und ging langsam aus dem Zimmer. Johannes schlief während meiner Freitag-Besuche gelegentlich in seinem Sessel ein. Deshalb schloss ich die Balkontür, durch die die letzten Geräusche des langen Sommerabends herein drangen, und ging aus dem Zimmer. Ich stellte die Flasche und die Gläser in der Küche ab, ging den langen Flur der Altbauwohnung hinunter. Vor der Wohnungstür blieb ich noch eine Weile stehen. Dann löschte ich das Licht, öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus.

Wir sind doch keine Unmenschen

 

Dienstag, 31. Januar 1933

Gestern ist Hitler Reichskanzler geworden. Die Kälte der letzten Wochen ist vorbei, es taut. Mama sagt, die Nachbarin meinte, das käme vom Führer, jetzt würde alles besser, sie bräuchten nicht mehr zu frieren. Ich finde es schade, mir macht die Kälte nichts. Beim Schlittenfahren am Süllberg friert man nicht, ich habe sogar mein Hemd durchgeschwitzt, obwohl es 15 Grad unter Null waren. Ich bin jeden Tag nach der Schule zum Rodeln gegangen, alle aus meiner Klasse waren da. Schade, das Leah dort nicht rodelt. Der Süllberg ist zu weit weg von ihrem Haus, sie rodelt auf ihrem eigenen Hügel im Garten. Morgen werde ich sie besuchen.

 

 

Freitag, 3. Februar 1933

Der Schnee war pappig und klebte, wir konnten nicht gut rodeln. Obwohl Leahs Hügel gut ist. Er ist kurz, aber steil. Sie hat einen längeren Schlitten als ich, wir haben uns beide auf ihren gesetzt. Ich vorn, um mit den Füßen zu steuern, und sie hinten. Leah kann auch steuern, aber sie wollte, dass ich es mache. Sie hat mich von hinten umfasst und sich an mir festgehalten. Aber der Schnee war schon so schlecht, dass wir kaum vorwärts kamen. Ich musste mit den Füßen Schwung geben. Als wir unten waren, sind wir noch auf dem Schlitten sitzen geblieben und sie hat mich weiter festgehalten. Durch unsere dicken Jacken hindurch konnte ich ihre Arme fühlen. Sie hat fest zugedrückt und ihren Kopf an meinen Rücken gelegt. ‚Vielleicht schneit es morgen wieder’, habe ich gesagt, ‚dann geht es besser mit dem Schlitten.’ – ‚Es ist auch so gut’, hat sie geantwortet. ‚Hauptsache, Hitler kommt nicht und stört uns nicht.’ Stattdessen ist ihr Vater in seinem Wagen die Einfahrt hochgekommen. Vor dem Haus hat ihm der Chauffeur die Tür aufgehalten. Leahs Vater hat uns gesehen und uns zugewinkt. Später im Haus haben wir heißen Kakao getrunken, als er zu uns in die Küche kam. Er hatte meine Jacke in der Hand. ‚Ida hat den Henkel angenäht’, sagte er und hat sie mir wiedergegeben. Aus dem Salon konnten wir Leahs Mutter auf dem Flügel spielen hören. Sie war früher Opernsängerin gewesen, jetzt singt sie nicht mehr. Sie hat es auf der Lunge, sagt Leah. Sie spielt deshalb nur noch Klavier. Wir sagten alle nichts und Leahs Vater ging die Treppe hoch. Kurz darauf bin ich nach Hause gegangen. Von draußen konnte ich noch eine Weile das Klavier hören. Es war dunkel. Leah hat mir aus dem Küchenfenster nachgesehen.

 

 

Montag, 20. März 1933

Max Brauer ist geflohen. Und Papa ist krank, zum ersten Mal. Er sitzt in der Küche und hält seinen Kopf über eine Schüssel mit heißem Kamillenwasser. Unter dem Tuch, das er über sich gehängt hat, kann man ihn kaum verstehen. ‚Wo ist Max’ sagt er zu Mama. ‚Woher soll ich das wissen`, antwortet sie. Immer wieder fragt er sie. ‚Du weißt es doch’, sagt er. ‚Unsinn!’ schreit sie und schickt mich raus aus der Küche. Dann schreit sie ihn an. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber es hat mit mir zu tun.

 

*

 

„Ich stand auf dem Flur und rührte mich nicht vom Fleck, ich hatte Angst,“ sagte Johannes und sah mich mit großen Augen an. „Weil ich spürte, dass meine Mutter ebenfalls Angst hatte. Das hatte ich noch nie zuvor bemerkt bei ihr.“

„Möchtest du noch einen Wein?“ fragte ich.

„Ja.“ Ich ging in die Küche und rief von dort. „Es ist aber keiner mehr da!“

„Egal“, sagte Johannes leise.

„Was?“

„Egal!“ rief Johannes zurück.

Ich kam wieder ins Zimmer und nahm meinem Großvater das Tagebuch aus der Hand, das ihm von den Knien zu rutschen drohte. Ich steckte einen Finger in die Seite, die wir zuletzt gelesen hatten. „Kannten deine Eltern Max Brauer?“ fragte ich.

„Ja. Clara stammte aus Altona, Brauer ebenfalls, aber ich weiß nicht, wie gut sie sich gut kannten. Claras Eltern waren in der SPD gewesen, vielleicht kam die Bekanntschaft dadurch zustande. Zumindest hatte es in den letzten Jahren, als er Bürgermeister von Altona war, keine Kontakte gegeben, von denen ich etwas erfahren hätte.“

„Warum glaubte Karl dann, sie wüsste etwas?“

„Keine Ahnung. Sie muss aber tatsächlich irgendetwas gewusst haben. Vincent Krogmann wurde Hamburger Bürgermeister, nachdem die Nazis die Wahl am 5. März 1933 gewonnen hatten. Und von dem Tag an räumten sie auf. Max Brauer stand ganz oben auf ihrer Liste. Er ist untergetaucht. Aber von diesen Dingen wusste ich damals natürlich  nichts.“

„Und wann haben sie deine Mutter abgeholt?“

„Gleich danach. Als ich aus der Schule kam, guckte die Nachbarin aus ihrer Tür und winkte mich zu sich. ‚Geh nicht rein, die Nazis sind bei euch!’ sagte sie leise zu mir. Ich begriff nicht und lief rüber zu unserem Haus. In der Küche standen zwei Männer. Sie sahen absurd aus, in kurzen Hosen, mit Kniestrümpfen und Mützen auf. Alles in braun. Nur der Gürtelriemen war aus schwarzem Leder. Clara saß auf einem Stuhl vor ihnen. ‚Ich fürchte, wir müssen Sie bitten mit uns zu kommen’, sagte der eine gerade zu ihr, als ich eintrat. ‚Oh, wen haben wir denn da?’ sagte er freundlich, als er mich erblickte. Er drehte den Kopf wieder zu Clara. ‚Den jungen Mann können wir ja auch gleich mitnehmen, vielleicht weiß er etwas über Onkel Max.’ Ich sah meine Mutter verständnislos an. ‚Hast du Onkel Max gesehen in den letzten Tagen?’ fragte mich der andere. Er lächelte nicht so nett, sondern sah mich ausdruckslos an, als würde er gar nicht mit mir sprechen. ‚Wen?’ fragte ich.

