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Die Gottestänzerin

Mein Leben bei den Pygmäen

©2012 0 Seiten

Zusammenfassung

Der Kampf einer Deutschen für die Pygmäen.

Nur widerstrebend schließt sich Cornelia Canady einer Expedition zu den Pygmäen im zentralafrikanischen Regenwald an. Doch die fremde Kultur zieht sie schnell in ihren Bann. Sie beschließt, allein bei den Gottestänzern, wie sie sich selbst nennen, zu bleiben und in ihre archaische Lebensweise einzutauchen. Cornelia beobachtet und jagt mit ihnen Elefanten, sie feiert ihre Feste mit und ergründet die Geheimnisse der Urwaldapotheke. Angriffe von Affen und ein apokalyptisch anmutender Überfall von Millionen Treiberameisen gehören zum abenteuerlichen Alltag. Die wahren Gefahren aber drohen aus der »zivilisierten Welt«: Wilderei und Holzeinschlag in großem Stil zerstören die Lebensgrundlage der Pygmäen. Cornelia beschließt, für ihre Freunde und deren Kultur zu kämpfen: Sie entwickelt Hilfsprojekte, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem WWF. Ein zäher Kampf beginnt...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Zeitreise

Zurück in die Steinzeit

Seit vier Tagen stolperte ich durch den Urwald, und meine Stimmung war weit unter dem Nullpunkt. Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen?

Schon mit der Ankunft in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, hatte der Ärger angefangen. Der Leiter der Expedition, der uns am Flughafen erwartete, war mir auf Anhieb herzlich unsympathisch gewesen, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte. Er war der Meinung, Frauen hätten auf Expeditionen nichts zu suchen, aber wenn ich schon dabei wäre, könnte ich wenigstens kochen und abspülen.

Dabei war ich selbst auch überhaupt nicht scharf gewesen auf diesen Abstecher in den Dschungel. Mein Professor, Dr. Eibl-Eibesfeldt, für den ich in München arbeitete, hatte mich mühsam dazu überreden müssen, mit Ethnologen und Biologen hierher ins Lobaye-Gebiet zu reisen, wo wir das Leben der Pygmäen in seiner ursprünglichen und traditionellen Form erforschen sollten. Eigentlicher Initiator der Expedition war der mir ebenfalls bekannte Direktor des Hauses der Natur in Salzburg gewesen, der noch vor unserer Abreise gedroht hatte: »Und dass wir ja mit guten Berichten und Dokumentationen zurückkommen, auch wenn es ein paar Wochen länger dauert! Die Bayaka-Pygmäen haben bei den derzeitigen umfassenden Regenwaldrodungen keinerlei Überlebenschancen, und ich will ihr Leben als Erster umfangreich dokumentieren!«

Wäre ich doch bloß in meinem Münchner Uni-Archiv geblieben und hätte weiterhin brav meine Kommentare zu ethnologischen Filmen geschrieben! Dann könnte ich jetzt im Café Roma sitzen und Vanilleeis mit heißen Himbeeren essen oder mich am prasselnden Kamin in einen Sessel kuscheln und einen spannenden Expeditionsbericht lesen …

Ich hatte mich nicht aus Ziererei so lange gesträubt, diese Expedition mitzumachen: Vor dem Urwald hatte ich seit eh und je ungeheure Angst gehabt. Meine Horrorvisionen vom afrikanischen Dschungel und die damit verbundene Angst vor Panthern, Schlangen, Skorpionen und anderem unberechenbarem wildem Getier, egal ob groß oder klein, giftig oder gefräßig, waren lange Zeit stärker gewesen als Neugierde und Abenteuerlust. Und wer weiß, vielleicht waren diese Pygmäen ja auch Kannibalen … Dabei hatte ich damals so manches noch gar nicht gewusst, zum Beispiel, wie nass so ein Regenwald ist. Und wie dunkel. Und wie schwül. Und wie voller Insekten, die anscheinend alle nur auf mich gewartet hatten, um mich anzubeißen, zu stechen, auszusaugen, mir unter die Kleidung und in Nasenlöcher und Ohren zu kriechen.

Aber trotz allem: Als es in unserer Gruppe zum großen Krach kam und wir uns wegen unüberwindlicher Abneigung trennten, dachte ich keinen Augenblick daran, das Unternehmen abzubrechen und in mein trockenes, insektenfreies, angenehmes Münchner Leben zurückzukehren. Der Urwald hatte mich gepackt, seine Großartigkeit hatte mich überwältigt, und außerdem erwachte mein Ehrgeiz mit einem hinterhältigen Bohren. Ich beschloss, diese verfahrene Expedition eben alleine anzugehen. Denen würde ich es zeigen! Zu Hause sollten alle weinen und lachen, wenn sie meine Schilderungen über das Leben dieser vom Aussterben bedrohten Pygmäen hörten und lasen.

Zum Glück schlugen sich Lundi, unser Fährtenleser, und Sangui, ein dunkelhäutiger Professor aus Bangui, auf meine Seite und waren bereit, mich zu begleiten.

»Ich bewundere deinen Mut, Cornelia«, sagte Lundi und musterte mich mit einem nachdenklichen Blick.

Nun, Mut … Eigentlich war es mehr Trotz als wirklicher Mut, aber das spielte schließlich keine Rolle.

So kam es, dass wir jetzt als Kleinstexpedition unterwegs waren, immer in der gleichen Ordnung: Lundi voraus, ich in der Mitte, dann ein Träger und Sangui als Nachhut. Alle schwer bepackt. Durch das dichte Blätterdach fielen ein paar karge Sonnenstrahlen schräg durch die Zweige auf ein breitfächriges Gebüsch, wo uns auf langen Stängeln hellviolette Blüten entgegenleuchteten. Es musste schon später Nachmittag sein. Demnach war ich wieder einmal seit zehn Stunden unterwegs, doch an Rast war nicht zu denken. Wir blieben höchstens einmal kurz stehen, wenn Lundi mir etwas zeigen wollte.

»Schau!«, sagte er zum Beispiel, indem er auf eine unauffällige Mulde zwischen einigen angebrochenen Zweigen und überhängendem Laub wies. »Der Schlafplatz einer Gazelle!«

Ich war Lundi tief dankbar, dass er mir voller Stolz seinen Wald erklärte und mich akzeptierte. Zwar sah er in mir eindeutig eine tollpatschige und unwissende Europäerin, aber er hatte schnell erkannt, dass ich empfänglich war für die Schönheiten und Besonderheiten dieses unerschöpflichen Paradieses.

Während ich weiter hinter Lundi herhechelte, beklagte ich innerlich, wie wenig Ähnlichkeit so ein Urwaldpfad mit unseren heimischen Waldwegen hat. Man muss seine Augen überall haben, um all den Zweigen, Lianen und Insekten auszuweichen, die den »Weg« versperren, und um gleichzeitig den Boden zu prüfen, der praktisch nur aus Gefahrenstellen be­steht: Wurzeln, Löcher, Schlangen …

Nicht zu vergessen das Wasser. Gerade stapften wir wieder einmal durch tiefen Matsch, das Wasser mitsamt seiner ganzen Fauna sickerte mir von oben in die Stiefel. Bei jedem Schritt sank ich rutschend und schlingernd ins Ungewisse und hoffte nur, irgendwo da unten festen Grund zu finden.

Laut surrende schwarze Fliegen und farbenprächtige Libellen mit schlanken Leibern standen über dem Wasser, das allmählich seichter wurde. Endlich hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen, da wollte ich mich an dem merkwürdigen stechend-muffigen Geruch, der mir in die Nase stieg, nicht groß stören.

Während der vergangenen Tage war mir aufgefallen, dass es hier im Urwald die unterschiedlichsten Duftetappen gab; wie verschiedene Stadtviertel grenzten sie aneinander, ohne sich dabei zu vermischen. Wehte eben noch eine herbe Laubschwade um mich herum, war die Luft im nächsten Moment erfüllt von süßlichen Blütenwolken, die einem die Sinne schärften. Auf den frischen Geruch nach kühlem, feuchtem Moos waberte plötzlich ein widerlicher Gestank nach faulendem Aas heran.

Ein langer Ast schnalzte hinter Lundi zurück und traf mich mitten im Gesicht. Schmerzerfüllt schrie ich auf, dabei bereiteten mir die roten Striemen und das geschwollene Auge nicht einmal die größten Sorgen. Angewidert streifte ich mir die glitschigen Äste samt den darauf befindlichen Bewohnern von der verschwitzten Stirn. Plötzlich kribbelte es am ganzen Körper und ich sah förmlich vor mir, wie sich die Insekten mit dem seit zehn Stunden kultivierten Schweiß vermischten und mir die Beine entlang über die Kniekehlen und Waden bis in die Stiefel rannen, um dort an dem rohen Fleisch meiner Hacken endlich den Schmerz des Jahrhunderts auszulösen.

Während wir nach dem kurzen Zwischenfall unbeirrt weiterliefen, stellte sich allmählich eine gewisse Apathie ein, Schmerz und Gefühle ließen nach, mechanische Abläufe, die nichts mehr mit meinem Körper zu tun hatten, trieben mich wie einen Automaten voran.

In Gedanken aber war ich schon wieder in München. Meine Freunde waren mir ständig in den Ohren gelegen, ich dürfe diese einmalige Chance, von der angeblich jeder träumte, nicht sausen lassen und hatten mich schließlich wegen meiner Feigheit dermaßen beschimpft, dass ich mich langsam schämte. Also hatte ich beschlossen, meinen angsterfüllten inneren Schweinehund am Kamin zu lassen und mich – wenn auch mit sehr gemischten Gefühlen – zu diesen neuen Abenteuern aufzumachen. Vielleicht konnte ich ja auch mit eigenen interessanten Forschungsergebnissen zurückkehren.

Hätte ich mich bloß weiter geschämt, dann müsste ich mir jetzt nicht dauernd Sorgen machen, wie die Pygmäen uns empfangen würden. Würden sie uns gleich massakrieren? Oder bei sich dulden? Oder sich vielleicht gar mit uns anfreunden? Ob ich je das Glück hätte, ihr Leben näher kennen zu lernen? Vielleicht waren wir sogar auf einer Wellenlänge, und sie lachten gar über ähnliche Dinge wie ich?

Eine Affenschar kreischte neugierig vorbei, lange schaute ich den Tieren nach, sie wirkten so unbeschwert, doch kam ich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück … hier und da ein unheimliches Rascheln, lange, farnartige Monsterfinger, die sich um meine Hosenbeine schlangen: Mir war durchaus nicht geheuer zumute in dieser neuen Umgebung, die nun für einige Zeit die meine sein sollte.

Fast schon wütend beobachtete ich, wie Lundi noch immer leichtfüßig vorwärts eilte. Sollte er doch ruhig einen neuen Rekord aufstellen, ich wollte mich nicht mehr hetzen lassen. Ein fremdes Geräusch ließ mich nach oben schauen, und ich sah, wie sich ein Adler pfeilschnell aus den unendlich hohen Baumwipfeln herabstürzte.

»Hast du das gesehen?«, rief ich erschrocken.

Lundi blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Sie verfehlen ihre Beute so gut wie nie«, erklärte er mir und schaute kurz in den Himmel.

»Bei uns ist das ganz genauso. Sogar viel kleinere Vögel reißen manchmal das Wild«, fügte ich fachmännisch hinzu.

»Die Adler sind unglaublich schlau«, fuhr Lundi fort. »Durch ihre leisen Pfiffe locken sie sogar neugierige Affen an und schnappen sich dann den dümmsten. Manchmal folgt einem jagenden Adler ein Panther am Boden, um den Affen zu stehlen, falls er im Kampf vom Baum fällt.«

»Willst du damit sagen, dass vielleicht sogar ein Panther in der Nähe ist, Lundi?«

Das durfte doch wohl alles nicht wahr sein, er sagte das so beiläufig, als wollte er mich auf eine neue Currybude an der Ecke hinweisen.

Mein Begleiter sah sich nach allen Seiten um, wobei er einige kleine geknickte Äste betrachtete. Mich überging er völlig, sogar meine lächerliche Frage nach dem Panther. Alle meine Sinne waren geschärft für die kleinste Veränderung, angestrengt horchte ich auf unvorschriftsmäßige Katzenlaute … und plötzlich wich die ganze Harmonie und einmalige Schönheit des Urwaldes wieder dieser nackten, kriechenden Angst. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, falls wir angegriffen würden. Lundi würde uns sicher nicht ausreichend verteidigen können und machtlos zusehen müssen, wie ich mit hysterischem Geschrei in die Büsche rannte – und der Panther hinter mir her.

Lundi blieb so plötzlich stehen, dass ich beinahe auf ihn aufgeprallt wäre.

»Seht ihr? Da vorne kommt eine Lichtung; dort ist das Lager der Bayaka. Ganz still jetzt!«

Und tatsächlich vernahmen wir jetzt die üblichen Geräusche menschlichen Lebens: Rufen, Lachen, Kindergeschrei. Wir schlichen vorsichtig näher, und etwa 20 Meter vor der kleinen Lichtung machte uns Lundi Zeichen, wir sollten zurückbleiben. Sangui blieb stehen, aber ich ließ mich fallen, meinen Körper zog es fast von alleine nach unten, so fertig war ich von dem endlosen Marsch, meine bleischweren Füße spürte ich sowieso schon nicht mehr. Wir warteten gut geschützt hinter einem Riesenbrettwurzelbaum, dessen in der Form eines Dreiecks aus der Erde strebende Wurzeln fast die Höhe eines einstöckigen Hauses hatten, von dem Rest ganz zu schweigen. Vielleicht waren es 80 Meter – grob geschätzt.

»Bleibt hier«, sagte Lundi. »Ich gehe voraus und bereite sie auf eure Ankunft vor.«

Als Lundi aus dem Schutz des Waldes heraus das Lager betrat, verstummten die Geräusche, als sei jedes Leben erstorben. Ich schielte aus der Deckung hinter ihm her und sah ein paar kleine, runde Blätterhütten, genau wie Halbkugeln geformt, und dazwischen einen freien Platz. Dort traten zwei steinzeitliche Gestalten auf Lundi zu, zwei Männer von vielleicht ein Meter fünfzig Körpergröße, die nichts am Leib trugen als eine Lianenschnur mit einem kleinen Schamschurz; sie hatten kräftige, sehnige Gestalten und, wie mir schien, finstere Mienen. Einer hatte sich eine Steinaxt auf die Schulter gehängt, der andere hielt einen Speer in der Hand. Sie palaverten mit Lundi und führten ihn dann zu einem genauso nackten alten Mann, der vor einer der Hütten bei einer Feuerstelle am Boden saß. Dort ging das Palaver weiter.

Die Zentralafrikanische Republik

Hauptstadt: Bangui (ca. 600000 Einwohner).

Währung: 1 CFA Franc = 100 Centimes.

Bevölkerung: 3 540000. Das bedeutet eine Bevölkerungsdichte von ca. 5,7 Einwohnern pro Quadratkilometer. Es gibt über 80 ethnische Gruppen, hauptsächlich Ubangi-Gruppen: ca. 30 Prozent Banda, 24 Prozent Gbaya, 11 Prozent Gbandi, 10 Prozent Azande, Yakoma u. a., außerdem Bantu. (»bantu«, »Menschen«, bezeichnet die größte afrikanische Sprach- und Völkerfamilie, also keine einzelne Ethnie.) Die Pygmäen spielen zahlenmäßig keine Rolle. Es leben nur sehr wenige Europäer in der RCA, hauptsächlich Franzosen und Portugiesen. (Zahlenangaben aus dem Fischer Weltalmanach 2002)

Religionszugehörigkeit: Von den Einwohnern sind ca. 57 Prozent Animisten, also Anhänger von Naturreligionen, 35 Prozent Christen, 8 Prozent Muslime. (Fischer Weltalmanach 2002)

Sprache: Amtssprache ist Französisch; Umgangssprache ist Sango, eine Sprache, die seit Jahrhunderten längs des Ubangi gebräuchlich ist und im Laufe der Zeit mit französischen, portugiesischen und arabischen Elementen angereichert wurde.

Klima und Vegetationszonen: Im Südwesten des Landes herrscht immerfeuchtes tropisches Klima; das ist die Zone des immergrünen tropischen Regenwalds. Ansonsten überwiegt wechselfeuchtes tropisches Klima mit einer kleinen und einer großen Regenzeit. Im Nordwes­ten gibt es eine ausgeprägte Trockenperiode von vier Monaten. Dort herrscht die Vegetation der Trockensavanne, und die Sahelzone ist nicht mehr fern. Der größte Teil der Zentralafrikanischen Republik wird jedoch von Feuchtsavanne mit Galeriewäldern eingenommen.

Wirtschaft: Die Zentralafrikanische Republik ist ein Entwicklungsland; sie gehört zu den 25 ärmsten Ländern der Welt. Der Lebensstandard ist sehr niedrig, das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei 390 US-Dollars. Die Infrastruktur ist miserabel. Bodenschätze unter anderem: Diamanten, Uranerz, Eisen, Nickel, Kupfer. Die Hauptexportgüter sind Kaffee, Baumwolle, Erdnüsse und Diamanten.