Jetzt lächelte er auch, aber nicht nett. ‚Genau so ahnungslos wie seine Mama!’ – ‚Sieht so aus,’ sagte der erste. ‚Er muss sicherlich gleich Hausaufgaben machen. Ich glaube es genügt, wenn Sie uns begleiten,’ sagte der Freundliche zu Mama gewandt. ‚Kommen Sie, Ihr Herr Sohn verzichtet heute ausnahmsweise auf sein Mittagessen. Kommen Sie, kommen Sie!’ sagte der andere und stellte sich hinter Clara. Sie legte das Kartoffelschälmesser auf den Tisch und wischte ihre Hand an der Schürze ab. ‚Darf ich vielleicht noch Schuhe anziehen?’ fragte sie und deutete auf ihre Hauspuschen. ‚Aber selbstverständlich, gnädige Frau, wir sind doch keine Unmenschen!’ lachte der Freundliche. ‚Niemand muss bei uns in Puschen auf die Straße gehen, stimmt’s Siegfried?’ Der andere nickte knapp. Kurz darauf nahmen sie Clara in ihre Mitte, ich glaube, einer hakte sich sogar bei ihr unter. ‚Sie kommt gleich wieder,’ sagten sie zu mir. ‚Sie möchte uns nur in Ruhe ein wenig über Onkel Max erzählen. Kannst schon mal die Kartoffeln weiter schälen.’ Dann strich er mir im Vorbeigehen über den Kopf. ‚Netter Junge! Brauchst dir keine Sorgen um deine Mama zu machen, nicht wahr, Frau Bluhm?’“

„Wie hat sie reagiert? Das war doch `ne glasklare Drohung...“ sagte ich.

„Gar nicht. Sie hat mich nicht angesehen. Ich glaube, damit wollte sie ihnen zeigen, dass man sie nicht so leicht einschüchtern konnte. Ich stand in der Küche, als sie weg waren, alles war ganz still. Sie hatten die Tür offen gelassen. Ich spürte immer noch den Luftzug der beiden Männer, die in dem kleinen Raum dicht an mir vorbeigegangen waren. Sie waren mir riesig vorgekommen. Trotzdem war ich absolut sicher, dass Clara nichts passieren würde. Sie war unverletzbar.

Und dann stand die Nachbarin in der Küchentür. ‚Wir haben deinem Vater schon Bescheid sagen lassen. Er kommt sicher bald’, sagte Frau Wullenweber. ‚Hast du Hunger? Ja, du musst Hunger haben. Komm mit rüber. Ich habe Essen auf dem Herd.’ Stattdessen rannte ich an ihr vorbei aus der Tür und dann aus dem Haus. Mit meinem Ranzen auf dem Rücken lief ich die Elbe entlang bis nach Flottbek. Leah war noch nicht da, sie hatte an diesem Tag länger Schule als ich. Das Hausmädchen öffnete mir, als ich klingelte, und führte mich zu ihrer Mutter.

Sie saß im Bett, sah aber aus, als wäre sie vollständig angezogen. Zumindest trug sie einen Morgenmantel. Sie war blass. ‚Madame!’ sagte das Hausmädchen, ‚entschuldigen Sie Madame, ich dachte...’ Cäcilia Liebling nickte und sah sie freundlich an. ‚Danke, Hannah’, sagte sie nach einer Weile. Das Mädchen ging rückwärts aus dem Raum.

‚Was ist passiert?’ fragte sie. Ich sagte es ihr. Sie streckte eine Hand aus, ich trat dicht an das Bett heran. Es war hoch, viel höher als unsere Betten. Durch die bauschige Bettwäsche wirkte es wie eine Burg, von der aus sie auf mich hinunter blickte. ‚Bei uns waren sie auch.’ Sie sagte es weder traurig noch furchtsam, sondern so als teile sie mir mit, dass es bei ihnen auch geregnet hätte. ‚Sie waren bei vielen. Sie suchen den ehemaligen Bürgermeister von Altona. Sie waren bei fast allen Juden hier in der Gegend. Und bei den Sozialdemokraten auch. Ich habe es heute besonders stark auf der Lunge’, sagte sie dann übergangslos. ‚Deshalb sitze ich hier im Bett. Es ist besser, wenn ich mich wenig bewege. Ich kann dann besser atmen. Und wie geht es dir?’ – ‚Wann kommt Leah?’ fragte ich. – ‚Gleich’, antwortete sie, ‚sie muss gleich hier sein. Geh solange in die Küche. Ida macht dir was zu essen. Oder hast du schon gegessen?’ Ich schüttelte den Kopf.“

„Wann ist Leah dann gekommen?“ fragte ich.

„Ich habe den ganzen Nachmittag gewartet. Ich saß am Küchentisch und war wie gelähmt. Ich rührte mich fast nicht, ich aß auch nicht von dem Labskaus, den Ida vor mich stellte. Ich gab ihr nur meine Jacke, damit sie den Henkel annähen konnte, der aber gar nicht abgerissen war. Sie saß mir gegenüber und nähte trotzdem. Das war ungewöhnlich, normalerweise machte sie das nur in ihrem Zimmer. Ich spürte, dass irgendetwas anders war, es lag irgendetwas in der Luft. Ich musste furchtbar nötig, aber ich hatte nicht die Kraft aufzustehen und zur Toilette zu gehen. Nach einer Weile verlor sich das Gefühl. Erst am frühen Abend kam Leah, zusammen mit ihrem Vater. Sie sahen beide erschöpft aus. ‚Spielt noch etwas, wir bringen dich dann heim’, sagte er. Leah und ich gingen in ihr Zimmer. Dort nahm sie meine Hand und sah mich starr an, als wir auf dem Boden saßen. ‚Er hat mich von der Schule abgeholt‚ viele Eltern haben das gemacht. Es standen eine Menge Leute vor der Schule herum, auch die in den kurzen Hosen.’ – ‚Was haben die gemacht?’ – ‚Nichts. Aber alle hatten Angst vor denen. Manchmal stellten sie sich den Eltern in den Weg, dann rangelten sie miteinander. Aber alle sind dann nach Hause gegangen. Deine Mutter ist wieder da,’ sagte sie dann unvermittelt. – ‚Woher weißt du das?’ – ‚Vater hat es mir gesagt, er kennt irgendwelche Leute bei der Polizei. Von denen weiß er es, glaube ich. Sie haben sie nach Hause gebracht.“

Mein Sohn, der Salonlöwe

 

 

Donnerstag, 11. Mai 1933

In der Schule hat Herr Dr. Göttert gesagt, dass gestern die neue Zeit begonnen hat. Endlich ist Schluss mit dem Unsinn, hat er gesagt. Als David ihn gefragt hat, was er meint, hat er ihn lange angeguckt und dann gesagt: ‚Du bist auch so einer. Ihr habt unser Land auf dem Gewissen.’ Er sah ein paar Minuten aus dem Fenster und dann hat er plötzlich zu David gesagt: ‚Geh raus, ich will dich heute nicht mehr sehen in meiner Klasse.’ David ist leise aufgestanden und hat das Klassenzimmer verlassen. In der Pause hab ich ihn gefragt, was da los war. Es geht um die Bücherverbrennungen, hat er gesagt. Seit gestern verbrennen sie Bücher. Auf offener Straße. Sein Onkel hat auch Bücher geschrieben, die sie gestern verbrannt haben. Er wollte mir nicht verraten, wer sein Onkel ist. Ist besser für dich, hat er zu mir sagt. Der Onkel ist schon weg, fährt nach Amerika. Wahrscheinlich machen seine Eltern das auch bald, hat er gesagt. Aber ich soll es keinem weitersagen. Schade, David hat mich immer seine Mathe-Hausaufgaben abschreiben lassen. Deshalb habe ich letztes Jahr eine Vier geschafft, ohne ihn wäre es eine Fünf geworden.

 

*

 

„Sind viele jüdische Familien  gegangen?“ fragte ich.

„Nicht nur die“, antwortete mein Großvater. „Alle möglichen anderen auch. Vor allem Leute, die in jenen Parteien waren, die früher in der Bürgerschaft mehr Stimmen als die Nazis hatten. Im Juni haben sie dann ja die SPD verboten, und einen Monat später alle anderen auch.“

„Und Max Brauer?“

„Den haben sie durch die halbe Republik gejagt. Er wurde seit März steckbrieflich gesucht, weil er angeblich Bestechungsgeschenke vom Intendanten des Altonaer Theater angenommen hat. Absurd!“

„Hatte deine Mutter etwas gewusst darüber, wo er sich versteckt hielt?“

„Ich weiß es bis heute nicht. Als ich an dem Abend nach Hause gebracht wurde vom Hausmädchen der Lieblings, war sie schon da. Karl auch. Er saß kreidebleich auf der Küchenbank und starrte auf seine Hände. Er ging nicht zum Doppelkopf an diesem Tag. Sie hat mich in den Arm genommen und nur gesagt: ’Gut, dass du zu ihnen gegangen bist.’“

 

*

 

Montag, 16. September 1935

Ich werde nicht mehr mit meiner Mutter zu den Lieblings gehen. Sie darf dort nicht mehr arbeiten. Juden dürfen keine Arier mehr beschäftigen, und auch keine heiraten, hat Mama mir erzählt. Mischehen heißt das und ist jetzt verboten. Nur die schon lange verheiratet sind und Kinder haben, die können weiter zusammen wohnen. Also Leahs Eltern dürfen verheiratet bleiben. Ich bin ohne Mama zu Leah gefahren mit der S-Bahn. Sie hat es mir erlaubt. Sie wussten dort nicht, dass ich komme, aber sie haben sich über meinen Besuch gefreut. Ich durfte mit ihnen zu Abend essen. Es war anschließend so spät, dass der Chauffeur mich nach Hause gefahren hat.

 

*

 

 

„Was fuhren die für einen Wagen?“ wollte ich wissen.

„Einen Horch“, antwortete Johannes. „Ich saß vorn neben dem Fahrer. Hinter uns war eine Glasscheibe, die den Raum der Fahrgäste abtrennte. Zwei Leder bezogene Sitzbänke standen sich dort gegenüber. Man konnte die Glasscheibe mit einer Kurbel herunter lassen. Der Chauffeur hat es mir gezeigt, um mich aufzuheitern. Ich durfte auch kurbeln. Aber es half nichts, ich musste immerzu mit den Tränen kämpfen.“

„Wegen der Sache mit Clara?“

„Nein, nicht deshalb. Sie haben mir gesagt, dass sie ihr helfen würden, eine andere Arbeit in einem anderen Haushalt zu finden. Das haben sie tatsächlich gemacht. Einen Monat später putzte meine Mutter in einem fast ebenso feinen Haushalt in Hochkamp. Keine Juden. Nein, der ganze Abend hatte mich irritiert. Vor allem, weil Leah so bedrückt war.“

„Hattest Du schon einmal mit der Familie zusammen bei Tisch gesessen?“ fragte ich.

„Nein.“

„Was hat dich denn bedrückt?“

„Es war eine seltsame Atmosphäre. Erst war alles ganz normal, Samuel hat mit uns Kindern Witze gemacht, hat mir immer wieder den Teller nachgefüllt. Es gab koscheren Kalbsbraten mit Wurzelgemüse. Ich weiß das noch wie heute: Nur er durfte die Teller auffüllen, mir legte er ungefragt nach. ‚Wir Männer müssen essen. ‚Hier schau – schon mein dritter Teller! Du hast erst zwei’, sagte er und lachte dröhnend. Irgendwann, als alle satt waren, erhob sich Cäcilia, ging in den Salon und begann auf dem Flügel zu spielen. Leah glitt von ihrem Stuhl, sah mich kurz an und ging in ihr Zimmer. Ich folgte ihr. Sie saß still auf der Bettkante und blickte auf ihre Füße. Wir hörten, wie ihr Vater die Treppe hinauf stieg.“

„Ja und, was ist daran so ungewöhnlich?“

„Alles wirkte wie eine Inszenierung. Alle taten die Dinge wie in einer Art Trance. Sie waren auf einmal so anders.“

„Wegen der politischen Ereignisse, hatte sie das so mitgenommen?“

Johannes seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein, das spielte offenbar keine Rolle bei ihnen, zumindest sprachen sie nicht darüber. Mir fiel auf, dass gleich nach Samuel auch das Hausmädchen die Treppe hoch ging, leise zwar, aber es war zu hören, weil ihre Schürze raschelte. Dann klappte oben eine Tür, die vom Schlafzimmer. Leah saß wie angenagelt auf der Bettkante, ihre Mutter spielte weiter Klavier.“

Ich beugte sich vor und sah meinen Großvater mit großen Augen an. „Du meinst...“

Johannes hob die Schultern. „Ich meine gar nichts. Leah sagte nur: ‚Wir bleiben hier, bis sie aufhört zu spielen.’ Sie hielt mir ihre Hand hin, ich ergriff sie. Sie war kalt. Die Finger zitterten leicht. ‚Es ist, weil Mutter so krank ist,’ sagte sie leise. ‚Deshalb macht er das.’ Ich begriff nicht. Und ich wagte nicht zu fragen.“

„Wie hieß das Hausmädchen noch mal?“ fragte ich.