Gesundheit: Das Gesundheitswesen ist allgemein unbefriedigend, von einzelnen Kliniken und Ärzten in den größeren Städten einmal abgesehen. Die Gesundheitsrisiken für Einwohner und Touristen sind beträchtlich. Weit verbreitet sind Aids, Malaria, Gelbfieber, Geschlechtskrankheiten, Bilharziose, Schlafkrankheit, Tuberkulose, Durchfallerkrankungen und manches andere; auch Typhus und Cholera kommen vor. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen liegt bei 48, die der Männer bei 45 Jahren. Die Sterblichkeit bei Kindern (bis zum Alter von fünf Jahren) beträgt 15 Prozent.

Geschichte und Politik: Am 1. Dezember 1958 wurde die französische Kolonie Oubangui-Chari (Ubangi-Schari) zur République Centrafricaine. 1960 erreichte die RCA unter dem katholischen Abbé Barthélémy Boganda die Unabhängigkeit von Frankreich. Der Schuldirektor David Dacko war der erste Präsident; er wurde bei einem Putsch 1966 von Generalstabschef Jean Bedel Bokassa gestürzt. 1977 krönte sich Bokassa zum Kaiser. Wegen seiner monströsen Exzesse unterstützte Frankreich 1979 einen Staatsstreich unter Führung von David Dacko, und danach wurde die RCA wieder eine Republik. 1981 gelang es dem General Kolingba mit einem Putsch, Dacko zu stürzen. 1993, bei den ersten freien Wahlen, wurde Ange-Félix Patassé zum Staatspräsidenten gewählt.

Im Jahr 2001 kam es zu einer Meuterei von Soldaten, die sich mit den regierungstreuen Truppen Gefechte lieferten. Rund 60000 Menschen in den besonders gefährdeten Gebieten verließen ihre Häuser. Lebensmittel wurden knapp, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Im Juni 2001 schickte UN-Generalsekretär Kofi Annan den ehemaligen malischen Staatschefs Amadou Toumani Touré als Krisenberater nach Bangui.

Ich kam mir vor wie in einem Hollywoodfilm. Gleich würden diese steinzeitlichen Menschenfresser auf uns zustürmen, ich würde kreischen wie die nächstbeste Filmblondine und die Männer würden mich retten müssen. Sangui schien zu ahnen, was in mir vorging.

»Keine Angst, Cornelia«, sagte er halb belustigt. »Mir scheint, sie haben heute schon gegessen.«

Was war ich froh, dass er bei mir war! Ich schaute an ihm hoch, und seine hünenhafte, magere Gestalt mit den sehnigen Gliedern und vorgebeugten Schultern kam mir noch größer vor als sonst. Aus seinen wachen und interessierten Augen, denen nichts zu entgehen schien, schaute er mich mitleidig an; tröstend legte er mir die Hand auf die Schulter.

Sangui barg einen immensen Wissensschatz über dieses Land, ethologisch, ethnologisch und biologisch, den er seit seiner Universitätszeit in Bangui durch ausgedehnte Expeditionen ständig bereichert hatte. Er war halb Franzose, halb Bantu, sprach mindestens vier Sprachen und war früher Dozent an der Universität von Bangui gewesen.

Ich hatte mit ihm bereits das Savannengebiet von La Gounda bereist, ebenso den Norden des Landes, außerdem hatten wir schon mal eine Löwensafari und einige Abenteuer mit wildgewordenen Nashörnern gemeinsam überstanden. Aber er beeindruckte mich immer wieder aufs Neue.

Endlich kam Lundi zurück.

»Wir dürfen bei ihnen übernachten«, sagte er. »Morgen werden wir dann weitersehen.«

Mir war ziemlich blümerant, als ich hinter Lundi her auf den kreisrunden Platz trat, um den sich die Laubhütten gruppierten. Die Lichtung war gar nicht um so viel heller als der restliche Urwald; sie war zwar völlig vom Unterwuchs befreit, aber hoch oben schloss sich das Blätterdach der Urwaldriesen. Über der Szene lag ein ganz eigenartiger Zauber, der mich sofort gefangen nahm und nie wieder loslassen sollte.

Lundi führte uns zu dem alten Mann, den er uns als Djele vorstellte. Er war der Dorfälteste. Wir hockten uns zu ihm. Nun traten auch der Lanzenmann und der mit der Axt, die aus einem Holzstiel mit einem schmal zugeschliffenen Stein gefertigt war, dicht an uns heran. Ich fühlte mich um Jahrtausende zurückversetzt und ahnte, wie viel Unglaubliches in den nächsten Tagen und Wochen noch auf mich zukommen würde. Meine Angst mischte sich mit Vorfreude. Wenn ich mich so umsah, gewann ich den Eindruck, als wäre die Zeit stehen geblieben – als befänden wir uns tatsächlich in der Steinzeit!

Der Lanzenmann blickte mich mit funkelnden schwarzen Augen recht frech an. Er hieß Mopo.

»Da hast du eine Eroberung gemacht«, sagte Sangui. »Kàmàz kádí à páè«, wandte er sich dann an den sehnigen Krieger Mopo.

Ich staunte nicht schlecht. »Und was heißt das?«

»So viel wie ›Guten Tag, Bruder‹«, antwortete er und grins­te angesichts meiner überraschten Miene.

Na, diese Aka-Sprache würde ich wohl so schnell nicht lernen, schließlich musste ich mich schon anstrengen, um einigermaßen passable Sätze in meinem Schulfranzösisch hervorzubringen, wenn ich nicht wollte, dass Sangui mich den lieben langen Tag auslachte.

Die Pygmäenaugen blickten wieder anerkennend auf den Hünen, wobei uns Mopo durch ein bedächtiges und anerkennendes Nicken zu verstehen gab, dass zumindest die erste Hürde genommen war.

»Da staunst du, Cornelia, was? Vor dir stehen die echten Herren des Waldes. Die alten Ägypter haben für sie den schönen Namen Gottestänzer erfunden, der auch bis heute erhalten geblieben ist.«

Ich hatte Zeit, mich umzusehen. Auf den Dächern der Blätterhütten lagen die verschiedensten Gegenstände herum, ich entdeckte einen alten, verbeulten Kochtopf, ein aufgerolltes Netz, Lianenseile, die in großen Schlaufen aufgewickelt waren, und einige undefinierbare Fleischstücke und Blätterbündel. Ein großer Holzmörser mit Stößel ruhte verlassen neben einer flackernden Feuerstelle, als wäre er vor Schreck umgefallen, als wir heranmarschierten. Nun stellte er sich wohl ebenso tot wie alle anderen auch, denn dieses geheimnisvolle, kleine Dorf wirkte wie ausgestorben, mal abgesehen von der feinen, blauen Rauchwolke über dem Feuer rührte sich nichts. Die Kinderstimmen waren verstummt, und auch sonst war kein Äste­knacken oder Rascheln zu hören.

Dennoch spürte ich die Geschichten der einzelnen Hütten, ich spürte, dass sich in ihrem Innern sehr wohl Leben verbarg, ebenso, dass wir auf Schritt und Tritt durch all die Laubritzen belauert und begutachtet wurden. Gesichter, die neugierig aus den Eingangslöchern lugten, verschwanden blitzschnell, wenn man hinsah. Na gut, die anderen hatten also auch Angst! Sollten sie sich ruhig unbehaglich fühlen, mir ging es schließlich genauso.

Wir saßen in gemächlicher Unterhaltung um die Feuerstelle, das heißt, an mir lief die Unterhaltung natürlich vorbei, da mir keiner was übersetzte. Wir nahmen Anzeichen von Ge­schäftigkeit wahr und hörten vom Waldrand her Axtschläge. Als Mopo und Mowe – das war der Mann mit der Axt – uns zu dem Platz brachten, an dem wir unser Nachtlager aufschlagen sollten, bemerkte ich, dass die Geschäftigkeit uns gegolten hatte.

Ich fragte Sangui neugierig: »Warum haben die Pygmäen denn hier alles kahl geschlagen? Wir wollen hier doch bloß schlafen?«

Er grinste. »Das machen sie seit eh und je so. Obwohl hier alles sauber ist, bringen die Menschen Parasiten ein, und nach mehreren Wochen in einem Camp, vor allen Dingen in der Trockenzeit, ist die Gefahr von Krankheiten groß. Um diesem Kreislauf entgegenzuwirken, schlagen die Bayaka alles frei und fegen es lupenrein, bevor sie ihr Lager errichten. Außerdem ziehen sie vorsichtshalber nach einiger Zeit weiter, sie sind also ein nomadisierendes Volk.«

»Tatsächlich?«, rief ich. Das würde meinen Professor zu Hause sicher interessieren. Ich beschloss, von nun an Tagebuch zu führen, damit mir auch ja keine Einzelheit über diese außergewöhnlichen Menschen entging.

Sangui fuhr mit seinen Erläuterungen fort. »Sie ziehen auch deshalb weiter, damit sich die Natur dort wieder re­generieren kann, wo sie gesammelt und gejagt haben. Sie kehren nie zu einem alten Lager zurück, sondern bauen sich immer wieder neue Hütten auf immer neuen Plätzen. Das Territorium einer solchen Gruppe erstreckt sich jeweils auf ungefähr 300 Quadratkilometer.«

»Ist ja hochinteressant«, murmelte ich, noch immer beeindruckt.

Wir gingen daran, uns für die Nacht einzurichten. Sangui packte geschäftig seine Kiste aus, während Lundi die Hängematten festband. Inzwischen hatten wir außer Mopo und Mowe noch andere neugierige Zuschauer bekommen, und als ich zum Dorfplatz hinübersah, erwachte dieser allmählich auch zum Leben. Ich konnte ein paar Personen ausmachen, die um die hintere Feuerstelle hockten und uns beobachteten. Noch immer traute sich jedoch keiner zu uns heran, aus sicherer Entfernung verfolgten sie die einmalige Vorstellung, die wir ihnen lieferten. Vor allem der Inhalt unserer Kisten erregte nach wie vor größte Aufmerksamkeit, denn sie stießen sich ständig an und deuteten ehrfurchtsvoll darauf. Wahrscheinlich hielten sie unsere Sachen für geheime Zauberutensilien.

Sangui riss mich aus meinen Gedanken.

»Cornelia, komm doch mal her, wir müssen unbedingt noch schnell den Proviant und die Lampen herrichten, sonst finden wir gleich gar nichts mehr im Dunkeln.«

»Komme gleich! Ich kann meine Taschenlampe nirgends finden, und ich weiß nicht mal, ob ich genügend Vorräte dabei habe. Soweit ich weiß, ist die große Kiste nämlich mit dem Biologen zurück nach Bangui gegangen.« Mein Gott, dieser Biologe! Bei jeder Made, bei jeder Spinne hatte er Hurra geschrieen. Er fehlte mir nicht. Ich fluchte noch ein wenig vor mich hin, während ich meinen Rucksack durchwühlte.

»Keine Sorge, ich habe noch einmal nachgefüllt, damit können wir einige Wochen durchhalten, so wie wir es eigentlich geplant hatten«, sagte Sangui.

Plötzlich war es finster, von einer Minute zur anderen. An dieses Phänomen hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt, obwohl ich es jetzt schon mehrfach hatte miterleben dürfen. Aus der Richtung, in der ich Lundi vermutete, glühte jedoch – welcher Zauber – eine schwache Gasflamme und drüben im Pygmäenlager spendeten zwei kleine Holzfeuerstellen vor den Hütten gemütliches Licht.

Zum Essen war ich eigentlich schon zu müde, aber einen Tee hätte ich gerne noch getrunken. Ich versuchte, eine alte Frau, die beherzt hinter einem Baum hervorgetreten war, von wo aus sie mich bereits die ganze Zeit über mit großen Augen beobachtet hatte, mit beredten Gesten zu fragen, ob wir ihre Kochstelle benutzen dürften, denn sie schien mir aufgeschlossener als die anderen, und siehe da, mein Eindruck bestätigte sich. Freundlich nickte sie mir zu: »Èe – a`y.«

»Vergelt’s Gott, vielen Dank«, erwiderte ich freundlich und war sicher, dass sie den Sinn des Gesagten begriff, auch wenn sie meine Worte nicht verstehen konnte.

Erwartungsvoll kauerte sie sich in ihren Hütteneingang und wartete, bis ich mit meinem Proviantsack nachkam. Als ich vor ihr stand, fiel mir auf, wie viele Falten die welke Haut ihres Gesichts zierten. Ich sah ihren kahl geschorenen Kopf und dachte, dass sie vielleicht Trauer trug. Sangui, der zu uns getreten war, erklärte mir auf meinen fragenden Blick hin, dass es einfach nur eine Maßnahme zum Schutz vor Läusen sei.

Ein wenig beschämt entsann ich mich meiner guten Manieren und stellte mich der alten Frau vor, deren selbstsichere Art mich sehr beeindruckte. »Cornelia, balâo.« Dabei zeigte ich auf mein Gesicht und wiederholte meinen Namen noch einmal.

Sie lachte nur und rückte ihre Laubmatte etwas zurecht, zum Zeichen, dass ich mich setzen sollte. Anscheinend hatte sie nicht verstanden, dass ich mich vorstellte, und wollte einfach nur freundlich sein. Da lugte ein neugieriger Kinderkopf aus dem Eingang, doch als ich mich vorsichtig näherte, ertönte – wie konnte es auch anders sein – lautes Geschrei, und das Gesicht verschwand wieder. Ich machte eine hilflose Geste zu der Frau, die verständnisvoll abwinkte. Das ist nicht weiter schlimm, schien sie zu sagen. Na ja, wenigstens bei einer Person fielen meine angestrengten Kommunikationsbemühungen offensichtlich auf fruchtbaren Boden. Nun hockten sich auch die anderen Frauen vor ihre Hütten und beobachteten kichernd unsere Taubstummensprache.

Die Männer waren hingegen mehr an ausstattungstechnischen Abläufen interessiert und scharten sich um Sangui und Lundi – ohne dabei ihren Sicherheitsabstand aufzugeben, versteht sich.

Müde und mit schmerzenden Fersen, die Schuhe hatte ich wohlweislich noch nicht ausgezogen, kochte ich schnell meinen Tee, schenkte der Alten ein paar Kekse und bedankte mich: »À demain, kekereke. Bis morgen.«

Lächelnd hob sie beide Hände zum Gruß und nickte, da entdeckte ich zufällig im schwachen Lichtschein der flackernden Holzscheite ein halb verdecktes, faltiges Männergesicht, das uns aus dem Innern ihrer Hütte interessiert beobachtete. Ich war eindeutig das Dorfereignis schlechthin, so viel war klar.

»Bonjour«, grüßte ich freundlich, und das körperlose Wesen grüßte mit einem Nicken zurück. Na siehst du, Cornelia, sprach ich mir Mut zu, einige vertraute Verhaltensweisen gibt es hier ja doch. Mit bleischweren Beinen schlich ich zu meiner Hängematte, ließ das Blechgeschirr einfach fallen und versuchte, mich aus den Stiefeln zu quälen. Doch ich hatte mittlerweile offene Blasen, die dermaßen an Socken und Innenfutter festklebten, dass mir gleich beim ersten Versuch die Tränen in die Augen schossen. Verdammt, tat das weh! Ich beschloss, mir diese Tortur zu ersparen und rollte mich schmutzig und verschwitzt, wie ich war, in meinen schwebenden Schlafsack und hüllte mich mit letzter Kraft in das Moskitonetz. Geheuer war mir der Gedanke, die Nacht hier so ungeschützt im Freien zu verbringen, nicht – im Beisein von bewaffneten Kriegern, Schlangen, Spinnen und Skorpionen. Die Furcht erregendsten Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Was würden sie heute Nacht mit uns machen? Etwa neue Schlachtpläne entwerfen – nachdem sich der erste Angriffsversuch wegen unüberbrückbarer Müdigkeit in Wohlgefallen aufgelöst hatte –, vielleicht neue Schnellröstverfahren für weiße Touristinnen entwickeln oder mittels geheimen Urwaldspuks meine ach so wundervollen Schätze wie lange Hose, Haarbürste, den Rucksack mit Reißverschluss oder gar meinen Kugelschreiber erbeuten? Ach, verdammte Fantasie!

»Bonne nuit, Sangui et Lundi, à demain.«

Leben im Regenwald

Der nächste Morgen begrüßte mich kalt und feucht und holte mich gegen Viertel nach fünf aus den nicht vorhandenen Federn. Zunächst wusste ich gar nicht so recht, wo ich war und was ich hier eigentlich sollte. Tau tropfte von den Blättern, und die klamme Luft rief in mir unweigerlich unangenehme Erinnerungen an das nasskalte heimische Novemberwetter wach. Ich fror so sehr, dass ich am liebsten in meinem kuscheligen Schlafsack liegen geblieben wäre, doch andererseits musste ich ganz dringend mal aufs Klo. Und dann waren da noch die Pygmäen, derentwegen ich schließlich hergekommen war und über die ich einfach alles erfahren wollte. Als ich mich zögerlich aufrichtete, sah ich bereits schwache Rauchschwaden von den Feuerstellen in der Mitte des kleinen Lagers aufsteigen, das zu der frühen Stunde so irreal und verlassen schien wie eine in Braun- und Grüntöne getauchte, längst vergessene Filmkulisse.