„Hannah. Nach einer Weile kam sie wieder die Treppe herunter. Kurz darauf dann auch Samuel. Erst als er in den Salon trat, beendete seine Frau ihr Klavierspiel.“

„Und dann?“

„Dann sah Samuel mich vor Leah sitzen, wir hatten uns nicht von der Stelle gerührt. Als er mich erblickte, schien das normale Leben im Haus plötzlich wieder weiter zu gehen. ‚Oh, du bist ja noch da!’ rief er. ’So spät ist es schon! Habt ihr euch gut amüsiert?’ Er war jetzt wieder so wie immer, temperamentvoll, dröhnend, mit lachenden Augen. ‚Um diese Zeit kannst du nicht mehr mit der Bahn fahren. Leo fährt dich mit dem Wagen. Komm Leah, verabschiedet euch.’ Sie sah mich an, als wäre sie noch nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Ihr trauriger Blick verfolgte mich während der Autofahrt. Ich begriff nichts, ich spürte nur, dass irgendetwas nicht stimmte.“

 

*

 

Freitag, 1. November 1935

Ich gehe in ein Konzert. Mit Leah und ihrer ganzen Familie. Sie wollen mich mitnehmen ins Logenhaus am Dammtor, wo ein Pianist auftritt. Erst wollte Papa nicht, dass ich mitgehe, weil ich keine guten Sachen zum Anziehen habe, hat er gesagt. Aber dann kam Leahs Vater am Donnerstagabend auf einmal bei uns angefahren, um mit ihm zu sprechen. Es klopfte, sie sagten ‚herein’, und er kam rein. Mama und Papa haben kaum geatmet, als er in die Küche trat. Er war so groß, viel größer als Papa. Erst vergaßen sie, ihm einen Platz anzubieten vor Aufregung. Sie dachten, es wäre etwas passiert, etwas Schlimmes. ‚Nein, nein’, hat Leahs Vater gesagt, ‚alles in Ordnung. Es geht nur um das Konzert. Ich habe gehört, Sie möchten nicht, dass Johannes mitkommt. Ich möchte Sie aber bitten, es ihm zu erlauben. Es wird ihm gefallen, der Pianist ist ein alter Freund meiner Frau, er hat sie früher am Klavier begleitet, als sie noch Sängerin war. Wir haben eine Eintrittskarte für Johannes, er sitzt mit uns zusammen, direkt neben Leah. Wir bringen ihn hinterher zu Ihnen zurück. Gesund und munter, versprochen!’ Sie starrten ihn an mit offenem Mund, wie er da in der Küche stand in seinem dunklen Anzug, und Mama hatte gerade das Brot auf den Tisch gestellt. ‚Ich will sie nicht beim Essen stören’, sagte Leahs Vater. ’Ich geh’ schon wieder. Also – darf er mit uns kommen?’ Sie sahen ihn an wie einen Geist, dann nickte erst Mama, dann Papa. ‚Gut, er braucht sich nicht besonders hübsch zu machen, das tun wir auch nicht. Guten Appetit, Gott segne sie!’ Dann ging er.

‚Na dann’, sagte Papa, ‚prost!’ Und er trank seine Bierflasche in einem Zug aus. Dann rülpste er und sagte: ‚Komm her zu mir.’ Er fasste mich an den Schultern und sagte: ‚Feine Freunde hast du da. So einer war noch nie in unserem Haus. Wenn das man gut geht. Aber ich will dir nicht den Spaß verderben, dir und deiner kleinen Freundin.’ Ich wurde knallrot und Mama sagte: ‚Leah ist keine kleine Freundin, sie ist eine große Freundin. Nicht wahr, Johannes?’ Sie wollte mir über den Kopf streichen, aber ich lief raus, ich wäre am liebsten bis zu Leah gelaufen. Ich setzte mich in den Schuppen, roch das Holz und sah auf die Elbe. Ich hatte das Gefühl, das etwas Großes kommt. Und ich dachte an Leah, was sie wohl gerade macht.

 

 

Montag, 4. November 1935

Mama hat mich hingebracht zu den Lieblings und mir dauernd übers Haar gestrichen. Leahs Mutter hat uns begrüßt und ihr erzählt, dass sie sich keine Sorgen um mich machen muss. Alle würden gut auf mich aufpassen. Am liebsten hätte ich ihre Hand weggehauen, aber das wäre nicht nett gewesen. Leah stand neben mir und hat mich angeschaut, als würde sie sagen: Lass sie ruhig auf deinem Kopf herumtatschen, sie liebt das. Leah weiß, was Menschen fühlen. Manchmal sagt sie mir Sachen, auf die würde ich nie kommen. Als wir zum Beispiel darüber gesprochen haben, dass vor ihrer Schule in der Karolinenstraße neuerdings Kinder aus anderen Schulen stehen und sie mit Sand und Steinen bewerfen, hat sie gesagt: ‚Die wollen unsere Kleider schmutzig machen, weil sie schmutzige Gedanken haben. Dann denken die, sie selbst sind nicht schmutzig, sondern wir. Und dann fühlen sie sich besser.’ Ich fragte, was für schmutzige Gedanken die haben, und sie sagte: ‚Das weiß ich nicht, aber viele Kinder haben Angst und machen dann anderen Angst, damit sie selbst keine mehr haben.’ – ‚Hast du Angst?’ fragte ich. ‚Nein, ich habe ja dich.’ antwortete sie.

Wir sind mit drei Autos zum Logenhaus gefahren, Ida ist auch mitgekommen, zusammen mit ihrer Pflegerin, Leahs Großvater, der in der Villa nebenan wohnt mit seiner eigenen Haushälterin, und Leahs Schwester Judith und ihr Verlobter. Alle Männer hatten ihre Kippas auf. Es hat geregnet, als wir ankamen und Männer mit Regenschirmen sind zu den Autos gelaufen, die vorfuhren, und haben Schirme über die Leute gehalten. Auch über uns. Drinnen waren schon viele Menschen in der Eingangshalle. Als wir kamen, haben sich alle zu uns umgedreht. Es war, als hätten sie auf uns gewartet. Leahs Vater schüttelte vielen die Hände. Sie waren alle dunkel angezogen, ich auch. Mein Anzug gehörte früher Papa, er ist damit konfirmiert worden. Ich werde nicht konfirmiert, Mama will das nicht.

Unsere Plätze waren vorn, in der Mitte. Der Pianist hat sich in Richtung Leahs Mutter verbeugt und sie hat ihm zugenickt. Dann spielte er, und ich sah Leah an. Wir saßen nebeneinander. Wir haben uns nicht berührt, aber es war so, als wären wir ganz allein. ‚Die Musik hat uns eingehüllt’, hat sie hinterher zu mir gesagt. ‚Ich hab dich so gespürt, als würdest du mich umarmen.’

Als der Pianist fertig war, sind alle aufgestanden und haben applaudiert und wieder machte er eine kleine Extra-Verbeugung zu Leahs Mutter. Anschließend war ein Fest in der Villa der Lieblings, wo der Pianist auch erwartet wurde. Ich bin aber nach Hause gebracht worden von Leo, dem Chauffeur, weil es schon spät war. ‚War’s schön da drinnen?’ hat er mich gefragt auf der Fahrt. ‚Hier draußen hat es nur geregnet, die ganze Zeit.’ Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte, er hat mir leidgetan, weil er die ganze Zeit im Auto sitzen musste. Er hielt mich bestimmt für dumm. ‚Na ja, brauchst nichts zu sagen, junger Mann’, sagte er.

Mama war noch wach, als ich heimgekommen bin, es war schon halb elf. Sie hat mir warme Milch gemacht und gesagt: ‚Ich kann sehen, dass es dir gefallen hat. Das sehe ich an deinen Backen, die sind ganz rot. Und deine Augen fallen gleich zu.’ Obwohl ich immer noch die Musik hörte und Leahs Gesicht vor mir sah, als Mama mich zu Bett brachte, bin ich sofort eingeschlafen. Beim Frühstück musste ich dann alles erzählen, haarklein. Papa ist sogar später als sonst zum seinem Sonntags-Frühschoppen in die ‚Dockenhudener Stuben’ gegangen, um alles von mir zu hören. ‚Mein Sohn!’ rief er und lachte, ‚mein Sohn, der Salonlöwe von Blankenese!’

Und dann schmeißen wir sie raus

 

 

Freitag, 10. Januar 1936

Leah heißt eigentlich Leah Johanna Sara Cäcilia Ida. Das hat sie mir heute verraten, als wir an der Elbe waren, um die Eisschollen am Strand zu sehen. An manchen Tagen verraten wir uns Sachen, die wir noch nicht voneinander wissen. Es ist kalt, das Wasser friert andauernd zu, und Schlepper fahren hin und her, um es offen zu halten für die Schiffe, die in den Hafen wollen oder zur Nordsee. Sie hat mir ihren Namen so gesagt, als wenn es ein großes Geheimnis wäre. Leise sprach sie in mein Ohr, obwohl niemand in unserer Nähe war. Es weiß sonst keiner und sie sagt es außer mir niemandem, weil sie die Namen nicht schön findet. Vor allem Ida nicht, das klingt nach Igitt, findet sie. Ich musste darüber lachen, weil ich ihre Großtante tatsächlich manchmal igitt finde, wenn sie mich anfasst und so. Da hat Leah mir dann noch ein Geheimnis erzählt, nämlich dass Ida früher mal in Afrika gelebt hat, weil sie mit einem Engländer verheiratet war, der dort als Offizier stationiert war. Aber der ist gestorben an einer afrikanischen Krankheit, und Ida ist trotzdem dort geblieben. Sie hat dann mit einem Neger zusammengelebt, vielleicht ein Häuptling, meint Leah. Ida hat ihr in ihrem Zimmer nämlich mal einen Speer aus Afrika gezeigt, einen Häuptlings-Speer.

 

 

Sonnabend, 11. Januar 1936

Ich habe geträumt von Ida als Negerin mit einem Bastrock in einer Basthütte und einem Basthut. Sie hatte eine Sonnenbrille auf, aber ich habe trotzdem genau gemerkt, dass sie mich anguckt. Sie wollte, dass ich zu ihr komme, aber ich bin nicht zu ihr gegangen, weil ich Angst vor ihr hatte. ‚Dein Henkel, dein Henkel’, hat sie gerufen, ’ich will ihn annähen!’ Da wollte ich weggelaufen, ich hatte nämlich gar keine Jacke an, also gab es auch gar keinen Henkel zum annähen, sie wollte nur, dass ich in ihre Nähe komme, damit sie mich anfassen kann. Sie hatte nackte Brüste, die waren ganz klein und nicht dunkel, sondern weiß, so wie die von Leah. Ich konnte aber nicht weglaufen, meine Füße steckten im Matsch fest, und Ida ist mit einem Speer immer nähergekommen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich werde Leah davon erzählen.

 

 

Montag, 13. Januar 1936

Wir sind wieder an der Elbe gewesen. Die Eisschollen waren so hoch wie Türme, aber diesmal waren wir nicht allein am Strand. Es sind viele Leute zum Gucken gekommen, weil Sonntag war. An einigen Stellen war es so voll am Strand wie im Sommer, wenn die Familien Picknick machen und baden. Es war blauer Himmel, das Eis und der Schnee haben geglitzert, dass einem die Augen wehtaten.

Ich habe Leah von dem Traum erzählt, der immer noch ganz genau in meiner Erinnerung da ist. Als ich einmal zögerte, hat sie gesagt, ich soll alles erzählen, und da hab ich auch das mit den Brüsten gesagt, nämlich dass sie weiß und klein waren wie Leahs, im Gegensatz zu Idas übrigem Körper, der schwarz war. Da ist Leah stehen geblieben und hat mich komisch angeguckt. ‚Woher weißt du denn, dass meine weiß sind? Vielleicht sind sie ja schwarz und außerdem ganz groß.’ – ‚Das glaube ich nicht,’ sagte ich, ‚sonst hättest du es mir schon mal erzählt.’ Wir haben beide gelacht, so dass einige Leute sich zu uns umdrehten und guckten. Zu einem Mann, der besonders neugierig guckte, sagte Leah: ‚Er ist nämlich ein Neger-Häuptling’ und hat auf mich gedeutet. – ‚Ja, so sieht er auch aus’, sagte der Mann, da mussten wir noch mehr lachen. Der Traum machte mir auf einmal keine Angst mehr.

‚Willst du sie sehen?’ fragte Leah, als wir auf einer Eisscholle am Strand standen und rüber zum Schweinesand guckten. Auf der Elbinsel hat die Polizei ein Gefängnis gebaut für Sozis, hat Papa mir gesagt. Sozis sind die Feinde von den Nazis, hat er mir erklärt. Ich hab ihn gefragt, ob das so ist wie mit Victoria und Altona 93. Schlimmer, hat er gesagt, da wird nicht Fußball gespielt. ‚Sehen? Die Gefangenen?’ fragte ich Leah. – ‚Nein, du weißt schon’, antwortete sie und berührte meine Hand mit ihrem dicken Fausthandschuh. Ich wusste, was sie meinte. ‚Jetzt gleich?’ fragte ich. Da mussten wir wieder lachen.