Ich sprang aus der Hängematte, wobei ich mir fast die Beine gebrochen hätte. Meine Glieder waren so steif, dass ich mich kaum rühren konnte. »Autsch!«, entfuhr es mir, als ich gekrümmt und wegen der höllischen Schmerzen leicht grantig ins Gebüsch humpelte, um meine Blase zu erleichtern. Nachdem ich alle dringenden Bedürfnisse erledigt hatte, warf ich einen kurzen Blick zu Sangui und Lundi hinüber, die jedoch noch seelenruhig schlummerten, und starrte angestrengt durch die Bäume in Richtung Dorf.

Gespannt verfolgte ich die Routine des Tagesablaufes, der für die Frauen mit Feuermachen, Hofplatzfegen und Körperpflege begann. Ich beschloss, eine kleine Runde im Lager zu drehen, doch zunächst einmal wollte ich nach den beiden Jungs sehen. Sie hatten meiner Meinung nach lange genug geschlummert.

»Bonjour, Sangui, gut geschlafen?«, rief ich zu meinem Expeditionsführer hinüber.

»Bis auf die Kälte ging es«, ertönte es leicht mürrisch aus dem Schlafsack. »Kann es sein, dass es hier nach Kaffee riecht?«

»Du träumst wohl noch«, neckte ich ihn, doch dann lenkte ich ein. »Wenn du dich noch einen Moment geduldest, ist das Frühstück fertig.«

»Dürfen wir denn hier überhaupt bleiben?«, fragte ich Sangui beim Kaffee.

»Wärst du gestern nicht so früh schlafen gegangen, hättest du mitbekommen, dass Lundi sich noch lange mit den Dorfbewohnern unterhalten hat. Sie haben uns eingeladen, so lange zu bleiben, wie wir wollen.«

»Das ist ja schön!« In Gedanken sah ich schon meinen sensationellen Bericht vor mir, den ich daheim vorlegen würde.

Nach dem Frühstück wollte ich das Dorf näher inspizieren. Ich drehte mich im Kreis und staunte wie Alice im Wunderland – zumindest kam ich mir genauso groß vor wie sie. Direkt vor dem Dorfeingang blitzten unsere dunkelblauen Hängematten durch die Äste, dann eröffnete die erste Hütte den runden Dorfplatz, der sich bei der siebenten Hütte wieder schloss. Gegenüber der ersten Hütte, zwischen der dritten und vierten Behausung, führte ein schmaler Pfad wieder aus dem Lager hinaus. Dort hatten sich drei Kinder eng aneinander gedrängt, wahrscheinlich um sich vor dem weißen Ungeheuer zu verstecken, und erwarteten offensichtlich aufregende Dinge von mir. Bei ihrem Anblick musste ich lachen und nickte ihnen freundlich zu. Sofort verschwanden sie schreiend in das Dickicht hinter der letzten Hütte.

Die Erwachsenen, die mir schon viel weniger scheu vorkamen als am Abend zuvor, saßen vor ihren Hütten, wo sie entweder Matten flochten, Gemüse schnitten oder ein Schwätzchen hielten. Auch wenn sie recht harmlos aussahen, hielt ich diese geheimnisvollen und fremden Menschen nach wie vor für unberechenbar. Ich war mit einem Mal gar nicht mehr so selbstsicher und warf Sangui einen ängstlichen Blick zu. Plötzlich spürte ich ganz stark, dass wir hier nicht zu Hause waren, dass ich völlig unbekanntes Terrain betrat und alle unsere Vorhaben auch ganz anders ausgehen konnten als geplant. Und da war sie wieder, die tief sitzende Angst, die mich schon bei den ersten Schritten in die grüne Hölle erfasst hatte. Ich fühlte mich fremden Einflüssen ausgeliefert, und dieser Gedanke gefiel mir ganz und gar nicht.

Während ich später neben Sangui die letzten Kleinode meines Seesacks heraussortierte, beobachtete ich zwischendurch die Dorfgemeinschaft, die kleine Pygmäengruppe, die sich wohl fragte, was wir eigentlich hier wollten. Mein Blick fiel dabei auf eine unscheinbare, auffallend kleine Frau am Ende des Dorfes, die mir besonders sympathisch war. Sie hockte breitbeinig vor ihrer Laubhütte und warf gerade irgendwelche weiße Brocken in einen ausgehöhlten Baumstamm, der ihr wohl als Mörser diente. Ein winziger, ziemlich hellhäutiger Säugling krabbelte derweil fröhlich krähend um ihre Beine herum und zeichnete mit dem Mund und dem kleinen Penis eine Zickzackspur in den Sand. Diese Frau war ja noch kleiner als die anderen! Scheu blickte sie sofort zur Seite, wenn sich unsere Blicke trafen, doch immer mit einem leichten Lächeln. Dabei stülpte sich ihr hoher Oberkiefer mit der nach vorn gewölbten Lippe noch weiter vor und bewegte sich zuckend hin und her, als würde sie etwas lutschen. Auch ich war verlegen, weil ich nicht wußte, wie ich ihre Freundschaft würde erringen können. Ich schaute sie also nur an und nickte ihr schließlich freundlich zu. Das löste jedoch zu meiner Enttäuschung einen sofortigen Abgang aus. Sie grapschte hastig nach ihrem Säugling und verschwand mit ihm in der Hütte.

»Aller Anfang ist schwer, Cornelia!«, tröstete mich Sangui, der die kleine Szene beobachtet hatte. »Aber es gibt noch ein anderes Sprichwort: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.«

Er deutete lachend auf die grellfarbige Bonbontüte, deren In­halt mit seinen verschiedenen Farben und Konsistenzen bereits innig miteinander verschmolzen war. Ja, warum nicht! Noch weiter weg, als sie jetzt schon war, konnte sie ja nicht.

Ich schnappte mir die Tüte und ging langsam durch das Dorf, hielt dabei gut sichtbar die Bonbons vor mich hin und nickte den Leuten freundlich zu.

»Sie heißt so ähnlich wie Ngonga oder Nokanda und ist Witwe«, rief mir Sangui nach.

Die schöne junge Frau vor der zweiten Laubhütte, die gerade ihren Säugling an der langen Hängebrust stillte, schrie erschrocken auf, als ich auf sie zukam, und flüchtete in ihre Blätterbehausung. Im Nu waren auch fast alle anderen Frauen verschwunden. Der Dorfplatz wirkte verlassen, nur die dünnen Rauchsäulen, die von einer Feuerstelle aufstiegen, und ein paar Pygmäenmänner, die mit unbeweglichen Gesichtern von den Büschen am Rand der Lichtung herüberstarrten, belebten das Bild. Trotzdem setzte ich meinen Weg unbeirrt fort, bis ich zur letzten Hütte kam. In höflichem Abstand hockte ich mich vor den kleinen Rundeingang, der eine weitere Einsicht ins Hütteninnere verhinderte, und hielt die Tüte hinein.

»Ngonga, cadeau! Ein Geschenk!« Keine Reaktion, doch sah ich nicht allzu weit entfernt das Weiß zweier Augen. Also jedenfalls Neugier! Das ermunterte mich sehr, und so nahm ich etwas von dieser fürchterlichen Bonbonmasse und steckte es gut sichtbar in den Mund. Das kostete mich einige Überwindung, denn ich hasse Bonbons, und dieses zusammengeklumpte Zeug natürlich erst recht.

»C’est bon!«, sagte ich ermunternd und hielt die Zellophantüte noch etwas dichter hin. Und siehe da, eine kleine Hand näherte sich vorsichtig und wühlte mit lautem Geraschel in der Tüte, bis sie kleben blieb.

»Èe – a`y«, tönte es erschrocken aus der Hütte. Ich musste herzlich lachen und hörte auch von innen ein Prusten. Vorsichtig half ich, die Hand aus der Tüte zu befreien, wobei sich unsere Hände plötzlich berührten. Für mich war das ein wunderbarer und verheißungsvoller Augenblick, weil die Hand verweilte und nun auch das Gesicht Ngongas aus dem Dunkel herauskam. Wir schauten uns kurz an, und dabei entdeckte ich feine Tätowierungen auf den Wangenknochen und reichlich Haarflaum im ganzen Gesicht. Sehr fremd war das alles, doch es stieß mich nicht ab, weil diese Frau mir Herzlichkeit vermittelte, trotz aller Zurückhaltung. Ich bedankte mich bei ihr: »Merci, Ngonga, merci.«

Einen leichten Schock erlebte ich aber trotzdem noch, denn das kleine Lächeln, das über ihr Gesicht huschte, entblößte sekundenlang eine Reihe spitz geschliffener Zähne.

Es war wohl besser, wenn ich mich jetzt zurückzog, bevor noch mehr Überraschungen kamen und vielleicht Missverständnisse verursachten. So hatte ich Gelegenheit, mich auf unsere nächste Begegnung zu freuen. Ein Anfang war jedenfalls gemacht – ein kleiner Anfang zu einer großen Freundschaft.

An unserem ersten Abend hatte Lundi, der sich gut auszukennen schien, uns nur den Dorfältesten Djele und dazu Mopo und Mowe vorgestellt. Im Lauf dieses Tages machte er uns nach und nach, wie es sich gerade traf, mit den übrigen Dorfbewohnern bekannt.

»Das ist Mbouka, Djeles Tochter, Mopos Frau«, sagte er und wies auf eine junge Frau, die eben aus ihrer Hütte kam. Ihr Mund war leicht geöffnet, sodass man die rosig schimmernde Innenseite ihrer vollen Lippen sehen konnte. Ein seidiger, lockiger, rotbrauner Haarflaum wuchs von den Wangenknochen bis hinauf zum spitz zulaufenden Stirnansatz. Mbouka war eine atemberaubend schöne kleine Frau, ich konnte mich kaum an ihr satt sehen. Sie hatte einen Sohn, Madzou, und eine Tochter, Mambelene.

Nun legte sie sich eine mehrreihige Kette aus hellgrauen Kernen um und zog sie stolz nach allen Seiten, wobei sich ihre glänzende Haut straff über ihre Schultern und die kegelförmigen Brüste spannte. Ihre Taille war mit einem kurzen Lianenrock umwickelt, der bei jeder Bewegung einen Blick auf ihre festen, wohlgeformten Pobacken freigab.

Ich fragte mich, ob sie sich wohl ihrer Schönheit bewusst war, und malte mir aus, wovon sie wohl träumte und woran sie dachte, da trafen sich unsere Blicke. Verwundert sah sie mir in die Augen, dann mussten wir beide lachen.

»Mopo war heute früh schon unterwegs, hat allerdings nur eine Waldratte gefangen«, ergänzte Lundi.

»Wie denn gefangen?«, staunte ich, »etwa mit den Händen?«

»Nein«, lautete die einstimmige Antwort meiner Begleiter, »die Bayaka-Pygmäen legen täglich Fallen aus. Das macht fast jede Familie.«

»Sie fangen also Ratten«, meinte ich und musterte unsere Gastgeber eingehend, während mir beim Gedanken an die Biester ein Schauer über den Rücken lief.

»Ja, auch«, erwiderte Sangui. »Sie fangen aber auch schon mal Antilopen. Im Augenblick, so sagen sie, ist allerdings nicht viel los.«

Auf meinen Wunsch hin stellte er mir eine weitere Frau vor, Ndokanda. Sie trug ein schmales, geflochtenes Lianenband um die hohe Stirn, hatte ein extrem langgezogenes Ohrläppchen und, wie ich jetzt erst sah, eine tiefe Narbe unter der Nase, was ihr einen leicht verwegenen Anschein verlieh.

Die ältere Frau wirkte auf mich irgendwie geheimnisvoll. Vielleicht war sie ja eine Heilerin und kannte sich mit Kräutern und Zaubertränken aus. Fasziniert musterte ich sie. »Kennt sie noch alte Märchen von ihrer Mutter?«, wollte ich nun wissen. »Fragst du sie bitte mal danach, Lundi?«

Nachdem Ndokanda seinen Worten gelauscht hatte, lachte sie und nickte eifrig. »Ja«, gestand sie zu meiner großen Freude, »es gibt ein paar überlieferte Geschichten und Märchen, die ich noch kenne.«

»Oh, wie schön!«, rief ich begeistert. »Die muss sie mir unbedingt einmal erzählen.«

Sie wirkte sehr zart und zerbrechlich und auch irgendwie elegant mit ihrem feingeschnittenen Gesicht. Zufrieden schaute sie nun zu ihrem Mann hinüber, Somba, der ohne auf unsere Unterhaltung zu achten gerade mit seiner Tagesarbeit begann und aus Binsen eine Matte knüpfte. Dabei hielt er mit den Zehen des linken Fußes einige lange, grüne Fasern fest, während er durch die bereits zu einem Gitter verschlungenen Binsen mit den Händen weitere Halme schob.

Er wirkte auf mich wie ein gutmütiger Großvater, daher erstaunte es mich umso mehr zu erfahren, dass er erst kürzlich noch einmal Vater geworden war.

Ndembo schaute mich bei der Vorstellung neugierig-höflich an, sie war ebenso wie Mbouka sinnlich schön. An den Oberarmen hatte sie auffällige Tätowierungen, und ihren Oberbauch zierten mehrere kleine, graublaue Dreiecke, die sich zu einem geschlossenen Muster zusammenfügten. Das erhöhte ihren exotischen Reiz noch. Ihr Mann hieß Eko, und sie hatten eine schüchterne kleine Tochter, Boyemba, und einen Sohn, Ngoja.

Wer hat mir eigentlich erzählt, dass die Pygmäen hässlich sind, dachte ich schuldbewusst. »Sie sind zwar winzig klein, aber verdammt hübsch, die Damen, findest du nicht, Sangui?«

Ich wollte nun genau wissen, wie er sie fand, und sah ihn erwartungsvoll an. Männer sehen so etwas ja bekanntlich ganz anders. Wer hatte mir eigentlich das nun wieder erzählt?

»Da hast du Recht«, stimmte Sangui mir zu. »Normalerweise haben die Bayaka-Pygmäen gröbere Gesichtszüge, und ihr eckiger Körper ist in der Regel auch nicht gerade sehr attraktiv. Aber das ist alles eine Frage der Sichtweise«, fuhr er grinsend fort.

»Wieso?« Ich konnte seinen schlauen Gedanken mal wieder nicht folgen.

»Na ja, dich werden sie wahrscheinlich extrem hässlich finden.« Ich beschloss, ihn zu ignorieren.

Djele, der Dorfälteste, war schlau, bedacht und wachsam, mit einer schmalen Nase, feinen Lippen und einer großen fächerförmigen Narbe an der rechten Augenbraue. Am auffälligsten fand ich jedoch seine intelligenten und erfahren wirkenden Augen, die irgendwie etwas Melancholisches hatten. Er hatte ein stark zerfetztes Ohrläppchen und völlig vernarbte Tattoos an den Wangenknochen – alles deutete auf ein ereignisreiches Leben hin.

»Lundi, bitte frag ihn doch mal, ob er schon mal mit einem wilden Tier gekämpft oder sich heftig geprügelt hat. Sieh dir nur mal dieses ausgerissene Ohr an.« Ich konnte diese Frage nicht für mich behalten, ich war zu neugierig, welche Bewandtnis es damit hatte.

Djele lachte und nuschelte eine kurze Erklärung: Es handelte sich um ein Initiationszeichen. Ins Ohrläppchen wird ein Loch gebohrt, durch das kleine Stäbe aus Nussschalen gesteckt werden. Und weil man diese Schalen ab und zu herausgezogen hatte, war das Ohr wohl mit der Zeit ausgerissen.

»Heute macht man das allerdings nicht mehr«, beendete Lundi seine Ausführungen.

Djele war Witwer und hatte vier Kinder, den Sohn Boboko und die Töchter Mbouka, Ngouluma und Mouboma, die mir durch ihr neugieriges Wesen schnell näher kommen sollte.

Inzwischen nahm das Dorfleben seinen gewohnt ruhigen Gang. Einige der jüngeren Bewohner verschwanden mit Tragekörben, die sie sich an Lianenschnüren um den Kopf hängten, in Richtung Dschungel, während Somba, Ndokandas Mann, und Mopo ein langes, engmaschiges Netz aus Mopos Hütte holten, um sich anschließend mit der Reparatur der ausgerissenen Löcher zu beschäftigen. Das zweite Netz spannte ein weiterer Jäger, Eko, gerade um ein paar Bäume, die zwischen Sanguis und meiner Hängematte standen. Mowe, der Axtmann, kam mit einem Bündel Lianenschnüre hinzu, die er nun am Boden sorgfältig zum Ausbessern miteinander verwob.

Aus unserer Ecke, in die wir uns unsere Kisten als Sitzgelegenheiten gestellt hatten, wehte eine verführerische Kaffeewolke herüber und erinnerte mich wieder an das versprochene Frühstück. Doch davor musste ich noch einem anderen, äußerst dringenden Bedürfnis nachgehen. Wo immer es stattfinden sollte, es musste schnell gehen. Also hastete ich halb hüpfend zwischen den beiden Pygmäen hindurch, krallte mir die letzten Taschentücher und schlug mich eiligst seitlich in die Büsche. Als ich mich noch einmal vergewisserte, dass mir auch ja niemand folgte, begegnete ich Mopos neugierigem Blick und ging lieber noch ein bisschen tiefer in den Urwald.

Sangui reichte mir, als ich zurückkam, einen Kaffeebecher und holte dann die Medikamentenkiste zwecks Überprüfung des Inhalts, weil er meinen Finger verarzten wollte, den ich mir gestern an Dornen verletzt hatte und in dem es jetzt heftig pochte. Wir hatten ursprünglich alles sorgfältig zusammengestellt mit Mückenspray, Wasserergänzungsweißnichtwas und diversen exotischen Specials in case of emergency. Ich hatte sogar ein Schlangenserum gegen den Biss der grünen Mamba mitgenommen, der innerhalb von 25 Minuten tödlich ist, und holte die kleine Ampulle im rotbestreiften Styroporkästchen stolz aus dem Köfferchen. Sangui grinste etwas abschätzig. »Weißt du, dass es noch so viele andere schöne Schlangenbisse gibt, die auch tödlich sind, aber ohne entsprechendes Serum den Vorteil haben, dass man noch ein wenig mehr Zeit zum Leiden hat?«

Ich winkte ab, so genau wollte ich das gar nicht wissen. Danach übertraf Sangui sich selbst: Er baute eine Art Urwalddusche, eine wilde Kanister- und Eimerkonstruktion, die vielleicht nicht jedes moderne Bad geziert hätte, aber unseren Ansprüchen voll genügte. Außerdem richtete er eine Art Wasserstation ein, einen großen Tank, wo wir laufend mit einem Filter und chemischen Tabletten Wasser desinfizierten und so gut gerüstet waren für den täglichen Bedarf.

Bald gewann ich den Eindruck, dass Lundi noch einen privaten Grund gehabt hatte, mit uns hierher zu kommen. Er stand neben einer jungen Frau, die gerade das Dach ihrer Hütte reparierte. Lundi war zwar ein halber Bantu, aber trotzdem kaum größer als sie. Im Moment entwickelte er gerade dermaßen viel Charme, dass ich unschwer ahnte, was ihn hier tatsächlich interessierte. Er sah wohlgefällig auf die junge Frau, die sich nun verlegen die Hand vor den Mund hielt. Genau die gleichen Verlegenheitsgesten wie bei uns! Hier, wie bei allen Menschen aus einem anderen Kulturkreis, können wir uns selbst an den Ähnlichkeiten erkennen – eine interessante Frage nach der Herkunft der Gemeinsamkeiten! Plötzlich wird man vertraut, findet so genannte Exoten gar nicht mehr so fremd. Die Frau schleppte nun längliche, flach geschichtete Blätter heran und befestigte sie an den Ruten, welche die bogenförmig gewölbten Streben der Hütte quer verbanden. Während sie sich drehte und bückte, sah ich nun auch deutlich, wie der kurze Rock konstruiert war. Mehrere Bastschichten lagen übereinander, mindestens sechs, und wie ich später erfuhr, wurde jeweils die unterste Lage entfernt, wenn sie schmutzig war.

Ich hatte den Namen der Frau vergessen und fragte Ndembo noch einmal, indem ich auf mich zeigte, »Cornelia« sagte, anschließend auf sie zeigte, »Ndembo« sagte, dann auf Mouboma, deren Namen nannte und desgleichen bei Mbouka. Dann zeigte ich fragend auf die kleine Frau.

Prompt kam die Antwort: »Ngouluma.«

Sie war die Schwester Mboukas und Moubomas, wie ich erfuhr, also auch eine Tochter von Djele.

Von weit her trällerte ein wunderschöner Vogelruf herüber, er wiederholte sich ständig und erhielt schließlich eine Antwort von fern her. Ein kleiner Refrain, der von der anderen Seite des Waldes kam. Das Echo stand noch lange über dem Dorf, auch Stimmen und andere Geräusche empfand ich hier besonders klar, und stets hallten sie ein wenig nach.

Sangui hatte sich zu den palavernden Männern bei Djeles Hütte verzogen. Er schien bereits heimisch bei den Jägern, die inzwischen auch die Netzarbeit beendet hatten und gemütlich auf einem morschen Baumstumpf beisammen hockten und Sanguis Sprint-Zigaretten rauchten. Bei mir ging das Anbandeln nicht so schnell, nicht einmal 24 Stunden zuvor hatte mir noch die Angst vor Menschenfressern in allen Gliedern gesteckt. Müde und in philosophischer Stimmung döste ich vor mich hin und sah zu, wie die Frauen zurück ins Lager kamen mit Knollen in den Körben, die sofort geschnitten und in Blätterrollen im offenen Feuer gegart wurden.

Es fiel mir immer wieder auf, wie prompt die Kinder auf Zurufe der Mütter reagierten und ihnen gehorchten, ohne zu murren, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Väter griffen anscheinend weniger in die Erziehung ein. Weiter vorne sah ich nun Ndokanda, die ältere Mutter aus der dritten Hütte, die etwas zurückgezogen mit ihren Kindern unter einem breitfächerigen Baum in einer freundlichen Sonnennische saß. Sie trug ein längliches Blatt als Sonnenschutz auf dem Kopf und wischte gerade ihrem kleinen Mbio den Po mit etwas Grünzeug ab. Und als wäre das Bedürfnis ansteckend, verrichtete Ndo­kanda selbst ihre Notdurft an einem Baum, ganz dicht mit den Hinterbacken an der Rinde, den Säugling fest umklammert. Dann, nach offensichtlichem »Geschäftsende«, wurden die Pobacken an der Rinde so lange auf und ab gerieben, bis sie wohl einigermaßen sauber waren. Mir hätte das verdammt weh getan, und ich hätte mich auch im Gegensatz zu Ndokanda in ein Versteck zurückgezogen, aber hier war es ein natürlicher Vorgang im üblichen Tagesablauf.

Den Höhepunkt der schönen Mittagsstimmung lieferte Mowe, der mit seiner Frau Makano und den zwei Jungs Limboko und Bokayo aus der Hütte kam und auf einem Instrument leise Musik anstimmte. Er spielte feine, einfache Saitenlaute, während er bedächtig zu den anderen Männern am Baumstumpf vortrottete und seine Frau zum Dorfausgang ging. Dort unterhielten sich bereits zwei Mütter und machten Zeichen in den Wald. Ihre Babys schlenkerten dabei heftig in der breiten Lianenschlaufe um die Hüften. Mowe zupfte monoton mit zwei Fingern, wohl um sich einzustimmen auf dem relativ flachen Holzinstrument, das er links unter den Arm geklemmt hatte. Er entlockte den sechs Saiten und dem drei­eckigen Holzklangkörper eine einfache, aber eindringliche Melodie. Dazu entwickelte er eine Art Sprechgesang. Sangui, Eko und Somba nickten im Takt mit dem Kopf und summten leise mit. Ganz versunken waren diese sonst fast unnahbaren Jäger, innig beschäftigt mit einem kleinen Lied. Es berührte mich sehr, und ich empfand viel Sympathie für diese wilden Burschen und ihren sensiblen Männergesangsverein. Mir schien, dass die Menschen hier die Muße genossen und nur so viel taten, wie nötig war. Reparieren, Kochen, Hausputz, Jagen – und viel Soziales wie Singen und Tratschen und sich gegenseitig Lausen. Die Melodie wechselte die Tonart, was ich äußerst reizvoll fand, sie machte besinnlich, Ruhe kehrte ein und brachte mich in Einklang mit mir selbst. Ich gab mich voll der Stimmung hin, fühlte mich wohl und dachte über nichts weiter nach. Das Dorf leuchtete freundlich auf in den senkrechten Sonnenstrahlen, es war lebendig und strahlte trotzdem Ruhe aus. Ich schloss die Augen und sog alles auf: die Geräusche, entfernte Tierstimmen, Schnattern und Summen, einen lockenden kehligen Ruf und die Essensgerüche, vermischt mit brenzligem Geruch der Holzscheite. Ich fühlte mich wohl. Zusammen mit der feinen Musik gab mir das alles ein Gefühl von Vertrautheit und fast Geborgenheit. Die Zeit verging, und ich war wohl eingedöst, als plötzlich der Gesang stockte und Lachen sich mit hineinmischte. Und als ich nun zu mir kam, sah ich, wie Sangui und Eko schadenfroh kicherten, wobei sich Sangui die Hand vor das Gesicht hielt und zum Dorfausgang schielte. Dort waren zwei Besucherinnen zu sehen, die mit Ndembo und Makano, der Frau von Mowe, plauderten, während sie ihre prall mit Grünzeug gefüllten Körbe abstellten. Auch mit viel gutem Willen fand ich nichts Komisches dabei, doch die Männer hörten nicht auf zu lachen. Mowe sang leise kichernd irgendetwas, und nun verstand ich, dass es dabei um die Frauen dort drüben ging. Sangui erklärte mir später etwas genauer, dass man sehr intensiv die Vorzüge der jeweiligen Besucherin besang.

»Haben sie auch schon über mich gesungen, Sangui?«

Er schmunzelte: »Nein. Sie werden dich wie jede Beute erst beobachten, und wenn es dann so weit ist, sage ich es dir.«

Einer der Krieger nickte zu mir herüber und stellte Sangui eine Frage.

»Er will wissen, wer dein Mann ist«, dolmetschte mein Freund.

Uhhhh, ich drohte ihm scherzhaft mit dem Finger und beschloss, nun doch zur Feuerstelle der Frauen hinüberzugehen.

Über die Schulter rief ich zurück: »Sag ihm, dass ich vier Männer habe und dass alle auf dem Weg hierher sind.«

Sangui erzählte mir später, dass mir alle sehr lange und sehr beeindruckt hinterhergeschaut hätten.

Mbouka legte ein grünes Paket auf das Feuer. »Bómbá«, erklärte sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich nahm an, dass dies der Name für das Gericht war. Sie deutete auf mich und machte eine einladende Geste.

»Sangui, bitte frag sie doch, was da drin ist, vielleicht ist es auch für mich genießbar? Ich möchte der Einladung folgen, du hast ja schon mit ihr gegessen und scheinst alles gut überstanden zu haben.«

»Nach mir darfst du dich nicht richten, ich habe einen Magen wie ein Schwein, der verdaut alles«, grinste er mich an. Dann wandte er sich zu Mbouka und nach einem kurzen Wortwechsel erklärte er: »Du sollst bitte mit ihr essen. Hier hat sie kleine Vögel mit Blattgemüse gegart. Doch kann man genauso andere Lebensmittel wie Raupen, Waldratten, Samen und jede Art von Gemüse in diese Marantaceenblätter einwickeln, und dann werden sie ganz einfach auf dem Feuer gegart.«

»Die Variante mit Vogel hört sich schon verlockender an.«

»Na Cornelia, dann mal los.«

Ich nahm allen Mut zusammen und nickte Mbouka zu, machte ihr Zeichen, dass ich nur ein ganz kleines Stückchen probieren möchte.

»Èe – a`y«, das war für sie in Ordnung, und ich beobachtete genau, ob nicht irgendwelche schließlich für mich doch unmöglichen Dinge mit gebraten würden, während ich mich neben sie kauerte. Der umliegende Wald tarnte sich bereits mit bläulichem Abenddunst und teilte mir mit, dass es bald Zeit würde, ins Bett zu gehen. Ngouluma kauerte sich noch zu mir, Mboukas Schwester, und legte mir ein kleines Blatt vor die Füße, wohl der Teller. Mbouka gab noch eine knappe Anweisung, worauf Ngouluma eine kleine Rute holte und den Platz noch einmal sauberfegte.

Ich legte die Hand auf Mboukas Arm. »Merci, merci beaucoup, pour l’amitié.«

Spontan kam eine neue Frage auf. Und was mich interessiert, das muss ich sofort wissen. Diesmal war es der Sex: »Macht sie Liebe mit ihrem Mann in der Hütte oder im Wald?«

Fast schämte ich mich nun doch, aber ich fragte die Dinge eben, wann sie mir einfielen.

»Ist das nicht ein bisschen viel für den Anfang, Cornelia, und ein bisschen direkt?«, fragte Sangui mit einem unsicheren Grinsen.

»Mein Lieber, das Leben währt nicht ewig, vielleicht beißt mich morgen ein Dschungelmonster und die Welt wird nie erfahren, wie die Pygmäen es mit dem Sex halten.«

»Bitte, also gut.«

Er hockte sich ein wenig umständlich zu den Frauen, inzwischen war auch Ndembo gekommen; Ngonga, die Witwe aus der letzten Hütte, gab noch etwas Gemüse zu dem Essen ins Feuer, und die neuen Frauen wurden uns als Tanten aus dem nächsten Dorf vorgestellt. Auch Makano kam zu uns und fächelte die Feuerstelle auf. Es war richtig gemütlich, und ich merkte, wie auch die fremden Frauen etwas näher an mich he­ranrückten, als Sangui mit knappen Worten meine Frage wiederholte. Mbouka lachte schallend los und schnippte mit den Fingern, auch die anderen lachten und schlugen sich dabei gegenseitig klatschend in die Hände. Ndembo fragte Mbouka etwas, und dann grinsten alle vier Frauen. Sangui schaute mich hilfesuchend an.

»Was sagen sie denn nun?«, drängte ich.

»Ach, sie genieren sich vor mir, aber Ndembo meinte schließlich, dass es überall Spaß macht.«

Nun musste ich auch laut loslachen und drückte die kleine Frau freundschaftlich an mich.

»Das ist bei uns ganz genauso.«

Sofort wollten sie wissen, was ich gesagt hatte, und dann kicherten wir zusammen wie alberne Hühner. Doch mir war nicht entgangen, dass Ndembo den Körperkontakt mit mir nicht so positiv empfand wie ich, sie blieb angespannt, als ich sie berührte. Auch miteinander neigten sie nicht zu Zärtlich­keiten wie Streicheln, Küssen, leichten Berührungen. Er sei jetzt wohl überflüssig, stellte Sangui erleichtert fest, erhob sich und zeigte zum zweiten Feuerplatz nebenan bei Ndembo, die dort bereits angefangen hatte, eine Art Blättertopf zu basteln. Noch eine kleine Anmerkung zur Küche, die so farbenprächtig war mit satt-roten Beeren, tief dunkelgrünen Blättern, hellgelben wilden Ignams (eine Art Kartoffel), gestößelten braunen, ro­sa-, lindgrün- und goldfarbenen Samen oder Körnern. Und erst der Duft, der durch das Lager zog: nach wildem Ingwer und kleinen Knoblauchnüssen, spritzig wie frischer Paprika, und zuweilen herb nach frischem Blattwerk. Ich musste spontan an Salbei und Basilikum denken. Direkt im Feuer gegart wurden auch die stärkehaltigen Nahrungsmittel wie Kochbananen, Maniok, Ignams mit oder ohne Haut, die dann mit Gewürzbeiwerk diesen herrlich exotischen, vanille-curry-ähnlichen Duft verströmten. Nicht selten fanden auch Schalentiere wie Schnecken oder Schildkröten den Weg in den Kochtopf beziehungsweise in die Blätterrolle. Manchmal hängten die Frauen sie, wie jetzt Ndembo, in einem Blättertopf über das Feuer. Ich sah nun ein gut verschnürtes Blattpäckchen von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser, das mit stabilen Lianenschnüren zu einer Kugel gebündelt war und gerade von ihr an zwei Ästen mit Querverstrebung mittig über das Feuer gehängt wurde wie ein ungarischer Gulaschtopf. Diese Konstruktion sollte ein wenig höher hängen als andere, ungefähr 20 Zentimeter über der Feuerstelle, die nur leicht glimmen durfte, um den Blättertopf nicht mit den Flammen zu berühren. Wenn dann die Blätter trocken waren, war auch das Essen gar.

»So, meine Liebe, ich bin bei Lundis Köchin eingeladen, bis später.«

Damit ging Sangui endgültig und wie mir schien erleichtert zu Lundi hinüber, der bereits mit Ngouluma vor deren Hütte saß. Ndembo winkte mir zu, dass ich zu ihr kommen und essen sollte, wozu ich mit gemischten Gefühlen bereit war. Ich schaute Mbouka an, die mir ja bereits einen Vogel-Mac angeboten hatte. Doch sie nickte, dass das in Ordnung war, und gab mir den kleinen grünen Happen auf dem Blatt in die Hand. Ich balancierte ihn vorsichtig hinüber. Das Gedünstete hier bei Ndembo müsste recht gut schmecken, und ich hatte ja gesehen, dass immerhin nur Schnecken in die Verpackung kamen, also nichts so Ungenießbares wie Raupen oder Würmer. Doch erst mal biss ich zaghaft in den Vogel – und er schmeckte. Ein bisschen rauchig, zart, irgendwie auch zimtig merkwürdigerweise, doch die Blattzutaten fand ich persönlich etwas zu glibberig. Währenddessen nahm Ndembo den Kukulu, ihren Blätter-Kochtopf, ab, und als sie ihn öffnete, kam ein richtig appetit­anregender Duft aus den Blättern.