 

 

Dienstag, 14. Januar 1936

Als ich heute aus der Schule kam, waren viele Leute bei uns in der Küche. Mama sah aus, als wenn sie geweint hätte, und die anderen haben alle durcheinander geredet. Einige kannte ich, es waren Freunde von Papa. Einer nahm mich gleich zur Seite und sagte: ‚Sie haben ihn heute Vormittag von der Arbeit weg geholt. Er ist jetzt auf Schweinesand bei den Schweinenazis!’ – ‚Was wollen die von ihm, er ist kein Sozi,’ sagte ich leise und habe versucht einen Blick auf Mama zu werfen, die mich noch gar nicht bemerkt hatte. ‚Wer weiß das schon so genau’, sagte der Mann, ‚Clara, dein Sohn ist da!’ Sie sprang vom Stuhl auf, fasste mich bei der Hand und ging mit mir vor die Tür. ‚Es passiert ihm nichts’, sagte sie, ‚es passiert ihm nichts!’ Sie wiederholte es immer wieder, bis sie weinte. ‚Das kommt von Doppelkopf – er spielt mit den falschen Leuten Karten! Ich hab es ihm immer wieder gesagt!’ –‚Es passiert ihm  nichts’, sagte ich und strich ihre Tränen weg. ‚Ja’, sagte sie, ‚gar nichts passiert ihm. Es ist alles ein Missverständnis.’

Es hat viele Missverständnisse gegeben heute. Einer der Männer erzählte, die Polizei ist überall mit Lastwagen herumgefahren im Hafen und hat Männer von ihren Arbeitsstellen geholt. Sie mussten auf den Lastwagen stehen. Auf Papa haben sie am Anleger gewartet, bis er mit seiner Barkasse angefahren kam. Manche sind nach Fuhlsbüttel gebracht worden, manche nach Schweinesand. Von Schweinesand kann man nicht weg. ‚Aber vielleicht jetzt, weil die Elbe vereist ist und man drüber laufen kann’, sagte ich. ‚Der Mann lachte kurz: ‚Sie haben auch einen Zaun drum herum, da kommt man nicht weg.’

Mama hat erlaubt, dass ich am Nachmittag zu den Lieblings fahre, ich soll mit der S-Bahn zurückkommen, das mit dem Chauffeur will sie nicht. Leahs Vater war nicht da, er ist auf Reisen. Ich habe gleich alles erzählt. ‚Ja, nicht nur Sozis’, sagte Leahs Mutter, ‚alle möglichen haben sie geholt heute, auch von unseren Freunden. Aber die ersten haben sie schon wieder nach Hause gehen lassen. Manche erzählten, sie mussten heimlich Geld bezahlen, dann durften sie gehen.’ Ich bin nicht lange geblieben, ich wollte gleich nach dem Essen zurück zu Mama. Es gab Mazze, ich mag das. Das Hausmädchen hat heute nicht nur serviert, sondern auch mit am Tisch gegessen. ‚Ich bringe dich zur S-Bahn’, sagte Leahs Mutter. Am Bahnhof gab sie mir einen Briefumschlag für Mama. Er war dick, ich glaube, es ist Geld drin gewesen. ‚Verlier ihn nicht’, sagte sie und tippte mir auf meine Pudelmütze, als ich in die Bahn stieg. Leah war auch mitgekommen und hat mich durch die Scheibe mit dem Hab-keine-Angst-Blick angeschaut, als der Zug losfuhr. Es sind nur zwei Stationen bis Blankenese. Es war so voll im Nichtraucherabteil, dass ich ins Raucherabteil gegangen bin, wo die Luft ganz blau war. Mir ist etwas übel geworden.

 

Sonnabend, 18. Januar 1936

Papa ist heute wieder nach Hause gekommen. Er hat alt ausgesehen und ganz anders. Und er roch ungewaschen. Als ich von der Schule kam, saß er im Wohnzimmer und ein paar Freunde waren da. Sie hatten eine Flasche Korn auf dem Tisch stehen und tranken daraus ohne Gläser. Auch Mama. Als sie mich im Zimmer stehen sah, sagte sie, ich soll nach oben gehen. Sie kam dann gleich danach zu mir. ‚Papa ist krank, vielleicht muss er ins Krankenhaus’, sagte sie. ‚Er muss immer Blut spucken. Und er pinkelt Blut.’ Sie fasste in ihre Rocktasche und holte einen Briefumschlag heraus. ‚Ich möchte, dass du für ein paar Tage nicht zur Schule gehst. Nimm dir in der Küche etwas von dem Brot, wenn du Hunger hast, und geh dann gleich zu den Lieblings. Gib ihnen diesen Brief.’ Ich sagte nichts. Es war alles so anders als sonst. ‚Darf ich Papa sehen?’ fragte ich. Sie nickte und nahm mich bei der Hand.

Vor der Couch blieb ich direkt vor ihm stehen. Als er die Arme ausstreckte, ließ ich mich umarmen und hielt den Atem an wegen des Geruchs. Als er mich an sich drückte, sah ich, dass an seinem Ohr Blut klebte, und auch sein Haar am Hinterkopf war ganz verklebt. Er hat mich auf Armlänge vor sich gehalten und mich angesehen. Sein linkes Auge – das von mir aus rechts – war rot. Es sah eklig aus. ‚Wir machen sie fertig’, sagte er leise, so als würde mich das beruhigen oder mir die ganze Sache erklären. ‚Das lassen wir nicht so stehen.’ Ich nickte und sagte: ‚Ich hab jetzt Hunger.’ Er hat mich losgelassen und über meine Wange gestrichen und gesagt: ‚Das ist gut, nur wer Hunger hat, erkennt die Wahrheit.’ Sein Atem roch nach Schnaps. Bevor ich losging, habe ich noch mein Tagebuch eingesteckt. Ich wollte es nicht dalassen. Das habe ich hier jetzt in der Bahn geschrieben, die zwei Stationen haben genau gereicht!

 

 

Sonntag, 19. Januar 1936

Leahs Mutter hat nicht besonders überrascht ausgesehen, als ich in der Eingangshalle vor ihr stand. ‚Leah ist noch nicht da, sie hat heute Nachmittag Probe für eine Schulaufführung’, sagte sie. Ich gab ihr den Brief, sie hat ihn gelesen ihn und dabei einige Male genickt. ‚Klar kannst du ein paar Tage bleiben’, sagte sie dann, ‚auch wenn du nichts mitgebracht hast zum Umziehen.’ Das fiel mir dann auch auf, aber ich habe ja nichts gewusst von Mamas Idee. Leahs Mutter hat den Brief in ihre Hosentasche gesteckt. Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, die Hosen trägt. Meistens eine schwarze Hose und eine weiße Bluse dazu. Manchmal auch umgekehrt. Das passt gut zu ihrem schwarzen Haar und ihrer weißen Haut. Sie hat eine  besonders weiße Haut, das hat Mama auch schon mal gesagt. Sie meint, feine Leute haben immer weiße Haut, daran erkennt man sie. Aber Leahs Mutter ist eine wirklich feine Frau, nicht eine, die nur so tut, sagt Mama.