Ich nickte freundlich zu Mbouka hinüber und deutete auf meine gefüllte Backe:

»Sehr gut, très bien! Wirklich, sehr zart.«

Mbouka lächelte kurz zurück und arbeitete weiter, schüttete weiße Brocken in einen Holzmörser, offensichtlich Yamswurzelstücke, und zerstampfte sie mit ein paar daumengroßen Nüssen. Bei diesen beiden Frauen und Mouboma fühlte ich mich inzwischen sehr wohl. Andere wieder, wie zum Beispiel Mbeli, die da hinten ein wenig zurückgezogen saß und gerade ihren großen Holzmörser säuberte, in dem viele Fliegen auf den restlichen Sumakrümeln saßen, waren mir nicht allzu sympathisch. Ndokanda hatte sie mir vorgestellt, sie war eine Tante ihres Mannes Somba. Sie hatte schmale, dicht zusammenstehende Augen, und es umgab sie irgendwie etwas Böses, das sich noch verdichtete in ihrer merkwürdigen Kopfform, länglich-breit zu den Schläfen hin mit einer sehr hohen, vorstehenden Stirn. Makano kam gerade zu ihr, mit frisch gewaschenen weißen Knollen, die sie in den länglichen Holzbehälter warf. Sie hockte sich daneben, und zwar mit dem breiten Hintern auf die Waden, griff sich einen dicken Stößel und hieb gewaltig in die Sumaknollen. Weiße Brösel stoben auseinander und wurden weiter zu feinem Mehl verarbeitet. Makano sah satt und zufrieden aus, sie hatte eine winzig kleine Tonsur am Vorderkopf und im Gegensatz zu Mbeli ein sehr mütterliches Gesicht.

Es war inzwischen dunkel geworden, wobei es hier nie so richtig finster wird, das Zikadenorchester hatte ohrenbetäubend Stellung bezogen und über mir schrie es herzerweichend. Wohl ein nächtlicher Aktivist, der die Urwaldnacht einstimmte. Gegenüber zischte es leise fauchend eine Antwort und vor mir knackten ein paar Äste.

Sangui legte ein paar Holzscheite auf die Feuerstelle und setzte sich dann gemütlich rauchend auf die Geschirrkiste, während ich mich müde und endgültig in meine Hängematte zurückzog. Diesmal wickelte ich mich fest in meine Regenhaut ein. Da entdeckte ich Djele und Mopo, die auf dem kleinen Pfad fast neben mir ins Dorf zurückkamen. Jetzt standen sie direkt zwischen meiner Hängematte und Sanguis Kiste; sie waren mit einem Netz und einer kleinen Lanze ausgerüstet. Auch sie beobachteten uns. Sangui schmunzelte zu mir herüber.

»Für sie ist das wie eine spannende Fernsehserie aus der Science-Fiction-Reihe«, erklärte er. Dann aber fragte er mich ernsthaft: »Sag mal, wenn du bestimmte Vorstellungen hast vom Aufenthalt hier, brauchst du da eine Art Programm, irgendwas Spezielles?«

Ich rollte mich wieder ein bisschen aus der Verschalung.

»Nein, brauche ich nicht. Ich möchte so lange wie möglich hier im Lager bleiben und so viel wie möglich über ihr natürliches soziales Leben erfahren, ihre Riten und Mythen interessieren mich auch außerordentlich.«

Ich fand diese Anfangszeit unglaublich aufregend, die Bayaka fremd und trotzdem vertraut. Dass es eine tolle Expedition würde, da war ich mir inzwischen ganz sicher. Am nächsten Tag wollte ich auch endlich mein kleines Zelt aufstellen, in dem ich mich auf Dauer wohler fühlen würde. Auf einmal war ich wieder putzmunter und voller Unternehmungslust.

»Vielleicht kannst du dieses ältere Paar nach den alten Geschichten befragen, und ob es besondere Ursprünge der Tänze gibt. Und dann frage bitte auch die Jäger, ob wir mit zur Jagd dürfen. Aber sie sollen nichts unseretwegen ändern, auch wenn ich so oft wie möglich mit ihnen zusammen sein möchte! Bitte erkläre ihnen das. Wir werden uns ihnen einfach anschließen und ihrem Lebensrhythmus folgen.«

Nach einigen Tagen der Eingewöhnung überlegte ich, wie ich bei den technischen Dokumentationen vorgehen sollte, ohne die Pygmäen oder auch Sangui wegen dauernder Übersetzungshilfe zu belästigen. Ich wollte messen, wie groß die Pygmäen im Durchschnitt tatsächlich sind, und meinem Bericht genaue Daten beilegen. Eindringlich schaute ich auf mein Maßband und erwartete die Lösung von ihm. Doch sie kam in Gestalt Lundis.

»Kannst du nicht mal schauen, wie groß ich bin? Meine Freundin sagt immer, ich sei nur so klein wie ein Pygmäe, aber das stimmt nicht. Mein Papa war schließlich auch sehr groß!«

Gottestänzer

Eine ägyptische Expedition unter Leitung eines gewissen Herkhuf war weit über Ägypten hinaus nach Süden vorgedrungen, und Herkhuf hatte dem Pharao die Nachricht zukommen lassen, er bringe ihm einen echten Gottestänzer mit. Der Antwortbrief des Pharao ist erhalten geblieben, weil er in die Stelen des Herkhuf-Grabes eingeritzt ist. In Armin Heymers Buch Die Pygmäen ist der Brief vollständig abgedruckt. Ich bringe im Folgenden einige Auszüge.

»Du erwähntest (weiter) in diesem deinem Briefe, daß du einen Zwerg (dng) der Gottestänze aus dem Geisterlande gebracht hast (…)

Komme, nordwärts fahrend, unverzüglich und eilends zur Residenz, wobei du diesen Zwerg mitbringen mögest, den du aus dem Geisterlande holtest!

Heil und Gruß dem Gottestänzer, dem Herzerfreuer, ihm, nach dem der König von Ober- und Unterägypten, Neferkarê, der ewig lebt, verlangt!

Wenn er mit dir an Bord geht, lass zuverlässige Leute hinter ihm und an beiden Bootsrändern sein, die ihn davor bewahren, daß er ins Wasser fällt! Wenn er nachts schläft, sollen zuverlässige Leute hinter ihm in der Kajüte schlafen! Revidiere zehnmal des Nachts! Meine Majestät wünscht diesen Zwerg dringender zu sehen als ein Geschenk aus dem Erzlande und aus Punt.

Wenn du zum Palast gelangst, soll dieser Zwerg – lebend, heil und gesund – bei dir sein. Meine Majestät wird dich dann reichlicher beschenken, als einst der Gottessiegelbewahrer Ba-wer-Djed zur Zeit des Asosi be­dacht wurde, da meine Majestät Wert darauf legt, diesen Zwerg zu sehen.«

So viel zum Wert eines Pygmäen. Nicht so klar ist, auf welche Weise Herkhuf in seinen Besitz gekommen ist und wo das Land Yam lag, aus dem er angeblich stammte. Herkhuf kann mit seiner Expedition ziemlich weit den Nil hinaufgekommen, aber niemals bis in die zentralafrikanischen Regenwälder vorgedrungen sein, in denen die Pygmäen lebten. Man nimmt an, dass der fragliche Gottestänzer nicht direkt aus dem Wald kam, sondern verschleppt worden war und nach mancherlei Zwischenstationen am Hof eines nubischen Stammesfürsten lebte, dem Herkhuf ihn abkaufte.

Seefahrer und Händler verbreiteten die Kunde von einem Zwergenvolk rund ums Mittelmeer. Aber weil sie die Pygmäen selbst nicht zu Gesicht bekommen hatten und weil in solchen Berichten sowieso gern übertrieben wird, wurden aus kleinen Menschen schnell Fabelwesen. In den Beschreibungen sind sie einmal nur drei Spannen lang, ein andermal haben sie nur ein Auge oder einen Hundskopf. Homer schildert in der Ilias, dass Kraniche »das Ge­schlecht der kleinen Pygmäen mit Mord und Verderben bedrohen«. Dem Mittelalter waren sie schon so unwirklich wie geflügelte Löwen oder Kentauren. Der heilige Augustinus nannte die Pygmäen (die er natürlich auch nur aus Überlieferungen kannte) »menschliche Ungeheuer«, Albertus Magnus betrachtete sie als Mittelding zwischen Mensch und Tier. Die Frage, ob die Pygmäen Menschen seien, wurde auch von den Scholastikern mit großer Ausdauer erörtert – und mit negativem Ergebnis.

Erst zu Beginn der Neuzeit erwachte der Drang, fremde Länder und Völker wirklich zu erforschen. Aber den Afrikareisenden wurde noch im 19. Jahrhundert so mancher Bär aufgebunden, weil fantastische Geschichten immer gut ankamen. Doch nicht nur deshalb. Die Waldvölker, die als Jäger und Sammler lebten, wurden von den Ackerbauern und Hirtenvölkern immer über die Schulter angesehen. Von der hohen Wertschätzung, welche die Pygmäen bei den alten Ägyptern genossen, ist bei ihren Nachbarn keine Spur zu bemerken. Verschiedene Bantustämme, die mit Pygmäen Kontakt haben, teilen die Le­bewesen in vier Kategorien ein: 1. Menschen (das sind sie selbst), 2. Pygmäen, 3. Schimpansen, 4. Alle übrigen Lebewesen. Und das Recht des Stärkeren erlaubt ihnen, jeden Pygmäen, den sie erwischen, als Leibeigenen zu behalten.

Auch die europäischen Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts waren erpicht darauf, Pygmäen in ihren Besitz zu bringen, um sie ihren Mäzenen als Geschenk zu überreichen, der Wissenschaft zu überlassen oder sie auf Wanderschauen auszustellen.

Ernstzunehmende wissenschaftliche Untersuchungen über die Pygmäen gibt es erst seit den sechziger oder siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das hat auch damit zu tun, dass ihr Lebensraum allmählich besser zugänglich wurde. Und so kämpfen alle Forscher mit der Zeit, um eine Lebensweise zu dokumentieren, zu deren Verschwinden auch sie beitragen.

Noch eine Bemerkung zum Namen der Bayaka, um die es hier geht: Die korrekte Schreibweise wäre BaAka. Aka ist die Einzahl, und die Vorsilbe ba zeigt an, dass es sich um einen Plural handelt. Also ein Aka, mehrere BaAka. Das Gleiche gilt für die BaBinga, die BaMbuti, die BaBensélé, die BaNtu und so weiter. Für die BaAka ziehe ich die auch von Heymer verwendete Schreibweise »Bayaka« vor.

Literatur zu diesem Thema:

Damit stellte er sich bereits keck neben den Baum und reckte sich erwartungsvoll in die Höhe. Freudig sprang ich auf. Ja, das war die Lösung! Ich schielte unauffällig zu Ngonga, ob sie auch zusah. Ja! Alles bestens, sie reckte den Hals neugierig durch die Blätter, zwei weitere Frauen hatten sich dazugesellt, und auch der kleine Ngoja lugte gespannt aus der Deckung. Ich klappte langsam das Metermaß auseinander und hielt es Lundi an den Körper.

»Ein Meter bis zur Brust, mein Lieber, und noch 59 Zentimeter bis zum Scheitel.« Zufrieden falte ich es wieder zusammen und schreibe die Maße auf. »Damit bist du so groß wie ich, und ich bezeichne mich keinesfalls als Pygmäe!«, beruhigte ich ihn lachend.

Lundi war vollauf zufrieden: »Kannst du mir das bitte aufschreiben, ich will es Lucie mitbringen, damit sie mich endlich in Ruhe lässt!«

Beschwingt ging er zurück ins Dorf, und ich winkte aufmunternd ins Gebüsch, von wo aus uns mehrere Frauen die ganze Zeit beobachtet hatten. Und tatsächlich, mit zaghaften Schritten und verlegen zu Boden schauend, trat Ngonga aus dem Gebüsch hervor und zeigte verlegen auf das Metermaß, wobei Kimbi, ihr kleiner Sprössling, auf ihrer Hüfte heftig ins Schaukeln geriet. Ich hätte sie am liebsten umarmt. Zu ihr hatte ich von Anfang an einen guten Draht, und ich träumte schon vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Denn das war mein eigentliches Ziel: Die Menschen hier möglichst intim kennen zu lernen. Ich hielt mich aber jetzt mit zu starken Gefühlswallungen zurück, um den zarten Keim des Vertrauens nicht zu gefährden. Stattdessen schlug ich wie selbstverständlich mein Heft auf, zeigte ihr die Zeichnungen mit den Frauenfiguren, die ich bereits als Tabelle vorbereitet hatte, und schrieb ihren Namen neben die erste Gestalt. Sie nickte ernst dazu und fand das offensichtlich in Ordnung. Sie ließ es auch zu, dass ich sie am Arm zum Baum führte und vorsichtig ihre Größe maß. Ich klopfte ihr lobend auf die Schulter:

»Dankeschön, du bist richtig mutig!«

Dazu erntete ich nur ein knappes Nicken, doch dann schaute sie mir höchst interessiert über die Schulter, als ich alles genauestens in das Heft schrieb. Ich machte Zeichen, dass sie sich neben mich setzen solle, und legte zur Bekräftigung noch zwei Zigaretten auf den Platz. Grapsch – waren sie weg, und genauso schnell saß sie auf dem Kanister.

»Sehr schön, wir werden bald gute Freundinnen werden!« Zufrieden strahlte ich sie an, und dabei fielen mir wieder die schönen Gesichtstattoos auf, die sich um ihre Wangen zogen.

»Ich will auch so was haben!« Wie eine Taubstumme machte ich ihr verständlich, was ich wollte. Sie beobachtete äußerst konzentriert meine Gesten, die niedrige, leicht behaarte Stirn in dicke Falten gelegt. Ihre Nase war selbst für Pygmäenmaßstäbe sehr breit, trotzdem war sie richtig hübsch in ihrer sanften Art. Auch die anderen Frauen kamen mir gutmütig und freundlich vor. Sie würden halt ein anderes Mal zum Messen kommen, für heute war der Erfolg schon sehr befriedigend. Ngonga musterte eingehend meine grünen Augen und die kleine Kette, die ich trug.

»Von Mami!« Ich zeigte das kleine Amulett und deutete dabei in den Himmel und auf mein Herz. »Es soll Glück bringen!«

»È.símbó«, bestätigte sie mir weise nickend. Was ich mir sofort zu den anderen Wörtern schrieb, die mir schon so im Laufe der Zeit begegnet waren. Später konnte ich es ergänzen, es hieß tatsächlich »Talisman, Glücksbringer«.

Ngonga saß noch lange Zeit unbeweglich auf dem Kanister und beobachtete genau, was ich machte, bis hin zum Naseputzen, und als wir uns endlich trennten, geschah es in neuer Verbundenheit.

»À demain!«

»Balâo«, antwortete sie.

Die Elefantentränke

Schon bald trat ein, was ich teils ersehnt, teils gefürchtet hatte: Die Jäger wollten zur Elefantentränke, und wir durften mit. Zuerst bekam ich natürlich noch ein paar Verhaltens­regeln von Sangui. »Bevor ich es vergesse, Cornelia! Du musst unbedingt beachten: Wenn wir Elefanten begegnen, verstecke dich hinter einem Baum und bewege dich nicht. Ansonsten folgst du bitte genau den Zeichen der Jäger, sie werden gut auf dich aufpassen, haben sie gesagt. Falls wir Gorillas begegnen, darfst du ihnen auf keinen Fall in die Augen schauen. Sieh zu Boden und mach dich klein, einfach hin­hocken.«

»Einfach hinhocken«, wiederholte ich blöd. Ich bekam pochendes Herzklopfen, es wurde aufregend.

Am nächsten Morgen um 5 Uhr 30 standen wir versammelt am Dorfausgang. Mopo an der Spitze mit einem Netz um die Schultern, dann Eko mit zwei langen Speeren, Mowe mit Armbrust und Pfeilen in einem Fellköcher, Sangui mit seinem Armeerucksack und rosa Hut und Lundi mit Proviantkiste und Macheten. Ich reihte mich zwischen Mowe und Sangui ein. Unsere Jäger waren barfuß, in Lendenschurz und mit ihrem jeweiligen Fetisch an der Hüftschnur, Mopo zum Beispiel trug einen ausgedörrten, hellbraunen Antilopenfuß, sicherlich gefüllt mit diversen unglückabweisenden Kleinigkeiten wie Pantherzahn, Affenbart in Pythonöl oder Elefantenschweifquaste. Mowe trug einen Miniköcher an langer Lianenkordel über der Schulter. Ich durfte natürlich nicht hineinsehen, aber Lundi, der meine neugierigen Blicke bemerkte, erlöste mich. »Da ist ein Rindenstück drin, das für die Jagd Glück bringen soll, und etwas zum Einreiben, damit er schneller laufen kann«, erklärte er leise und geheimnisvoll und reihte sich hinter mir ein. Eine exotische Gruppe, die mir auf einmal wieder völlig fremd war, allwissende Medizinmänner, heilige Wächter der unendlichen Natur. Mit kargen Gesten bestanden sie darauf, Sangui und mir das Gepäck abzunehmen. Während ich mich noch zweimal um mich selbst drehte, um in meiner Fototasche das Gewicht der Apparate gut zu verteilen, waren die ersten bereits fast verschwunden. Sie waren verdammt flink in ihren Bewegungen und Beobachtungen und so gut durchtrainiert, dass mein letzter Marsch mit Lundi mir wie ein Kinderspiel vorkam. Unglaublich, in welcher Geschwindigkeit sie die Beine bewegten. »Merde, ils vont trop vite«, murmelte ich vor mich hin und spurtete hastig hinterher. Zuerst versuchte ich es mit großen Schritten, wobei ich unter Wurzelwerk hängen blieb und auf schlüpfrigem Laub ausrutschte, doch nach ein paar Stunden hatte ich die Lösung gefunden und tippelte im gleichen Rhythmus wie sie. Das hatte natürlich den Nachteil, dass ich bei dem Tempo kaum etwas um mich herum wahrnehmen konnte.

Plötzlich öffnete sich der Wald und vor mir tat sich eine Art Marslandschaft auf, fahle, entlaubte und zum Teil umgestürzte Baumriesen, staksige Astreste, die aus graubraunem Boden ragten, ein flacher Sumpf, der sich in einen kleinen Bach verjüngte. Sangui und Mowe standen bereits bis zu den Knien im Morast, da sträubte ich mich. »Sangui, hier soll ich allen Ernstes durch? Da gibt es doch sicher diese Wasserlarven?« Ich geriet allmählich in Panik.

»Ach was«, belächelte er mich. »Die sind nur in stehenden Gewässern. Du musst übrigens die Stiefel ausziehen, sonst zieht sie dir der Schlick aus und du findest sie nie wieder.« Er hatte bereits die Schuhe und Socken in der Hand und schaute mich auffordernd an.

Ich resignierte und folgte brav seinen Anweisungen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. »Und Schlangen?«

»Ach Cornelia, wenn du an alles denken willst, kommst du nicht weit! Schlangen sind schon längst getürmt bei den Erschütterungen, die wir auslösen.«

Ich gab nach. Schließlich fand ich es auch gar nicht so schlimm, in Europa zahlte man viel Geld für Schlickbehandlungen. Mit diesen aufmunternden Gedanken sackte ich Zentimeter um Zentimeter tiefer, doch nun wagte ich keinen Hilferuf mehr nach hinten. Mein kleiner Bruder fiel mir ein, der mir in brenzligen Situationen zu sagen pflegte: »Ehh, bleib cool, Alte!« Äußerst cool also schaute ich nun auf Bäume, die so schräg standen, dass sie sicher beim nächsten Sturm niederschlagen würden. Lange Gräser wuchsen am Übergang zum Wasser und plötzlich sah ich auch Blumen, kleine blaue Blüten wie Löwenmaul und gelbe, etwas flachere mit großen, platten, runden Blättern, auf denen Insekten und Langbeiniges herumwuselte. Kleine Libellen schossen mit ihren schlanken, bunt glitzernden Leibern knapp über dem Wasser dahin. Und da war auch schon heller Sand unter meinen Füßen und klares Wasser umspülte mich. Welch eine Wohltat. Erfreut drehte ich mich zu Sangui um. »Hier macht es wieder richtig Spaß.«

Doch der feixte nur und deutete süffisant grinsend nach vorne. Ja, mein Spaß war von kurzer Dauer, als ich sah, was vor mir geschah: Unsere Bayaka standen bis zum Halse im Wasser des Baches, während sie sich mit einer Hand rudernd vorwärts bewegten und mit der anderen die Rucksäcke auf dem Kopf festhielten. Kleine Wellen bildeten sich hinter ihnen. Auch das noch. Doch meine größte Sorge war, dass Lundi mir nicht davonlief. »Lundi, pas si vite, s’il te plaît.«

»Keine Angst, Cornelia, wir müssen nur bis zu der Biege da vorne, dann geht es wieder in den Wald«, beruhigte mich jetzt Sangui hinter mir. Ich wollte ja nur, dass Lundi nicht zu weit vor mir war, sodass ich immerhin in seiner Spur bleiben konnte und nicht in irgendein abfallendes Sumpfloch, einen unterirdischen Strudel oder sonst etwas Ungeheuerliches hineinverschwand. Schließlich waren unsere Jäger doch stehen geblie­­ben; ich dachte, weil sie endlich auf uns warten wollten, doch völlig falsch. Wie versteinert standen sie da, das Wasser nun bis zur Nase, und schauten zu der Stelle, an der sich der Bach krümmte und wo es wieder waldiger wurde. Genau dort, wo wir eigentlich wieder aus dem Wasser sollten. Vorsichtshalber erstarrte ich auch. Doch ich bemerkte nichts, was mir zu denken hätte geben können. Leise zischte ich nach hinten: »Was ist denn los?«

»Da vorn sind zwei Elefanten!«, zischte es zurück. »Beweg dich nicht.«

Ich war verwirrt, und langsam wurde ich wütend. Wieder sah ich überhaupt nichts, es war zum Verrücktwerden. Und wo war jetzt der Baum, hinter dem ich mich verstecken sollte? Angestrengt starrte ich in dieselbe Richtung wie alle anderen, und endlich sah ich das Wunder. Genau an der Stelle, an der wir an Land gehen sollten, stand ein Elefant und schwenkte seinen Rüssel in unsere Richtung. Es war unglaublich beeindruckend. Ein Wunder, dachte ich und versank fast vor Andacht, wie konnte man nur solch große Tiere erschaffen? Mein erster Elefant! Daneben das Jungtier, das der Kuh ungefähr bis zum Bauch reichte und genüsslich Wasser aus dem Bach rüsselte. Plötzlich ruckte es unter meinen Füßen und langsam sackte ich tiefer in den Bachgrund, das Wasser reichte mir bereits bis zur Brust. Sangui hatte da keine Schwierigkeiten, bei seiner Größe ragten noch alle lebensnotwendigen Körperteile über den Wasserspiegel.

Nun trompetete es aus dem Wald, mehrmals hintereinander, und die Elefantenkuh bekam Gesellschaft. Eine Tante – nahm ich mal an, weil Elefanten mit Jungen meistens im Familienverband durch Tanten und Cousinen unterstützt werden – kam ans Wasser und berührte kurz das Junge mit ihrem Rüssel, eine Art Streichelgeste, und dann drehten sie langsam ab und trotteten gemeinsam in den Wald zurück, wobei der Kleine in die Mitte genommen wurde. Ich atmete tief aus, war schwer beeindruckt und schaute ihnen noch lange nach, bis auch die letzte kleine Schweifquaste verschwunden war. Ein großartiges Bild, so unerhört neu und einmalig, dass ich es gerne länger aufgenommen hätte, doch schon ging es weiter und ich wollte nun auch endlich wieder vorwärts, raus aus dem Bach, er war mir trotz aller Reinheit nicht geheuer. Doch keiner rührte sich. Vorsichtig drehte ich mich zu Sangui und wollte fragen, doch der legte blitzschnell mit warnend hochgezogenen Augenbrauen den Finger an die Lippen. Ich sah mich um: Waldsilhouette, daneben Buschwerk, eine Schar Graupapageien mit ihren plumpen, kurzen Leibern, die lustig pfeifend und krächzend vorbeiflogen, ein offener Platz. Weiter rechts drei breite, abgestorbene, graue Bäume. Doch halt, der dritte Baum lief plötzlich zur Seite! Aha, endlich – und gar nicht so hoffnungslos, man musste mir nur Zeit geben. Begeistert zeigte ich in die Richtung, worauf ich sofort ein ermahnendes Räuspern von hinten hörte. Da stand ein wahrer Monsterbulle, wunderschön und majestätisch, die runden Riesenohren leicht vorgestellt, mit kurzen, etwas gelblichen Stoßzähnen. Jetzt angelte er nach irgendwelchen Leckereien; wie ich später feststellte, handelte es sich um die Früchte des Makorébaums, welche die Dickhäuter von weit her anziehen. Vor mir im Wasser war jedes Leben erloschen, die Bayaka waren zu Salzsäulen erstarrt. Doch ich hatte irgendwie das Gefühl, dass gar nicht so viel geschehen könnte, denn schließlich waren wir doch im tiefen Bach in Sicherheit. Gott sei Dank erfuhr ich erst später, dass weder Wasser noch Wassertiefe Elefanten abschreckt! Manchmal, höchst selten allerdings, schwimmen sie sogar und benutzen den Rüssel als eine Art Teleskop und können so auch breitere Flüsse überqueren.

Vorne trompetete es wieder, mit Antwort aus dem Wald. Ich fragte mich, wie wir da jemals auf der anderen Seite weiterkommen sollten, es schien ja eine ganze Horde auf dem Weg zu sein. Der graue Riese drehte ab und trottete in die gleiche Richtung wie die anderen drei. Gemächlich schaukelnd verschwand er im Wald. Nun kam Leben in den Fluss, die Jäger zeigten in die Richtung neben unserer Anlegestelle und vorsichtig, fast geräuschlos ging es weiter, teils schwimmend, teils mit den Armen rudernd, teils laufend. Wir waren nun alle höchst konzentriert und beobachteten die Wasserströmung, die hier stark zunahm, und die andere Uferseite. Ich musste mich mächtig gegen die Strömung wehren, um nicht abgetrieben zu werden, und fragte mich, wie die Bayaka dem widerstanden. Sie mussten sicherlich unter Wasser kräftig gegenpaddeln. Endlich wurde es seichter und wir erreichten das Ufer etwas abseits von der Elefantenstelle.

Der Afrikanische Waldelefant und seine Bedrohung

Mit dem Begriff »Waldelefant« wird die in den tropischen Waldgebieten Afrikas vorkommende kleinere Form bezeichnet. Neben der Körpergröße – er erreicht eine Schulterhöhe von maximal 2,80 Meter – unterscheidet sich der Waldelefant auch in anderen Merkmalen vom Savannenelefanten.

Der Körperbau ist insgesamt gedrungener, sein Kopf trägt schwach gebogene Stoßzähne, deren Elfenbein dunkler und härter ist als das seines großen Bruders. Das Haarkleid ist stärker ausgebildet, die Haut feiner und der Rücken weniger auffällig gekrümmt. Die Ohren sind relativ klein, rundlich bis oval. Die rundliche Gestalt der Ohren hat ihm auch den Namen »Rundohrelefant« (cyclotis) eingetragen.

Raubbau an den Wäldern

Die Tage des Waldelefanten sind gezählt – wenn die Waldzerstörung anhält. In Zaire, Gabun und im Kongo wurde der Waldelefantenbestand zu Beginn der 80er Jahre auf 332000 Tiere geschätzt. Anfang der 90er Jahre lag er nur noch bei 165000 Tieren. Innerhalb von nur zehn Jahren nahm der Gesamtbestand in diesen Ländern um mindestens 50 Prozent ab. Ein alarmierendes Zeichen! Und dieser Trend hält an. Es muss gehandelt ­werden. Die besten Voraussetzungen für das Überleben des Waldelefanten liegen in der Ausweisung, der Stabilisierung und der Vernetzung von großflächigen Schutz­gebieten.

Auszug aus: WWF Deutschland, Patenschaftsprogramm. Mehr Informationen zu diesem Programm und zu Spendenmöglichkeiten im Anhang.

Lundi drehte sich zu mir und Sangui um, sein Gesichtsausdruck war ernst und besorgt. Er machte uns Zeichen, unbedingt aufzuschließen und keinen Laut von uns zu geben. Mir wurde mulmig in der Bauchgegend und ich strengte mich ungeheuer an, meine Sinne zu schärfen, um die Umgebung besser wahrnehmen zu können. Im Klartext suchte ich nach grauen Riesen, die sich harmlosen Reisenden nähern wollten. Vor lauter Aufregung zog ich erst meine Schuhe falsch herum an und wäre fast gestolpert. Als ich endlich fertig war, schlichen wir weiter, ohne dass auch nur der leiseste Knacks zu hören war, einer in des anderen Fußabdruck; die Jäger sicherten zur seitlichen Richtung.

Schließlich gelangten wir an eine sternförmige Kreuzung, an der offensichtlich mehrere Elefantenpfade zusammen­liefen.

»Über 40 Prozent aller Bäume dieses Gebietes werden durch die Waldelefanten verbreitet: Die großen Nüsse vieler Bäume können nur im Verdauungstrakt des Waldelefanten aufgebrochen werden; sie landen dann mit dem Kot im Wald, und der Keimling sprießt in seiner Dunginsel«, erklärte Sangui. »Das wertvolle Nutzholz Makoré wächst entlang der Elefantenpfade und wäre ohne sie wohl schon ausgestorben.«

Wir waren inzwischen in Deckung gegangen, während Mowe die Gegend sicherte. Irgendwo knackten Äste, man hörte auch ein Schnauben, Trompeten und Heulen. Eigentlich wollte ich sie gar nicht mehr aus der Nähe sehen, mir war die erste Begegnung mehr als genug. Außerdem bekam ich mit einem Mal heftiges Ohrensausen, während ich endlich fast alle meine Körperteile hinter einem Makorébaum in Sicherheit gebracht hatte. Ich sah mich zu Sangui um und kam mal wieder aus dem Staunen nicht heraus. Hatten die anderen denn gar keine Angst? Offensichtlich doch! Ich sah, dass es ihm eindeutig nicht besser ging, was mich merkwürdigerweise beruhigte. Ich konzentrierte mich voll auf die Jäger vor mir, bereit, auch dem kleinsten Zeichen zu folgen, und da kam auch schon ein leiser Wink aus Sanguis Richtung, der nun die Führung übernommen hatte. In gebückter Haltung pirschte er geschickt und lautlos durch das Unterholz, wobei er darauf achtete, dass der Wind unsere Witterung nicht zu den Elefanten hinübertrug. Dann winkte er uns vorsichtig weiter. Alles, was nun folgte, geschah mehr oder weniger automatisch. Wir schlichen ungefähr noch eine halbe Stunde auf Umwegen an die angestrebte Saline. Immer wieder begegneten wir abgerissenen Ästen und geknickten Bäumen, doch langsam wurde der Wald durchsichtiger, die Bäume dünner, ihre Rinde war abgeschabt. Auf einmal tat sich eine große Lichtung auf, deren Oberfläche leicht wässerig schimmerte. Mehr konnte ich nicht erkennen, da auch zum Teil hohe Gräser die Sicht verdeckten. Sangui machte Zeichen, dass wir in Deckung gehen sollten, und dann schlug er sich mit Mowe seitlich in die Büsche. Ich blieb wie angewurzelt hinter einem abgeschabten Baum stehen, bei dem ich mich fragte, was er wohl von mir schützen sollte, denn er war so schmal, dass ein großer Teil meiner Pobacken an der Seite herausschaute – geradezu vorbildlich serviert für angriffswütige Stoßzähne! Ein kauziger Vogelruf ließ Lundi aufhorchen und sofort machte er uns Zeichen, ihm zu folgen. Nach ein paar Minuten hatten wir Sangui und Mowe erreicht, doch meine Aufmerksamkeit wurde von einem anderen Phänomen in Beschlag genommen. Einige alte Bäume, soweit ich erkennen konnte waren es fünf, waren so aufeinander ge­stürzt, dass sie sich als eine Art Pyramide ineinander verkeilt hatten. Lianen überwucherten und belaubten die abgestorbenen grauen Stämme. Nun sah ich auch auf halber Höhe, in bequemer Haltung und weise lächelnd, Sangui und Mowe hocken. Na, das war doch endlich mal eine sichere Sache, und ich beeilte mich, den anderen zu folgen. Lundi schob mich, Sangui zog mich, denn die Lianen waren äußerst glitschig unter den Stiefelsohlen. Sangui hatte die Schuhe bereits wieder ausgezogen und schließlich befanden wir uns alle auf der sicheren Höhe dieses wunderbaren Aussichtsturmes. Und hier nun tat sich mein Herz weit auf, ich hätte sterben können bei dem Anblick, so schön, so einmalig und außergewöhnlich unvergesslich war er; er ließ jedes Leid und Angstgefühl verblassen, es war, als ob ich den Atem Gottes spürte. Ich sah auf eine riesengroße Saline hinunter, auf der sich mindestens fünfzig Elefanten jeder Größe vergnügten, dazwischen ein paar Sitatunga-Antilopen, eine höchst seltene Gattung, ein paar Büffel und eine kleine Horde Stachelschweine. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und war tief ergriffen. Da berührte mich eine Hand, Eko zeigte zur anderen Seite, wo eine weitere Familie, zwei verschieden große junge Elefanten und eine Kuh, erschienen. Die Tiere blieben stehen und nahmen Witterung auf, dabei wedelten sie mit den Ohren, als wollten sie uns zuwinken. Ich schaute be­sorgt zu dem Pygmäen neben mir, doch der schüttelte den Kopf und bedeutete mir, es bestehe keine Gefahr. Später erklärte er mir, dass wir gegen den Wind saßen und die Elefanten uns somit nicht wahrnehmen konnten. Langsam trotteten die Tiere nun einen schmalen Pfad durch den Schlick zur Salinenmitte, an den Schweinen vorbei, die sich unter lautem Grunzen inzwischen fast völlig eingesuhlt hatten. In der Mitte standen vereinzelte Gruppen herum, zwei of­fensichtlich halbstarke Bullen, die ziemlich aggressiv die Rüssel ineinander verkeilt hatten und sich wild gebärdeten, dann wieder mit den Rüsseln drohten und schließlich wie mit Schlagstöcken aufeinander losdroschen. Andere standen bis zur Beinmitte im Schlamm und hatten die Rüssel tief in den Schlick gesteckt, ein anderer Elefant hielt unbeweglich den Rüssel tief unter den Schlamm, fast bis zum Maul war er ein­ge­taucht, offensichtlich sog er sich aus einem Wasserloch voll.