‚Wir haben jetzt für ein paar Tage einen Mann im Haus’, sagte sie zu Leah, als sie von der Schule kam. ‚Er ersetzt Papa, bis er wieder zurück ist.’ Leah hat mich angelacht Ich hatte nicht gewusst, dass ihr Vater immer noch auf Reisen ist.

Sie musste noch Schularbeiten machen, und als ich währenddessen in die Küche ging, um Saft für sie und mich zu holen, ist das Hausmädchen hereingekommen. Sie sprach zum ersten Mal mit mir: ‚Sie bleiben zum Essen?’ hat sie gefragt. Ich nickte. Sie machte sich an den Abwasch. Als ich mit den zwei Gläsern wieder hinausgehen wollte, hat sie mich direkt angeschaut. ‚Und Sie sind jetzt der Mann im Haus, hat Madame gesagt?’ Ich schluckte und spürte, wie ich knallrot wurde. ‚Ein Scherz’, sagte ich, ‚das war ein Scherz. Ich bin ja erst vierzehn, fast vierzehn.’ – ‚So’, hat sie gesagt, ‚vierzehn. Da haben andere schon Weltreiche erobert.’ Ich wollte fragen, wer denn, aber da wandte sie sich schon wieder dem Spülbecken zu. Ich bin schnell aus der Küche gelaufen, ohne noch etwas zu sagen.

Beim Abendessen habe ich versucht, Hannah nicht anzuschauen. Sie trug das Essen auf und durfte dann am Tisch mit den anderen Platz nehmen. Ida, Leahs Schwester Judith und ihr Großvater waren auch dabei. Ihre Mutter hatte ihn aus seinem eigenen Haus rüber geholt. Er saß am Kopf des Tisches, dort wo sonst Leahs Vater sitzt, rechts von ihm Leahs Mutter, daneben Judith und Leah, dann ich. Und mir gegenüber saß Hannah, damit sie Ida helfen konnte, wenn die mit dem Besteck nicht zurecht kam, was öfter der Fall war. Leahs Großvater hatte seine Kippa aufgesetzt und einen Gebetsschal umgelegt. ‚Willst du den Schal nicht ablegen, Elazar? Eine Serviette wäre jetzt sinnvoller.’ fragte Leahs Mutter ihn. Er sah sie nachdenklich an. ‚Heute haben sie am Grindelhof wieder welche von uns angefallen. Kinder, die auf dem Heimweg waren vom Turnverein’, sagte er langsam. ‚Verprügeln wollten sie sie. Aber sie haben sich gewehrt. Von wegen krumme Beine – sie haben zurückgetreten. Unsere Kinder!’

‚Treten ist gemein’, sagte Leah. ‚Hauen ja, aber nicht treten.’

‚Und wenn du zuerst getreten wirst?’ fragte auf einmal Hannah. Leah hat nachgedacht, aber nichts gesagt. Stattdessen hat sie ihren Großvater gefragt: ‚Waren die von der Turnerschaft oder von Bar Kochba?’

‚Spielt das eine Rolle?’ entgegnete er.

‚Von Bar Kochba kenne ich welche, da sind welche auf meiner Schule. Die lassen sich nichts gefallen.’ Dann hat sie Hannah angeschaut: ‚Ja, wenn die anderen zuerst treten...’

‚Genau!’ rief Elazar gedehnt, warf sich in seinem Stuhl zurück und wischte sich mit dem Gebetsschal gründlich den Mund ab. ‚Die Zeiten sind vorbei, wo unsere Kinder weglaufen. Deshalb haben wir ja die Turnvereine gegründet. Dein Vater zahlt fast die Hälfte der Turnhallenmiete, wusstest du das?’ fragte er Leah. Dann ist er Ida mit dem Gebetsschal übers Kinn gefahren, wo ein Streifen Tomatensuppe, der ihr aus dem Mundwinkel lief, kurz davor war, auf ihre Bluse zu tropfen. ‚Hannah, ich glaube, jetzt wäre es Zeit für die Pastinaken, was meint ihr?’ fragte er.

‚Aber sie hat ihre Suppe noch nicht aufgegessen’, sagte Leah.

‚Gut, dann holst du das Gemüse rein’, antwortete er ihr.

Ich fühlte mich unbehaglich, als Leah um den Tisch herumgegangen ist, um die Teller abzuräumen – außer den von Hannah, die ja noch gegessen hat. ‚Schon gut’, sagte Hannah, erhob sich ebenfalls und folgte Leah.

Als hätte Elazar darauf gewartet, beugte er sich zu mir über Leahs leeren Platz hinweg. ‚Was sagst du dazu, junger Mann, du gehörst nicht zu uns, aber du sitzt bei uns am Tisch. Was sagst du dazu? Bist du im Turnverein? Ich war nicht im Turnverein, das gab es für unsere Leute nicht, als ich jung war. Das war verboten. Sie wollten nicht, dass wir trainieren können, verstehst du? Damit wir nicht weglaufen können, wenn sie Lust haben, einen von uns zu verprügeln. Das haben sie immer schon gern gemocht. Ich war oft in England. Und in Frankreich. Weißt du, junger Mann, dass es da noch schlimmer war als hier? Aber jetzt, jetzt haben sie sich verrechnet. Gut, die Nazis haben die Mehrheit im Rathaus und wir haben gar nichts dort. Wir dürfen keine Partei gründen, wir dürfen nicht wählen, weißt du. Aber wir haben das Geld, das die Stadt braucht. Wir sitzen am längeren Hebel. Und wir haben jetzt Turnvereine. Sie wollen uns jetzt endgültig klein kriegen? Irrtum – wir sind es, die sie am Schlafittchen packen. Und dann schmeißen wir sie raus. Meinetwegen bis nach Österreich, wo der Kerl herkommt.’

Leahs Großvater stand auf und ging vor dem Tisch auf und ab, während er auf mich einredete. Leah und Hannah standen im Durchgang zum Esszimmer mit den Gemüseschüsseln in der Hand und sahen ihn an. ‚Und noch was, junger Mann’, sagte er, ‚was du vielleicht noch nicht weißt...’

Leahs Mutter erhob sich und fasste ihn sanft am Ellenbogen. ‚Ich glaube, du solltest dich jetzt ein wenig ausruhen’, sagte sie. ‚Und danach legst du dich hin, ja? Hannah bringt dich gleich rüber. Nicht wahr, Hannah?’