Sie können ja bis zu zehn Liter aufsaugen. Manche Dick­häuter sahen geradezu komisch aus. Offensichtlich hatten sie sich aus dem Schlamm zurückgezogen und somit waren ihre Füße bis zur Mitte dunkel gefärbt und auch der Rüssel bis zur halben Höhe fast schwarz, im Gegensatz zu ihrer hellen, fast gelblichen übrigen Hauttönung. Ich grinste in mich hinein, ein so genannter zentralafrikanischer Streifenelefant, dachte ich, »elefantus raribus streifibus ad salinam«. Genau! Unter diesem Titel würde ich die Fotos von der Saline ver­öffentlichen. Ich war sicher, dass dies heiße Diskussionen auslösen würde über eine bisher unbekannte Gattung der Waldelefanten. Irgendeine Institution würde garantiert Un­tersuchungen starten, Expeditionen zu dieser neuen Elefantenspezies schicken und in kühnste Spekulationen verfallen.

Zwei ältere Tiere – so nahm ich an, weil sie mir runzeliger erschienen – standen nebeneinander und besprühten sich den Buckel mit Schlick, der an dieser Stelle hellgelb war. So waren mindestens 20 verschieden gefärbte Elefanten auf dieser Lichtung.

Auch die Riesenwaldschweine hatten ihre Farbe gewechselt, ihre schwarzen Borsten glänzten nun rotbraun und ihre kurzen Rüssel pechschwarz. Irgendwelche größeren schwarzen Vögel ließen sich elegant nieder, hüpften noch ein paar Meter albern auf dem unebenen Boden herum. Ein Elefant, offenbar verwundet, schleppte sich lahmend und wohl unter Schmerzen – denn er hielt nach jedem zweiten Schritt inne – durch den Schlick. Dann blieb er stehen, schaute sich lange nach allen Seiten um, beobachtete die jungen Bullen eine Weile und ließ sich ganz langsam nieder. Erst knickte er die Vorderbeine ein, anschließend sackte vorsichtig das Hinterteil nach, die Seite mit dem verletzten Bein nach oben, so dass er bis zum Bauch mit Schlick bedeckt war. So blieb er, wie es schien, zufrieden liegen. Ganz offensichtlich hatte er lange für diesen wunderbaren Moment gelitten! Ich konnte mich gar nicht satt sehen, auch unsere Jäger staunten mit offenem Mund, und ich war mir sicher, dass sie nicht nur an das viele Fleisch dachten, sondern dass sie genauso die Natur und ihre Wunder verehrten. Sicherlich war diese Lichtung über mehrere Elefantengenerationen entstanden.

Wie immer, wenn meine Neugierde geweckt war, musste Sangui dran glauben, und ich fragte ihn danach.

»Die Elefanten sind sozusagen die Architekten des Waldes«, erklärte er mir. »Sie verändern Strukturen und fördern Nützliches zu Tage. Vielleicht fing vor vielen Jahren alles mit einem verlassenen Termitenhügel an, den sie hier zerstörten, und ging dann weiter, als sie in der Erde nach Mineralstoffen suchten.«

»Wirklich?«, warf ich ungläubig ein.

»Ja, wirklich! Dann erweiterten sie diese kleine Lichtung, indem sie junge Bäume herausrupften und anderen die Rinde abzogen. So wurde der Lichteinfall vergrößert und die Lichtung ausgedörrt und vergrößert. Nun wurde sie auch für andere Tiergattungen zum Anziehungspunkt, etwa Vögel und Reptilien.«

»Das ist ja unglaublich!«, entfuhr es mir.

»Durch das Graben und Schlammbaden ermöglichen die grauen Riesen auch diesen Tieren den notwendigen Zugang zu den Salzleckstellen. Natürlich lockt dies auch Räuber an wie die Ginster- oder Goldkatzen.«

Erstaunt blickte ich mich um und entdeckte tatsächlich noch weitere Tiere. Jetzt kamen noch ein paar schokoladenfarbene Antilopen dazu, wateten höchst elegant und sehr scheu zu den abseits stehenden Gräsern und kauten daran herum. Ein dritter kleiner Elefantenbulle mischte sich nun unter die beiden Ringer, doch wurde er nicht weiter beachtet und trottete beleidigt zu seiner Familie zurück. Wieder erschien eine neue Gruppe gegenüber, laut trompetend kündigten sich zwei Kühe mit ihren Jungen an. Sie blieben wie alle Neuankömmlinge am Waldrand stehen und verharrten reglos.

»Sie wägen wohl die Gefahren ab«, wandte ich mich an Sangui, der nur nickend zustimmte.

Dann trotteten sie gemächlich, die Erwachsenen voran, in einen noch unbesetzten Pfuhl, das Jüngste klemmte sich eng an die Hinterbacken seiner Mutter und wurde von der nachfolgenden Kuh auch noch mit dem Rüssel abgetastet. Das andere, etwas größere, vielleicht dreijährige Junge überholte nun mutig mit hoch erhobenem Rüssel alle anderen, wobei es laut trompetete. Dann hatten die Tiere ihren Platz gefunden. Die Alten wiegten sich auf ihren Säulenbeinen hin und her, ganz langsam und genüsslich, während die Kleinen die Nase bis zum Maul im Schlamm hatten und dann kohlrabenschwarz wieder zum Vorschein kamen.

Kichernd stieß ich Lundi in die Seite, die Szene war einfach zu komisch. Auch er gab mir sofort eine Nachhilfestunde in Sachen Elefantenkunde: »Dies ist die Zeit für den Nachwuchs. Hier, fast am Kongobecken, wird nämlich eine einmalige Ele­fantendichte erreicht. Der Waldelefant spielt deswegen eine entscheidende Rolle im komplizierten Ökosystem des hiesigen Regenwaldes.«

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, weil er sich so gestelzt ausdrückte. Die Saline war inzwischen dicht besiedelt; ich zählte 76 Elefanten. Einmalig, welch ein Schauspiel! »Ich danke dir, großer Urwaldgott, dass ich dies erleben durfte.«

Da richtete sich Mopo vorsichtig auf und winkte uns verhalten zu, also ging es wieder los. Sangui nickte zur Lichtung und flüsterte mir zu: »Die Burschen werden sich bald zurückziehen und dann gibt es für uns kein Durchkommen mehr. Sie drängen nämlich aus allen Richtungen hierher.«

Ich blickte noch einmal zurück, und nie im Leben werde ich dieses paradiesische Bild vergessen. Ich betete, dass es uns so erhalten bleiben würde, dass die Menschheit endlich begreifen würde, wie wenig Berechtigung sie hat, in dieses Gefüge einzudringen und es mutwillig zu zerstören, un­wiederbringlich zu zerstören. Schweigend schlossen wir uns den Jägern an. Wenn wir nicht diese ausgezeichneten Führer gehabt hätten, hätten wir diese Bay nie erreicht, da war ich mir ganz sicher – zumindest nicht unverletzt. Denn erst jetzt, nachdem ich alles noch einmal überdacht hatte, wurde mir klar, welchen Gefahren wir ausgesetzt gewesen waren.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit waren wir zurück im Lager. Wunderbar, fantastisch, ich warf meine Tasche auf den Boden und bedankte mich überschwänglich bei Eko, Mopo, Mowe, Lundi und Sangui. Ich war unendlich begeistert von dieser Expedition und mindestens ebenso begeistert, wieder heil bei meinem kleinen Zelt zu sein. Home, sweet home! »Merci beaucoup, c’était fantastique!«

Wir schenkten den Jägern aus der Proviantkiste Zigaretten und einige Ölsardinenbüchsen, worüber sie sich riesig freuten. Djele kam mit seinem Sohn Boboko auf einen Stock gestützt, aber würdevollen Schrittes zu uns herüber. Wir begrüßten uns und Lundi erzählte unser Abenteuer. Djele nickte immer wieder bestätigend mit dem Kopf und machte dann ein paar knappe Bemerkungen dazu.

Lundi übersetzte: »Er meint, es sind in letzter Zeit sehr viele Elefanten geworden und es ist die Saison für den Nachwuchs. Jetzt darf man sie allerdings nicht jagen.«

»Wie gut, dass sie das berücksichtigen.« Ich war ziemlich erstaunt, dass hier alles geregelt schien, und nickte ihm zufrieden zu.

»Die Bayaka achten die Gesetze des Waldes ganz genau, schließlich sind sie von ihm abhängig«, ergänzte Lundi und fügte noch leise hinzu: »Außerdem glaube ich, dass der große Chef auch gerne eine Schachtel Zigaretten hätte.«

»Sag ihm bitte, dass wir in den nächsten Tagen Geschenke für alle besorgen und dass wir uns freuen würden, wenn er sie dann selber an seinen Clan verteilt. Jetzt gibt es leider nur noch eine kleine Ration.«

Wir hatten nämlich Sanguis Träger ausgeschickt, um allerlei Nötiges und Nützliches für die Bayaka im weit entfernten nächsten Dorf zu besorgen, weil wir ihre Gastfreundschaft nicht ohne Gegengabe ausnutzen wollten.

Nachdem Lundi übersetzt hatte, nickte Djele freundlich, Geschenke fand er offensichtlich angebracht. Dann zog er sich mit der Schachtel Sprint und seinen tapferen Jägern zurück.

Schön, dass er zu uns herübergekommen war, und wie mir schien, empfand er auch eine Art Verantwortung für uns. »War das nicht ein toller Tag?«, wandte ich mich an Sangui. Erschöpft hockten wir uns auf unsere Couch – die Proviantkiste.

»Ja, wirklich einmalig! Nur einmal habe ich etwas Ähnliches gesehen. Das war in Bayanga an der südwestlichen Grenze der Republik Zentralafrika zum Kongo zu, in einer ähnlich großen Saline, die allerdings anfangs vom WWF mit Salz angelegt wurde, um Elefanten anzulocken.«

»Ach, und das hat geklappt?«

»Ja, und nach ein paar Jahren, durch ständiges Suhlen und Graben, sind tatsächlich Salze und Mineralien zum Vorschein gekommen. Da habe ich einmal 145 Elefanten gezählt.« Dabei schaute er jetzt erwartungsvoll zu mir und dann zu den Koch­utensilien und stocherte demonstrativ im Feuer herum.

»Schon verstanden«, sagte ich. »Ich werde uns jetzt Reis mit Tomatensuppe kochen, dazu haben wir noch Würstchen, ist das okay?«

»Wunderbar!« Lundi gesellte sich zu uns. »Wenn Cornelia Küchendienst hat, kann ich da mit euch essen?«

Sangui drehte sich leicht entrüstet zu ihm um. »Soll das etwa heißen, dass dir meine Küche nicht schmeckt?«

»Doch, aber bei Cornelia gibt es mehr Fleisch«, erwiderte er, und schon hatte er die Würstchenbüchse entdeckt.

Ich schüttelte sie provozierend vor seiner Nase und begann mit dem Balanceakt, den vollen Wassertopf auf der Feuerstelle mit den ungleichen Scheiten zu platzieren. »Wisst ihr, der Tag heute war für mich wirklich das schönste Erlebnis meines Lebens, ich bin so glücklich, dass ich sofort nach Hause reisen könnte.«

Die beiden nickten zustimmend und Sangui wurde nachdenklich. »Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie alles auf der Welt geregelt ist. Diese Tierapotheke, die Saline! Das ist doch das reinste Wunder, das sich da im Kreislauf mit Pflanzen, Tieren und Klima entwickelt hat. So können die Elefanten auch giftige Früchte fressen, wie zum Beispiel die Kanonenkugelfrüchte, weil sich im Schlamm der Saline das Gegengift findet.«

»Und da gibt es doch auch noch eine Liane, die angeblich bei Elefanten Rauschzustände auslöst«, ergänzte ich stolz.

Doch Lundi schüttelte den Kopf und Sangui verneinte ebenfalls. »Die Rauschzustände kommen, soviel ich weiß, daher, dass sie gerne angegorene Früchte fressen. Aber dieser kaolinhaltige Boden, der sich durch die untere Vulkanmasse gebildet hat, hat sich bei fast allen Tieren als wertvolles Heilmittel he­rausgestellt. Und der Schlamm, mit dem sie sich so gern besudeln, säubert die dicke Haut von Parasiten.«

»Und ohne dein Wissen wäre dieses Abenteuer nicht einmal halb so ergiebig, lieber Sangui«, schmeichelte ich ihm. »Ich danke dir.« Ich fand ihn wirklich großartig. Außerdem hatte ich vollstes Vertauen zu ihm, in jeder Beziehung.

Er schätzte gerade ab, wie viel Zeit die Vorbereitungen für das Abendessen noch in Anspruch nehmen würden, und monierte leicht verstimmt, dass es wohl noch eine Weile dauern würde.

»Auch Bangui ist nicht an einem Tag erbaut«, belehrte ich ihn. »Ich geh’ mich inzwischen duschen.« Sprach’s und verschwand in den Wald.

Die Frauen und das Sammeln

Ich hatte den großen Wunsch, den Frauen etwas näher zu kommen, und fragte mich, ob das umgekehrt genauso war, ob sie sich mit mir anfreunden wollten. Das konnte ich noch nicht beurteilen, denn sie waren von Natur aus ungemein freundlich. So oft als möglich saß ich mit ihnen zusammen, bewunderte ihre Sanftmut, ihre Fröhlichkeit und ihre Liebe zu den Kindern, und ich lernte viel durch die Geduld, mit der sie immer wieder auf die Kinder eingingen. Mbouka, Ndembo und Ngouluma hockten vor Mboukas Hütte und alberten herum. Kichernd arbeiteten sie an ihren Körben und fächerten die feinen Lianenbinsen auf. Doch als ich dazukam, verstummte die Unterhaltung, schade! Ich hatte leider noch nicht die verbale Möglichkeit, sie mit meinen Interessen vertraut zu machen. Eine beschämende Lage für mich, so abhängig von Übersetzungen zu sein. Trotzdem hockte ich mich zu ihnen. Die Kinder kreischten und balgten sich an der Lianenschaukel, die in schwindelnder Höhe von etwa 15 Metern schwang.

Und plötzlich stand der kleine, forsche Träger Sanguis mit einem Helfer und vielen Kartons im Lager, als wäre er aus den Blättern gefallen. Nun kam Bewegung ins eben noch so friedliche Dorf. Die Bayaka kamen zur Begutachtung des Einkaufs näher und die Frauen unter ihnen schauten mit glänzenden Augen auf die kleinen Seifestückchen und das Salz. Doch wir beschlossen, die Geschenke nicht einzeln zu verteilen, sondern die Verwaltung in Djeles Händen zu lassen, wie versprochen. Jeden Morgen sollte er die Rationen verteilen. Ihm war das recht und wir hatten kein schlechtes Gewissen mehr, wenn wir bei den kleinen Freunden aßen. Ich zahlte die Träger aus, jeder bekam 1000 Zentralafrikanische Francs, was für sie sehr viel war. Bei der Waldarbeit verdient man hier pro Tag zum Beispiel 300–500 Centimes; das ist zu wenig zum Leben. Aber mit den 1000 Francs konnten sie sich schon ein Säckchen Salz (das grobe, leicht rötliche des Landes) kaufen, Palmöl und sogar noch etwas geräuchertes Affenfleisch auf dem Markt.

Genauso unauffällig, wie der kleine Träger Sanguis angekommen war, verschwand er mit seinem Helfer auch wieder aus dem Lager. Ansonsten geschah nichts Aufregendes, der Vormittag verrann und ich setzte mich wieder zu den Frauen. Ich wollte nicht aufgeben, wollte irgendwie mit ihnen ins Gespräch kommen. Schließlich verabredeten wir gestenreich und umständlich, dass die Frauen mich am nächsten Tag zum Früchte- und Wurzelsammeln mitnehmen würden. Sie nickten zustimmend und kicherten dann miteinander, wohl über meinen Vorschlag. Damit ich morgen nicht allzu blöd dastand, wollte ich mir von Sangui noch einiges erklären lassen, daher zog ich mich in unser »Wohnzimmer« zurück, das Sangui mit Mowe zusammen gebaut hatte: mit einer richtigen Sitzecke aus Holz. Ich musste lachen, denn dort saß Djele mit Sangui und feilschte um ein Taschenmesser. Ich holte mein Tagebuch und setzte mich dazu. Aufmunternd klopfte ich Djele auf die Schulter: »Viel Glück, ich bin sicher, dass du gewinnst.«

Als ihm Sangui das übersetzte, grinste Djele von einem Ohr zum anderen und hielt kurz entschlossen Sangui die offene Hand entgegen, in die dieser nun ergeben das Messer legte.