Er sah sie an, nahm seine Kippa kurz ab, um sich am Kopf zu kratzen. ‚Samuel hat Glück mit dir.’ antwortete er und sah dabei Leahs Mutter an. ‚Und mir dir auch’, sagte er zu Hannah. Hannah stellte die Gemüseschüssel ab, band ihre Schürze auf und trat neben ihn. ‚Gehen wir’, sagte er. ‚Es war ein netter Abend.’ Ich spürte, wie Leahs Mutter mir einen Blick zuwarf, erwiderte ihn aber nicht.

‚Ida und ich machen das schon hier, nicht wahr, Ida?’ sagte Leahs Mutter und strich Ida über die Schulter. ‚Geht ihr ruhig noch spielen, wir räumen ab.’

In ihrem Zimmer lächelte Leah mich an und sagte: ‚Spielen. Spielen hat sie gesagt. Was wollen wir spielen?’

Ich war irritiert. ‚Schiffe versenken?’ schlug ich vor.

‚Das Spiel mag mein Vater überhaupt nicht. Er ist zwar nicht da, aber wir spielen es trotzdem nicht.’

Als ich gerade Stadt-Land-Fluss vorschlagen wollte, hörte ich, wie aus dem Salon der Flügel erklang. Leahs Mutter spielte. Ich stand stocksteif da und konnte mich nicht rühren. Leah trat dicht vor mich und legte ihre Hände auf meine Brust. ’Heute spielt sie für uns’, sagte sie, ‚dies ist unsere Zeit.’

 

*

 

„Wie lange hast du bei ihnen gewohnt?“ fragte ich, klappte das Tagebuch zu und suchte im Karton nach dem Fortsetzungsband.

„Vier Tage.“

„Und sie haben geduldet, dass ihr zusammen übernachtet habt? Oder wo hast du geschlafen?“

„In einem der Gästezimmer im Obergeschoss, nahe bei Idas Zimmer.“

„Nicht bei Leah?“

Johannes hielt die Weinflasche schräg ins Licht der untergehenden Sonne. „Guck mal nach, ob wir noch eine haben, diese ist leer. Reicht gerade noch für ein Glas.“

Ich erhob mich. „Und dann beantwortest du mir meine Frage, ja?“ Ich ging den langen Flur hinunter in Richtung Küche. Als ich wieder ins Zimmer trat, hatte Johannes sich erhoben und stand vor der Balkontür, die halb offen war. Er blickte versunken in den baumbestandenen Hinterhof des Hamburger Grindelviertels, wo um diese späte Stunde kein Kind mehr spielte, und auf die dicht umwachsenen Terrassen der Wohnungen im Erdgeschoss. „Eh!“ sagte ich und tippte ihm auf die Schulter. „Alles klar? Ich bin wieder da. Mit Wein. Eiskalt.“

„Es gab eine Zeit“, sagte Johannes, „eine kurze Zeit, da wimmelte es da unten von Kindern mit Locken, die aussahen wie Korkenzieher, und mit schwarzen Hüten. Die bauten da unten die Laubhütten für das Sukkot-Fest.“

„Was?“ fragte ich. „Was ist das denn?“

„Das ist ein Tag im Jahr, da dürfen die Juden nur im Freien essen, zumindest die sehr orthodoxen machen das so. Und damit sie nicht nass werden, falls es regnet, lassen sie die Kinder Dächer über die Terrassen bauen, aus Zweigen und Laub und ähnlichem. Dann wird man geschützt, ist aber trotzdem draußen. Da war immer viel los da unten im Hof.“

Ich trat neben ihn. „Und weiter?“ fragte ich.

„Ich war auch dabei, als die Lieblings später in diese Gegend zogen, als sie hierher ziehen mussten. So wie fast alle Hamburger Juden. Das Judenhaus in der Rutschbahn Nummer 25. Da haben sie zum Schluss gelebt.“

„Nun sag schon: Wieso hat ihre Mutter erlaubt, dass Leah und du – also, du weißt schon, was ich meine...“

Johannes löste den Blick vom Hinterhof und wandte sich mir zu. „Ich lasse dich die Tragebücher nicht lesen, damit du mir aufdringliche Fragen stellst“, sagte er und eine fleckige Röte breitete sich vom Hals her über sein Gesicht aus. Er begann leicht zu zittern, dann atmete er tief durch. „Entschuldigung“, sagte er. „Aber was Leah und ich damals erlebt haben, war etwas Besonderes. Wir waren erst vierzehn, ja – aber sie war für mich die ganze Welt, sie war die Vergangenheit und Zukunft, der Sinn von allem. Und ich glaube, ich war dasselbe für sie. Ich weiß nicht, warum das so war. Es war von Anfang an so. Die meisten Menschen finden durch Zufall zueinander, durch irgendwelche Umstände. Und irgendwelche Zufälle sind es dann auch, die sie wieder auseinander bringen. Leah und ich – wir gehörten zu den wenigen, bei denen das anders war. Ich war damals sicher, dass wir füreinander bestimmt waren. Von wem auch immer. Ich glaube das heute noch. Ich grübele seit fast 70 Jahren darüber nach. Seltsamerweise schienen alle, die uns kannten, das ebenfalls zu wissen. Es machte nie jemand eine unpassende Bemerkung oder tat etwas, was uns verletzt hätte. Weder aus meiner Familie noch aus ihrer. Ich hatte damals das Gefühl, als wenn wir nicht von dieser Welt wären, nicht wirklich dazu gehörten. Also, ich meine – als wenn unser Leben nach anderen Regeln stattfände. Wir waren untrennbar und deshalb unverletzlich. Leah und ich, wir haben uns geliebt von Beginn an. Erst wie Kinder. Und später wie Erwachsene.“

„Setz dich hin“, sagte ich sanft. „Dein Kopf ist ganz lila. Hier, nimm das Glas, beruhige dich. Ich sag’ auch nichts mehr.“

Johannes ließ sich in seinen Ohrensessel fallen. „Die Zeit damals war in vielerlei Hinsicht anders,“ sagte er leise und legte seine Hand auf meinen Unterarm. „Für mich, weil ich Leah hatte, und für alle anderen ebenfalls, weil Dinge begannen, die sich keiner vorstellen konnte, und die sich auch heute keiner mehr vorstellen kann. Ich bin manchmal nicht sicher, ob ich es war, der das durchlebt hat...“ – er deutete mit dem Kopf auf den Karton mit den Tagebüchern – „...und der das da alles aufgeschrieben hat.“ Plötzlich verzog sich sein Gesicht. „Ich würde so gern wissen, wo sie jetzt ist“, sagte Johannes und sackte in sich zusammen, bevor ich meinen Arm um ihn legen konnte. Ich konnte mir gerade noch verkneifen zu sagen „Du brauchst nicht zu weinen.“ Es wäre der dümmste Satz meines Lebens gewesen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783942822091
ISBN (Buch)
9783942822084
DOI
10.3239/9783942822091
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2012 (November)
Schlagworte
leah eine liebe hamburg
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Titel: Leah
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