»Wo ihr hier so schön zusammen seid, kann man mich bitte ein bisschen zu den Jahreszeiten informieren, was wann bei wem wächst und warum? Damit ich meine Eintragungen vervollständigen kann und etwas schlauer bin, wenn ich mit den Frauen in den Wald gehe.« Sangui erklärte Djele meine Wünsche und bereitwillig begann der mit leiser Stimme zu erzählen. Sangui übersetzte: »Also, ungefähr im März beginnt die kleine Regenzeit, in Bangui nennt man sie Mangoregen, weil die Mangos zu der Zeit reif sind. Sie setzt ein mit einzelnen Gewittern und Regenschauern. Dann kommt die richtige Regenzeit von Juni bis Oktober …« Hier unterbrach er sich und fragte wieder Djele. Der erzählte dann weiter, wobei er auf die Schachtel Sprint schielte. Schließlich kam die Erzählung ins Stocken und ging erst weiter, als Sangui die Zigaretten herausrückte.

»Diese Regenzeit teilen die Bayaka in mehrere Etappen auf: zuerst die Raupenzeit, dann die Früchtezeit, da gibt es sogar eine Art Weintraube, blutrot und fürchterlich süß, außerdem eine kleine Kirschenart, die sie tondo nennen. Die wird in zwei Teile geschnitten und man isst das stark duftende, leicht säuerliche, aber sehr erfrischende Fruchtfleisch heraus. Diese Früchte sind äußerst beliebt, ich fand, sie schmeckten nach Stachelbeere. Dann gibt es noch Früchte, die man kochen muss. Die Kerne vom Golo mit ihrem angenehmen Geschmack werden dann als Muntermacher geknabbert. Ich habe hier nur einen kleinen Teil der Früchte zusammengefasst, weil ich sie selber ausprobiert habe, natürlich gibt es noch unglaublich viel mehr, viele auch mit höchst stimulierenden Effekten.«

Erneut fragte er Djele, der fortfuhr zu erzählen: »Wurzeln und Knollen werden gesucht, verschiedene wilde Arten von Ignam zum Beispiel, die allerdings hauptsächlich in Sekundärwäldern zu finden sind und gleich auf Vorrat eingegraben werden, indem man an der Ignampflanze entlanggräbt und dann die Knolle bis auf ein kleines Stück herauszieht. Danach wird das Loch wieder mit der gleichen Erde aufgefüllt und man pflanzt die restliche Knolle etwas weiter weg, lässt nur einen kleinen Trieb aus der Erde schauen. So wächst aus der Knolle eine größere von bis zu zehn Kilo, die man dann im nächsten Jahr ausgraben kann.«

Ich unterbrach ihn. »Große, lilafarbene Knollen habe ich auch schon gesehen, zu denen die Bayaka-Frauen tiefe Löcher graben mussten.«

Sangui nickte und fuhr fort: »Eine Art Kartoffel gibt es noch, von der gerne auch die Triebe gegessen werden, dann weiß ich von einer Zwiebelart, deren Geruch und Würze sehr stark ist.«

Ich schrieb fleißig mit, Djele hatte an Sangui abgegeben, der sich ja außerordentlich gut auskannte. »Und natürlich gibt es noch die verschiedensten Wurzeln, von denen ich keine Ahnung habe, wie sie heißen, und ich kann nicht einmal den Geschmack beschreiben, weil ich sie kaum probiert habe.«

»Mein erster Probebiss in irgendwelche gelbliche Wurzeln fiel dermaßen säuerlich und glibberig aus, dass ich auf weitere Tests verzichtet habe«, ergänzte ich. Aber ich wusste, dass auch ganz süße Wurzeln dabei sind, welche die Bayaka roh aussaugen und sehr schätzen.

Sangui unterbrach meine Gedanken und Notizen abrupt und schloss etwas lahm: »So viel zur Regenzeit und dem Gemüse.«

Es war inzwischen Abend geworden, mir taten die Knochen weh vom Sitzen und die Finger vom Schreiben. Djele streckte sich steif an seinem Stock in die Höhe.

»Merci, mingi, Djele. Très bien«, bedankte ich mich halb auf Sango und halb auf Französisch, doch er wusste, was ich meinte, nickte mir ernsthaft zu und humpelte zu seiner Hütte hinüber. Ich kümmerte mich in aller Eile um die kleine Wäsche, während die Männer das Essen herrichteten. Ja, so sollte es sein, ich liebte diese Arbeitseinteilung und setzte mich schmunzelnd zu der dünnen Lauchcremesuppe, die mit labbrig-weichem Reis aufgepeppt war.

»Ihr kocht ausgezeichnet, vielen Dank, ihr beiden. Die nächsten Tage werde ich euch verwöhnen«, versprach ich und zog mich hungrig zurück.

Jäger und Sammler

Korrekter wäre die Bezeichnung »Jäger und Sammlerinnen«, denn die Aufgaben der Geschlechter sind klar getrennt. Die jüngeren Männer gehen auf die Jagd, die älteren regeln Verwandtschaftsfragen und schlichten Streitigkeiten zwischen den einzelnen Gruppen. Die Männer einer Gruppe jagen gemeinsam, und manchmal gibt es auch große Netzjagden, bei denen mehrere Gruppen zu­sammenarbeiten. Die Frauen sind zuständig für die Aufzucht der Kinder, den Hüttenbau, das Sammeln von Pflanzen, Knollen und Kleintieren, die Unterhaltung des Feuers und das Zubereiten der Nahrung. Manchmal nehmen sie aber auch an Netzjagden für Niederwild teil.

Zum Kochen und Essen brauchen sie keinerlei Gerätschaften außer einem Schneidewerkzeug, einem Mörser und einem Stößel. Das Fleisch – dazu gehören auch Vögel, Echsen, Schlangen, Raupen, Schnecken, Maden – wird zum Garen entweder auf Äste gesteckt, in Blätter gewickelt oder über dem Feuer aufgehängt.

Wildbeuter leben in Gemeinschaften von mehreren Familien. Das scheint die angemessene soziale Einheit zu sein. Die Struktur der Pygmäengruppen ist ziemlich egalitär, das heißt, es gibt keinen eigentlichen Häuptling. Jedoch hat der Älteste eine gewisse Autorität, die aus seiner Lebenserfahrung resultiert.

Jede Gruppe hat – oder hatte zumindest früher, in der traditionellen Lebensweise – ihre bestimmte räumliche Basis. Bei den Regenwaldbewohnern ist das ein sehr ausgedehntes Waldgebiet.

Die Gruppen bleiben jeweils nur eine beschränkte Zeit, die sich nach Wochen oder allenfalls Monaten bemisst, im gleichen Lager. Wann sie weiterziehen, richtet sich danach, wie lang der umgebende Wald ihnen noch genug Nahrung liefert.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum so ein Lager aufgegeben werden muss: Das Ungeziefer – Läuse, Flöhe, Zecken, Milben und Würmer aller Art – vermehrt sich rasch bei längerem Aufenthalt am selben Platz, in Unrat und Exkrementen gedeihen Bakterien. Damit steigt die Gefahr von Erkrankungen. Dieser Gefahr entgehen die Pygmäen, indem sie weiterziehen und ihr Lager nie zweimal an derselben Stelle aufschlagen.

Der Umzug ist kein Problem, da die Pygmäen nicht mehr besitzen, als sie tragen können. Zum Umzugsgepäck gehören die Jagdutensilien, also Speere, Netze, Äxte, Pfeile und Bogen, dann die sonstigen Gerätschaften: Tragekörbe und Kalebassen. Die Megaphryniumblätter, mit denen die Hütten gedeckt sind, werden meist auch mitgenommen, weil man sie nicht überall findet. Dazu kommt bei den Frauen noch der Säugling, der in seinem Tragegurt auf der Hüfte sitzt. So machen sie sich auf den oft mehrtägigen Marsch bis zum nächsten Lagerplatz.

Leider geht die Lebensweise dieser Wildbeuter – völlig ohne Besitz und Ballast – unaufhaltsam dem Ende zu.

Literatur zu diesem Thema:

Früh morgens, eigentlich noch in der Nacht, brachen wir sechs Frauen auf. Als kleine Kolonne suchten wir, fast verschwörerisch eine hinter der anderen, einen kleinen Weg entlang einen wohl sehr fruchtbaren Teil des Waldes auf. Ich sah so viele unterschiedliche Blätter, Sträucher, Beeren und Triebe wie sonst nie. Schweigend und ohne Rast zu machen, die Kinder vor den Müttern, sammelten, pflückten und gruben wir. Wir, das heißt, dass ich natürlich auch reichlich erntete. Voller Stolz zeigte ich schließlich alles Mbouka, die höflich lächelte, sich die mangoähnlichen drei Früchte, die blauen Beeren und die kleinen gelben Äpfel anschaute und sie dann, immer noch freundlich lächelnd, wegwarf! Dabei zuckte sie bedauernd mit den Schultern, als sie mein enttäuschtes Gesicht sah. Ich fand das alles sehr schön, erklärte ich ihr mit beredten Gesten, wobei ihr Blick auf meinen entzündeten Finger fiel. Sie erklärte mir etwas, die anderen Frauen kamen dazu und nickten zustimmend und dann machten sie Zeichen, dass ich abwarten sollte. Nun holte Mbouka ihren Korb und ich schaute bewundernd hinein, alles ordentlich umwickelt, verschiedene Blätter und kleine Sprossen, rosa Früchte, kleine Knollen, eine richtige schöne Ernte. Ich lobte sie und drückte freundschaftlich ihre Hand: »Du bist eine sehr gute Hausfrau!«

Als ich in ihr schönes, sanftes Madame-Butterfly-Gesicht sah und den hübschen, strammen Körper musterte, fügte ich in Gedanken hinzu: Sicher ist Mopo, der Strolch, sehr zufrieden mit dir in jeder Beziehung. Mbouka lachte und schüttelte den Kopf, weil sie nichts verstand – oder vielleicht doch? Bei ihr hatte ich nämlich oft das Gefühl, dass sie in ähnlichen Bahnen dachte wie ich. Ndembo streute auf einmal eine vertikale Linie aus irgendeinem Pulver über den Weg und Mbouka bedeutete mir, dass ich da nicht drübersteigen sollte. Ab hier wird Platz für den Guten Geist gelassen, so verstand ich es jedenfalls. Wie mir Lundi später im Lager erklärte, handelte es sich um eine Zeremonie mit magischen Pflanzen, die zum Gelingen der Ernte beitragen sollte. Feine Kokoblätter wurden gepflückt und kamen säuberlich geschichtet mit noch zwei gelbbraunen Früchten dazu. Wie eine Katze auf der Pirsch bog Mbouka nun vom Weg ab, begutachtete ein Gebüsch und darunter erst einen blassen kleinen Trieb, dann einen anderen – für mich kaum sichtbar –, der ihr offensichtlich besser gefiel, holte einen Grabstock aus dem Gemüsekorb und grub nun auf wundersame Weise eine Riesenwurzel aus. Sie drehte sich zu mir um und deutete auf das braune Monster, das jetzt wie ein Riesenzwerg mit Zipfelmütze vollends zum Vorschein kam, und sagte etwas, was ich nicht verstand. Ich notierte es mir mit einer kleinen Zeichnung in mein Buch, später wurde es mir als Name der Wurzel übersetzt. Der Zwerg verschwand zu den anderen Ausgrabungen in Mboukas länglichem, unten spitz zulaufendem Tragekorb, der an einer Rindenschlinge vom Hinterkopf über die Brust hing und später, nach dem Ende der Ernte, auf den Rücken gedreht wurde. Auf einer Hüfte hing ihr kleiner Sohn Madzou in der Lianenschlaufe und schlief, und an ihrer Hinterbacke klebte, mit kleiner Hand festgekrallt, ihre kleine Tochter Mambelene, die sich immer noch vor mir fürchtete. Freundschaftlich winkte Mbouka mich hinter sich, und genauso schweigend wie der Hinweg verlief auch der Rückweg. Um neun Uhr waren wir wieder im Dorf. Die Frauen verteilten sich ohne zu zögern in ihre Hütten und ich bat bei einer schönen Tasse Kaffee Sangui, mir noch mehr über diese Natur-Mensch-Symbiose zu erzählen.

»Der Wald hält alles bereit, was die Pygmäen brauchen; er ist für sie Supermarkt, Baumarkt und Apotheke in einem. Und sie nutzen alles, ohne dem Wald zu schaden: Nahrungsmittel, Tiere, Pflanzen, außerdem getrocknete Blätter und Samen, Heilpflanzen, Zaubermittel, Drogen, Tabak. Allein fünf verschiedene Blätter gelten als Räucherwerk gegen Mücken«, erklärte er bereitwillig.

»Ach, wirklich?«

»Ja, da werden Blätter in kleinen Termitenbauten unter dem Bett geräuchert und auch zum Geisterbeschwören oder Bauen verwendet.« Sangui nahm einen Schluck Kaffee.

»Ja, die Räuchergeräte habe ich schon in den Hütten gesehen, sie sehen aus wie Keramiktöpfchen.«

»Wurzeln und Knollen können eingegraben bis zu sieben Monate halten, bis zur nächsten Regenzeit«, fuhr er fort. »Das ist das einzige große Vorratslager, das sie anlegen. Denn gejagt und gesammelt wird hier nur zur direkten Nahrungsaufnahme, nicht zum Lagern oder Horten«, beendete Sangui seine aufschlussreichen Erklärungen und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Ich bedankte mich bei dem großen Meister der Erzählkunst, der meine eigenen Erfahrungen mal wieder um vieles ergänzt hatte.

Hütten und ihre Geheimnisse

Einige Tage später kamen Mouboma und Boyemba ins Lager, auf dem Kopf hoch aufgetürmt die großen Blätter, die zum Hüttenbau dienten. Graziös balancierten sie die schweren Lasten. Ndembo und Ngonga folgten dicht dahinter mit Brennholz, das sie in den geflochtenen Körben trugen, die an einer Lianenschnur am Kopf befestigt waren und bis über die Schultern hingen. So trugen auch die Frauen manchmal bis zum Dreifachen ihres Eigengewichtes! Ich bekam Lust, das Ganze zu malen, es war so eine schöne, intensiv-geschäftige Atmosphäre, und ich holte meine Utensilien. Ich begann mit der Zeichnung und sofort gesellte sich Sangui neugierig dazu und schaute mir über die Schulter.

»Du kannst ja wunderbar zeichnen, das wusste ich gar nicht. Solltest vielleicht mal eine Dorfstimmung malen und unseren Freunden schenken.« Anerkennend klopfte er mir auf die Schulter. »Das ist eine wirklich gute Idee, da werden sie sicher Spaß haben!«

»Für wen ist denn eigentlich die Hütte da drüben be­stimmt?«, wollte ich nun wissen.

»Die Mädchen richten sich irgendwann zu zweit oder dritt eine eigene Hütte ein, um Probleme der Pubertät und kleine sexuelle Erfahrungen in Ruhe beschwatzen zu können. Später wird die Hütte dem Mädchen überlassen, das einen Auserwählten gefunden hat. Die Mädels sind hier besonders früh­reif und sondern sich bereits im zehnten Lebensjahr von der elterlichen Hütte ab, außerdem wird es da auch viel zu eng, das hast du ja schon gesehen.«

»Aber wo bleiben die Freundinnen, wenn so ein Lover erscheint?«, hakte ich nach.

»Die bauen sich eine neue Hütte, erstens ist das lustig, zweitens praktisch. Schau mal den flachen Eingang an, das ist ganz raffiniert durchdacht von diesen kleinen Biestern. Man kann nur auf Knien hineinrutschen, denn kleine Ge­heimnisse sollen schließlich gewahrt werden und bleiben so den Blicken verborgen. Sie wollen diskret vertuschen, wer da noch mit ihnen in der Hütte ist. Wenn jedoch einmal eine Lanze gegen den Hütteneingang lehnt, zeigt dies den Eltern, dass es da drinnen einen zukünftigen Schwiegersohn gibt.«

Ich hatte die Zeichnung beendet und skizzierte nun den kernigen Kopf Djeles, der seiner Tochter und ihrer Freundin Boyemba beim Hüttenbau zusah. Inzwischen schauten mir weitere neugierige Zuschauer über die Schulter, der kleine Boboko, der mit offenem Mund auf meine Skizzen starrte, Ngouluma und Makano, die große runde Augen bekamen, als sie langsam Djeles Züge erkannten. Ich sah, wie auch Ngonga vor ihrer Hütte neugierig zu mir schielte und Mowe bei Mbeli, doch sie hatten hier alle eine derart ausgeprägte Würde, dass sie sich selten mit spontaner Neugier vereinbaren ließ.

»Und es stimmt, dass die Mädchen entscheiden, ob der junge Mann ihren Ansprüchen genügt, auch sexuell?«, wollte ich weiter wissen, denn ich fand das Thema faszinierend.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783942822015
DOI
10.3239/9783942822015
Dateigröße
4.6 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2012 (Oktober)
Schlagworte
Afrika Zentralafrikanische Republik Kongo Deutsche Frau Photographin Forschungsreise Pygmäen
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Titel: Die Gottestänzerin
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